Kapitel 7:

»Der Trainer speibt«

Die Vormittagssonne holt den Trainer mit gleißender Kraft aus seinen wüsten Träumen. Er schlägt die Augen auf und schließt sie gleich wieder. Hinter seinen Lidern tanzen rote Luftballons und gentechnisch manipulierte Grapefruits vor einem schwarzweiß flimmernden Hintergrund. Das hysterische Spektakel löst in rascher Folge Kopfschmerz, Ohrensausen und Gleichgewichtsstörungen aus.

Als er sich auf seiner Bettstatt aufrichtet, verschlimmert sich die Krise noch. Das Schlafzimmer schwankt wie ein Segelboot in Seenot, und der Trainer möchte sich am liebsten über die Reling hängen und kotzen. Auch akustisch ist in der ansonsten so idyllischen Meidlinger Mansarde die Hölle los. In der Küche kreischen und wummern Skunk Anansie aus dem schwer baßlastigen Micro-Tower, im Badezimmer ist der Doc offenbar mit dem Abschlagen der Fliesen oder dem Zertrümmern des Waschbeckens beschäftigt, und noch dazu schrillt ohne Unterlaß das Telefon.

Ein vorsichtiges Blinzeln auf das Display des Videorecorders bestätigt dem Trainer, was der Kurtl an Lebensweisheit zum besten gibt, wenn im Studio wieder einmal mehr pausiert und getrunken als musiziert und gesungen wird: »Die Uhr tickt unerbittlich!«

»DO«, dringt es in einem scheußlichen Grün in die verschwollenen Traineraugen, und daneben: »11 Uhr 14.«

Was bedeutet: Das Ultimatum, das Kommissar Skocik vorletzte Nacht im Espresso Rosi gestellt hat, ist in nicht ganz 13 Stunden abgelaufen. Aber was sind schon 13 Stunden, wenn man die vergangene Nacht mit der Vernichtung einer Flasche Tequila zugebracht hat, weil sämtliche Spuren im Sand verlaufen sind und ein vielversprechender Informant unter den Rädern eines auf den ersten Blick harmlosen Familienwagens sein Leben ausgehaucht hat, ohne vorher ausgespuckt zu haben, was er über Rikki und ihre Männer weiß? Was sind 13 Stunden, wenn man die Unschuld von Kurt Ostbahn beweisen soll, jedoch bereits an der relativ leichten Aufgabe scheitert, aus dem Bett zu steigen und das Telefon abzuheben?

So gut wie nichts, denkt der Trainer resigniert und will sich schon wieder die Steppdecke über den Kopf ziehen, als die Tür zum Badezimmer mit einem Knall auffliegt und Trash wilden Blicks in den Schlafraum stürmt.

»Na, endlich auf?!« brüllt der Doc in einer Lautstärke, daß im geplagten Schädel des Trainers ungefähr 20.000 Gehirnzellen spontan Selbstmord begehen. »Also los, ans Werk! Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

»Ja, ja, is scho recht ...«, murmelt der soeben Erwachte und umklammert mit beiden Händen seinen Kopf. Er begreift nicht, wie der Doc schon so entsetzlich wach sein kann — wo er doch mindestens genausoviel Alkohol konsumiert hat. Und ausschauen tut er auch, als hätte der Tod in den letzten Tagen ein paarmal an seine Tür geklopft: die ansonsten tadellose Frisur total zerrauft, die Ringe unter den Augen groß wie Mokka-Untertassen und eine Gesichtsfarbe wie aus »Nacht der lebenden Toten«. Außerdem, das sieht der Trainer trotz seines Jahrhundertkaters mit erschreckender Deutlichkeit, hängt seinem Ermittlerkollegen ein beachtliches Rotzglöckerl aus dem linken Nasenloch. Muß sich wohl verkühlt haben, der Arme, gestern im wilden Transdanubien ...

»Stell einstweilen einen Kaffee hin«, sagt der Trainer, als er sich aus dem Bett schwingt und schnurstracks in den Naßraum eilt, wo er erst einmal vor dem Porzellanaltar auf die Knie fällt und alles loswird, was ein echter Mann frühmorgens so loswerden muß, wenn er zu viele Bruce-Willis-Filme zu wörtlich genommen hat.

Damit ist er zwar noch nicht bereit für den Tag — aber immerhin für das, was sein schwer überforderter Anrufbeantworter ihm mitteilen will.

***

Das treue Gerät hat 17 Botschaften gespeichert, seit es vor nicht ganz eineinhalb Tagen das letzte Mal abgefragt wurde. Jetzt ist die Minikassette voll mit vertrauten Stimmen, die ihre dringenden Anliegen deponieren. Der Trainer kennt eindeutig viel zu viele Leute.

Er beschließt, auf die meisten Anfragen zu einem späteren Zeitpunkt zu reagieren — zum Beispiel, nachdem der Kurtl, der Doc und er selbst aus dem Schneider sind. Sowohl die Sache mit dem überzogenen Uberziehungsrahmen, wegen der sein Sachbearbeiter aus der Bank schon wieder vorstellig geworden ist, muß jetzt warten können, wie auch die lästige Angelegenheit mit seinen ausständigen Krankenkassabeiträgen. Die frohe Botschaft von Gitti Kaltenbeck, sein kanarischer Exhund Che hätte ihr beim Äußerln im Auer-von-Welsbach-Park einen wohl entflogenen Kanarienvogel mit durchgebissener Kehle vor die Füße gelegt, läßt den Trainer an diesem Vormittag ziemlich kalt. Und die drei harschen Erkundigungen seiner Grazer Flamme Romana, ob sie sein beharrliches Schweigen als Rückzug aus ihrer jungen Liebe deuten solle, werden die nächsten Tage ebenso unerwidert bleiben müssen wie die besorgten Anrufe der Ostbahn-Kombo, die wissen will, wann die nächsten Proben- und Studiotermine stattfinden.

Erst Botschaft Nummer 15 (datiert mit heute, 4 Uhr 57) kann das Interesse des Trainers wirklich wecken:

»Ostbahn. Servas, Trainer! Wie is die Lage? Was macht die Liebe? Folgendes: Bin da in der Nähe von Lafayette, wers kennt. Wollt eigentlich nur wissen, wies der Rikki geht. Tut mir leid, daß ich mich vor der Reise nicht mehr drum hab kümmern können. Aber du weißt eh, was ich für einen Mörderstreß beinand ghabt hab. Wanns irgendwelche Wickeln gibt, speziell wegen dem Russenkredit, dann ruf mich zurück. Das Motel heißt ... wart, gleich, es klopft ... (Schritte, leise Stimmen) ...Trainer, ich kann jetzt ned. Wir bleiben in Verbindung!«

»Wunderbar«, murmelt der Trainer, als ein Pfeifton das abrupte Ende des Telefonkontakts zu dem dringend Tatverdächtigen anzeigt. Einen weiteren Versuch, mit seinen Wiener Kriminalassistenten in Verbindung zu bleiben, hat der Kurtl offenbar nicht unternommen. Denn die sechzehnte Botschaft stammt schon von der Rosi, die gegen halb zehn an diesem grauenvollen Morgen dem Band anvertraut hat, daß die Sterbeurkunde ihrer Tochter zur Abholung beim Amt bereitliegt, und daß man daher heute noch, spätestens aber morgen (»Wia in hinkumm ...«) Zugang zum Bankschließfach der Ermordeten hätte. Dann hustete sie und legte auf.

Der Doc gibt einstweilen seiner Ungeduld Ausdruck, indem er in der Küche lautstark mit dem Kaffeelöffel im Häferl klappert »Imma schön pomali!« meint der Trainer. »Is eh gleich aus.«

»Polifka spricht«, beginnt endlich die siebzehnte und letzte Nachricht. Dann eine lange Pause. »Herr Trainer? Hallo! Polifka da! Es warat wegen der Rikki und ihrem Kreuz. Die Bandscheiben, Sie wissen schon. Und wegen dem Schiro ... Kiro ... Praktikant ... also, wegen dem Spezialisten, den was ich ihr rekommandiert hab. A Wunderdoktor, a echter Kapazunder, wenns mi frogn. Dagegen war der Axel Munthe, hervorragend gegebn vom Oskar Werner, wie man weiß, also gegen den war der Munthe a Schas im Wald ...«

Mit diesem herzhaften Vergleich endet das Band. Der Trainer, der sich keine einzige Notiz gemacht hat, weil die wichtigen Leute eh noch einmal anrufen und alle anderen sich gefälligst brausen gehen sollen, drückt die Löschtaste, um wieder Platz zu machen für neue Nachrichten aus aller Welt.

»War das nicht dieser unmögliche Polifka aus der Peep-Show?« meldet sich der Doc von nebenan. »Was wollte er denn?«

»Keine Ahnung«, sagt der Trainer schwach. »Vielleicht wollt er mir der Rikki ihren Chiropraktiker empfehlen...«

»Spul zurück! Ich will das hören!« ruft der Doc, der plötzlich vom Frühstückstisch angerast kommt und dabei seinen Kaffee übers Vorzimmer-Linoleum verteilt.

»Zu spät. Schon gelöscht.«

***

Eine halbe Stunde später sitzen Trainer und Trash in der spartanischen Bleibe des pensionierten Kinobilleteurs in der Turnergasse, nur wenige Minuten von seinem jetzigen Arbeitsplatz, der Live Girl Revue, entfernt. Der Polifka für haust auf Zimmer-Küche im ersten Stock, genau über einem ebenso weltbekannten wie heruntergekommenen Tattoo-Studio. Eine Batterie leerer Weinbrandflaschen sowie eine säuberlich geordnete Kollektion fast aller Ausgaben des Neuen Film-Kurier deuten unmißverständlich auf die beiden Hauptinteressen des Bewohners hin.

Feste Nahrung hat der Polifka für nicht im Haus, aber im Eiskasten gibt es zwei Liter Haltbarmilch und sechs Dosen Ottakringer. Der Doc winkt dankend ab. Der Trainer nimmt dankend ein Bier, in der stillen Hoffnung, damit die Spätfolgen der letzten Nacht lindern zu können.

Trash zieht eine Flasche Edelcognac, die er in der Hausbar des Trainers aufgetrieben hat, aus dem mitgebrachten Billa-Sackerl und stellt sie vor dem Gastgeber auf den Tisch.

»Na gehns, des wär doch wirklich ned notwendig gwesen, Herr Doktor Fesch!« freut sich der Polifka für . »No dazu so a guates Tröpferl. Wirklich, sehr noblig. Normalerweis trink i ja um die Tageszeit no nix - wissens eh, wie der Bogart in Fluß ohne Wiederkehr —, aber in dem Fall mach i glatt a Ausnahm. Scho aus Höflichkeit ...«

Mit geübtem Griff entkorkt er das Mitbringsel, prostet seinem Besuch zu und nimmt einen ordentlichen Zug aus der Flasche.

»Aaaah, wunderbar! Alsdann, was kann i für die Herrn tuan?«

Der Doc wirft seinem Kompagnon einen triumphierenden Blick zu und setzt dann zum Verhör an: »Zwei Dinge, lieber Herr Polifka. Zum einen beziehen wir uns auf Ihren Anruf von heute vormittag, in dem Sie davon berichteten, daß das selige Fräulein Horvath wegen eines wirbelsäulenbedingten Leidens auf Ihre geschätzte Empfehlung hin einen bestimmten Spezialisten aufgesucht hat?«

Eine Minute gespanntes Schweigen.

»Was sogt er?« wendet sich der Polifka für ratlos an den Trainer.

»Er will wissn, zu welchem Chiropraktiker Sie die Rikki gschickt haben, und warum?« hilft der Trainer aus.

»Ois klar. Man muaß si nur verständlich ausdrücken, ned? Wartens a Momenterl.« Er wankt zur Kredenz, stirlt in einer Schublade und zieht dann eine verknitterte Visitenkarte heraus. »Hat erm scho! Primarius Dr. Ludwig Beinhauer, Peter-Jordan-Straße 36, 1190 Wien. Facharzt der Orthopädie und Chiropa ... na, wie Sie gsogt haben. Brauchens die Telefonnummer?«

»Sehr verbunden«, mischt sich der Doc wieder ein und nimmt die Karte an sich, um die existentiellen Daten in sein elektronisches Notizbuch zu übertragen. »Und wie sind Sie zu dem gekommen?«

»Des dürft i Ihnen zwar gar ned sogn, wegen dem Berufsgeheimnis und so, aber der Herr ist a Stammkunde bei uns. Und wie er amoi an Fünfhunderter in Zehner wechseln wollt, is ihm die Visitenkarten aus der Brieftaschen gfalln. I hab mas aufghobn, ma waaß jo nie, für was mas braucht.«

»Uns interessiert vor allem, wofür ihn die Rikki gebraucht hat.«

»Na, mitn Rücken hat sies ghabt, ka Wunder, bei der dauernden Tanzerei. Sie war ja a scho die Fünfazwanzg vorüber — aber immer no sehr apart, muaß ma sagen, wie die Romy Schneider, bevors der grausliche Franzos ...«

»Verstehe«, unterbricht ihn der Trainer. »Und da ham Sies dann zum Dr. Beinhauer gschickt?«

»Genau. Der hat zwar kane Kassen, aber die Ordination bei erm war der Rikki scho a Tageslosung wert. Weils gar so Kreuzweh ghabt hat ... A Bandscheibenvorfall, hat er gsagt, der Herr Primar, mit Komplikationen. Da kann ma ned vü dagegen tuan. A Kur hat sie sich ned leisten können, also hat er ihr Pulverln verschrieben, und a paar Übungen, dies a bei der Arbeit machen kann.«

»Welche Art Übungen?!« fragt Trash aufgeregt, weil eine Ahnung in ihm keimt.

»Steigerns Ihnen ned allawäu so eine, Herr Fesch, sonst trifft Ihnen no der Umschlag!« gibt der Polifka für ebenso energiegeladen zu bedenken. »I waaß ned, was für a Gymnastik die Rikki in da Hackn gmacht hat, weu des geht mi auf mein Posten nämlich nix an ... Da miaßns scho den Beinhammer selber frogn.«

»Machen wir, Herr Polifka«, beruhigt der Trainer die Lage. »Wir bräuchtn aber no a Auskunft von Ihnen: Hat die Polizei bei der Durchsuchung der Peep-Show was gefunden?«

»Geh wo! Hams ned gsegn die Spinatwachter?! Die finden doch ohne fremde Hilfe ned amoi ihr eigenes Hosentürl. Tagelang hams ois aufn Kopf gstellt. aber für die Würscht.«

»Sagns: Könntns uns vielleicht an Gfallen tun? Wir müssen selber in die Lokalität hinein und schauen, ob wir eventuell einen Hinweis finden - am besten in der Nacht, wenn niemand dort ist. Sonst sitzen wir nämlich morgen im Häfen, und der Kurtl a, wenn er zrückkommt aus Amerika.«

»Wos, der Herr Kurt? Na, logisch bin i behilflich, wenn des a so is. Treff ma uns um elfe um die Eckn vom Haupteingang — i sperr Ihnen dann auf. Des mach ma wie seinerzeit der Dings, der Blacky Fuchsberger, wissens eh, in die Cotton-Filme. Erinnerns Ihnen no an die Szene, wo ...«

»Also dann, auf Wiederschaun, Herr Polifka, und danke für alles. Wir müssen jetzt leider weiter! Um elf, nicht vergessen ...«, beendet der Doc den neuesten filmhistorischen Exkurs und steht auf.

***

Der Trainer hängt wie ein nasser Fetzen in der Ecke, alle zehn Finger fest gegen die weißen Kacheln des großen Raumes gestemmt, und atmet tief durch. Sein wichtigstes Anliegen besteht momentan darin, das bißchen Nahrung, das er seit seinem unerfreulichen Erwachen zu sich nehmen konnte, nicht gleich wieder loszuwerden. Außer ihm halten sich nur zwei Lebende an dieser Stätte des Grauens auf - und die haben Besseres zu tun, als sich um ihn zu sorgen.

Trash und seine Herzensdame (anders kann man das wirklich nicht nennen, bei dem Gesichtsausdruck, den der Doc bei ihrem Anblick aufgesetzt hat), das entzückend honigblonde Fräulein Doktor Messeritsch, stehen am anderen Ende des Saales, über einen Tisch gebeugt, und unterhalten sich angeregt. Der Trainer will gar nicht wissen, worüber ...

Er hat ja gleich Übles geahnt, als sein kriminalistischer Mentor nach der Befragung des Polifka für und einem kurzen Zwischenstop beim Würstlstand entschlossen verkündete: »So, und jetzt fahren wir zur Bettina, weil uns nur die mit unserem chiropraktischen Problem weiterhelfen kann.«

Ein Taxi lud die Herren vor dem Allgemeinen Krankenhaus ab, und es dauerte keine halbe Stunde (unter Mißachtung sämtlicher bunter Bodenmarkierungen, nur so kommt man dort wohin), bis sie ihr Ziel erreicht hatten: die Prosektur.

Schon beim Eintreten in den nach Formalin, Verwesung und Wunderbäumen stinkenden Saal krampfte sich des Trainers ohnehin empfindlicher Magen zusammen. Der Anblick der Stahltische mit ihren Blutrinnen, die nur teilweise zugedeckten Körper und die Präparate, die in großen, häßlichen Einsiedegläsern auf ihren Abtransport in irgendein Horrorpanoptikum warteten, konnte den ersten Eindruck nicht verbessern.

Richtig schlimm wurde es aber erst, als der Doc schnurstracks auf Bettina, den fürsorglichen Engel aus der Kirchengasse, zustrebte und den Trainer am Arm hinter sich herzog. Die Pathologin stand in ihrer Dienstkleidung - grüne Schürze, Plastikhäubchen und Gummihandschuhe — vor einem Seziertisch, auf dem die Leiche einer mittelalten, übergewichtigen Frau mit weit auseinanderklaffendem Brustkorb weiterer posthumer Demütigun-gen harrte. Als der Trainer die inneren Organe der Unglücklichen sah, die in rostfreien Schüsseln rund um den Tisch verteilt waren, wurde ihm schwarz vor Augen, und er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

Nicht so Dr. Trash, dem anscheinend kein Greuel dieser Welt fremd ist. Er begrüßte seine Vertraute mit einem scheuen Kuß auf die Wange und betrachtete dann angelegentlich ihr Untersuchungsobjekt. »Schädeltrauma?« fragte er nach kurzer Inspektion. »Werden wir gleich sehen«, antwortete Bettina mit einem feinen Lächeln und begann der toten Dame die Gesichtshaut abzuziehen. In dem Augenblick trat der Trainer die Flucht an. Das Geräusch der elektrischen Knochensäge hörte er Gott sei Dank nur mehr aus weiter Ferne.

»Des wär ned notwendig gewesen«, sagt er geraume Zeit später vorwurfsvoll, als der Doc und Bettina — letztere mittlerweile in Zivil — auf ihn zukommen.

»Sei nicht immer so angrührt«, rügt ihn sein herzloser Partner. »Es gibt Schlimmeres.«

Der Trainer kann sich zwar nicht vorstellen, was, aber er beschließt, großzügig darüber hinwegzugehen. »Und, wie schau ma aus?«

»Alles erledigt!« strahlt ihn die blutige Blondine an. »Da ich den Primar Beinhauer von einem Kongreß kenne, hab ich ihn einfach angerufen und gesagt, die Horvath wäre jetzt meine Patientin ... was ja irgendwie auch stimmt. Die Arme hat an einem Pulposus- oder Bandscheibensyndrom gelitten, sehr schmerzhaft und äußerst schwer zu behandeln. Neben einer Spritzenkur hat er ihr Streckübungen verschrieben — Klimmzüge zur Dehnung der Wirbelsäule. Er hat sich noch erinnert, daß die Patien-tin gemeint hat, sie könne diese Übungen sogar während ihrer Pausen am Arbeitsplatz durchfuhren.«

Der Doc reibt sich die Hände und grinst zufrieden wie eine Katze, die sich gerade den Goldfisch aus dem Glas geschnappt hat. Anscheinend hat sich wieder eine seiner Theorien bestätigt, aber mit denen rückt er ja immer nur im dramaturgisch richtigen Moment heraus.

»Übrigens«, meint Bettina, »mit der Gerichtsmedizin hab ich heute auch telefoniert. Die konnten bei einer genauen Untersuchung des Wundkanals im Kopf der Horvath neben den Sprengstoffspuren winzige Plastiksplitter feststellen.«

»So, so«, meint der Doc und wendet sich nachdenklich zum Gehen. Der Trainer, nur noch ein Schatten seiner selbst, schlurft ihm hinterher. Sobald er aus dem AKH-Labyrinth heraußen ist, muß er sich unbedingt hinlegen. Für mindestens drei Wochen.

***

»Sodala, gemmas an!« krakeelt der Polifka für , der dem Cognac in der Zwischenzeit anscheinend den Rest gegeben hat. Trash und der Trainer, die sich im Hauseingang verborgen halten, sehen sich nervös nach neugierigen Anrainern um, während der Exbilleteur vor dem Künstlereingang der Live Girl Revue mit einem gigantischen Schlüsselbund hantiert.

»Paßt!« ruft er nach endlosen Sekunden und reißt ebenso lautstark wie schwungvoll die Tür auf. »Sesam, weckerl dich!«

»Ich fleh Sie an, Herr Polifka, machens nicht so einen Krawall, sonst haben wir die Funkstreife am Hals«, flüstert der Trainer, als er eilig das Etablissement betritt.

»Die Kieberei, Herr Trainer, kann gevifte Kriminalisten wie unsereins überhaupt am Orsch lecken«, lallt Polifka. »Wissens, i wollt immer scho a Privatdetektiv werden, am liabsten so ana wie der Nero Wolfe, der wos nämlich gar nie ausn Haus gangen is ... Aber so is a spannend.«

Der alte Mann ist in seinem Glück. Er führt die nächtlichen Besucher in die Umkleidekabine der Live Girls, wo es nicht nach Desinfektionsspray, sondern nach süßlichem Billigparfüm duftet.

»Do is immer gsessn, die Rikki, wenn’s grad ned dran war«, sagt der Kassenwart des Sexualtempels und zeigt auf einen der Sessel vor der Reihe halbblinder Schminkspiegel. »Und dauernd hats ihr Nasn in a Büchl gsteckt. A gscheits Madl wars, aber des hat ihr am Ende a nix gnutzt...«

»Hat die Horvath hier auch geturnt, was glauben Sie?« unterbricht Trash seine sentimentalen Anwandlungen.

»Nie im Leben! Sie wollt mit die Ostblocktrutscherln möglichst wenig ztuan habn. Hat kaum a Wort mit ihnen gredt - und umgekehrt a ned, weu jo die meisten eh ka Deitsch kennan. Die Rikki wär nie auf die Idee kummen, vor die jüngeren Madln ihre Kreuzwehübungen zu machn. Da hätts do glei ghaßn, sie is zu alt für des Gschäft.«

Der Doc nickt nur und sieht sich — mit Hilfe seiner schwarzen, massiven und äußerst leistungsstarken Taschenlampe, Marke »Akte X« - auf der Tanzfläche um. Der Trainer erforscht in der Zwischenzeit den Verbindungsgang zwischen Garderobe und Bühne, während sich der Polifka für damit vergnügt, seine beiden Mitverschwörer zu erschrecken, indem er seine Lampe unters Kinn hält und sie dann plötzlich anknipst. Das hat er in irgendeinem Film gesehen.

»Ich hab‘s!« ruft der Doc, winkt den Trainer zu sich und richtet den Lichtstrahl auf eine Stelle, die etwa 30 Zentimeter über dem Saum der roten Kunstsamttapete liegt. »Siehst du das?«

Der Trainer kneift die Augen zusammen und erblickt einen Querbalken, zu dem ihm überhaupt nichts einfällt.

»A Stückl Holz«, sagt er nur und blickt den Doc fragend an.

»So ist es. Genau hier hat die Rikki ihre Bandscheiben entlastet. Versuch‘s doch bitte einmal, du bist eindeutig der Sportlichere.«

Mit einem Achselzucken tritt der Trainer vor die Wand, geht federnd in Position und zieht sich mit beiden Händen an dem Balken hoch. Kurz bevor er sein Kinn auf das Holz legen kann, verläßt ihn jedoch die Kraft, und aus dem Klimmzug wird ein ziemlich schwacher Abgang.

Sein Glück. Denn im selben Augenblick, als er sich der Schwerkraft ergibt, schießt mit einem lauten Kläcken ein Metallbolzen aus der Wand - genau auf die Stelle zu, wo sich jetzt der Kopf des Trainers befinden müßte. Der tödliche Schatten verschwindet sofort wieder, doch der kreidebleiche Privatermittler weiß genau, daß er dem Buttenhansel dank seiner doch nicht so tollen Kondition gerade noch von der Schaufel gesprungen ist.

»Leck«, haucht er nur. »Des war knapp.«

»So ist es«, sagt der Doc und schaut dabei auf die Uhr. Fünf vor zwölf. »Geh und frag den Polifka, ob man da irgendwo telefonieren kann.« »Unglaublich, aber wahr, der sogenannte Trainer und sein sauberer Freind, der Dresch!« ätzt Kommissar Skocik, als ihm die Herren eine Viertelstunde später die Hintertür der Live Girl Revue öffnen. Den Polifka für haben sie nach Hause geschickt, im eigenen und seinem Interesse.

»Ich will ja gar ned wissn, wie Sie da hereingekommen sind«, macht sich der Krimineser, der auch außerhalb der Dienstzeit so aussieht, als sei er der ersten Staffel von »Miami Vice« entstiegen, überflüssige Gedanken. »Aber das wird sich auf alle Fälle gut in Ihrer Strafanzeige machn: Hausfriedensbruch, unbefugtes Betreten, eventuell sogar Beihilfe zum Mord ...«

»Jetzt passen Sie einmal auf!« wird der Doc überraschend laut. »Glauben Sie wirklich, wir hätten Sie angerufen, wenn wir hier widerrechtlich eingedrungen wären, um Beweise zu beseitigen? Wir haben die Mordwaffe entdeckt, genau am Tatort, den Sie tagelang durchsucht haben! Wär das nicht höchst blamabel, wenn diese Information an die Medien gelangt?«

»Was heißt da Mordwaffe? Wollns mich erpressen?«

»Im Gegenteil: Wir bieten Ihnen einen Deal an. Sie kassieren ganz allein den Ruhm, den Tathergang eigenhändig aufgeklärt zu haben, und dafür lassen Sie uns in Frieden.«

Skocik denkt kurz nach. »Von mir aus«, stößt er dann zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. »Aber jetzt erklärens mir gefälligst, was da los war.«

»Des Rätsels Lösung ist ebenso einfach wie genial«, verkündet Trash, als er Skocik zur Tanzfläche führt. »Wenn Sie Ihre Arbeit getan hätten, dann wüßten Sie, daß das Fräulein Horvath ein chronisches Rückenleiden hatte. Ihr Chiropraktiker hat ihr unter anderem einfache Übungen verschrieben — Klimmzüge nämlich. Und die hat sie an diesem Balken gemacht.«

Skocik folgt dem Lichtstrahl der Taschenlampe und fragt sich laut: »Na und? Des soll a Lösung sein?«

»Der Mörder muß von den Bandscheibenproblemen der Horvath gewußt haben, und auch davon, daß sie immer, wenn gerade kein Peep-Show-Kunde durchs Fenster schaute, an genau dieser Stelle geturnt hat. Irgendwie ist es ihm gelungen, eine diabolische Schußvorrichtung anzubringen, die durch das Gewicht eines menschlichen Körpers ausgelöst wird — und zwar mit ein paar Sekunden Verzögerung, um präzise ins Gesicht des Opfers zu treffen. Ich nehme an, daß es sich um eine Art Bolzenschußgerät handelt. Das Geschoß rast mit großer Wucht lautlos nach vorne, wird blitzschnell von einer Stahlfeder zurückgezogen, das Opfer stürzt tot zu Boden, und niemand kommt auf die Idee, die Mordwaffe in mehr als zwei Metern Höhe zu suchen.«

»Und der Apparat is wirklich da oben?« fragt der Kommissar zweifelnd.

»Eindeutig«, meldet sich der Trainer, dem wegen des Schocks über sein knappes Davonkommen schon wieder kotzübel ist. Skocik mustert ihn und weiß: So ein Gesicht kann nicht lügen.