11

Um halb zehn hatte ich eine Verabredung mit Mr. Cavanaugh, der ab nächsten Montag mein unmittelbarer Vorgesetzter sein würde. Seine Sekretärin sagte: »Gehen Sie gleich ‘rein, D., E. D. erwartet Sie.« Dann flüsterte sie: »Herzlichen Glückwunsch zum neuen Job. Wir freuen uns alle so für Sie. Ist es nicht wunderbar? BE.«

»Was, um Himmels willen, ist BE, Jean?« fragte ich.

Sie sah erstaunt aus: »Na, Brauteinkäuferin, natürlich.«

Hätte ich mir doch denken können.

Mr. Cavanaugh war reizend. Er hielt mir eine offizielle Begrüßungsansprache wie bei einem Kongreß, beginnend mit den Worten: »Ich habe immer gewußt, daß der Tag kommen würde...« und endend mit: »Was mich am meisten erfreut, ist die Tatsache, daß es Ihnen aus eigener Kraft gelungen ist, Mr. Kirkpatricks volles Vertrauen zu gewinnen. Seien wir ehrlich: Zuerst war er nicht gerade gut auf Sie zu sprechen. Doch jetzt singt er Ihr Loblied.«

»Wirklich?« fragte ich. Ein Kirkpatrick, der — was auch immer — sang, war schwer vorstellbar.

Wir sprachen im einzelnen über die Abteilung. Mr. Cavanaugh zeigte mir die Nettozahlen, die nicht so gut waren, wie ich angenommen hatte. Unsere Verkaufsziffern waren zwar nicht gesunken, doch die Betriebskosten hatten sich erhöht. Er sagte: »Wir erwarten, daß Sie der Abteilung großen Auftrieb geben werden.« Dann zeigte er mir den Finanzplan. Ich hatte überwältigend viel Geld auszugeben. »Durch Mrs. Snells Abwesenheit sind wir mit unseren Einkäufen für den Herbst schwer in Verzug. Ich glaube, Sie sollten Ende nächster Woche nach Los Angeles fahren, die Woche darauf nach Dallas. Anschließend Paris und Rom.« Beim Abschied schüttelte er mir feierlich die Hand und sagte: »Sie sind die jüngste Einkäuferin des Hauses, D’Arcy. Ich habe großes Vertrauen zu Ihnen. Ich bin sicher, daß Sie einen rauschenden Erfolg aus diesem Job machen werden.« Ich dankte ihm, und er bedachte mich mit einem breiten, warmen, irischen Lächeln. »Wir stehen alle hinter Ihnen«, sagte er, »also keine Angst.«

Als nächstes war ich bei Miß Ponsonby angemeldet. Auch sie hielt eine Rede; kurz, aber lieb und direkt. »Ich glaube, ich weiß, wie Ihnen zumute ist. Wir haben alle diesen Übergang von der Teilverantwortung zur vollen Verantwortung durchgemacht. Denken Sie daran, wann immer Sie Probleme haben, die Sie besprechen möchten, ich werde stets für Sie da sein.« Dann fuhr sie fort: »Ich habe mit Vivienne Gordon von Modehüte gesprochen. Sie kommt mit Freuden als Einkaufsassistentin zu Ihnen. Ich bin sicher, daß Sie prächtig mit ihr auskommen werden.«

Sie fuhr fort: »Sie beginnen Ihre neue Arbeit ja offenbar mit einigen neuen Leuten. Ich habe ihnen ein reizendes junges Mädchen als Ersatz für Miß Pye geschickt, Roberta Willis. Und Sie wissen vermutlich schon, daß Miß Banville uns Ende nächster Woche verläßt.«

Nichts wußte ich. Also hat Kirkpatrick sie doch ‘rausgeworfen, dachte ich. »Warum verläßt sie uns?« fragte ich.

»Sie hat wohl Heimweh. Jedenfalls sagte sie mir, daß sie beschlossen hat, nach Frankreich zurückzukehren.«

»Sie hat also von sich aus gekündigt?«

»O ja«, erklärte Miß Ponsonby. »Wir haben aber eine Reihe von Bewerbungen für die Brautabteilung, von denen einige sehr vielversprechend aussehen. Ich werde sobald wie möglich veranlassen, daß die Betreffenden sich vorstellen.« Sie reichte mir die Hand und sagte: »Lassen Sie uns Anfang nächster Woche zusammen essen. Bis dahin: alles Gute.«

Als ich schließlich in meine Abteilung zurückkam, schien dort alles ruhig und in bester Ordnung zu sein. Roberta, unsere neue Empfangsdame, war bereits an der Arbeit. Sie war ein intelligent aussehendes junges Ding von ungefähr zwanzig, mit Stupsnase, einem dunklen Pagenkopf und einer Brille, die sie irgendwie noch hübscher aussehen ließ. Ich machte mich mit ihr bekannt, und sie lächelte vergnügt: »Ich bin sicher, daß es mir hier glänzend gefallen wird«, sagte sie. Ich warf einen Blick in ihren Terminkalender und sah, daß Suzanne mit einer Braut in Anprobe 5 beschäftigt war. Ich bat Roberta, Miß Banville zu sagen, daß ich sie gern sprechen würde, sobald sie frei sei.

Ich hatte letzthin viel zu wenig Zeit für meinen Schreibtisch gehabt, und dort stapelte sich infolgedessen die Arbeit. Es wartete beispielsweise ein ganzer Haufen neuer Aufträge, die an verschiedene Fabrikanten durchtelefoniert werden mußten; dann waren da Lieferscheine, die der Überprüfung harrten; Rechnungen, die ich abzeichnen und weitergeben mußte. Morgen war mein freier Tag; Samstag würde sicher das übliche Tollhaus sein; und es war unbedingt notwendig, diese aufgesummten Dinge zu erledigen, ehe Vivienne Gordon hier einzog und ich in Mrs. Snells Büro hinüberwechselte. Mrs. Snells Büro. Ich wagte kaum, es anzusehen, geschweige denn, dort einzuziehen. Wieder überfiel mich meine jugendliche Panik. Ich konnte unmöglich ihren Posten ausfüllen; ich konnte unmöglich auf dem Stuhl sitzen, der so viele Jahre der ihre gewesen war; und ich beschloß plötzlich, daß ich am nächsten Montagmorgen die Hausverwaltung anrufen würde, damit sie meinen guten alten Einkaufsassistentinnenstuhl in Mrs. Snells Büro brachte und ihren hierher stellte. Doch gleich darauf entschied ich bereits, nichts dergleichen zu tun. Es war lächerlich. Wenn das meine Einstellung war, konnte ich ebensogut gleich den Schwamm oder das Handtuch in den Ring werfen, oder was immer man dorthin zu werfen pflegte.

Ich schloß meine Tür und setzte mich hin, um mich über die Papierstapel herzumachen; und gerade, als ich richtig gut im Gange war und die Arbeit mir mühelos von der Hand ging, flog die Tür auf und Suzanne stürzte herein, beinahe Schaum vorm Mund. Noch nie hatte ich sie so außer sich gesehen.

Ohne Einleitung schrie sie: »D’Arcy, ich habe genug. Ich habe es bis hier!« Sie griff sich an die Kehle.

»Was ist denn los?«

»Diese Leute«, schrie sie. »Die sind ja nicht menschlich! Ich lasse mir das nicht gefallen!«

»Welche Leute? Und wovon redest du?«

»In Anprobe 5, D’Arcy. Ich gehe nicht wieder hinein. Schicke jemand anderen, der sich um die kümmert.«

Sie war so aufgeregt, daß ich kein vernünftiges Wort von ihr erwarten konnte. Ich eilte hinaus in Anprobe 5 und fand, daß sie allen Grund hatte, sich aufzuregen. Die zukünftige Braut war eine blonde Göre von ungefähr siebzehn. Die dazugehörige Mutter eine knochige Rothaarige von Anfang dreißig. Beide waren knallhart und höchst ausfallend. Sie beschimpften mich, sie beschimpften Fellowes, sie schrien sich gegenseitig an; schließlich gelang es mir, sie davon zu überzeugen, daß sie in einem anderen Geschäft wesentlich besser aufgehoben sein würden, und sie schoben knurrend davon. Selbst wenn sie nicht aus der Unterwelt kommen, sind Bräute im Kindesalter fast immer eine Pest im Nacken.

Suzanne war weder im Foyer noch im Aufenthaltsraum der Beraterinnen; doch ein Zettel auf meinem Schreibtisch erklärte ihre Abwesenheit bis zu einem gewissen Grade. Er war in Rotstift hingekritzelt: D’Arcy — ich bin zu Tisch gegangen — wenn Du mit mir essen willst, findest Du mich im Longchamps! S. B.

Die Einladung paßte mir ganz und gar nicht. Ich war daran gewöhnt, um ein Uhr zu Mittag zu essen, — wie die Seelöwen im Zoo — und jetzt war es erst kurz vor zwölf. Andererseits ging ich selten zu Longchamps, weil es zu weit von Fellowes lag — hin und zurück je ungefähr eine Viertelstunde zu Fuß. Ich konnte einfach nicht so lange fortbleiben. Ich mußte mich durch den Papierberg auf meinem Schreibtisch wühlen, oder eine Anzahl Bräute würde nicht in den hübschen Kleidern, die sie sich bestellt hatten, zum Altar schreiten, und eine Anzahl Fabrikanten nebst Angestellten würden ein oder zwei Wochen außer Lohn und Brot sein.

Ich hatte jedoch den Verdacht, daß meine erregbare französische Freundin ein geneigtes Ohr brauchte; sonst hätte sie sich kaum die Mühe gemacht, mir diese reichlich knappe Nachricht zu hinterlassen. Das war viel mehr als eine wütende Reaktion auf die nerventötende Kind-Braut und ihre Mama — normalerweise wurde sie mit solchen Leuten spielend fertig. Aber sie hatte gekündigt. Sie ging zurück nach Frankreich. Alles deutete darauf hin, daß sie recht niedergeschlagen war.

Ich fand insofern einen Kompromiß, als ich wie eine Wilde bis ungefähr halb eins arbeitete; dann hastete ich davon, mich wie ein Aal durch den mittäglichen Fußgängerstrom der Fifth Avenue windend; zehn Minuten später kam ich im Longchamps an — ein neuer Streckenrekord. Suzanne saß an einem kleinen, roten Tisch für zwei Personen und nibbelte an einem spanischen Omelett. Ich kam atemlos bei ihr an.

Sie maß mich mit einem kühlen Blick. »Ach, du bist’s.«

»Hattest du jemand anders erwartet?«

Sie kaute wohl zwanzigmal auf einem Bissen Omelett herum, ehe sie antwortete: »Du hast dir ja fein Zeit gelassen, bis du kamst, nicht?«

»Zeit gelassen? Ich habe mich beinahe überschlagen, um herzukommen. Guck mich doch an, ich kann ja kaum japsen. Hast du etwas dagegen, wenn ich mich setze?«

Sie wies mit der Gabel geringschätzig auf den anderen Stuhl. Ich setzte mich, behielt jedoch den Mantel an. Sie war höchst giftiger Laune, und ich wußte noch nicht, ob ich bleiben würde.

Suzanne erfaßte das sofort und sagte: »Man darf in diesem Lokal den Mantel ausziehen.«

»Ich möchte ihn lieber anbehalten.«

»Wie du willst.«

Sie aß mit entnervender Hingabe weiter, immer die gleichen, winzigen Bissen. Jede Gabel voll schien abgezirkelt genau so und so viel Millimeter und Milligramm von ihrem Omelett zu enthalten. Dies Gehabe mit anzusehen, machte mich fast wahnsinnig. Gott sei Dank erschien eine nette, kleine Serviererin, bei der ich Käsetoast und Kaffee bestellte.

»Nun?« fragte ich dann, als das Mädchen gegangen war, »was fehlt dir?«

»Fehlen? Mir fehlt gar nichts.«

»Warum hast du mir dann einen Zettel hingelegt und mich gebeten, dich hier zu treffen?«

»D’Arcy, ich habe dich nicht gebeten, mich hier zu treffen. Ich teilte dir lediglich mit, daß ich hier sei für den Fall, daß du mit mir essen wolltest.«

Ich schob meinen Stuhl zurück und sah mich nach der netten, kleinen Kellnerin um.

»Was soll das?« fragte Suzanne.

»Ich möchte meine Bestellung streichen.«

Ihre grauen Augen schossen Blitze. »Warum?«

»Ich muß zurück ins Geschäft. Es wartet sehr viel Arbeit auf mich. Wenn ich damit heute nachmittag nicht fertig werde, muß ich morgen, an meinem freien Tag, kommen.«

»Du bist sehr dramatisch.«

»Eigentlich nicht.«

»Ich habe Neuigkeiten für dich.«

»Erzähl sie mir später, in meinem Büro.«

Sie lächelte unschuldig. »Das ist leider nicht möglich.«

»Oh, doch. Ich bin bis halb sechs da.«

»Aber ich habe nicht die Absicht, zu Fellowes zurückzukehren.«

»Ach?«

»Ich bin gegangen, D’Arcy, ab sofort.«

»Großartig. Herzlichen Dank.«

»Du scheinst wenig erfreut.«

»Oh, durchaus nicht.« Wieder blickte ich mich suchend nach der Bedienung um.

»Hör auf, dich so kindisch zu benehmen«, sagte Suzanne.

»Ach, tue ich das?«

»Ja, du hast aufgehört, menschlich zu denken. Du übernimmst Mrs. Snells Posten; du wirst Einkäuferin, und du denkst lediglich daran, welche Unbequemlichkeiten ich deiner kostbaren Abteilung dadurch zufüge, daß ich gehe. Stimmt’s?«

Ich blieb die Antwort schuldig.

Über den Tisch gebeugt sagte sie leidenschaftlich: »Aber ob es dir unbequem ist oder nicht, ich bin fertig mit allen diesen gräßlichen Leuten, mit all den widerlichen Bräuten und ihren Müttern und was sonst noch dranhängt. Zum Teufel mit ihnen. Ich habe die Nase gründlich voll. Ich würde nicht zurückkommen, und wenn man mir allen Tee Chinas dafür böte. Ich bin frei, D’Arcy, ich kann wieder atmen.«

»Freut mich für dich.«

Jetzt wieder ganz ruhig, sagte sie: »Vielleicht interessiert es dich, daß ich in drei Wochen heirate. Danach gehe ich auf vier Wochen Hochzeitsreise nach Honolulu.«

»Du heiratest?« rief ich. »Mein Gott, wie herrlich. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Das ist ja wunderbar, Suzanne.«

Meine Aufregung blieb ohne Echo. Sie war fern und gleichgültig. »Danke.«

»Aber zu Miß Ponsonby hast du gesagt, du gehst zurück nach Frankreich?«

Sie zuckte mit den Achseln: »Ich habe Miß Ponsonby das erstbeste gesagt, das mir einfiel. Es geht sie nichts an.«

» Witold muß überglücklich sein —«

»Worüber? Ich heirate nicht Witold. Das habe ich dir schon früher einmal gesagt: Witold ist kein Mann zum Heiraten.«

Sie ist verrückt geworden, dachte ich. Laut fragte ich: »Wer ist also der Glückliche?«

»Mr. Brill.«

»Mr. Brill?« Da tauchte der also wieder auf. »Woher stammt denn dieser Mr. Brill? Bis gestern hast du ihn nie erwähnt.«

Mit gelangweilter Stimme sagte sie: »Bevor ich zu Fellowes kam, habe ich in einem Modegeschäft in der 57. Straße gearbeitet. Mr. Brill war Mitinhaber des Geschäfts. Er hat sich immer für mich interessiert. Wir sind seit einigen Jahren gut befreundet.«

Mit gut befreundet konnte sie nur eines meinen. »Du willst also sagen, es hat ihn die ganze Zeit gegeben, und du hast ihn nie erwähnt?«

»Ja.«

Ich starrte sie verdutzt an. »Und wann hast du beschlossen, ihn zu heiraten?«

»Neulich abend, nach dieser blöden Sache mit Natalie Harris. Als du zum Abendessen kamst. Mir wurde plötzlich klar, daß ich nur mein Leben vergeude. Ich konnte so nicht weitermachen. Also rief ich Mr. Brill an, wir trafen uns im El Morocco und kamen zu unserem Entschluß.«

Die Kellnerin brachte meinen Kaffee und den Käsetoast, und ich kaute lustlos daran herum, voll beschäftigt mit dem, was meine Freundin mir erzählt hatte. Nur eines war mir klar: Ich wußte nichts von ihr; ihre Art zu denken ging weit über mein Vorstellungsvermögen hinaus, und sie war im Grunde genommen eine völlig Fremde. Ich hätte überströmend glücklich sein müssen vor Freude, daß sie heiratete; statt dessen war ich bestürzt. Sie liebte ihren Mr. Brill nicht, das zumindest wußte ich gewiß. Eine verliebte Suzanne wäre ein einziges Strahlen gewesen — selbst beim Mittagessen im Longchamps. Eine verliebte Suzanne wäre ein Anblick gewesen, den man nicht wieder vergißt, glücklich und übermütig. Sie strahlte nicht, sie war nicht übermütig. Sie liebte nicht.

Und sie hatte ihren langweiligen, widerwärtigen Job im Brautsalon einfach so hinter sich gelassen. Eins zu Null für sie. Und doch war ich nicht sehr beeindruckt. Sie war einfach in hysterischer Wut davongelaufen, ohne daran zu denken, was für Unannehmlichkeiten sie verursachte — ohne ihren Terminkalender zu übergeben, ohne jemandem zu sagen, was für Zusagen sie Kunden etc. gegenüber gemacht hatte — und wir würden uns die Haare raufen, die Scherben zusammenlesen und versuchen, das Puzzle-Spiel zusammenzusetzen. Das war kein anständiger Abgang, und ich konnte nicht so tun, als gefiele er mir.

Sie war noch immer meine Freundin. Ich trank schnell einen Schluck Kaffee und schickte mich an zu gehen.

»Kommst du morgen abend zu mir zum Essen?« fragte ich.

»Nein, ich treffe mich mit Mr. Brill.«

»Dann bringe ihn doch mit.«

»Nein, tut mir leid, das geht nicht.«

»Schön — wann sehe ich dich also?«

»Das kann ich im Augenblick noch nicht sagen. Wir planen eine ganz stille Hochzeit. Keine Gäste außer Mr. Brills Familie.«

»Ich werde dich also vor deiner Hochzeit nicht mehr sehen?«

»Wir werden etwas arrangieren. Ich melde mich bei dir.«

Sie begann ein neues Leben und wollte mich nicht einbeziehen. Sie setzte sich von mir ebenso ab wie von ihrer Arbeit.

Ich nahm meine Rechnung auf und legte einen viertel Dollar Trinkgeld unter die Tasse. »Nun, ich muß zurück ins Geschäft.«

Sie nickte. Plötzlich sah sie sehr blaß aus und schien zu zittern.

»Ich hoffe, daß du sehr glücklich wirst, Suzanne«, sagte ich.

Wieder nickte sie.

»Adieu.«

»Adieu.«

Ich stand auf.

»Noch eines, D’Arcy. Würdest du mir einen großen Gefallen tun?«

»Womit?«

»Ich habe mein Geld für diese Woche nicht abgeholt. Vielleicht könntest du es dir von der Kasse geben lassen und es mir per Post schicken.«

»Ja, mache ich.«

Damit war alles vorüber. Ich ging.

Im Salon war viel los. Sobald sie meiner ansichtig wurde, sagte Roberta Willis: »Oh, Miß Evans, ich bin so froh, daß Sie zurück sind. Miß Caswell bat mich, Ihnen etwas auszurichten. Ihre Mutter ist im Krankenhaus, und man hat angerufen, sie möge sofort kommen.«

»Ach, du meine Güte.«

Roberta fuhr fort: »Außerdem ist ein Ferngespräch aus Portugal gekommen, aus Lissabon. Es war niemand da, der es hätte annehmen können, deshalb tat ich es.« Die hübschen Augen hinter den Brillengläsern waren ganz groß: »Das Gespräch kam von Miß Lorinda Lorraine. Ist das etwa die Lorinda Lorraine? Die berühmte Schauspielerin?«

»Ja. Was wollte sie?«

Roberta warf einen Blick auf ihren Notizblock. »Sie bat mich, Ihnen zu sagen, die Hochzeit sei jetzt endgültig abgesagt, und Sie möchten bitte dafür sorgen, daß ihr Brautkleid so schnell wie möglich verschwindet.« Roberta blickte forschend zu mir auf: »Sie klang so tragisch, Miß Evans.«

Doch Lorinda Lorraines Liebesleben war im Augenblick meine geringste Sorge. Mrs. Buckingham hatte ihren freien Tag, und durch den Ausfall von Miß Caswell und Suzanne blieb mir nur die Hälfte der normalen Zahl von Beraterinnen. Die Situation war höchst beunruhigend.

Ich ging in mein Büro und rief Kirkpatrick an. Seine Sekretärin sagte, er sei mit Mr. Dietrich und Mr. Carroll zum Essen gegangen. »Ich erwarte ihn nicht vor halb drei zurück, frühestens. Werde ihm dann aber gleich sagen, daß Sie ihn sprechen möchten.«

Ich rief Miß Ponsonby an. Auch sie war außer Haus. Ihre Sekretärin erwartete sie nicht vor halb vier. Sie sprach in einem Frauenklub über Personalprobleme in einem modernen Warenhausbetrieb.

Ich führte einige Telefongespräche mit Fabrikanten, vermied es, die Papierstapel auf meinem Schreibtisch anzusehen und ging hinaus ins Foyer, um zu tun, was ich konnte. Mrs. Hatfield kam vom Essen zurück und klagte über heftige Kopfschmerzen, so daß ich sie zur Behandlung in die Sanitätsstation schickte. Mrs. Hazel hätte an der Arbeit sein sollen, doch als ich mich erkundigte, hörte ich, daß sie Erlaubnis von Miß Ponsonby hatte, schleunigst zum Zahnarzt zu gehen wegen einer plötzlich durchgebrochenen Zahnprothese. Meine Mannschaft war damit auf zwei Beraterinnen zusammengeschmolzen, Miß de Wild und Miß Greene — und auf der anderen Seite zwölf zukünftige Bräute, die ungeduldig auf Bedienung warteten.

Um zehn Minuten nach zwei kam Margot Barry angerauscht, sehr elegant in neuem, schwarzem Strohhut und einem neuen austernfarbenen Frühjahrskleid; ich griff sie mir ohne Zögern und erklärte, sie am Nachmittag im Salon zu benötigen.

Sie zuckte mit den Achseln. »Tut mir leid. Wir haben leider sehr viel zu tun in der Schleierwerkstatt.«

»Hier ist entschieden mehr zu tun. Ich habe nur zwei Beraterinnen.«

»Zum Verkaufen bin ich nicht da.«

»Sie werden so freundlich sein zu tun, worum ich Sie bitte.«

Sie warf mir einen Blick zu, der dafür gedacht war, mich auf der Stelle mausetot umfallen zu lassen; doch mich konnte nichts mehr umwerfen. Margot ist ein Mädchen, das stets umworben werden will; doch das ist ihr Problem, nicht meines. Heute hatte ich dazu weder Zeit noch Neigung. Ich fuhr fort, Kundinnen Kleider zu zeigen, bis ich kurz vor drei Kirkpatrick am Empfang stehen sah. Er beobachtete mich ruhig und grübelnd, wie mir schien; und mein Herz tat einen Freudensprung — jawohl, einen Freudensprung — weil ich so froh war, ihn zu sehen, das erstemal an diesem Tag. Es schien unglaublich, war aber wahr: mir wurde plötzlich bewußt, daß ich ihn vermißt hatte.

Ich eilte zu ihm hinüber. Er straffte sich, als ob er innerlich leise vor sich hin fluchte: Schon wieder diese elendige Evans. Was hat sie jetzt wieder für Unannehmlichkeiten zusammengebraut?

»Meine Sekretärin sagte mir, daß Sie hier Schwierigkeiten haben?«

»Ja.« Und ich erzählte ihm von Suzanne, Miß Caswell und meinen übrigen Sorgen.

»Miß Banville ist gegangen, ohne zu kündigen?«

»Ich fürchte, ja. Sie war sehr aufgeregt, und ich bin sicher, sie handelte aus einem plötzlichen Impuls heraus. Sie hatte vorgehabt, bis Ende nächster Woche zu arbeiten.«

Er schnaufte mißbilligend. »Na schön. Ich werde gehen und mit Miß Ponsonby sprechen.«

»Ich habe sie bereits angerufen. Sie war nicht im Hause.«

Wieder ein Schnaufer. »Ich werde sehen, ob Miß Gordon verfügbar ist. Sie soll ab nächsten Montag in Ihrer Abteilung arbeiten und kann ebensogut gleich einspringen.« Er verzog das Gesicht. »Was ist mit morgen?«

»Morgen?« Ich verstand nicht, was er meinte.

»Ja. Morgen. Das ist doch Ihr freier Tag, oder?«

Ich lachte. »Oh, ich werde kommen müssen, das ist alles.«

Er gab keinen Kommentar und stelzte davon. Aber er arbeitete schnell — das mußte ich zugeben. Fast ehe ich wußte, wie mir geschah, war Vivienne Gordon bereits da, übers ganze Gesicht strahlend. »Hallo, Miß Evans, ich trete ab sofort zu Ihrer Abteilung über.«

»Aber Sie sollten offiziell doch erst am Montag kommen.«

»Mr. Kirkpatrick meinte, ich würde hier nützlicher sein als bei Modehüte. Meine Abteilungsleiterin versuchte, mich zu halten, aber er hat mich praktisch mit roher Gewalt davongeschleppt. Das ist ein Mann, was? Wo kann ich helfen?«

»Wir sind verzweifelt«, sagte ich. »Es wäre schon eine Hilfe, wenn Sie mit den Kundinnen sprechen würden. Beschäftigen Sie sie, bis eine der Beraterinnen frei ist.«

Sie nickte, und ich überließ sie ihrem Schicksal. Schließlich verstand sie nichts von dieser Arbeit. Ich hatte sie jedoch unterschätzt. Als ich sie das nächstemal sah, zeigte sie einer Braut ein Kleid, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Wenige Augenblicke später erschien Mrs. Hatfield wieder, noch blaß, doch arbeitswillig. Margot Barry schien beschlossen zu haben, daß es ihr Spaß machen würde, zur Abwechslung einmal durchs Foyer zu rauschen; und plötzlich hatte der Druck nachgelassen. Alles begann wieder reibungslos zu laufen, und ich meinte, daß ich nun Zeit haben würde, mich davonzustehlen in mein Büro.

Keine Chance. Roberta Willis hielt mich im letzten Augenblick fest. »Miß Evans, hier ist jemand für Miß Caswell. Was soll ich der Dame sagen?«

»Ist sie angemeldet?«

»Ja, für halb vier. Es steht im Kalender.«

»Wie ist der Name?«

»Helen Brown.«

Seufzend erklärte ich, mich um sie kümmern zu wollen.

Sie stand neben dem Empfangstisch, und als erstes fiel mir auf, daß sie keineswegs aussah wie Alice Pye. Sie war blond wie Alice; sie war schlank wie Alice; doch damit endete jede Ähnlichkeit. Alice war niedlich, hübsch und achtzehn Jahre alt. Dies Mädchen war keine Spur niedlich — dafür wirkte sie viel zu angespannt. Hübsch war sie auch nicht: ein kleines Gesicht mit hellblauen, beinahe starr wirkenden Augen, ein kleiner Mund. Und sie war nicht achtzehn, sondern Mitte zwanzig. Angezogen war sie nicht direkt nachlässig, doch in einer Art, daß man sie für die Lehrerin einer Kleinstadt-Volksschule irgendwo in Neu-England hätte halten können. Miß Caswell hatte offenbar den gleichen Eindruck gehabt, als sie Miß Browns Auftrag notierte — das bescheidene 110-Dollar-Kleid (Bruno bezeichnete es als sehr tragbares Modell) und das ebenso bescheidene Schleiergesteck für 45 Dollar. Das Mädchen sah ernsthaft, zielstrebig und nach harter Arbeit aus, und unwillkürlich seufzte ich auf, denn mit ihr war ohne jeden Zweifel einiger Kummer für uns fällig.

Ich ging auf sie zu und stellte mich vor. »Es tut mir leid, daß Miß Caswell für Ihre Anprobe nicht zur Verfügung ist — sie wurde sehr plötzlich abgerufen. Ich werde mich mit Vergnügen an ihrer Stelle um Sie kümmern.«

Sie antwortete leise: »Ich hoffe, Miß Caswell ist nichts zugestoßen. Sie war sehr freundlich und hilfsbereit.«

»Ihrer Mutter geht es nicht gut.«

»Das tut mir aber leid.« Sie war ehrlich bekümmert.

Ich führte sie in die große Anprobe, die ich für diese Gelegenheit reserviert hatte. Beim Eintreten blickte sie sich lächelnd um: »Oh, wie eindrucksvoll! Beim erstenmal habe ich mein Kleid in einem viel kleineren Raum anprobiert.«

»Diesen reservieren wir für besondere Gelegenheiten.«

Sie lachte. »Tatsächlich? Da komme ich mir direkt wichtig vor.«

»Die kleinen Anproben scheinen alle besetzt zu sein«, sagte ich. »Möchten Sie Platz nehmen?«

Sie setzte sich in einen kleinen, grauen Sessel, die Stirn leicht gerunzelt. Ich glaube, bei ihr war ein erster, vager Verdacht aufgeflackert, daß irgend etwas nicht in Ordnung war.

Ich fuhr fort: »Sie dürfen hier rauchen, wenn Sie möchten. Es ist zwar im Grunde nicht erlaubt, aber alle tun es.«

»Ich rauche wie ein Schlot«, sagte sie. »Das ist mein großes Laster. — Sie auch eine?«

»Nein, danke.« Ich fand einen Aschenbecher und brachte ihn ihr, dann zog ich eines unserer Goldstühlchen heran und setzte mich vom auf die Kante: »Nun zu Ihrem Kleid. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

Sie beugte sich hastig vor. Die Stimme blieb leise wie bisher. »Ist etwas mit meinem Kleid? Hoffentlich nicht. Ich heirate nächste Woche.«

»Nein. Ihr Kleid und der Schleier sind fertig.«

Sie lachte etwas unsicher. »Gott sei Dank.« Wieder beugte sie sich vor. »Mein Scheck ist auch nicht zurückgekommen, oder?«

»Um solche Dinge handelt es sich nicht.«

Sie war ratlos und verwirrt. »Um was dann?«

»Ihre Schwester war am Montag hier.«

Ihre Augen weiteten sich erstaunt. »Meine Schwester? Lucy?«

»Ja. Sie entdeckte, daß Sie Ihre Brautausstattung hier bestellt hatten, und bat darum, sie ansehen zu dürfen. Sie erklärte, daß sie nicht zu Ihrer Hochzeit gehe und sich wenigstens vorstellen wollte, wie Sie aussehen werden.«

»Aber wie, um alles in der Welt, fand sie heraus, daß ich meine Sachen hier bestellt habe?«

»Von einer Freundin.«

»Oh, natürlich. Von Sally Ann Greer. Typisch Lucy. Wenn sie sich einmal etwas vorgenommen hat,, gibt es kein Aufhalten.« Sie lächelte traurig. »Sie kam also her, um mein Kleid anzusehen? Sie haben es ihr hoffentlich gezeigt?«

»Leider ja.«

Ernsthaft sagte Miß Brown: »Das war nicht falsch. Bitte, denken Sie das nicht. Ich bin sehr froh, daß Sie es ihr gezeigt haben. Schließlich ist sie meine Schwester, und ich habe sie sehr lieb.«

»Ich bin nur deshalb beunruhigt, weil sie am Tage darauf, Dienstagmorgen, mit Ihrem Vater wiederkam, der sich das Kleid ansehen sollte.«

Plötzlich blaß geworden, lehnte Miß Brown sich zurück. »Oh? Tatsächlich?«

»Ich versuchte, Mr. Brown zu erklären, daß ich ihm Ihr Brautkleid nicht ohne Ihre Einwilligung zeigen könne —«

Ein bitteres Auflachen.

»- aber Ihr Vater verfügt über großen Einfluß — «

Wieder ein Lachen. »Ja, nicht wahr?«

»— und so mußte ich es ihm schließlich doch zeigen«, schloß ich.

»Wie komisch! Ich kann es gar nicht abwarten, es Andrew zu erzählen!« Sie war noch immer blaß, doch ihre Augen glitzerten. »Und was sagte mein lieber Vater? Hat er eine seiner üblichen brillanten Bemerkungen gemacht? Er ist berühmt für seinen Witz, müssen Sie wissen. Was hat er gesagt?«

»Er schien das Kleid für Sie nicht gut genug zu finden.«

»Tatsächlich? Sieh an!«

Ich schwieg.

Sie überlegte einen Augenblick; dann sagte sie: »Das hat sicher Lucy angezettelt. Sie ist ein bißchen größenwahnsinnig, unsere Lucy. Wahrscheinlich träumt sie davon, daß Andrew auf einem weißen Roß zum Altar geritten kommt, wo ich hermelinumwallt stehe, einen Orchideenstrauß in der Hand.«

»Sie hat sehr viel Phantasie.«

»Und ob.« Mit einer energischen Bewegung drückte sie ihre Zigarette aus und stand auf. »Vielen Dank, daß Sie mich informiert haben über Lucy und meinen Vater, Miß Evans. Kann ich jetzt bitte anprobieren?«

Ich stand auf, blickte sie voll an. »Da ist nur noch eines.«

»Oh, ja?« Sie bemühte sich um einen gleichmütigen Ton, doch ich spürte, wie angespannt sie war.

»Ihr Vater hat ein neues Kleid für Sie ausgesucht, Er möchte, daß Sie es als Hochzeitsgeschenk annehmen.«

Ungläubig starrte sie mich an. Dann lachte sie auf, schüttelte sich buchstäblich vor Lachen, daß ihr die Tränen aus den Augen rannen. »Oh, wie wunderbar? Das Kleid, das ich ausgesucht hatte, gefiel ihm nicht, also suchte er ein neues aus! Ist das nicht prachtvoll?«

»Das Kleid ist bildschön. Bitte, sehen Sie es sich an.«

Ihr Gesicht verhärtete sich. »Ich will es nicht sehen. Ich habe nicht das leiseste Verlangen, es zu sehen. Das ist nur wieder eine Beleidigung, wieder ein Versuch, mich zu demütigen. Mein Vater ist unschlagbar darin, Beleidigungen auszudenken. — Wir haben jetzt wirklich genug Zeit vertan, Miß Evans, meinen Sie nicht? Bitte, zeigen Sie mir jetzt mein eigenes Kleid.«

Sie klang wie ihr Vater.

»Ich werde es holen.« Damit ging ich zur Tür.

Sie rief mir nach: »Warten Sie!«

Ich wartete.

»Nur aus Neugierde« — sie lachte leicht auf: »Wie ist dies Kleid? Das, welches mein Vater so freundlich für mich ausgesucht hat?«

»Es ist ein importiertes französisches Original — «

»Ja?«

»Wildseide mit bestickter Alençon-Spitze — «

»Ja?«

»Handgestickt —«

»Klingt schauderhaft«, sagte sie. »Ich will nichts mehr hören. Bitte, bringen Sie mein eigenes Kleid.«

Ich öffnete die Tür.

»Miß Evans?«

Ich wandte mich um.

Ihre Augen glitzerten belustigt. Sie sah jetzt lebhaft und anziehend aus, gar nicht mehr mausegraue Lehrerin. »Hoffentlich halten Sie mich nicht für eine Plage?«

»Natürlich nicht.«

»Dann zeigen Sie es mir. Das Hochzeitsgeschenk meines Vaters.« Sie lachte. »Ich möchte meinem Verlobten davon erzählen können.«

»Natürlich«, erwiderte ich und entschwand schleunigst, ehe sie ihre Meinung noch einmal ändern konnte.

In dem engen Flur lief ich in Vivienne Gordon hinein und fragte sie, was sie gerade tue.

»Ich bediene draußen eine Braut.«

»Bitten Sie eine der Beraterinnen, die Kundin zu übernehmen, und dann kommen Sie sofort in den Frischhalter. Dies ist ein Notfall.«

Sie warf mir einen überraschten Blick zu, nickte aber und eilte davon.

Dann trieb ich Mrs. Docherty, eine unserer beiden Absteckerinnen, auf und wies sie an, im Zimmer der Beraterinnen zu bleiben, bis ich sie rufen würde — sie sollte unter keinen Umständen bei einer anderen Anprobe anfangen, bis sie von mir gehört hatte. Als nächstes holte ich mir unsere Lageristin, Estelle, und sobald Vivienne Gordon wieder auftauchte, transportierten wir Mr. O. B. Browns Hochzeitsgeschenk aus dem Frischhalter in die große Anprobe. Es schien wirklich zehn Zentner zu wiegen. Miß Gordon fragte mit zusammengebissenen Zähnen: »Für wen ist denn das? Für die Königin von Saba?«

Miß Brown sah interessiert zu, wie wir das Kleid auf einen Vorführständer hingen. Wir traten beiseite, damit sie es ungehindert begutachten konnte, und sie saß schweigend da, das kleine Kinn in die Hand gestützt. Darm stand sie auf, besah sich das Kleid aus der Nähe, ging einmal herum, inspizierte es von hinten. Ohne erkennbare Gemütsbewegung sagte sie dann: »Nun, nun, nun.«

»Es ist wunderschön, nicht wahr?« fragte ich.

»Oh, es ist phantastisch. Das kostet sicher ein Vermögen. Ist eine Nachricht für mich dabei?«

»Tut mir leid, nein.«

»Keine Karte?« Sie lächelte. »Ganz mein Vater. Ich höre ihn direkt sagen: >O. K. Ich nehme es. Schicken Sie die Rechnung in mein Büro.< Stimmt’s?«

Sie kannte ihren Vater sehr gut. »Ich glaube wirklich, Ihr Vater wollte mit diesem Geschenk seine Zuneigung ausdrücken.«

Sie wandte den Kopf ab, damit ich die Tränen nicht sehen sollte. »Sie kennen meinen Vater nicht, sonst würden Sie das nicht sagen.« Sie ging zurück zu dem kleinen, grauen Sessel und sagte bitter: »Wissen Sie, was er im Grunde damit bedeuten wollte? Ein Schlag ins Gesicht sollte es sein. Er wollte sagen: Kann dein zukünftiger Mann dir so etwas bieten?« Sie hatte rote Flecken auf den Backenknochen. »Es ist vulgär und scheußlich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es jemanden gibt, der ein solches Monstrum tragen würde. Bitte, nehmen Sie es fort und bringen Sie mir mein Kleid.«

Vivienne Gordon und Estelle waren offenbar beide völlig fassungslos ob dieser Szene. Ich mußte sie scharf ansprechen, damit sie wieder zu sich kamen. Wir hoben das Prachtgewand vom Ständer und schickten uns an, es hinauszutragen; und wieder rief Helen Brown mich zurück: »Miß Evans.«

Ich wartete.

Ihre Stimme klang hoch und vergnügt: »Habe ich Sie recht verstanden — mein Vater hat das für mich gekauft?«

»Ja, das hat er.«

»Dann gehört es also mir?«

»Ja.«

Sie wiederholte die Frage noch betonter: »Es ist wirklich meines?«

»Es ist wirklich Ihres, Miß Brown.«

Sie legte einen Finger an den Mund, überlegte. Ihre blauen Augen waren hell und lebendig, doch unsicher. »In dem Falle — «, sagte sie und hielt gleich wieder inne. Ungeduldig fuhr sie fort: »Nein, nein, tragen Sie es hinaus. Ich möchte nichts damit zu tun haben — «, und hielt wieder ein. Hilflos sagte sie: »Es tut mir leid, daß ich Sie derart aufhalte, aber ich kann mich nicht entschließen, ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Vielleicht — «

Wir standen da und sahen sie an.

Sie faltete die Hände und preßte sie gegen die Brust. Ihr Hals war rot angelaufen. Nervös auflachend sagte sie: »Schön, wenn es meines ist, wie Sie sagen, kann ich es schließlich ebensogut anprobieren. Nur zum Spaß, nur um zu sehen, wie scheußlich ich darin aussehe.«

Wir hingen das Kleid wieder auf den Ständer, und ich ging ans Telefon und beorderte Mrs. Docherty herbei. Ich holte Büstenhalter und Krinoline, die zu dem von Helen bestellten Kleid gehörten, und die Dior-Krone, die Alice Pye am Dienstagmorgen getragen hatte, und dann schließlich halfen Mrs. Docherty, Miß Gordon und ich Helen in das 2500-Dollar-Meisterwerk.

Die Wirkung war wieder atemberaubend. Das Mädchen schien in einer weißen Wolke zu schweben. Die Sonne schien hell auf sie.

Entrückt starrte sie ihr Spiegelbild an.

Sie versuchte zu lachen, vergeblich. Schließlich sagte sie tonlos: »Es ist phantastisch, nicht?«

»Es ist prachtvoll.«

»Und es gibt tatsächlich Mädchen, die in einem solchen Kleid heiraten?«

»Einige schon, nicht viele.«

»Es muß ein Vermögen gekostet haben.«

»Ja, es ist sehr teuer.«

»Wieviel hat mein Vater dafür bezahlt?«

»Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist ein Geschenk.«

»Ich verstehe.«

Mrs. Docherty, die auf dem Fußboden saß, sagte: »Jetzt möchte ich Sie ein bißchen tanzen sehen, meine Liebe. Tanzen Sie für mich.«

»Warum?«

»Auf dem Empfang nach der Trauung werden Sie doch tanzen, nicht? Also tanzen Sie ein paar Schritte, damit ich sehen kann, ob die Länge richtig ist.«

Helen machte einige kurze Tanzschritte. Mrs. Docherty hielt die Augen auf den Rocksaum gerichtet, der um Helens Füße schwang. Dann blieb Helen abrupt stehen. Ihr Gesicht war kalkweiß.

»Noch ein paar Schritte«, bat Mrs. Docherty, »tanzen Sie auf und ab, Kindchen, auf und ab.«

»Nein«, sagte Helen.

»Nun, Kindchen, tanzen Sie schön für Mrs. Docherty.«

»Auf dem Empfang wird nicht getanzt werden«, sagte Helen. »Er wird nicht da sein, und Lucy auch nicht. Andrew tanzt nicht.« Sie kam herüber zu mir und sagte rauh: »Würden Sie mir bitte heraushelfen?«

Wir halfen ihr. Sie sagte kein Wort, und es gab nichts, was wir ihr hätten sagen können. Als sie aus der schimmernden, weißen Wolke befreit war, setzte sie sich in den kleinen, grauen Sessel und schloß die Augen. Sie schien erschöpft.

Ich wartete, so lange ich konnte. Schließlich sagte ich: »Welches Kleid wollen Sie nun nehmen, Miß Brown?«

»Ich weiß es noch nicht.«

Sie sah sehr zerbrechlich und mitleiderregend aus, wie sie da in dem Sessel lehnte. Sie deckte eine Hand über die Augen, als genüge es nicht, sie nur zu schließen. Dann sagte sie sehr leise: »Bitte, lassen Sie mich einen Moment allein. Ich möchte nachdenken.«

»In Ordnung. Wir warten draußen auf dem Flur.«

»Danke.«

Wir gingen hinaus, und Vivienne Gordon sagte: »Oje, wie ist doch alles kompliziert! Soll ich hier mit Ihnen warten, oder meinen Sie, daß ich zurückgehen soll ins Foyer?«

»Vielleicht ist es besser. Sie werfen einen Blick hinaus«, sagte ich. »Wenn nötig, werde ich Sie rufen.« Sie eilte davon.

»Hat das arme Wurm Schwierigkeiten mit ihrem alten Herrn?« fragte Mrs. Docherty. »Ja.« Mrs. Docherty fuhr fort: »So eine nette, feine, junge Dame. Es ist doch überall dasselbe.«

Wir warteten und warteten. Schließlich sagte Mrs. Docherty: »Ich gehe wohl inzwischen besser in den Aufenthaltsraum. Meine Füße bringen mich um.« Sie watschelte davon, und ich stand und wartete weiter, bis die Tür sehr plötzlich mit einem scharfen Klicken geöffnet wurde und Helen Brown sagte: »Bitte, Miß Evans, kommen Sie herein.«

Ich trat ein. Sie schloß die Tür mit einem heftigen, kleinen Knall hinter mir. Das 2500-Dollar-Gewand lag auf dem Fußboden. Über das Oberteil und die Vorderseite des Rockes zogen sich dicke, rote Zeichen, die aussahen wie Hieroglyphen. Ich wandte mich um und blickte sie entsetzt an. Ihre Augen flammten böse. Sie hatte einen Lippenstift in der Hand.

»So!« sagte sie. »Sie können es ihm zurückschicken.«

»Aber es ist ruiniert.«

»Bitte, keine Debatte, Miß Evans. Schicken Sie es ihm zurück. Er wird es verstehen. Eine Beleidigung für die andere. Das ist seine Art, Geschäfte zu machen.«

Ich ging und sah mir das Kleid aus der Nähe an. Die großen, roten Hieroglyphen waren leicht zu entziffern :

Danke

aber ich

brauche es nicht

Helen

»Der Lippenstift ist wahrscheinlich farbecht?« fragte ich.

»Natürlich.«

»Es ist Ihnen klar, daß die Flecken nicht herausgehen?«

»Das hoffe ich. Warum sollten sie beseitigt werden? Es ist sein Kleid. Jetzt kann er es nicht zurückgeben. Er hat es auf dem Hals.«

Die Familienfehden der Browns waren nicht meine Angelegenheit. Ich ging wieder zu ihr und fragte: »Möchten Sie jetzt das andere Kleid anprobieren?«

»Ja. Nur deshalb bin ich ja hier.«

Sie setzte sich auf den kleinen Sessel und zündete eine Zigarette an. Mr. O. B. Brown wäre stolz auf sie gewesen, wenn er sie hätte sehen können; sie war zweifellos die Tochter ihres Vaters. Ich nahm das Kleid bei den Schultern, zerrte es in mein Büro und warf es über einen Stuhl.

Ich konnte Helen Brown nicht noch einmal ertragen und bat Miß Greene, die Anprobe zu übernehmen. Dann ging ich Kirkpatrick suchen. Ein 2500-Dollar-Brautkleid, das irreparabel verdorben ist, stellt schließlich eine Last dar. So etwas behält man nicht als schwarzes Geheimnis bei sich, sondern man meldet es so bald wie möglich seinem Etagenchef, damit er die Bürde mitträgt. Ich hatte ihn Dienstagmorgen gewarnt, daß Miß Brown die edle Geste ihres Vaters womöglich nicht freudig aufnehmen würde. Und was hatte Kirkpatrick geantwortet? Keine Sorge, hatte er gesagt, damit werden wir uns beschäftigen, wenn es soweit ist. Wenn nötig, können Sie mich rufen. Nun, das tat ich jetzt, und zwar schleunigst.

Aber er war nicht zur Verfügung. Seine Sekretärin erklärte: »Er hat eine Besprechung mit Mr. Dietrich. Ich weiß nicht, wann er zurück sein wird.«

»Würden Sie ihm bitte sagen, daß ich ihn sprechen muß, bevor er heute abend geht?«

»Ja, tue ich.«

Vivienne Gordon fing mich ab, als ich durchs Foyer ging. Sie fragte lebhaft: »Was ist mit Miß Brown geworden? Ich komme fast um vor Neugierde. Hat sie das fabelhafte Kleid genommen?«

Ich wollte nicht über das fabelhafte Kleid sprechen, bis ich die Sache mit Kirkpatrick erörtert hatte. Wir waren da auf die Ebene hoher Politik geraten, die weit über den Rahmen meiner Abteilung hinausging. »Ich erzähle es Ihnen alles später, wenn wir die Tagesabrechnung machen.«

»Wann tun Sie das?«

»Oh, um ungefähr zwanzig Minuten nach fünf.«

»In Ihrem Büro?«

»Ja.«

»Ich werde dasein.« Sie lächelte. »Ich kann es kaum erwarten.«

Ich hatte noch ungefähr vierzig Minuten, um mich in meinen Papierberg zu stürzen, marschierte in mein Büro und schloß fest die Tür, entschlossen, mich in dieser hart erkämpften Zeit durch nichts und niemanden stören zu lassen. Ich schob das 2500-Dollar-Kleid vom Stuhl in eine Ecke — doch es bauschte sich dank seiner Fülle weit über den Fußboden — und machte mich an die Arbeit.

Sofort begann mein Telefon zu klingeln. Es war Mr. Giachino in Boston. Irgendwie hatte er von meiner Beförderung gehört und wollte mir gratulieren. Er sei in der nächsten Woche in New York, und ob ich mit ihm essen gehen würde, Mittwoch vielleicht? Ich dankte und erklärte, daß ich noch nicht ganz übersehen könne, wie die nächste Woche ablaufen würde, und ob er am Montag oder Dienstag noch einmal rückfragen würde?

Fünf Minuten später läutete es wieder. Diesmal war es Miß Ponsonby. »Miß Evans. Ich versuche seit einer Stunde, Sie zu erreichen —«

»Das tut mir leid. Wir haben so schrecklich viel zu tun gehabt.«

»Ja, ich weiß. Mr. Kirkpatrick ist zweimal bei mir gewesen. Die Personallage bei Ihnen macht ihm große Sorge — er hat das Gefühl, daß Sie zu stark belastet sind. Ich habe aber gute Nachrichten für Sie. Ich habe eine Miß Webster ausfindig gemacht, die jetzt bei Blusen arbeitet, aber beträchtliche Erfahrungen mit Brautausstattungen hat. Ich bin sicher, daß sie Ihnen eine wertvolle Verstärkung sein wird; und das beste ist natürlich, daß sie sofort anfangen kann.«

Wir besprachen die Einzelheiten, dann ‘egte ich auf und fuhr fort, Rechnungen zu prüfen. Einige Minuten später klopfte Miß Greene, um mir zu sagen, daß die Anprobe Helen Brown vorüber sei, alles war glatt verlaufen, und Miß Brown war gegangen. Ihre Brautsachen hatte sie mitgenommen.

»Was für ein reizendes Mädchen«, sagte Miß Greene, »so höflich und guterzogen. Ich wollte, alle unsere Kundinnen wären so.« Da sah sie das Kleid in der Ecke, mit den grellroten Hieroglyphen, und sie riß entsetzt die Augen auf. »Oh, mein Gott, Miß Evans, was ist damit passiert?«

»Nichts, Miß Greene. Nur ein bißchen Lippenstift. Danke, daß Sie mir Bescheid gesagt haben wegen Miß Brown.«

Verstört zog sie sich zurück.

Eine Viertelstunde später klopfte es wieder an meine Tür. »Ja?« rief ich lahm, und herein kam Kirkpatrick.

»Es tut mir leid«, sagte ich, »ich mußte meine Tür einfach schließen. Ich versuche, von meinem Arbeitsberg herunterzukommen.«

»Ich verstehe.«

Er verstand? War das möglich?

Er schloß die Tür hinter sich, beinahe wie eine symbolische Geste seines Verständnisses, und erklärte: »Meine Sekretärin sagte, daß Sie mich wegen etwas sehr Wichtigem sprechen wollten?«

»Ja«, begann ich.

Er unterbrach mich: »Ehe wir auf ein anderes Thema kommen: hat Miß Ponsonby Sie wegen eines Mädchens namens Webster angerufen?«

»Das hat sie.«

»Miß Webster hat gründliche Erfahrung in dieser Art Arbeit, sagte mir Miß Ponsonby. Und sie ist willens, sofort anzufangen. Das sollte Ihnen einen erheblichen Teil Ihrer Sorgen abnehmen.«

»Ja — «

Er gab mir einfach keine Möglichkeit zu sprechen. »In dem Falle sehe ich absolut keinen Grund, weshalb Sie morgen kommen sollten. Sie haben hart gearbeitet; Sie tragen eine schwere Verantwortung; Sie haben Ihren freien Tag rechtschaffen verdient.« Er sprach, als ob mein Wohlbefinden Teil der Firmenpolitik wäre. »Ist das klar, Miß Evans?«

»Ja, Mr. Kirkpatrick.«

»Nun, was ist Ihr neues Problem?«

»Helen Brown.«

»Oh?«

»Sie erinnern sich, daß Mr. O. B. Brown ein importiertes französisches Modell als Geschenk für seine Tochter gekauft hat?«

»Ich erinnere mich sehr gut daran.«

»Es kostete 2500 Dollar.«

»Ja?«

»Miß Brown war heute nachmittag zur Anprobe hier. Ich zeigte ihr das Kleid und sagte ihr, daß es ein Geschenk ihres Vaters sei. Und das hat sie damit gemacht. Ich ging hinüber zu der Ecke, wo das Kleid lag, und hielt es in die Höhe, damit er die Hieroglyphen auch sehen konnte.

»Das habe ich schon gesehen, als ich hereinkam«, bemerkte er trocken. Er kam näher und sah sich die rote Schmiererei genauer an. »Miß Browns Handarbeit, wie?«

»Es ist eine zärtliche, kleine Botschaft für ihren Vater. Sie hat mich angewiesen, ihm das Kleid zurückzuschicken.«

»Was ist das für rotes Zeug?«

»Wasserfester Lippenstift.«

»Er läßt sich nicht entfernen?«

»Schlecht. Wir könnten sicher das meiste herauskriegen, aber es würde ein ziemlicher Schmierkram werden. Ich könnte mich bei Mr. Stern in der Reparaturwerkstatt erkundigen —«

»Das dürfte kaum notwendig sein. Verkaufen können wir dies Kleid ganz offensichtlich nicht mehr. Schön. Worin besteht genau Ihr Problem?«

»Ich hielt es für besser, Sie zu fragen: Soll ich das Kleid an Mr. Brown schicken?«

»Seine Tochter hat Sie darum gebeten, nicht wahr?«

»Ja.«

»Erinnern Sie sich an ihre genauen Worte? Wir sollten ganz sicher gehen, wie ihre Anweisung lautete.«

Ich hätte die genauen Worte nicht vergessen können, auch wenn ich es gewollt hätte. Ich sah sie fast noch vor mir stehen, den Lippenstift in der Hand, und den wilden, bösen, trotzigen Ausdruck in ihren Augen: »Schicken Sie es ihm zurück. Er wird es verstehen. Eine Beleidigung für die andere. Das ist seine Art, Geschäfte zu machen.«

Kirkpatrick stand sehr nahe. Er sagte: »Ich glaube, sie hat recht, er wird verstehen, was sie damit meint.«

Plötzlich, ohne zu wissen warum, wurde ich schrecklich nervös. Ich konnte nicht sprechen; konnte kaum atmen.

»Ich werde es Mr. Dietrich erzählen«, sagte er. »Er sollte wohl wissen, wie die Situation sich weiter entwickelt.«

»Ja«, erwiderte ich, immer noch reichlich aus der Fassung. »Das sollte er wohl.«

»Vielleicht wäre es gut, wenn Sie einen Bericht schreiben würden.«

»Das ist eine gute Idee. Wir sollten die Sache in allen Einzelheiten festhalten, wie sie sich abgespielt hat. Ich könnte morgen kommen und den Bericht diktieren.«

»Ich habe Ihnen doch eben gesagt, daß Sie morgen nicht kommen sollen«, gab er ärgerlich zurück. »Ich habe Ihnen gesagt, ich will nicht, daß Sie sich überanstrengen. Ich habe Ihnen gesagt — «

Er unterbrach sich, ihm schien nichts mehr einzufallen.

Ich sah ihn an. Völlig idiotisch dachte ich: Mein Gott, was passiert jetzt? Und noch ehe ich mir diese alberne Frage auch nur beantworten konnte, fand ich mich in seinen Armen wieder, er küßte mich, ich wurde von seinem Schnurrbart gekratzt und verging beinahe vor Glück, von ihm im Arm gehalten und geküßt zu werden.

Und dann, mitten in dem ganzen Feuerwerk und der Verwirrung, hörte ich ein Klopfen an der Tür und stieß ihn zurück.

Er sah mich wütend an. Das Klopfen hatte er wohl überhört — beschäftigt wie er war. Und folglich verstand er nicht, warum ich mich von ihm befreite.

»Mr. Kirkpatrick«, flüsterte ich dringend — doch es blieb keine Zeit, ihm etwas zu erklären.

Sein Gesicht war ziegelrot. »Verzeihung«, murmelte er und strebte mit großen Schritten zur Tür, als könne er nicht schnell genug hinauskommen. Er öffnete die Tür mit einer Wucht, die sie fast aus den Angeln riß und stand Vivienne Gordon gegenüber.

»Oh, Mr. Kirkpatrick«, sagte sie mit vergnügtem Lächeln. »Störe ich hier?«

»Nein«, raunzte er und strebte an ihr vorbei.

Sie kam herein und betrachtete mich mit einem ganz neuen Interesse, als habe sie meine Vielseitigkeit völlig unterschätzt. Es mußte wohl sonnenklar sein, daß sich in den vergangenen Minuten hinter meiner verschlossenen Tür einige sehr dunkle Dinge abgespielt hatten. Die Atmosphäre knisterte.

Ich begrüßte sie so ruhig ich das fertigbrachte: »Hallo, Miß Gordon.«

»Es ist zwanzig nach fünf. Machen Sie jetzt nicht die Tagesabrechnung?«

»Stimmt.« Ich holte tief Atem. Ich mußte mich mit aller Gewalt zusammenreißen. Am liebsten wäre ich Kirkpatrick nachgerannt und hätte ihm erklärt, warum wir in einem so kritischen, herrlichen Moment unterbrochen wurden; ich wollte herausfinden, was ihn dazu getrieben hatte, mich in die Arme zu reißen und so heftig und leidenschaftlich zu küssen; ich wollte sehr viele Dinge herausfinden, über ihn und mich. War das nur ein Auflodern gewesen? War das lediglich die Art und Weise, wie er alle stellvertretenden Einkäuferinnen belohnte, wenn sie gut gearbeitet hatten? War das —

Aber es war zwanzig Minuten nach fünf, und die Tagesabrechnung mußte fertig werden, oder aber die IBM-Maschinen im zwölften Stock würden verrückt spielen und durchs Dach fliegen. »Holen Sie sich einen Stuhl, Miß Gordon«, sagte ich.