Wo sind die lieben Hündchen, wenn man sie braucht?
Ich zündete mir eine
Zigarette an. Der Schein der Feuerzeugflamme spielte auf Stroms
Körper, der neben mir schlief. Ich zog den Rauch ein und blies ihn
wieder heraus. Wie Sauerstoff. Meine Lippen schmeckten salzig. Eine
Weile lang bedachte ich die Möglichkeit, bis ans Ende der Zeit
Stroms Sexsklavin zu sein. (Ja, so gut war es gewesen.) Ich
brauchte eine Stunde und eine halbe Packung Zigaretten, bevor ich
die Bombardierung durch postkoitale Liebeswellen überstanden hatte
und aufstand, um mich davonzumachen. Ich fragte mich, ob ich eine
Karte hinterlassen sollte, einen netten Zettel, irgend etwas, um
ihn daran zu erinnern, daß ich dagewesen war. Ich entschloß mich
dagegen. Er würde sich schon noch an unsere gemeinsame Nacht
erinnern. Ich wußte, daß ich das würde und daß ich mit angenehmen,
wenn auch etwas weinseligen Erinnerungen daran zurückdenken
würde.
Er bewegte sich, und die Decke fiel vom Bett. Männer sehen immer aus wie Kinder, wenn sie schlafen. Ich hob das Plumeau auf und deckte ihn wieder zu und haßte mich gleichzeitig selbst wegen dieses Anfalls von Mütterlichkeit. Im Dunkeln suchte ich nach meinen Klamotten. Ich trat auf etwas auf dem Fußboden, und es krachte. Die Lampe ging an. Ich drehte mich zu Strom. Er rieb sich mit seinen Pfoten die Augen und krauste seine Nase. Bei Licht konnte ich mir ein besseres Bild vom Zimmer machen. Es war sparsam und warm eingerichtet wie meine Wohnung, und die Unordnung hatte sich über die Sauberkeit gelegt, was allerdings nicht wie meine Wohnung war, in der die Unordnung sich über den Dreck schichtete. Ich wandte meine Aufmerksamkeit einem nackten Strom zu. Caramba, dachte ich. Eine zertretene CD-Box war unter meinen Füßen.
»Ich hab’ nur das Ding hier kaputtgemacht«, sagte ich.
Er blinzelte, richtete seine Augen auf mich und sagte: »Komm zurück ins Bett.«
»Du mußt einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben«, schlug ich vor. »Vielleicht bist du sogar der Teufel.« Er bumste jedenfalls so.
»Zieh dich nicht an.« Er rollte sich auf den Rücken, wobei sein Ständer Signale wie ein Leuchtturm aussandte.
»Ich kann nicht bleiben«, sagte ich. Morgens war es immer brutal, und wenn ich nicht betrunken oder high war, zog ich es vor, abzuhauen, bevor es dazu kam. Außer mit Alex, natürlich. Die Regeln ändern sich in der Liebe. Ich war nicht verliebt in Strom — es war Lust, definitiv. Ich hob meinen Pullover auf. Er war im Bett ein Rasender, und um die Wahrheit zu sagen, hatte ich Angst davor, was er mir noch alles antun könnte.
»Wir müssen uns unterhalten«, sagte er.
Ich ging hinüber und setzte mich auf die Bettkante, um mir die übliche Rede von »Ich ruf dich dann mal an« reinzutun. Statt dessen zog mich Strom zu sich und küßte mich sanfter, als er es die ganze Nacht über getan hatte. Er schien, bei angedrehtem Licht, wie ein ganz anderer Mensch.
»Ich möchte, daß du mich kennenlernst, Wanda«, sagte er. »Sehr wenige Leute verstehen, warum ich das tue, was ich tue. Sie versuchen, aus mir schlau zu werden, aber im Endeffekt tun sie eh nur, was ich ihnen sage.«
Er stupste mit seiner Nase gegen meine Brust. Seine Sanftheit brachte mich einfach um, und ich stellte fest, daß ich ihm wie verzweifelt helfen wollte. Ich sagte: »Das geht mir ähnlich.« Aber das tat es eigentlich nicht.
»Der letzte Mensch, der mich wirklich verstanden hat, war meine Mutter«, gestand er. Ich war gelähmt vor Erstaunen — nichts an ihm war so typisch. »Mom hatte eine Art Schlaganfall, als ich klein war. Mein Vater hat versucht, mir das zu erklären, aber ich war zu jung, um zu verstehen, was passiert war. Sie wurde langsam — als ob sie im zweiten Gang steckengeblieben wäre. Sie wurde auch vergeßlich. Sie ließ das Essen auf dem Herd anbrennen, oder sie kaufte etwas und ließ es im Laden liegen. Dad war überzeugt, daß sie sich weh tun würde, und er sagte mir, ich solle auf sie aufpassen, wenn er bei der Arbeit war. Ich verbrachte also jede Minute mit ihr. Ich hatte das Gefühl, wir kannten gegenseitig unsere Gedanken. Mein Vater verschwand, als ich sechseinhalb war. Konnte die Veränderung in ihr nicht mehr verkraften. Er sagte mir, ich würde ab dann der Mann im Hause sein. Ich sagte viel >Fuck< und >Scheiße<. So wie Dad. Und ich fing an, Mom wie er herumzukommandieren. Sie fand das ziemlich süß, bis ich groß genug wurde, um ihr weh zu tun. Ich weiß nicht, wo Dad jetzt ist.«
Ich strich Strom über die Wange. Ich erinnerte mich daran, daß jede Information, die so freiwillig angeboten wird, immer suspekt ist. »Hat deine Mutter wieder geheiratet?« fragte ich.
»Hatte keine Chance dazu. Ich spielte mit Streichhölzern in ihrem Zimmer, und die Kleider fingen Feuer. Das Haus brannte ab, mit Mom drin. Ich war zehn.« Er zuckte zusammen. »He! Paß mal ein bißchen auf, ja?«
Meine Schiene am kleinen Finger hatte seine Wange zerkratzt. Ich hörte auf, ihn zu streicheln, und fragte mich, ob ich schockiert sein sollte, mitleidig oder entsetzt. »Die Mom-Geschichte«, sagte er. »Bringt einen runter, ich weiß. Hoffentlich habe ich dir nicht die Nacht versaut.«
»Wie heißt dein Bike?«
»Lila«, sagte er, indem er sich nahe an mich herankuschelte. Nach einigen schweigenden Minuten hörte ich das leise Rasseln eines Raucherschlafs. Und ich dachte, ich hätte es schwer gehabt, als ich in Short Hills, New Jersey, aufwuchs. Heimat der Shopping Malis. Ich küßte seine Augenlider, schlüpfte aus seiner Umarmung heraus und zog mich an. Auf der Uhr an der Wand stand »Freitag, 04:00 Uhr«.
Meine Beine zitterten (nicht nur vor lauter Sex), als ich ohne weitere Probleme mit dem Aufzug hinuntereilte. Ich erwartete so halb, daß ein tunichtguter Gangster mich anspringen würde, um meinen eiligen Rückzug zu vereiteln, und so war ich darauf vorbereitet, ihm meinen kleinen Finger ins Auge zu rammen. Statt dessen traf ich in der Haustür auf Lars. Er reichte mir meinen Mantel, mein Schießeisen und meine Handtasche und wies mich an zu warten. Ich wollte wissen, warum, aber er walzte in die Bibliothek, ohne mich einer Antwort zu würdigen. Ich fluchte laut genug, daß er mich hören konnte. Ich fragte mich, was hier vor sich ging — vielleicht bereitete sich da eine Überraschung vor. Draußen dröhnte eine Hupe. Ich öffnete die blutroten Eingangstüren. Auf dem Bürgersteig der East 1 Ith Street winkte mir ein Mann, den ich als Smith Jones wiedererkannte und der die schärfste Maschine ritt, die ich jemals gesehen habe.
Über dem Röhren schrie er: »Hüpf rauf, Babe. Ich bin deine Mitfahrgelegenheit nach Hause.«
Ich sagte: »Schalt mal dein Bike ab.«
Er brüllte: »Was?«
Ich langte hinüber und drehte den Schlüssel um. Der Krach hörte auf, und Smith glotzte mich an. Ich sagte: »Was denn, hast du gedacht, ein Mädchen weiß nichts über Motorräder?«
»Wo tut man denn das Benzin rein, Gehirnmaschine?« fragte er. Ich zeigte dorthin, wo Peter Fonda seine Drogen in Easy Rider versteckt hatte. Ich hoffte, daß ich keine weiteren Beweise meiner Sachkundigkeit würde liefern müssen — das war alles, was ich wußte.
»Yeah, yeah, und wo kommt das Öl rein?«
»Habt ihr Lakaien eigentlich so was wie einen Stundenplan? Ihr wußtet, wann ich ankomme, wußtet, wann ich gehe. Vielleicht kannst du ja so weit zählen — wie viele Orgasmen hatte ich?«
»Muß ich später auf dem Video nachschauen.«
»WAS?«
»Heh, heh. Nur ’n Witz, Babe. Gut reingelegt.«
Er schien freundlich genug aufgelegt zu sein, aber ich war mir nicht so sicher, ob er wirklich nur Witze machte. »Was geht hier vor, Smith? Anstandsdame? Schutz? Oder Spion?«
»Mit ganzem Namen heiße ich Smith Jones. Aber du kannst mich immer Smith rufen.« Er gluckste. »Heh, heh. Schon wieder reingelegt.« Was für eine Witzfigur.
»Du bist stoned«, stellte ich fest.
»Diese Unterstellung verneine ich«, bestätigte er mich.
»Dann hast du Hunger. Laß uns nach Kiew fahren.« Kiew ist der beste russische Deli mit Coffeeshop im Kiez, der rund um die Uhr geöffnet hat. Wenige der Kellnerinnen sprechen Amerikanisch, und die Kakerlaken sind größer als ein Mars. Super Pfannkuchen. Die Ente war schon wieder Stunden her, und außerdem hatte ich mir den Hunger verdient.
Smith sagte: »Ich hab’s Strom versprochen, daß ich dich sicher nach Hause bringen würde.«
»Was ist los, bin ich irgendeine Art Barbie-Puppe? Ich kann auf mich aufpassen, Mann. Geh mir aus dem Weg. Ich nehme ein Taxi.«
»Mach mir keinen Ärger, Babe. Ich hab’ ’nen Job zu tun genau wie du.« Er lächelte wie Onkel Dittmeyer, und sein blonder Pferdeschwanz wippte. »Ich fahre besser, wenn ich stoned bin.« Er zwinkerte mir zu, drehte den Schlüssel um und ließ den Motor wild aufheulen. Ich erinnerte mich an meinen Vorsatz zum neuen Jahr, einen selbstzerstörerischeren Lebenswandel zu entwickeln. Ich kletterte auf die Maschine, und wir ballerten in Richtung Downtown los in den ehedem friedlichen Morgen.
Auf diesem fünfhundert Kilo schweren Haufen Schrott brausten wir mit hundertdreißig Sachen über die Brooklyn Bridge. Es müssen zehn Grad minus gewesen sein minus noch mal zwanzig Grad durch die Windabkühlung. Smith sang »Born to be wild«, und ich kreischte ihn an, er solle auf die Straße achten. Das Gitterwerk auf der Brücke ließ das Motorrad summen und vibrieren. Als wir dann auf Asphalt kamen, ignorierte Smith rote Ampeln und »Stop«-Schilder. Er brüllte die Müllmänner an (die einzigen Menschen, die schon auf waren) und brachte mich rasant, aber immerhin in lebendigem Zustand zu dem roten Sandsteinhaus in Park Slope, in dem ich wohne. Ich sprang runter, wobei ich darauf achtete, den Auspuff zu vermeiden, und bat Smith, mich nach oben zu bringen. Er wußte wahrscheinlich irgendetwas, und in seinem bekifften Zustand könnte er was ausspucken.
Er sagte: »Wie du willst. Aber mach mich nicht an. Wenn ich das Babe vom Chef auch nur anrühre, bin ich Hackfleisch.« Ich konnte mir nicht helfen: Die Idee, Stroms Babe genannt zu werden, gefiel mir.
Ich begutachtete Smith in seinem Outfit, bestehend aus Overall, Lederjacke, Stiefeln und Sporen. Seine Haare waren von der Fahrt wirr (wir hatten keine Helme getragen), und seine Wangen waren rosig. Er war schmuddelig und hinreißend, aber der Sex-Alarmzustand war gerade erst vor wenigen Stunden von Strom behoben worden. Ich sagte: »Du bist einfach zu niedlich, als daß man mit dir vögeln würde, Smith.«
»Laß dich nicht von den Overalls irreführen, Babe. Ich habe Hunderte von Leuten umgebracht.«
Ich ließ das vorüberziehen, nicht ganz sicher, ob er einen Witz machte. Wir gingen nach oben, und Smith breitete sich auf meiner katzenlosen Couch aus. Otis trottete herüber, und ich spürte den üblichen Stich an Schuldgefühlen, weil ich sie so lange allein gelassen hatte. Sie sprang auf Smith und leckte sein Gesicht ab. Ich tat einige Löffel Käsechips auf einen Teller und setzte Wasser für einen Tee auf. Ich entschuldigte mich und zog mich ins Bad zurück. Es war schon eine Weile her, und ich hatte mich wohlweislich unterstanden, Strom zu fragen, wo im Hauptquartier die Damentoilette sei. Danach schaute ich in den Spiegel. Mein Gesicht sah aus wie üblich, aber ich fühlte mich post-Strom anders — vitaler. Noch waren auf meinen Armen keine blauen Flecken zu erkennen. Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, knetete Otis gerade Smiths Darmgegend, während der sich einen fetten Joint anzündete. Er fragte: »Wie nennt man eine Kuh mit einer Spitzhacke?«
»Paß auf ihre Klauen auf. Sie ist gefährlich.«
»Hackfleisch. Verstanden? Heh, heh.« Ich ging mit meiner heißen Tasse rüber und setzte mich neben ihn auf die Couch. Ich nahm einen Zug.
»Danke«, sagte ich. »Erzähl mir was über Strom. Nachdem ich etwas Zeit mit ihm verbracht habe, fühle ich mich einigermaßen dösig. Meine Perspektive ist im Eimer.« Das war mein Ernst.
»Du wirst mich nie dazu bringen, etwas Schlechtes über Strom Bismark zu sagen.«
Ich legte meine Hand auf seinen Oberschenkel. »Ich bin sehr wohl imstande, Sex einzusetzen, um zu kriegen, was ich will.«
»Das ist etwas über Strom, das du wahrscheinlich schon wußtest.« Er lehnte sich nach vorne, und Otis sprang runter. Er küßte mich keusch auf die Wange. »Ich bin weg. Strom wartet schon.« Dann machte er sich ohne große Zeremonien vom Acker. Ich konnte das Röhren seiner Maschine mindestens zehn Block weit hören. Ich fühlte mich plötzlich erschossen und legte mich auf die Couch. Ich fragte mich, ob ich heute irgend etwas Brauchbares erfahren hatte. Ich zählte die Tage zurück seit meiner letzten Regel. Schlummer schickte mich ziemlich bald danach auf die Matratze.
Es war die Sorte Morgen, an dem ich mir alle fünfzehn Minuten verspreche, daß ich jetzt gleich sofort aufstehen werde, es aber nie tue — bzw. erst, wenn mindestens zwei Stunden vorbeigeschwebt sind. Ich verbrachte die Zeit damit, mir Phantasien über meine Zukunft als Stroms Puppe vorzugaukeln. Ich fragte mich, ob ich dafür neue Klamotten brauchen würde. Ich fragte mich, ob er dafür bezahlen würde.
Gegen Mittag zwang ich mich hoch. Der Anrufbeantworter blinkte. Alle fünf Nachrichten waren von Alex. Er fing mit einem milden Spruch an: »Es ist neun. Ruf mich mal an, wenn du dazu kommst. Nichts Wichtiges.« Und es endete total genervt: »Es ist drei Uhr am gottverdammten Morgen. Herrgott. Wo zum Teufel bist du? Ruf mich sofort an, wenn du wieder zurückkommst. Das meine ich ernst, Wanda.« Der liebste Alex klang ein bißchen eifersüchtig. Ich fand’s herrlich.
Während ich mich anzog (501s und einen Kaschmirpullover), klingelte das Telefon. Ich ließ die Maschine drangehen. »Sie haben das innerste Zentrum der Verzweiflung erreicht. Dies ist der Manager, Wanda, am Apparat. Wir nehmen keine Reservierungen entgegen. Biep.« Ich hatte das während meiner durch ein gebrochenes Herz bedingten Einsiedlerzeit aufgenommen. Es brachte mich einfach um, daß Alex es vorige Nacht fünfmal gehört hatte. Ich machte mir eine geistige Notiz, die Nachricht zu ändern.
Der Anrufer sagte: »Es wäre gut für dich, wenn du gerade auf dem Weg hierher bist.« Es war Alex, wahrscheinlich in Do It Right. Der arme Kerl, wahrscheinlich war er völlig krank vor Sorge. »Bring Geld mit. Ich will heute ausgezahlt werden.« Er legte auf. Während ich zur Subway ging, dachte ich mit einiger Langeweile daran, wie ich ihn quälen könnte.
Auf dem Bahnsteig bemerkte ich, daß sie wieder da war: die attraktiv gebaute Taschendiebin. Ich versuchte, zu ihr Blickkontakt aufzunehmen, aber sie ignorierte mich. Sie war dabei, die Männer zu checken, wie wir das alle tun, wenn wir auf U-Bahnsteigen rumstehen: in der Menge der Passagiere aussuchen, wen wir am liebsten bumsen würden. Der Zug fuhr ein, und ich achtete darauf, denselben Wagen wie sie zu besteigen und mich in ihrer Nähe aufzuhalten. Ich versteckte mich hinter einer alten Frau mit fünfzig Einkaufstüten, um sie ungestört beobachten zu können. Sie wartete offensichtlich auf leichte Beute. Es war erst an der West 4th Street in Manhattan, daß ein Kandidat nichtsahnend hereinspazierte.
Er hatte lange Haare und eine arrogante Art, also ging ich davon aus, daß er in der Musikbranche tätig war. Sein Portemonnaie war in seiner Rücktasche und schaute gerade weit genug für ein nicht ganz so zufälliges Anrempeln und Klauen heraus. Ich schaute eine Sekunde weg von meiner Sekretärinnenfreundin, um der blauhaarigen alten Frau zu sagen, sie solle aufhören, mir mit ihren Tüten im Rücken herumzustochern. Als ich mich zurückdrehte, war das Portemonnaie des Typen weg, und die Mieze hatte sich den Mittelgang hinunter in den nächsten Wagen aufgemacht. Scheiße, dachte ich. Verpaßt. Damit Ende des kostenlosen Subway-Unterhaltungsprogramms.
Ich stieg in der 42nd Street aus und lief zum Times Square rüber.
Alex hatte das ganze Büro aufgeräumt, was bedeuten konnte, daß er entweder in einer ausnehmend guten oder in einer besonders schlechten Laune steckte. Ich versuchte zu erreichen, daß unsere Augen sich träfen — ich wollte dann schnell wegschauen, als ob ich ein riesengroßes Geheimnis hätte. Er gab mir nicht die Gelegenheit dazu. Er zeigte auf ein goldenes Medaillon an einer Kette mit Hakenschließe, das auf meinem Schreibtisch lag. Er sagte: »Das gehörte Flush. Ich fand es gestern abend beim Staubsaugen unter meiner Couch. Deswegen habe ich dich hundertmal angerufen, also kannst du dir diesen selbstgefälligen Gesichtsausdruck von der Visage wischen. Ich könnte mich nicht noch weniger, als ich es tue, dafür interessieren, was du mit Strom gemacht hast.« Das Medaillon fühlte sich in meiner Hand massiv und schwer an. »Drinnen ist ein Bild«, sagte er. Tatsächlich. Eine nette schwarzhaarige Frau mit Rüschenkragen, die betäubt in Richtung Vögelchen lächelte. »Du brauchst mir nicht zu danken, oder so.« Er blickte finster auf mich herunter.
Ich fragte mich, wie ihr die Kette vom Hals gefallen sein könnte, und dann auch noch unter Alex’ Couch. Während sie wie die Verrückten knutschten, wahrscheinlich. »Ihre Mom?« fragte ich.
Er zuckte mit den Achseln. »Sie ließ es in meinem Apartment liegen an dem Abend, an dem sie verschwand. Ich hatte keine Gelegenheit, sie zu fragen, wer die Frau ist.« Er grinste und schob sich das Haar aus dem Gesicht.
Ich suchte nach Beulen und Kratzern, wie Columbo es machen würde. Ich sagte: »Du mußt gar nicht so verzweifelt versuchen, mich eifersüchtig zu machen, Alex.« Ich prökelte das Foto mit einer Büroklammer heraus. Auf der Rückseite war nichts geschrieben.
»Mach das nicht, Wanda«, warnte er. »Das ist ein Indiz.«
Die Bürotür knallte auf. Die staatlichen Schnüffler traten ein. Detective O’Flanehey zwirbelte seinen Schnurrbart und sagte: »Süße, was ist passiert? Hat jemand auf deinem Kopf Schuhe geputzt?« Er kam mit großen Schritten herüber und grabschte sich das Medaillon. »Ich konnte nicht anders, als eure Unterhaltung durch das Schlüsselloch hören, als ich mein Ohr dagegendrückte.«
»Komisch, wie gut das immer funktioniert«, trug Detective »Bucky« Squirrely dazu bei.
Alex ließ sich in den Plüschkundenstuhl fallen und murmelte irgend etwas vor sich hin. Er hatte diese Bullen schon mal getroffen.
»Mach’s dir da nicht zu gemütlich, Bohnenstange«, sagte Dick zu Alex. »Wir haben einige Fragen an dich.«
»Alex arbeitet für Do It Right«, sagte ich, »und wenn er irgendwelche Fragen beantwortet, wird er das Gesetz zur Vertraulichkeit von Kundenangelegenheiten brechen.«
»Schnauze, Süße«, sagte Dick. »Also los, Beaudine. Wie unser Starzeuge ausgesagt hast, warst du mit Flush Royale dicker als ’ne Sahnetorte.« Das klang direkt wie ein Spruch von mir. »Sie ist, eine Woche bevor sie umgebracht wurde, mächtig eilig abgehauen. Ich würde mein letztes Hemd verwetten, daß sie vor dir weggelaufen ist.«
Bucky fügte hinzu: »Wir haben von dem Streit gehört.«
»Welcher Streit?« fragte ich. Alex wurde blasser als sonst.
»In derselben Nacht, als sie verschwand«, fing Bucky an, »wurden Beaudine und Flush auf der Straße vor dem Outhouse gesehen, wie sie sich in den Haaren hatten. Er kochte vor Wut und stürmte davon.«
»Willst du’s uns hier erzählen — oder in Downtown?«
Dick drohte immer, einen nach Downtown abzuschleppen, und er belegte das Wort immer mit einem drohenden Ton. Er wartete auf eine Antwort. Ich konnte am Ausdruck auf Alex’ Gesicht erkennen, daß er noch eine ganze Weile würde warten müssen, bevor er eine bekäme. Bucky starrte meine Schiene am kleinen Finger an. Dick fummelte mit dem Medaillon in seinen Fingern, als wäre es eine Gebetskette.
»Bezahlt ihr eigentlich euren Starzeugen?« fragte ich. »Was kriegt man denn heutzutage so für ein selektives Erinnerungsvermögen?«
»Wir bezahlen unsere Zeugen nicht, Schätzchen. Obwohl die Person, die hier gemeint ist, auf eine Art entschädigt werden wird, über die ich mich nicht äußern darf.«
»Alex wird nur auf eine beeidete Aussage hin antworten.«
»Wanda«, sagte Alex. »Genug mit deiner Offiziell-Sprechweise. Sie riecht nach Scheiße, selbst für mich.«
»Dann kletter doch alleine aus dem Sumpf.«
»Ich kann mich nicht erinnern, um Hilfe gebeten zu haben.«
»Nie bittest du. Du brütest nur den ganzen Tag vor dich hin, bis ich irgend etwas unternehme, um dich da herauszuholen.« Ich wandte mich an Dick. »Er ist passivaggressiv. Das ist dermaßen nervig.«
Dick und Bucky sahen schweigend zu, wie wir unsere Schmutzwäsche vor ihnen ausbreiteten. Ich bin halt nicht diskret veranlagt. »Könnte ich mal eben unterbrechen?« fragte Dick. »Anscheinend ist eine große Menge Geld aus dem Safe im Outhouse, am Tag bevor Flushs Leiche gefunden wurde, gestohlen worden. Unser Zeuge sagt, daß sie beim Klauen erwischt wurde und nicht nur das Geld sondern auch ihr Leben verlor. Wir suchen nach einem Dieb und nach einem Killer. Unser Zeuge glaubt, daß er sich in diesem Raum befindet.«
Ich keuchte dramatisch: »Bucky — nein!«
Alex sagte: »Das ist ein Vorwand, Wanda.«
»Sie zu überzeugen wird dich nicht aus dem Knast raushalten.« Das war Dick.
»Dieser Zeuge, ist der auch darin verstrickt?« fragte ich.
»Netter Versuch, Mallory. Wir hatten kein Geschlecht angegeben«, grinste Bucky höhnisch.
»Aha, also dann ist es ein Mann.« Meine Augen waren weit offen, um irgendein Zusammenzucken, irgendein Zeichen eines Eingeständnisses zu registrieren. Nichts. Die trainieren diese Arsche wirklich gut auf der Polizeischule. »Ich hab’ die Leiche gesehen. Wer immer Flush erledigt hat, muß einen ziemlichen Schwungarm haben.«
Dick zwirbelte seinen Schnurrbart. »Du bist da in die falsche Richtung galoppiert, Süße. Mit der Mordwaffe hätte das ein Zehnjähriger mit ein bißchen Anlauf erledigen können.«
»Ein Zehnjähriger hätte nie seine Hände um diese Salami legen können.«
Dick und Bucky erstarrten. Das Medaillon fiel mitten in einem Kreisel in sich zusammen und von Dicks Finger auf den Teppich, der so orangefarben war wie Orange nur sein kann. Ich schnappte es mir und ließ es in meinen Pullover fallen. Dick machte einen Schritt auf mich zu, und ich sagte: »Du brauchst da gar nicht dran zu denken.«
»Niemand hat was von der Salami gehört.« Das war Bucky.
»Niemand außer mir kleinem Mäuschen.«
»Und dem Killer«, erinnerte mich Dick. »Die Bohnenstange hier hat dir wahrscheinlich alles erzählt, und du hilfst ihm dabei, es alles zu vertuschen.«
»Warum würde ich denn so was tun?«
»Die Leute machen verrückte Sachen, wenn sie verliebt sind. Nicht wahr, Bohnenstange?«
Alex, der immer noch dasaß und es vermied, irgend jemanden anzuschauen, sagte: »Verliebte Frauen tendieren dazu, sich selbst weh zu tun, Männer hingegen dazu, anderen weh zu tun. Das gebe ich zu. Der Gedanke, daß ich, wenn ich verliebt bin, jemand anderem weh tun könnte, ist nicht so weit hergeholt«, sagte er und schaute mich flüchtig an. »Aber es gibt auch einen Unterschied zwischen >jemandem weh tun< und >jemanden umbringen<. Ich habe noch nie jemanden derart geliebt, um morden zu wollen.« Ich fragte mich, ob ich beleidigt sein sollte.
Alex verpaßt selten eine Gelegenheit, seine Weisheit wie eine Kanone abzufeuern — das ist einer der Gründe, warum ich mich in ihn verliebt habe. Aber eine derartig buchstabengetreue Logik kann ein so reizbares, emotionales Mädel wie mich an den Rand bringen. Ich kämpfte ein plötzliches Bedürfnis nieder, ihm eine zu knallen.
Dick sagte: »Das klingt beeindruckend, aber du pendelst immer noch an der Angel, mit der wir dich gefangen haben.« Er pausierte einen Moment. »Und ich hätte gerne eine Erklärung, Schätzchen, wie du über diese Salami was erfahren hast.«
»Salami? Hab’ ich irgendwas über eine Salami gesagt?«
»Diese Salami ist zufälligerweise eine traditionelle italienische Art, Nachrichten zu übermitteln. Sie bedeutet, daß, wer immer sie bekommen hat, lieber mal überkommt, oder er kann demnächst damit rechnen, zerhackt und in einen Schafsdarm gestopft zu werden. Kapiert?«
Ich nickte.
»Das sollte eigentlich reichen, um dich über den Ärger, in den du dich hier hereinmanövrierst, zu informieren. Und ich will dieses Medaillon wiederhaben. Wir sind immer noch dabei, Flush Royales Vergangenheit zusammenzuschustern.«
»Gleiches gegen Gleiches. Fairer Tausch. Von mir kriegst du nichts vorneweg.«
»Muß ich dich daran erinnern, wer hier Recht und Gesetz vertritt?«
»Vergiß die Rede vom aufrechten Staatsbürger, Dick. Sie ist reichlich ausgeleiert.«
»Willst du tauschen?« fragte er. »Ich tausch’ mit dir. Du gibst mir dieses Medaillon, ich lass’ deinen Freund nicht auffliegen. Jedenfalls nicht heute.«
»Abgemacht.«
Alex’ Kopf drehte sich mit einem Ruck zu mir. Er sagte: »Zum Teufel ist das abgemacht. Ich gehe mit nach Downtown, ins Kittchen, wo immer ihr mich hinhaben wollt. Aber verschenken tut sie hier nichts.«
Bucky sagte: »Das ist aber nicht das, was wir eben gehört haben.« Er gluckste in Dicks Richtung.
Ich grub in meinem BH nach dem Medaillon und warf es Dick zu. Er steckte es in die Tasche und ging mit Bucky, nicht ohne sich selbst vorher noch reichlich gelobt und gratuliert zu haben.
Alex war wütend. Er sagte: »Ich brauche keine Hilfe und will auch keine.«
»Dieser Machoauftritt. Das steht dir nicht besonders gut.«
»Wir liegen jetzt um ein Indiz zurück.«
»Und einen Verdächtigen vor.« Das meinte ich nicht so.
»Gut, daß ich weiß, daß du einen Witz machst, Wanda. Sonst könnte ich mich ärgern.« Ich zählte innerlich ab, wie ich mir für ihn weh getan hatte. Mit den Monaten der Depression, der Bettelei, er möge zurückkommen, und sogar noch damit, diesen Fall zu übernehmen. Vielleicht auch damit, mit Strom zu schlafen. Ich konnte mir nicht Reifen, ich mußte ihm das eine Sekunde lang übelnehmen.
Ich sagte: »Wie lange kennst du mich schon?«
»Ich habe dich nie als jemanden gekannt, der aus null Anlaß Scheiße baut.« Ich wünschte, das wüßte ich auch so genau über mich.
»Habe ich schon jemals etwas verschenkt?«
»Einführungskurs ins Detektivwesen, Wanda. Der Fall ist immer wichtiger als alles andere.«
Ich griff in die Tasche meiner Jeans und hielt ihm die winzige, vergilbte Fotografie aus dem Medaillon von irgend jemandes Mutter zwischen Daumen und Zeigefinger entgegen. Ich hatte sie in meine Jeans gesteckt, als die Bullen hier hereingetrampelt kamen. »Ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir beide uns mal hinsetzen und miteinander reden, Alex«, sagte ich. »Wenn du mich noch mal belügst, bist du auf dich selbst gestellt.« Ich auch, und die Idee machte mir angst. Er hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wie wichtig die Wahrheit war.
Wir sagten uns gegenseitig eine Menge an dem Nachmittag, nicht alles hatte etwas mit dem Fall zu tun, und vieles hatten wir auch schon mal gesagt. Irgendwann kamen wir überein, abzuwarten, wie die Sache sich entwickelte — soll heißen, auf romantischer Ebene — , und eine Entscheidung bis zum Abschluß des Falls zu vertagen. Ich deutete an, bis zu dem Zeitpunkt könnte es zu spät sein, und tanzte verbal um das Kapitel Strom herum, aber Alex wirkte nicht bedroht. Der Streit, den er mit Flush gehabt hatte, war nichts, aber er gab offen zu, eine Nacht mit ihr verbracht zu haben — er war betrunken, sie hatte ihn verführt. Ich nahm die Nachricht schlecht auf. Das war der Moment, in dem ich anfing zu heulen. Ich hatte noch nicht um ihn geweint, und ich dachte mir, es könnte nicht schaden, wenn er dabei zuschaute. Er ließ mich auf seinem Schoß sitzen und hielt mich in seinen Armen. Ich dachte darüber nach, wie merkwürdig es doch war, daß unsere sexuellen romantischen Verbindungen in diesen Fall so stark verwickelt waren. Ich dachte außerdem daran, wie verbunden ich Alex war. Es war, als hätten wir dieselbe Haut.
Er mußte los. Gott allein wußte, wohin, und wir vereinbarten, uns später dem freitagabendlichen Besäufnis im Outhouse anzuschließen. Insgesamt gesehen hatte dieses Gespräch wenig dazu beigetragen, meine verwirrten Vorstellungen zu besänftigen oder uns wieder in heiliger Monogamie zu vereinen. Ich glaubte, daß er so ehrlich gewesen war, wie er nur irgend konnte. Und ich glaubte, daß er weder der Killer noch der Dieb war, obwohl seine Verstrickung stündlich komplizierter wurde. Ich wußte nicht genau, was ich als nächstes tun sollte.
Wie Santina immer sagte, im Zweifelsfall immer shopping gehen. Der Gedanke, diesen Mini noch mal anziehen zu müssen, verursachte mir Übelkeit. Ich setzte mich vor Do It Right in ein Taxi und fuhr nach Downtown, um mir einen neuen zu kaufen. Im Rückspiegel dachte ich, ich sähe einen grauen Hai hinter uns her in Richtung Süden schwimmen. Als ich mich umdrehte, war nirgendwo eine Limousine zu entdecken. Ich stieg am St. Mark’s Place im East Village aus, eine dieser Handelsstraßen, die man lieber in New York vermeidet. Jeder Laden, jedes Restaurant und jede Bar verfügt sowohl über einen enthusiastischen Namen als auch eine bunte Markise. Eine Wandmalerei von einem einäugigen Gringo, der eine Kippe raucht, bedeckte die gesamte Seite eines Gebäudes. Die Luft war kalt und naß, aber Dutzende von Verkäufern auf dem Bürgersteig, die billige Pornozeitschriften verkauften, versperrten den Weg. Ich suchte mir meinen Weg durch die Masse Restaurantgänger, eine Menge dunkler, mürrischer Gesichter, die sich in Richtung Reformkostkneipen aufmachten. Die andere Million Leute auf der Straße quetschte sich gerade in Bars, rauchte auf Treppenabsätzen, posierte oder genoß schlicht die Show, sogar im Januar. Ich trat auf dem Weg zum Metrorama, einer der Boutiquen aus meiner Schickimickijugend, auf das spitze Vorderteil von jemandes Stiefel. Ich entschuldigte mich und verschwand schnell in dem Laden, um mir was neues Ledernes zu holen.
Vorne fummelte ein Mädchen mit stacheligen Haaren an ihrem Ohrring und las die High Times. Sie ignorierte mich, also schaute ich mich um. Fesselnde süße kleine Accessoires lagen unschuldig in gläsernen Vitrinen. Es gab mehr Nasenringe als Ohrringe, und die wurden nicht in Paaren verkauft. Aus Jux band ich mir einen beschlagenen Lederriemen um mein unversehrtes Handgelenk. Ich konnte fühlen, wie meine Finger durch die abgeschnittene Blutzufuhr kribbelten. Ich stellte mir Strom diesen Morgen auf dem Bett vor und erinnerte mich an den Moment, als er sich zum ersten Mal mit seinem ganzen Gewicht auf mir niedergelassen hatte. Ich zerrte den Riemen enger und berührte die Stelle, an der er mich an der Schulter gebissen hatte. Ich stellte mir vor, ich könnte die Feuchtigkeit seines Mundes spüren. Ich checkte, daß die Verkäuferin mich nicht beobachtete. Dann zwang ich mich, aufzuhören, an Sex zu denken, und löste den Riemen.
Die Klamotten und Schuhe waren weiter hinten. Ich ging die Minis mit seitlichem Reißverschluß durch, die auf einem runden Gestell hingen, und nahm drei in unterschiedlichen Größen mit in einen Anproberaum. Bei Leder kann man ja nie wissen. Der Raum war ein völlig abgeschlossenes Kabuff. Auf einer gelben Wand war ein lebensgroßes Abbild von Marilyn Monroe im Evaskostüm. An der angrenzenden Wand war ein Spiegel. Der Designer, der den Laden entworfen hatte, hatte das wahrscheinlich dahin gesetzt, um masochistische Vergleiche zu ermöglichen. Ich zog meine Jeans und meine Doc Martens aus. Ich mochte es, wie meine Hüftknochen durch meine Unterhosen staksten. Strom mochte es wahrscheinlich auch.
Ich probierte den Mini in Größe M an. Ich konnte noch gut atmen, aber er war einen Tick kürzer als der von Flush. Wenn ich mich nach vorne bückte, konnte, wer immer das auch wollte, meinen Hintern bewundern. Ich hielt meinen Pullover hoch für die Profilansicht — meine größte Schwäche. Es gab da die Andeutung einer Wölbung um den Bauch herum, das war aber nichts, was nicht ein paar hundert Klappmesserübungen in den Griff kriegen konnten. Ich erinnerte mich daran, daß Typen ein bißchen Speck auf den Rippen ganz gerne sehen. Strom schien jedenfalls nichts dagegen gehabt zu haben. Ich zog meinen Pullover hoch, um nach Kratzspuren zu schauen. Es gab eine quer über meine Rippen. Ich ließ einen Finger darüber gleiten.
Die Tür der Kabine öffnete sich Zentimeter um Zentimeter. Ich zuckte zusammen und zerrte meinen Pullover wieder nach unten. Mit meinem bärbeißigsten New Yorker Knurren sagte ich: »Klopfen Sie eigentlich nicht an?« Aber es war nicht die Verkäuferin, die nur mal checken wollte, ob ich auch nichts klaute.
Gigantor, wogend und mit Halbglatze, schloß hinter sich die Tür. Er sagte: »Mach den Mund auf, und du bist zum letzten Mal laut gewesen, Schwester.« Er füllte den winzigen Raum aus, und plötzlich gab es keinen Platz zum Manövrieren mehr. Meine Handtasche, mit Mama drin, lag unerreichbar und nutzlos auf dem Boden.
»Guck doch in ein Biobuch, wenn du Titten sehen willst, Dicker.« Der Schlitten war mir also doch gefolgt. Ich verfluchte mich selbst dafür, daß ich nicht noch einmal nachgeschaut hatte.
Er hatte einen der Lederriemen, die ich gerade bewundert hatte, in jeder seiner tellergroßen Hände. Er grinste sadistisch und stürzte los. In peinlich kurzem Prozeß hatte er beide meiner Handgelenke um Kleiderhaken auf den gegenüberliegenden Seiten der Anprobierkabine gebunden. Ich mußte mich auf die Zehenspitzen stellen, um überhaupt hinlangen zu können. Seine Augen spazierten genüßlich auf mir herum. Es war genauso erniedrigend, wie berührt zu werden. Er sagte: »Bleib mal eben da.« Er warf seinen Kopf zurück, lachte und verabschiedete sich.
Entführung, kurz und knapp. Und ich hatte gedacht, ich hätte das für die Fastenzeit aufgegeben. Ich hatte mich gegen Gigantor aus einem Grund nicht gewehrt: Das Leben spielt manchmal gemeine Bälle, aber das heißt noch lange nicht, daß man auch unbedingt auf sie eindreschen muß. Dies hier war einer der Momente, in denen es besser ist, sich zurückzuhalten und einfach alles über sich ergehen zu lassen. Wenn man Glück hat, kriegt man irgendwann doch einen guten Ball hin. Ich hatte schon vor langer Zeit aufgehört, auf solche Spinballs einzubolzen. Ich war es irgendwann leid geworden, dem Untergang mit herumrudernden Armen entgegenzustürzen.
Es gab ein höfliches Klopfen an der Tür der Kabine.
Ich sagte fröhlich: »Herein, es ist offen.« Ich war nicht überrascht, den bärtigen Nick Vespucci in seinen seidenen Pyjamahosen hereinspazieren zu sehen. Gigantor drückte sich hinter ihm auch noch hinein. Sankt Nikolaus lächelte, wobei er seine spitzen Schneidezähne zur Geltung brachte. Der Geruch nach Knoblauch war noch stärker als vorher.
»Ich denke immer noch über Ihren Spitznamen nach«, sagte er sanft.
»Machen Sie sich nicht zuviel Mühe.«
»Tut mir fürchterlich leid, das Ganze«, sagte er, indem er auf meine Handgelenke zeigte. »Sie wissen ja, wie sehr ich Gewaltanwendung verabscheue, aber ich wußte nicht ob Sie auch mit mir reden würden. Unser letztes gemeinsames Abenteuer miteinander endete nicht so gut für Sie.« Er meinte meinen kleinen Finger. »Nur eine kleine Versicherung. Diese unsere schreckliche Stadt macht die Leute zu solchen Rüpeln. Sie werden dafür Verständnis haben. Bitte entschuldigen Sie mich.«
»Wieviel Uhr ist es?« fragte ich.
Sein uraltes Gesicht erschien verwirrt. Er hob eine knochige Hand und klebte mir eine quer übers Gesicht. Gigantor warf seinen Kopf lachend zurück. Die Ohrfeige tat gar nicht weh, aber sie kam so unerwartet, daß mir die Tränen in die Augen schossen. Er sagte: »Ich bitte erneut um Entschuldigung. Bitte vergeben Sie mir.« In dem Moment fragte ich mich, ob in Nicks Geschirrschrank alles zum besten stünde. Alle Verrückten haben einen Zünder. Dieser Moment war so gut wie jeder andere, seinen zu finden.
Nick kaute auf seiner Lippe und sagte: »Fingerbrechen langweilt mich jetzt. Heute fühle ich mich voller Energie. Ich schlage Sie, wenn Sie es verdient haben. In Ordnung? Also, haben Sie Strom meine Nachricht übermittelt?«
»Ja.«
»Was hat er darauf gesagt?«
»Er sagte, Sie wären ein Schwanzlutscher.« Nick keuchte begeistert auf. »Er hat mir auch gesagt, daß Sie ihn mit etwas rankriegen könnten, aber er wollte mir nichts davon erzählen.«
»Gut. Hat er Ihnen gesagt, wer in Queens sitzt?«
Wer? Strom hatte keinerlei »Wer« erwähnt. Ich hatte darauf keine Antwort, also bohrte ich wieder nach Saint Nicks Zünder. Ich sagte: »Machen Sie sich’s doch selber.«
Er knallte mir eine mit Schmackes und Wonne. Diesmal tat es weh. Er sagte: »Hat Strom Ihnen über seine Mutter erzählt?«
»Ja.«
»Tatsächlich?«
»Überrascht Sie das?« fragte ich.
»Es überrascht mich, daß ein so nettes Mädchen wie Sie dann noch für ihn arbeitet.«
»Die Geschichte ist Jahre her.«
»Nicht so viele Jahre.«
»Er war noch ein Kid.«
»Ist er immer noch.«
»Erzählen Sie mir von Bisque-Mark, Inc. Sie waren ja damals das Aushängeschild.«
»Hmmm. Ja. Ich habe tatsächlich Strom das Geld für das Unternehmen gegeben. Wenn ich Sie wäre, würde ich diesen Schlamassel nicht mit ihm besprechen. Er ist da sehr empfindlich. Es war das erste Mal, daß er versagt hat. Und in seinem Alter bedeuten Fehler einfach zuviel. Sie sind noch jung genug, um Fehler zu machen. Wie alt sind Sie noch mal, meine Liebe? Einundzwanzig?«
»Nick, Sie sind ein Charmeur.«
»Hmmm. Ja, eigentlich bin ich das wohl. Sie können einem alten Mann keinen Vorwurf machen, daß er’s noch mal versucht.« Er rieb seine Handflächen gegeneinander. »Kommen wir wieder zur Sache. Das Geld ist verschwunden, es sei denn, daß Strom Sie belogen hat, was ausgesprochen im Bereich des Möglichen liegt. Ich habe da andere Quellen, die ich nicht preisgeben kann. Sie verstehen das sicherlich, davon bin ich überzeugt. Strom hat Sie angestellt, um das Geld ausfindig zu machen. Wenn er Ihnen über seine Mutter erzählt hat, wie Sie mir das gerade gesagt haben, dann wissen wir beide, daß ich ein persönliches Interesse daran habe, ob Strom am Sonntag bezahlt oder nicht. Ich respektiere Sie viel zu sehr, um Ihre Bemühungen ruinieren zu wollen, also werde ich Sie nicht aufhalten. Aber ich will doch wissen, was für Fortschritte Sie gemacht haben. Schon ein bißchen Erfolg gehabt? Hmmm?«
»Das wissen Sie doch schon. Null.«
»Zwischen Ihnen und Strom läuft’s gut?«
»Er zahlt im voraus.«
»Er ist kein schlechter Junge. Vielleicht ein bißchen irregeleitet. Eine Frau wie Sie könnte vielleicht genau das richtige sein, um ihn wieder auf Kurs zu bringen.« Er kaute auf seiner Lippe. »Ich muß fort. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Sie ein bißchen hängen lasse. Ich fände es nicht so schön, wenn Sie Ihre süße kleine Pistole auf mich abschießen. Plötzlich habe ich Hunger. Ich würde Sie ja zum Abendessen einladen, aber eine attraktive junge Dame wie Sie hat sicherlich schon Verabredungen getroffen. Leben Sie wohl, meine Hübsche. Und bitte vergeben Sie mir.«
Saint Nick ging zuerst. Gigantor blieb noch und streckte sich nach meiner kaputten Hand aus. Ich hatte einen Moment die irrsinnige Angst, er könnte noch weiteres Unheil anrichten, aber er stupste nur die Schiene an, um mir noch einen schnellen Schmerzstoß zum Abschied zu kredenzen. Ich wußte nicht, ob ich mich bei ihm bedanken sollte oder nicht. Er lächelte und strich mit einem seiner Klodeckel über seine Halbglatze, bevor er sich davonmachte.
Während ich da so stand, mit unrasierten Beinen und mit Lederriemen an die Wände einer Ankleidekabine in einem Downtowner Fesselungs-Bekleidungs-Warenhaus gekettet, gönnte ich mir einige Minuten des Nachdenkens. Dieser Fall torkelte gerade völlig außer Kontrolle. Alle schienen mehr zu wissen als ich, und auch Strom war nicht gerade mitteilsam. Nur noch bezahlt zu werden schien mir nicht mehr auszureichen. Ich wollte Antworten sehen, und ich würde sie auch bekommen, verdammt noch mal, sobald ich mich hier aufgeknotet hätte. Ich kämpfte also los, aber je mehr ich daran zog, desto fester wurden die Knoten. Es kam mir in den Sinn, daß Gigantor in einem früheren Leben einmal Matrose gewesen sein mußte. Vielleicht hatte er ja die stachelhaarige Verkäuferin plattgemacht. Die Idee, daß ich völlig allein sein könnte — normalerweise eine schöne Sache — , verbrannte Teile meiner selbst, von denen ich gar wußte, daß ich sie hatte. Ich war also gezwungen, das eine Wort anzuwenden, von dem ich mir geschworen hatte, es nie anzuwenden, außer wenn in einen tödlichen Kampf mit fleischzerfetzenden Hyänen verwickelt...
»Hilfe!« schrie ich.