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Sonnenklar, der Mann würde uns eine Menge Ärger bereiten. Unser netter, kleiner Mr. Chubb hatte die Eigenarten unserer Abteilung zwar nie ganz begriffen, doch er hatte sich stets bemüht, uns zu helfen, wenn wir um seine Unterstützung baten, und im übrigen hatte er uns laufen lassen, wie wir wollten. Mr. Kirkpatrick dagegen war offenbar ein tatendurstiger Muskelmann. Keine schönen Aussichten.

Ein Etagenchef ist gleichzusetzen mit der niedersten Stufe der Geschäftsführung in einem Warenhaus. Er kauft nicht ein; und er verkauft auch nicht. Seine Aufgabe ist es, darauf zu sehen, daß in seinem Stockwerk alles reibungslos läuft. Er ist verantwortlich für die Arbeitsdisziplin des Personals’ er zeichnet Belege über kleine Beträge ab; er ist der erste, an den ein Kunde sich mit einer Beschwerde wendet; und sollte eine Braut bei der Anprobe tot umfallen, würde er zweifellos sofort gerufen werden.

Theoretisch hatte der Etagenchef keine direkte Befehlsgewalt über mich, und er konnte sich nicht in den Verkauf unserer Brautausstattungen einmischen. Solange Mrs. Snell abwesend war, lag die Verantwortung für die Abteilung in erster Linie bei mir. Natürlich würde ich verschiedene kleine Angelegenheiten mit dem Etagenchef besprechen, doch sobald es sich um Entscheidungen von größerer Tragweite handelte, würde ich mich an den Verkaufsdirektor, Mr. Cavanaugh, wenden. Und sollte der nicht zu erreichen sein, würde ich direkt zum geschäftsführenden Vizepräsidenten der Firma, Mr. Dietrich, gehen. Ebenso konnte natürlich der Etagenchef, wenn er das Gefühl hatte, daß ich etwas falsch machte, zu Mr. Cavanaugh oder Mr. Dietrich gehen und ein Mißfallen äußern. Und darüber hinaus konnte er einfach meckern, meckern, meckern, den lieben, langen Tag, und einem das Dasein vergällen.

Ein Kirkpatrick vermochte das Gleichgewicht der Abteilung in mehr als einer Beziehung empfindlich zu stören. So etwas hatte ich früher schon erlebt. Doch Mrs. Snell pflegte kurzen Prozeß mit unbequemen Besserwissern zu machen. Ein Etagenchef, der sich einbildete, Mrs. Snell überfahren zu können, wurde sehr schnell eines besseren belehrt. Sie hütete ihre Abteilung wie eine Löwin ihre Jungen, und wenn ein Tolpatsch seine Nase in ihr Gehege steckte, begannen ihre Augen Funken zu sprühen. Sie würde zum Telefon greifen, Mr. Dietrich anrufen und ganz einfach sagen: »Der Mann muß weg.« Und noch ehe der Mann wußte, wie ihm geschah, war er draußen. Nun, sobald sie zurückkam, würde Mr. Kirkpatrick nach ihrer Pfeife tanzen. Bis dahin mußte ich mich wohl oder übel mit ihm abplagen.

Kurz vor Mittag kam Miß Greene in mein Büro, und wir besprachen den Auftrag Albacini. Ich gab ihr die Lieferscheine für das Brautkleid und die Kleider der zehn Brautjungfern und gab meine Anweisungen so klar wie möglich. Miß Greene war erst ungefähr vier Wochen bei uns, und unser Arbeitsablauf war ihr manchmal noch nicht ganz geläufig. Ich erklärte ihr, daß der gesamte Auftrag erst spät am Nachmittag vorher geliefert worden und deshalb noch nicht aus der Annahme geholt worden sei. Ich trug ihr auf, die Lageristin mit hinunter zu nehmen und den Lieferschein dem Leiter der Annahme, Mr. Poinder, vorzulegen. Er würde dann die Sendung bereitstellen und veranlassen, daß ein paar von seinen jungen Leuten die Pakete heraufbrachten. »Wenn Sie sie ausgepackt haben, prüfen Sie bitte jedes Kleid genau, ehe es auf gehängt wird...«

»Ich prüfe immer jedes Kleid genau«, erklärte Miß Greene, sofort beleidigt.

»Dessen bin ich sicher«, begütigte ich sie. »Ich habe für die Albacinis die Spezialanprobe um vierzehn Uhr dreißig reserviert. Aber mit einer Braut und zehn Brautjungfern, von der mitkommenden Verwandtschaft ganz zu schweigen, wird es selbst dort reichlich eng werden; sie werden sicher auch noch andere Anproben mit Beschlag belegen. Ich werde helfen, so viel ich kann, und jede freie Beraterin dazu schicken. Die Anproben macht Mrs. Docherty, und wenn nötig, ist Miß Grampion auch zur Verfügung.«

»Und was ist mit dem Schleier?« fragte Miß Greene nervös.

»Klären Sie das mit Margot.«

Damit zog sie ab, die Lieferscheine fest in der Hand. Ich führte mehrere Telefongespräche; einige Beraterinnen kamen mit verschiedenen Fragen. Drei- oder viermal ging ich hinaus ins Foyer, tun zu sehen, ob alles lief, wie es sollte; und um ein Uhr gingen Suzanne und ich zu Tisch.

Die Personalkantine liegt irgendwo im Kellergeschoß des Hauses. Sie ist hell und lustig, mit farbenfrohen Wänden, und dekoriert mit Reiseplakaten und exotischen Pflanzen. Ich habe im Grunde gar nichts dagegen einzuwenden, dort mein Mittagessen einzunehmen. Insbesondere, da mein Mittagessen unweigerlich aus einem grünen Salat und einer Tasse schwarzen Kaffees besteht, die ich mir ebensogut in einem Käfig im Zoo einverleiben könnte.

Wir standen in einer Schlange an der Theke, Suzanne und ich, und suchten unsere Salate aus (ihrer war mit einer Sardine verziert, meiner bestand aus ein paar grünen Blättern, darauf einige kleine Bohnen und ein paar winzige Grapefruit-Kleckschen — eine echte, richtige Raupenmahlzeit); nahmen unseren schwarzen Kaffee am Ende der Theke entgegen, zahlten an der Kasse jede ungefähr sechzig Cents und hatten das Glück, einen kleinen Tisch für zwei Personen zu finden.

Suzanne seufzte erschöpft, als sie sich setzte.

»Was ist denn mit dir los?« erkundigte ich mich.

»Oh, D’Arcy, ich hatte einen schauderhaften Morgen. Einfach schauderhaft.«

»Wirklich?«

»Ja. Diese Braut, die ich gerade betreue — die hat sich völlig verrückt mit ihrem Busen, ehrlich. Sie beklagte sich die ganze Zeit, der Ausschnitt sei nicht tief genug. Wir haben ihn tiefer gemacht, und noch tiefer und noch tiefer, bis ihr Busen praktisch ‘rausfiel, und sie war immer noch nicht zufrieden.«

»Warum hast du sie nicht gefragt, ob sie die verdammten Dinger nicht auf einem Silbertablett durch die Kirche vor sich her tragen wolle.«

Suzanne fiel beinahe vom Stuhl. »Aberdas hab’ ich doch! Hab’ ich doch! Genau das habe ich zu ihr gesagt! D’Arcy, du kannst hellsehen!«

»Keineswegs. Ich habe gehört, wie du es sagtest. Und unser neuer Etagenchef ebenfalls«, erklärte ich. »Der hat dich auch gehört. Er hätte dich am liebsten auf der Stelle an die Luft gesetzt. Suzanne, wie oft muß ich dir noch sagen, daß du höflich mit den Kundinnen sein sollst.«

Suzanne zuckte mit den Achseln. »Diese Braut hatte anderes im Kopf, sie hat nicht einmal gemerkt, daß ich sie beleidigte. Hör zu, D’Arcy — «

Doch ich konnte ihr nicht zuhören. Mich überfiel plötzlich tiefste Verzweiflung. Da saß ich, knabberte an meinem zusammengerollten Salat und dachte: Mein Gott, das ist mein Geburtstag, und er vertröpfelt so einfach. Mein ganzes Leben rinnt auf diese Weise dahin, und ich kann nichts tun, um es aufzuhalten.

Ich sah mich in der Kantine um. Die Tische waren vollbesetzt. Bei Fellowes arbeiten sieben- oder achthundert Menschen, und ungefähr ein Drittel von ihnen war hier unten während der Mittagspause von dreizehn bis vierzehn Uhr versammelt. Ein paar .junge Männer waren dabei, saubere, anständige College-Typen, doch sie zählten im Grunde nicht. Sie waren in der Ausbildung in verschiedenen Abteilungen und verdienten kaum genug, um ihre Wäscherechnungen zu bezahlen, die armen Teufel. Außerdem sahen sie aus, als fühlten sie sich höchst unbehaglich, als hätten sie sich aus Versehen hier herunter verirrt. Männer gehörten hier nicht her. Es war eine weibliche Festung, ein großer, bunter Hühnerhof voller Hennen jeden Alters. Hunderte von weiblichen Wesen, Hunderte und aber Hunderte. Hübsche, junge Dinger um die achtzehn, wie Alice Pye; Mädchen, die eigentlich keine mehr waren, wie Suzanne und ich; Frauen in mittleren Jahren, heftig zurechtgemacht, um ihre welker gewordene Haut zu verdecken — wie Mrs. Hazel und Miß de Wild; und dann ältere Frauen kurz vor der Pensionierung, wie Mrs. Buckingham. Was würde aus ihnen werden, diesen Hunderten von weiblichen Wesen? Meine Mutter hatte recht gehabt heute morgen. Wo waren ihre Männer, wo ihre Babys, ihre Haushalte, ihre Träume? Weitere Hunderte standen oben in den Abteilungen, verkauften Blusen und Morgenröcke, Schuhe und Parfüm; packten Paketchen, trugen Zahlen in Hauptbücher ein; hämmerten auf Schreibmaschinen; taten irgend etwas, um am Leben zu bleiben. Doch das waren nur die Frauen bei Fellowes. Wie stand es mit den Hunderten und aber Hunderten bei Saks und Bonwirts, bei Peck & Peck, Lord & Taylor, Altman und Bimbels, Macy und Ohrbach? Was war mit den Tausenden und aber Tausenden in den Büros in der Stadt, die sich in den Straßen, in Bussen und Untergrundbahnen drängten?

Eine fürchterliche Vorstellung. Massen von Frauen, Frauen ohne Zweck und Ziel, die alle um ein Fetzchen Leben in dieser riesigen, grauen, entzauberten Stadt kämpften, die jede Minute älter, weniger schön, weniger anziehend, weniger liebenswert wurden —

»D’Arcy«, sagte Suzanne.

»Ja.«

»Arme D’Arcy — bist du so melancholisch, weil du heute Geburtstag hast?«

»Unsinn.«

Sie lächelte mich verständnisvoll an. Sicher wußte sie genau, was mir durch den Kopf gegangen war. »Ich habe eine Idee«, sagte sie. »Hast du heute abend etwas vor?«

»Nein.«

»Gut. Dann laß uns ausgehen und feiern. Schließlich hat man ja Gott sei Dank nur einmal im Jahr Geburtstag. Wir gehen in ein gutes Restaurant, trinken guten Wein, essen etwas Gutes, amüsieren uns und gehen vielleicht ins Kino. Was hältst du davon?«

Was hatte ich schon zu verlieren. »Einverstanden.«

»Famos. Ich hole dich um sieben bei dir zu Hause ab.« Sie lächelte. »Kopf hoch, Miß Evans. Du hast noch viele gute Jahre vor dir. Trink deinen Kaffee aus, und dann gehen wir einmal um den Block.«

Wir spazierten einmal schnell um den Block und kehrten dann zurück in die Abteilung. Am Empfangspult stand eine völlig verstörte Miß Greene. »Miß Evans!« rief sie. »Bin ich froh, daß Sie wieder da sind!«

»Was gibt’s denn, Miß Greene?«

»Wir können die Sendung Albacini nicht finden«, jammerte sie.

»Was?«

Sie stand und rang die Hände. »Wir haben die ganze Annahme von einem Ende bis zum anderen durchgesucht, aber die Sendung war nicht zu finden. Sie ist einfach nicht da, Miß Evans!«

»Aber ich habe Ihnen doch die Lieferscheine gegeben«, sagte ich. »Und die Lieferscheine sind der Beweis dafür, daß die Kleider vom Fabrikanten angeliefert worden sind. Mr. Poinder selbst zeichnet die Lieferscheine ab, wenn die Sendung eingeht, und schickt sie uns herauf.«

»Ich weiß, ich weiß, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die Kleider nicht da sind. Wir haben die Annahme von oben nach unten gekehrt und keinen Fetzen entdeckt.«

»Gehen wir in mein Büro«, sagte ich.

Dort angekommen, klingelte ich Kay Enson in der Telefon Vermittlung an. »Kay, dies ist dringend. Ich möchte eine Voranmeldung für Mr. John Giachino, Giachino Brothers, Boston.« Ich gab ihr die Nummer, klemmte mir den Hörer zwischen Schulter und Kinn und schlug die entsprechende Seite in meinem Auftragsbuch auf. Es war ein paar Minuten vor zwei und sehr gut möglich, daß Mr. Giachino nicht in seinem Büro war; die meisten Fabrikanten in Neu-England pflegen sich jedoch den ganzen Tag nicht aus ihren Fabriken zu rühren. Sie gönnen sich nicht den Luxus eines Mittagessens.

Es klickte in der Leitung, und Kay Enson sagte: »Hier ist Ihr Gespräch mit Boston.« Gleich darauf hörte ich John Giachino: »Hallo, Miß Evans! Was kann ich für Sie tun?«

»Ich rufe an wegen unseres Auftrags B 439 — «

»Spitze, perlenbestickt? Plus zehnmal Seidenorganza für die Brautjungfern? Glänzende Arbeit. Das müssen Sie doch zugeben, Miß Evans. Da haben wir ausgezeichnet und tip-top gearbeitet, stimmt’s?«

»Mr. Giachino — «

Er war offenbar ein Anhänger der These, daß der Angriff die beste Verteidigung ist. Aufgeregt sprudelte er weiter: »Miß Evans, ich habe persönlich jedes Detail dieses Auftrages überwacht. Da kann nichts schiefgegangen sein. Ich garantiere, daß jedes Kleid tadellos in Ordnung ist — «

»Da bin ich ganz sicher, Mr. Giachino. Nur können wir die Sendung bei uns nicht finden.«

»Was war das?«

»Die Kleider sind nicht hier, Mr. Giachino. Ich rufe an, um Sie zu fragen, ob sie denn tatsächlich geliefert wurden.«

»Miß Evans, ich habe persönlich das Einpacken überwacht, den Versand, alles. Sie kennen unseren Ruf. Wir liefern immer pünktlich. Haben wir Sie schon einmal im Stich gelassen? Haben wir—«

»Mr. Giachino, würden Sie bitte Ihre Unterlagen prüfen?«

»Bleiben Sie am Apparat.«

Ich konnte ihn im Hintergrund wild losbrüllen hören. Miß Greene beobachtete mich mit unruhigen Augen. Wenige Augenblicke später war Mr. Giachino wieder am Apparat. »Miß Evans? Ich habe die Unterlagen eingesehen. Hier haben wir sie. Der gesamte Auftrag B 439 ist wie bestellt gestern nachmittag um 3.15 bei Fellowes, Fifth Avenue, angeliefert worden. Ich habe die Unterzeichneten Quittungen zum Beweis vor mir liegen. Sie sind gezeichnet J. Poinder.«

»Vielen Dank, Mr. Giachino. Ich wollte mich auch nur vergewissern.«

Das war das. Eine Möglichkeit ausgeschaltet. Ich legte den Hörer auf und sagte zu Miß Greene: »Versuchen wir noch einmal Mr. Poinder.« Vor meinem Büro stieß ich mit Mrs. Hatfield zusammen und bat sie, mit mir zu kommen. »Die Annahme hat eine Sendung verlegt. Wir müssen sie finden. Die Braut und ihre zehn Brautjungfern werden in einer halben Stunde hier sein, und die Hochzeit ist nächste Woche.«

»Grundgütiger Himmel«, sagte Mrs. Hatfield.

»Es ist eine Katastrophe«, sagte Miß Greene.

»Noch ist es keine«, erwiderte ich. »Gehen wir.«

Die Annahme erstreckt sich über das gesamte Kellergeschoß von Fellowes. Sie ist einen ganzen Häuserblock tief und erweckt den Eindruck, noch größer zu sein. Zwei große Paketrutschen führen hinein, und außerdem gibt es einen Lastenaufzug für alles, was nicht in die Rutschen paßt, wie beispielsweise ein Flügel oder ein antikes Büfett. Alles, was bei Fellowes verkauft wird, kommt durch die Rutschen herein oder quietscht im Aufzug abwärts; jeder Lippenstift, jedes Paar künstliche Wimpern, jedes Paar Schuhe, Kleider, Blusen, Mäntel, Hüte, Korsetts oder Nerzstolen, Cocktailmixer, Aschenbecher, Schreibmaschinenbänder. Was es auch sei, hier wird es von Fellowes vereinnahmt. Jeden Tag wälzt sich eine ständige Lawine von Paketen heran, und unten in der Annahme herrscht lärmende Geschäftigkeit - Rumpeln, Poltern, Rufen, das schrille Quietschen von Förderbändern und das Rattern von Handkarren, und über dem ganzen Raum hängt ein graues Dämmern, denn die Leuchtstoffröhren an der Decke geben nur kleine Lichtflecken, den unten wallenden Dunst vermögen sie nicht zu durchdringen.

Mr. Poinder regiert sein Reich von einem großen Drahtkäfig dicht neben dem Lastenaufzug aus. In seinem Käfig hat er Kopien eines jeden Auftrages von jedem Einkäufer im Hause sowie Kopien aller Lieferscheine. Seine Aufgabe ist es, Aufträge und Lieferscheine miteinander abzustimmen sodann Lieferscheine und Eingänge zu vergleichen; und für mich ist es ein Wunder, daß er dabei nicht den Verstand verliert.

Ich marschierte hinüber zu dem Käfig, gefolgt von Miß Greene, Mrs. Hatfield und unserer Lageristin, Estelle. Der Käfig war leer. Einen in der Nähe stehenden Arbeiter fragte ich: »Wo ist Mr. Poinder?« Die Antwort, begleitet von einer Daumenbewegung nach rückwärts, lautete: »Er muß da irgendwo sein.« Ich versuchte, das Dämmer mit den Augen zu durchdringen, und schließlich entdeckte ich ihn, einen kleinen, mageren Mann mit hohläugigem, zerquältem Gesicht, der gerade zwei Männer anbrüllte, die doppelt so groß waren wie er. Sie brüllten zurück, doch gegen ihn kamen sie nicht an. »Warten Sie hier«, sagte ich zu meinem Gefolge und ging hinüber zu Mr. Poinder. »Hallo, Mr. Poinder.«

»Hallo, Miß Evans«, erwiderte er. »B 439?«

»Ja.«

Die beiden Riesen standen daneben und glotzten verständnislos. Mr. Poinder schüttelte den Kopf: »Irgendwas ist völlig verdreht, Miß Evans. Ich habe Ihren Auftrag, ich habe den Lieferschein, aber die Kleider sind nicht zu finden.«

»Sie müssen da sein, Mr. Poinder. Ich habe mit dem Fabrikanten gesprochen. Er hat sie gestern um drei Uhr fünfzehn geliefert.«

»Tut mir leid, Miß Evans, ich habe sie nirgends finden können.«

»Bitte, Mr. Poinder, hören Sie zu«, flehte ich. »Die Braut und ihre zehn Brautjungfern werden in zwanzig Minuten hier sein. Entweder finden wir die Sendung, oder...«

Er erstarrte. »Oder was?«

»Oder ich muß mir eine Kugel durch den Kopf schießen, das ist alles.«

Er seufzte auf. »Na, schön; suchen wir noch einmal.«

Alle machten sich an die Arbeit, auch die beiden Riesen, die Mr. Poinder kurz vorher angeschrien hatte. Wir suchten den Teil des Lagers ab, wo die für die Brautabteilung eingehenden Pakete normalerweise gestapelt werden; wir suchten in den angrenzenden Bezirken; wir suchten unter den Rutschen sowie unter Förderbändern und Tischen. Ich wünschte mir vom Leben nichts weiter, als ein perlenbesticktes Spitzengewand und zehn Seidenorgandy-Kleider, Farbe dunkles Kerzenlicht; nichts weiter wollte ich, nichts weiter ersehnte ich.

Um halb drei gab ich es auf, den Tränen nahe. »Ich werde lieber nach oben gehen und versuchen, Miß Albacini in Schach zu halten«, sagte ich zu Mrs. Hatfield und Miß Greene. Dann bat ich sie, weiter zu suchen und mich sofort anzurufen, wenn sie etwas finden sollten.

»Das Zeug is’ nich’ da«, bemerkte Mr. Poinder recht düster.

»Das Zeug ist da«, erklärte ich, »und wir werden es finden.«

Ich war so zerzaust, daß ich einen der Lastenfahrstühle benutzen mußte, um hinaufzufahren. Wenn ich Glück hatte, verspätete sich Miß Albacini um ein paar Minuten, und ich würde in mein Büro schlüpfen und mir wenigstens die Nase überpudern können. Aber ich hätte wissen sollen, daß ich an einem Tage wie diesem nicht auf mein Glück vertrauen konnte. Als ich das Foyer betrat, zwitscherte Alice Pye mir entgegen: »Oh, Miß Evans! Miß Albacini ist da für die letzte Anprobe.«

Ich saß in der Falle. Ich fuhr mir mit der Zunge über die trockenen Lippen, strich mir mit Schmierfingem das Haar aus dem Gesicht und wappnete mich, Miß Albacini entgegenzutreten, während ich mich innerlich fragte, was um Himmels willen ich ihr sagen sollte.

Sie war eine hübsche Brünette, ungefähr neunzehn Jahre alt. Sie stand inmitten eines Knäuels von Verwandten und Freunden, dazu den zehn Mädchen, die ihre Brautjungfern sein würden. Ich arbeitete mich durch die Menge, setzte mein süßestes Lächeln auf und sagte: »Hallo, Miß Albacini, ich bin die Einkaufsassistentin, Miß Evans. Miß Caswell ist heute leider nicht da. Ihre Mutter ist schwer erkrankt; ich werde mich, zusammen mit Miß Greene, um Ihre Anproben kümmern. Kennen Sie Miß Greene schon? Sie wird gleich da sein.«

Möglich, daß ich zu hastig sprach, oder daß meine Nervosität zu offensichtlich war: In Miß Albacinis großen dunklen Augen flammte jedenfalls sofort Mißtrauen auf. Einige der sie umgebenden Weiblichkeiten reagierten ebenso, ihre Gesichter versteinten; sie wußten auf der Stelle, daß etwas nicht in Ordnung war.

»Möchten Sie und Ihre Brautjungfern mir bitte in die Anprobe folgen«, fuhr ich schnell fort. »Miß Margot kann dann den Kopfputz probieren —« Eine massive Dame neben Miß Albacini sagte: »Ach, Sie probieren erst den Kopfputz und dann das Kleid?«

Sie war wohl Miß Albacinis Mutter; ich witterte Gefahr. »Oh, ja«, erwiderte ich leichthin. »Das tun wir häufig, um Zeit zu sparen.«

Darauf ließ Mrs. Albacini einen längeren Redeschwall vom Stapel, in dem sie mir mitteilte, daß sie durchaus nicht meiner Meinung sei. Etliche Freundinnen und Verwandte äußerten ebenfalls ihr Mißfallen. Miß Albacini sagte: »Meine Mutter hat recht. Ich finde auch, wir sollten erst die Kleider probieren. Außerdem möchte ich, daß meine Mutter sich das Kleid ansieht, ehe ich es anziehe.«

»Eben«, erklärte Mrs. Albacini. »Zuerst möchte ich mich vergewissern, daß die Spitze tadellos ist. Dann wird sie das Brautkleid anprobieren, und danach den Schleier. Immer der Reihe nach, wie es sich gehört, wenn ich bitten darf.«

Nun hatte ich es: die Krise war da.

Als wäre es so normal wie das Aufgehen der Sonne, sagte ich: »Leider besteht da eine kleine Schwierigkeit —«

»Kleine Schwierigkeit!« schrie Mrs. Albacini auf. »Was für eine kleine Schwierigkeit?«

»Die Kleider sind alle hier, sie sind geliefert, doch wir haben etwas Mühe, sie zu lokalisieren. Bitte, beunruhigen Sie sich nicht. Wir werden sie finden — «

»Oh, mein Gott!« japste Miß Albacini. »Ich hab’s gewußt, daß alles verquer gehen würde; ich hab’s doch gewußt.«

Frauen flüsterten miteinander, drängten sich etwas näher heran, um mich in Augenschein nehmen zu können. Mrs. Albacini fragte ungläubig: »Sie können die Kleider nicht finden? Die Kleider?«

»Sie sind hier, Mrs. Albacini«, erklärte ich noch einmal. »Ich habe mich beim Fabrikanten erkundigt, sie sind zweifellos hier. Drei von meinen Leuten sind im Kellergeschoß und suchen. Es kann sich nur um ein paar Minuten handeln, bis sie sich anfinden.«

»Ich hab’s in den Knochen gespürt«, weinte Miß Albacini, »daß heute eine Katastrophe passieren würde«, und damit schickte sie sich an, in Ohnmacht zu fallen.

Ein Dutzend Arme streckten sich aus, sie zu stützen und zu einem der weiß-goldenen Sessel zu geleiten. In dem allgemeinen Durcheinander drängte ich mich durch zum Empfang und rief Mr. Poinder an; ich ließ das Telefon weiter und weiter klingeln, bis er sich schließlich meldete.

»Tut mir leid, Miß Evans. Kein Glück mit B 439.«

»Mr. Poinder, wir müssen diese Kleider finden, wir müssen.«

»Kein Zipfel vorhanden, Miß. Mir schleierhaft, wo die hingeraten sind.«

»Bitte, Mr. Poinder, suchen Sie weiter!«

»Okay.«

Ich drückte auf die Gabel und rief sofort anschließend Margot Barry an. Während ich wartete, sah ich einige Meter von mir entfernt Kirkpatrick stehen, der mich interessiert beobachtete.

»Schleierwerkstatt«, hörte ich Margots kühle Stimme sagen.

»Hier ist D’Arcy Evans. Ich bin im Foyer. Haben Sie alle Ihre Sachen für die Anprobe Albacini fertig?«

»Natürlich.«

»Dann kommen Sie so schnell wie möglich damit her.«

Sie schien höchlich verwundert zu sein.

»Ins Foyer? Warum?«

»Fragen Sie nicht. Kommen Sie.« Schon im Begriff aufzulegen, fiel mir noch etwas ein. »Haben Sie noch etwas Spitze vom Brautgesteck übrig?«

»Ein wenig.«

»Bringen Sie sie mit. Geben Sie sie Miß Albacini. Sagen Sie ihr, daß Sie sie eigens für sie aufgehoben haben, damit sie sie während der Trauung auf ihre Bibel legen und später eine Glücksbörse daraus machen kann. Verwickeln Sie sie in ein möglichst langes Gespräch. Wir sitzen hier draußen in der Klemme, und ich muß Zeit gewinnen.«

Sie verstand. »Bin sofort da.«

Als ich den Hörer auflegte, hörte ich Kirkpatrick sagen: »Irgendwelche Schwierigkeiten, Miß Evans?«

Zu einer Antwort kam ich nicht mehr. Mrs. Albacini segelte auf uns zu, einen anklagenden Finger auf mich gerichtet. Wahrscheinlich erkannte sie in Kirkpatrick den zuständigen Vertreter der Geschäftsleitung. »Sir!« flehte sie inbrünstig. »Helfen Sie uns. Helfen Sie uns!«

»Natürlich, gnädige Frau. Was kann ich für Sie tun?«

Sie übergoß mich mit Schimpf und Schande, als hätte ich das Leben ihrer Tochter ruiniert. Durchaus verständlich; sie hatte jedes Recht, aufgeregt zu sein. Kirkpaatricks Augen verengten sich, wurden böse und kalt, und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.

»Miß Evans?« wandte er sich fragend an mich, als Mrs. Albacini zu Ende war; in seiner Stimme schwang Unheil.

Ruhig und vernünftig versuchte ich, die Dinge zu erklären, doch er hörte kaum zu. Mitten in meiner Rede wandte er sich Mrs. Albacini zu und sagte liebenswürdig: »Würden Sie die Freundlichkeit haben, einen Augenblick Platz zu nehmen. Ich werde mich persönlich um die Sache kümmern. Keine Sorge. Wir werden die Kleider gewiß finden.«

Das war mehr oder weniger das gleiche, was ich ihr gesagt hatte, ohne eine andere Wirkung zu erzielen als panisches Entsetzen. Als Kirkpatrick es sagte, strahlte sie ihn voller Vertrauen an. Bitterkeit im Herzen sah ich ihr nach, wie sie eilends mit der frohen Botschaft zu ihrer Tochter zurückkehrte.

»Nun, Miß Evans?« sagte Kirkpatrick.

»Mr. Kirkpatrick, wir tun unser Möglichstes — «

»Ich gehe zurück in mein Büro, Miß Evans, und werde Poinder in der Annahme anrufen. Ich werde ihm sagen, daß er sich Ende der Woche nach einem anderen Posten umsehen kann, wenn er die Sendung nicht binnen fünf Minuten hier oben hat. Das sollte wirken.«

»Gewiß«, erwiderte ich. »Es wird eine fabelhafte Wirkung haben, denn das ist genau die richtige Art, sich Mr. Poinders Hilfe zu versichern.«

»Warten wir’s ab, ja?«

»Wenn Mr. Poinder hinausgeworfen wird, dürfte bei Fellowes ein Zustand von rigor mortis eintreten. Wenn Sie das wünschen — bitte.«

Wortlos wandte er sich um und ließ mich stehen. Ich sah Margot mit ihren Hutschachteln ins Foyer kommen. Zehn Minuten würde sie die Albacinis wohl ablenken können. Das gab mir eine Atempause. Ich sauste in den Aufenthaltsraum der Beraterinnen, wo ich Suzanne und Miß de Wild vorfand. In drei atemlosen Sätzen brachte ich meine Schauermär vor. »Es bleibt nur die eine Möglichkeit, daß der Auftrag versehentlich an eine andere Abteilung geliefert wurde. Los, sucht alle Etagen durch.«

»Aber das ist, als wollten wir eine Stecknadel im Heuhaufen suchen«, rief Suzanne entsetzt.

»Ich weiß. Tut, was ihr könnt, das ist alles.«

Ich eilte weiter in mein Büro und rief noch einmal Mr. Poinder an. Die Leitung war besetzt; offenbar war Kirkpatrick mir zuvorgekommen und stellte Ultimaten. Ich rief Kay Enson an und bat um ein weiteres Gespräch mit John Giachino in Boston. Als die Verbindung kam, sagte ich: »Mr. Giachino: es geht hier um Leben und Tod. Wir können den Auftrag, den Sie gestern geliefert haben, nicht finden. Würden Sie so gut sein, Ihre Unterlagen noch einmal genau anzusehen?«

»Bleiben Sie am Apparat«, sagte er.

Ich wartete endlos. Schließlich meldete er sich wieder: »Miß Evans, ich den gesamten Vorgang bis ins kleinste überprüft. Wir haben einen neuen Expedienten, und ich wollte ganz sicher gehen, daß er nichts falsch gemacht hatte. Aber bei uns stimmt alles: Die Sendung wurde gestern nachmittag um fünfzehn Uhr fünfzehn geliefert, und wir haben die quittierten Belege hier.«

»Danke, Mr. Giachino. Es tut mir leid, daß ich Ihnen so auf die Nerven fallen muß.«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, meinte er beruhigend. »Die Sachen sind irgendwo bei Ihnen im Hause. Sie werden sicher auftauchen.«

Einige Sekunden saß ich ganz still da, den Tränen nahe. Dann riß ich mich zusammen und schlich hinaus ins Foyer.

Ich meinte meinen Augen nicht zu trauen. Das Foyer war praktisch leer. Alice Pye saß an ihrem Schreibtisch, weiß wie die Wand; Margot Barry war dabei, die Hüte der Brautjungfern wieder in die Schachteln zu packen.

Ich ging auf sie zu und fragte: »Was ist passiert?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Plötzlich sind sie alle gegangen.«

»Und wohin?«

»Das weiß ich ebensowenig wie Sie.«

»Haben sie irgendwas gesagt, ob sie zurückkommen?«

»Nein. Sie schwammen alle zusammen ab wie ein Schwarm Heringe.«

Das Telefon auf Alice’s Schreibtisch läutete. Sie nahm ab und reichte mir den Hörer. »Für Sie, Miß Evans.«

Eine ferne Stimme sagte: »Miß Evans? Würden Sie bitte sofort in Mr. Carrolls Büro kommen.« Die Stimme wartete die Antwort nicht ab. Ich reichte Alice den Hörer zurück und setzte mich in Bewegung in Richtung Fahrstühle.

Ich weiß nicht, wie viele Vizepräsidenten es insgesamt bei Fellowes gibt. Ich kannte drei: Mr. Dietrich, den geschäftsführenden Vizepräsidenten; Miß Martin, welche die Abteilung Public Relations leitete und für die ich jetzt wohl arbeiten würde, wenn ich nicht Miß Ponsonbys süßen Reden zum Opfer gefallen wäre; und Mr. Carroll, dem solche Dinge wie Verkaufswesen, Personalwesen und Kundendienst unterstehen.

Wenn man Mr. Carrolls Namen erwähnte, senkte man unwillkürlich die Stimme zum Flüstern — nicht seiner Stellung, sondern seines Gesundheitszustandes wegen. Jeder im Hause wußte, daß er ein sehr kranker Mann war. Natürlich, wer die Abteilung Kundendienst unter sich hat, muß wissen, welch Unheil ihm blüht; und dies hatte Mr. Carroll vor ungefähr einem halben Jahr in Form eines Herzanfalls ereilt, der nach allem, was man hörte, fast tödlich verlaufen wäre. Der arme Mann hatte erst vor kurzem wieder angefangen zu arbeiten, und es wurde behauptet, daß er jedesmal, wenn er einen Brief diktierte, Sauerstoff zugeführt bekam, und daß niemand ihm gegenüber das Wort Kundendienst auch nur in den Mund nehmen durfte, weil die Gefahr bestand, daß er mit einem neuen Herzanfall zu Boden gehen und sein Leben unter seinem fast drei Meter langen Mahagoni-Schreibtisch aushauchen würde.

Als ich vor seinem Büro ankam, war ich selbst dem Zusammenbruch nahe. Wie die Albacinis und ihre Freunde ihn gefunden hatten, mochten die Götter wissen. Vielleicht hatten sie das Abteilungsverzeichnis neben den Fahrstühlen gelesen und die unheilvolle Zeile Kundendienst, 12. Stock, entdeckt. Vielleicht hatte es sie auch rein aus Instinkt zu ihm gezogen, so wie es die Schwalben nach Capistrano zieht. Jedenfalls waren sie da, der ganze dichte Schwarm. War es überhaupt möglich, daß Mr. Carroll einen Kundendienst diesen Ausmaßes überlebte? Und wenn er zusammenbrach, wer würde dann für sein Hinscheiden verantwortlich sein? Miß D’Arcy Evans, ehemals Brautausstattungen.

Zum zweitenmal an diesem Tage bahnte ich mir einen Weg durch die Menge murmelnder Frauen. Gott sei Dank, Mr. Carroll war noch am Leben — und ihm war eigentlich gar nicht anzumerken, daß er einen Herzanfall hinter sich hatte: er sah gesund, gebräunt und sehr streng aus.

»Das ist die Person«, sagte Mrs. Albacini anklagend, als ich erschien, und anscheinend brauchte sie gar nichts mehr zu sagen; das hatte sie offenbar bereits alles hinter sich gebracht. Sie stand da und fixierte mich schweigend, während die Tochter an ihrer Seite laut schluchzte.

»Miß Evans«, begann Mr. Carroll, »Mrs. Albacini, eine alte und geschätzte Kundin des Hauses, hat mir mitgeteilt, daß Sie sich äußerst nachlässig gezeigt haben, was die Beschaffung der Brautausstattung für ihre Tochter angeht. Miß Albacini und ihre Brautjungfern — «

»Zehn Brautjungfern!« rief Mrs. Albacini.

»- - - - Miß Albacini und ihre zehn Brautjungfern kamen verabredungsgemäß um vierzehn Uhr dreißig zur Anprobe, und Sie teilten Mrs. Albacini ruhig mit, daß Sie die Kleider nicht finden können — «

»Sie hat sie verloren!« schrie Mrs. Albacini. »Einzig durch ihre Nachlässigkeit hat sie sie verloren! Die Hochzeit ist nächste Woche, und wir werden alle blamiert sein! Meine Tochter kann ja keinem Menschen mehr unter die Augen treten! Sie wird zum Gespött!«

»Es handelt sich hier um eine sehr ernste Angelegenheit«, fuhr Mr. Carroll fort. »Fellowes sind stolz auf ihren Kundendienst, ganz besonders gegenüber geschätzten Kundinnen wie Mrs. Albacini. Was haben Sie dazu zu sagen, Miß Evans?«

Nun, Neues konnte ich nicht sagen, nur dieselbe, alte Geschichte wiederholen. »Mr. Carroll, die Kleider wurden geliefert. Sie sind hier im Hause. Fast meine gesamte Abteilung sucht danach. Es tut mir außerordentlich leid, daß Miß Albacini und ihre Begleitung warten müssen, aber ich bin überzeugt, daß wir die Kleider jeden Augenblick finden werden.«

Ich hätte ebensogut von einem Manuskript ablesen können, denn im selben Augenblick begann sich die Situation mit überraschender Schnelligkeit zu verändern.

»Miß Evans«, hob er mit unheilverkündender Stimme an, offenbar im Begriff, mir den Gnadenstoß zu versetzen; doch noch ehe erweitersprechen konnte, kam seine Sekretärin, ein Mädchen namens Keeler, in sein Büro gestürzt, kurvte um den Schreibtisch herum und flüsterte ihm etwas Erfreuliches ins Ohr. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Seine Augen begannen zu strahlen. Miß Keeler trat bescheiden beiseite, und er hob Schweigen gebietend die Hand. »Meine Damen«, lächelte er. »Meine Damen.«

Alles blickte ihn an. Tiefe Stille. Es kann nicht wahr sein, dachte ich.

Es war wahr. »Mrs. Albacini, Miß Albacini. Freunde. Ich habe eine gute Nachricht für Sie. Ich habe das Vergnügen, Ihnen mitzuteilen, daß soeben ein Anruf von der Abteilung Brautausstattungen gekommen ist. Die Kleider sind gefunden. Sie befinden sich auf dem Wege in den Salon; und sobald Sie bereit sind, werden Miß Evans und ihr Stab mit den Anproben beginnen.«

Ein Höllenspektakel brach los. Mrs. Albacini drückte mich so heftig an sich, daß mir die Rippen krachten. Miß Albacini schlang die Arme um mich und verpaßte mir feuchte Küsse. Großmütter schüttelten mir die Hand; Verwandte klopften mir auf die Schultern; die Luft war getränkt mit Freude, es erschien wie ein Traum.

»Ich bin entzückt über diese glückliche Lösung«, sagte Mr. Carroll und sah aus, als hätte er mindestens noch tausend Jahre zu leben. »Würden Sie sich der Damen bitte annehmen, Miß Evans?«

»Ja, Mr. Carroll.«

Miß Keeler ließ durch irgendein magisches Zeichen einen Fahrstuhl für uns kommen. Wir strömten hinein und fuhren ohne Halt hinunter in den fünften Stock. Ich führte die Prozession durch Miederwaren, Negliges, Schuhe und Modehüte; und als ich durch den weißen, schmiedeeisernen Bogen trat, rief Alice Pye mir entgegen: »Miß Evans! Oh, Miß Evans!«

Ich ging zu ihr. »Was gibt’s denn, Alice?«

»Mr. Giachino hat aus Boston angerufen. Sie möchten so schnell wie möglich zurückrufen.«

»Er braucht sich keine Sorgen mehr zu machen«, sagte ich. »Die Kleider haben sich eingefunden.«

Miß de Wild kam auf mich zugeeilt. »Miß Evans, die Kleider hängen alle in der großen Anprobe. Alles ist fertig. Und Miß Margot wartet auch mit dem Gesteck und den Hüten.«

»Wer hat die Sachen gefunden?«

»Ich«, sagte Miß de Wild bescheiden. »Sie waren aus Versehen in den dritten Stock geliefert worden.«

»Aus Versehen!« wiederholte ich. »Dafür wird ein Kopf rollen, so wahr ich hier stehe.« Damit kehrte ich zurück zu dem vergnügt schnatternden Schwarm und sagte: »Miß Albacini, würden Sie und die Brautjungfern bitte mitkommen? Wir haben eine Menge Arbeit vor uns.«

Beschwingt folgten Miß Albacini und ihre zehn Begleiterinnen mir in die Spezialanprobe. Die Kleider hingen an einem Ständer, und als ich den ersten Blick darauf warf, fühlte ich, wie das Dach über mir zusammenstürzte. Das gestickte Spitzengewand hatte sich in ein Kleid mit weitschwingendem Rock aus Chantilly-Spitze verwandelt. Und aus den zehn Seidenorgandy-Kleidern für die Brautjungfern war gepunkteter Schweizer Batist geworden.

Miß Albacini wurde ohnmächtig.

In der allgemeinen Verwirrung entkam ich in mein Büro und rief zum drittenmal an diesem Tage John Giachino in Boston an.

Er erwartete meinen Anruf bereits. Ich sah ihn buchstäblich, wie er an seinem Schreibtisch in dem vollgestopften Büro saß und die Hände rang.

»Nun, Mr. Giachino?« fragte ich sanft.

»Miß Evans! Sprechen Sie nicht mit mir in solchem Ton. Jedem kann ein Fehler unterlaufen. Ich sagte Ihnen doch, daß wir einen neuen Expedienten haben. Er hat Ihnen die falsche Order geschickt. Was Sie bekommen haben, war für Saks, Fifth Avenue, bestimmt.«

»Und wo ist unser Auftrag, Mr. Giachino?«

»Der ist noch hier, Miß Evans. Sicher und unbeschadet.«

»Sicher und unbeschadet«, schrie ich auf. »Und was gedenken Sie zu tun?«

»Ich werde die Sachen persönlich in meinen Wagen laden und zum Flugplatz fahren, Miß Evans. Ich werde den Auftrag persönlich vom Wagen in die Maschine umladen. Es wird alles in Ordnung gehen. Vertrauen Sie mir.«

»Ich vertraue weder Ihnen noch sonst jemandem, Mr. Giachino. Angenommen, das Flugzeug stürzt ab?«

Er stöhnte auf. »Sagen Sie das nicht. Hören Sie zu, Miß Evans; ich werde die Sachen nicht nur persönlich ins Flugzeug bringen; ich werde selbst mitfliegen und Ihnen den Auftrag persönlich übergeben. In Ordnung?«

»Sie können nicht vor Geschäftsschluß heute hier sein.«

»Wenn ich es könnte, würde ich es tun, Miß Evans.«

»Wann werden Sie hier sein?«

»Ich fliege heute abend, übernachte im Hotel, und ich schwöre Ihnen, daß Sie den ganzen Auftrag morgen früh als erstes haben. Um neun Uhr dreißig.«

»Ist das versprochen?«

»Auf mein Wort.«

»Lassen Sie mich nicht im Stich, Mr. Giachino.«

»Nein, Miß Evans. Ich lasse Sie ganz gewiß nicht im Stich. Sie können auf unseren Kundendienst immer zählen.«

Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte das Telefon, und Miß Keeler sagte mit eisiger Stimme: »Würden Sie bitte heraufkommen zu Mr. Carroll? Sofort.«

»Sind die Albacinis wieder da?«

»Ja.«

Also fuhr ich hinauf, und wieder drängte ich mich durch die verdrießliche Menge. Diesmal machte Mr. Carroll kurzen Prozeß mit mir. Er stauchte mich gnadenlos zusammen. Sogar Mrs. Albacini war beeindruckt. Als die Standpauke vorüber war, verlangte Mr. Carroll zu wissen, wann die Kleider zur Verfügung stehen würden. Ich sagte es ihm. Es wurde eine neue Verabredung für den nächsten Tag um zwölf getroffen; und ich kehrte in dem Gefühl an die Arbeit zurück, von einem Moloch zermalmt worden zu sein.

Um halb sechs, als ich mich gerade zum Gehen anschickte, stakste Kirkpatrick in mein Büro und sagte: »Miß Evans.«

»Ja?«

»Mr. Carroll hat mich beauftragt, Ihnen wegen der Vorfälle heute nachmittag einen offiziellen Verweis zu erteilen.«

»Bitte, fangen Sie an, Mr. Kirkpatrick.«

»Sie haben keine Veranlassung, schnippisch zu werden, Miß Evans.«

»Ich bin nicht schnippisch. Sie sagten, daß Mr. Carroll Sie beauftragt habe, mir einen offiziellen Verweis zu erteilen, also bitte, beginnen Sie und geben Sie ihn mir.«

Er sagte kein Wort mehr. Er blickte mich einen Moment durchdringend an, dann stiefelte er hinaus. Es war der erste offizielle Verweis meines Lebens. Welch prächtiger Anfang mit einem neuen Etagenchef.

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!