Im East Village ist jede Nacht Halloween
Flush Royale muß eine
dieser zutiefst irritierenden Sorte Frau gewesen sein, die in
Kleidern gut und ohne sie besser aussieht. Nachdem ich sie halb
ohne gesehen hatte, war ich mir des letzteren sicher. Mühsam
quetschte ich mich in ihr Flittchenkostüm und beschloß, daß ich
wohl eher der Typ bin, dem Haut am besten steht. (Eine hübsche Art,
wieder vernünftig zu werden.) Mein gefügiges Fleisch verabscheut
Beengungen — vor allem lederne. Leder atmet nicht. Nachdem ich den
Mini angezogen hatte, konnte ich das dann auch nicht
mehr.
Aber meine neuen Haare waren herrlich. Was für eine Veränderung. Rotes Haar ist so auffällig; immer war ich mir vorgekommen wie eine Schinkenplatte beim Vegetariertreffen. Nun konnte ich mich frei bewegen, mich unter die Leute mischen, so abwesend sein wie jede andere Brünette auch, und ich genoß die Veränderung. Anonymität ist wie ein Führerschein: ein Privileg und kein Recht. Mit meinen rabenschwarzen Locken hatte ich endlich dieses Vorrecht erreicht.
Ich hing meinen fusseligen Mantel über meine Ausrüstung und klackerte mit meinen Pumps die Flatbush Avenue hinunter zur Subway. Die Luft war immer noch kalt, und es waren nicht sehr viele Leute auf der Straße. Es war acht Uhr an einem Mittwochabend. Eine Stunde würde ich nicht brauchen, um zum Outhouse zu kommen, aber es gab Ermittlungen, die ich noch vorzunehmen hatte. Eine halbe Stunde verdeckter Überwachung konnte nicht schaden.
Es störte mich, daß ich mich nicht erinnern konnte, welche Story über Strom letztes Jahr im Mirror gestanden hatte. Dabei schwärmte ich für die Seite 3. Den Nachmittag hatte ich in der Brooklyn Public Library verbracht, einen kleinen Spaziergang entfernt von meiner Wohnung die Flatbush rauf, und hatte dort nach allen Zeitungsausschnitten gefahndet, die ich über Strom und Blood & Iron finden konnte. Der Haufen Kopien hätte einen Wasserbüffel zum Ersticken bringen können, aber ich hatte keine Zeit, ihn durchzusehen. Mich aufzudonnern hatte den gesamten Abend gekostet. Allein schon den Lidstrich richtig hinzukriegen, brauchte Stunden.
Ich hüpfte auf die Linie 2 an der Bergen Street und stieg in Nevins um auf die Lex-Linie. Die Fahrt nach Manhattan war ereignislos, bis auf ein bizarres voyeuristisches Erlebnis. Ich saß neben einer Frau, als ein richtig süßer Typ den Zug bestieg und sich direkt vor uns stellte. Sein Portemonnaie zeichnete sich gefährlich deutlich in seiner vorderen Hosentasche ab. Ich starrte darauf und dachte mir, wie leicht ich es mir unter den Nagel reißen könnte. Kaum hatte dieser Gedanke einmal eine Runde durch mein Gehirn gedreht, als die Frau, jung, hübsch, Sekretärinnenhaft (viel blondes Haar), unvermittelt aufstand und kokett in ihn hineinprallte. Sie entschuldigte sich viel zu ausgiebig, vor allen Dingen wenn man bedenkt, daß es ein absolutes Muß ist, während langweiliger Subwayfahrten harte Männerbodys zu streifen. Er lächelte sie an und vergab ihr ihre Ungeschicklichkeit. An der nächsten Haltestelle stieg sie aus, und als ich mich zurückdrehte, um die Hüften des Mannes weiterhin in Augenhöhe zu begutachten, war das Portemonnaie weg. Ich schmunzelte und applaudierte im Stillen der Frau. Sie war nicht raffiniert gewesen, nein, aber flott. Als ich am Union Square ausstieg, wußte der Mann, der noch immer über das Aufeinandertreffen mit einer hübschen Frau grinste, noch nicht, was ihm eigentlich geschehen war. Männer sind solche Idioten. (Ich bin nicht zynisch... jedenfalls nicht sehr.)
Ich machte mich in der Kälte in Richtung Downtown auf. Die Straßen waren voller Dreck, von unbelebtem ebenso wie fast lebendigem. Trotz meines Mantels und meiner neuen Haare machten Ekeltypen diese widerwärtigen schnalzenden Kußgeräusche, während ich auf das Outhouse zuging. Ich fühlte mich derart geschmeichelt, ich hätte kotzen können. Ich baute mich gegen ein Straßenschild an der nordwestlichen Ecke der Kreuzung der 11lth mit der Ist Street auf, gegenüber einer der polnischen Wurstbuden, die es hier im Kiez gab. Das Hauptquartier war südwestlich, das Outhouse südöstlich. Die Ampel spiegelte sich grün und rot auf dem glänzenden schwarzen Pflaster. Ich setzte meine Brille auf, zündete mir eine Zigarette an, fröstelte und wartete. Um fünf vor neun verließ Strom B & I und lief rüber zu seinem Club. Ich hatte ihn noch nie laufen gesehen, außer natürlich in meinen Phantasien. Seine Schritte waren lang und elegant. Ich erinnerte mich, was Dick und Bucky gesagt hatten, Strom nicht zu trauen. Das würde wohl kein Problem sein. Ich traue nicht allzu vielen Menschen. Ich überlegte, ob Vertrauen wohl nötig ist, um mit jemandem ins Bett zu gehen, und beschloß, daß dies nicht der Fall war. Sex setzt nur Begehren voraus, und manchmal noch nicht einmal das. Sex mit Alex war leicht gewesen. In der Tat so leicht, daß ich kaum sagen könnte, die Mühe habe sich gelohnt. Es gab keine Mühe. Es passierte nur einfach dauernd. Ich schaute noch einmal nach der Zeit: 21.07 Uhr. Ich war spät dran — wie die Zeit doch vergeht, wenn man sich mit einem Body befaßt. Ich überquerte die Straße und ging herauf. Ich zwang mich, aufzuhören, an Sex zu denken.
Das wurde unmöglich. Als Strom mich sah, meinte er: »Deine Haare sind super, Wanda. Leg deinen Mantel doch ab.« Wir waren in Crips Büro. Der Teppich war gereinigt worden, aber ein dunkler Schatten war dort geblieben, wo Flushs zerdetschte Hirnschale gelegen hatte. Die Botschaft an der Wand war übermalt worden. Als Strom mich zum zweiten Mal musterte, kriegte ich das Schaudern. Ich hatte eher das Gefühl, mich auf einer Verabredung zu befinden als bei einem Job.
Strom sah so heiß aus wie eine Cayenneschote. Er trug Springerstiefel, schwarze Militärhosen und ein weißes T-Shirt, dem die Ärmel an den Schultern abgeschnitten worden waren. Ich bemerkte zum ersten Mal, daß seine Brust unbehaart war. Ich legte meinen Mantel ab, und Strom belohnte meine abendliche Anstrengung mit einem leisen Pfiff.
Er kam auf mich zu und sagte: »Du bist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe.« Er nahm eine Haarsträhne in die Hand, hielt sie an seine Nase und roch daran. Er lächelte und drehte mich einmal herum, um mich aus jedem Blickwinkel zu sehen. »Die Brille muß weg. Ansonsten bist du perfekt, Babe.«
Ein Flash: Strom und ich, nackt, aber in Chinchilla gehüllt, wie wir Champagnerflöten in den Kamin eines Ski-Chalets in Gstaad schleudern. Eine Sahnepuffvorstellung, nicht eine meiner üblichen feuchten Phantasien. Zsa Zsa Gabor hatte in letzter Zeit entschieden zuviel Presse bekommen.
»Strom«, sagte ich, »erst der Mord.«
»Ich habe den ganzen Tag mit Bullen geredet. Ich brauche eine Pause. Wir können danach drüber reden.« Er fuhr mit einem Finger entlang der Oberkante meines Schnürmieders.
»Wir können jetzt reden«, sagte ich. Seine tätowierte Hand streifte über meine Brüste. Sogar durch das Leder brannte es.
»Laß uns nicht reden«, flüsterte er in mein Ohr, ehe er mich küßte. Ich gab mir Mühe, mich auf die Unterhaltung zu konzentrieren.
»Wer hat Flush umgebracht, und warum? Und tu jetzt nicht so, als ob du das nicht wüßtest.«
»Wanda, wir haben das schon mal besprochen. Ich weiß es nicht, und es geht dich nichts an.« Strom lehnte sich mit dem ganzen Körper in mich hinein. »Vergiß es.«
»Das kann ich nicht.«
»Laß uns erst mal das Geld finden.« Er umfaßte meine Handgelenke und schlang meine Arme um ihn herum. Seine Augen wanderten träge von meinem Mund zu meinen Augen und wieder zurück. Ich fand dies verwirrend — der von ihm gewünschte Effekt. Um meinen Fragen ein Ende zu bereiten oder um mich zu erregen? — Ich wußte es nicht. Ich kämpfte, nicht darauf anzusprechen. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, daß ich seit Monaten keinen Sex mehr gehabt hatte?
»Strom, Süßer, schützt du da gerade jemanden?«
Er preßte sich begierig in meine Hüfte und öffnete den Reißverschluß meines Minis. Es schien ihn zu wundern, daß er nicht zu Boden fiel. (Jawohl, der war so eng.) Wir standen dort, wo vor einem Tag Flushs undichter Leichnam gelegen hatte. Wohl kaum eine gelungene Anmache. Ich entwand mich, zog den Bauch ein und den Reißverschluß hoch. Er seufzte und setzte sich hinter den Schreibtisch. Er sagte: »Es ist lange her, daß man mir einen Korb gegeben hat, Wanda. Ich weiß, ich weiß, ich werde es nicht auf mich beziehen.«
»Ich mag dich sehr, Strom. Und wenn die Delle in meiner Hüfte irgendeine Andeutung davon ist, wie du über mich denkst, dann würde ich mal sagen, wir mögen uns gegenseitig.«
»Du magst mich und schiebst mich trotzdem beiseite? Das könnte manche Leute schrecklich durcheinanderbringen, Wanda. Manche Typen könnten sogar böse werden.« Das wußte ich allerdings auch schon, schließlich hatte ich in Dartmouth studiert.
»Böse genug, um zu töten?« fragte ich. »Könnte das jemanden dazu bewegen, graue Zellen mit einem unbekannten stumpfen Objekt zu verspritzen?« Es war keine Mordwaffe gefunden worden. Das hatte ich in der Morgenausgabe des Mirror gelesen.
»Ich sprach gerade von Sex, Wanda. Nicht von Mord.«
»Beide Themen sind in gleichem Maße frustrierend. Komm schon, Strom. Hilf mir mal ein bißchen. Mit dem Geld. Mit Flush. Der Zähler läuft.«
»Ich zeig’ dir mal das Rouletterad. Wir unterhalten uns dann später, versprochen.« Und er zerrte mich ins Kasino. Ich ließ meinen Kamelhaarmantel und Mama im Büro — Strom hatte gesagt, sie wären dort in Sicherheit. Ich versuchte auszuloten, bis in welche Tiefen hinein er mich manipuliert hatte, indem er so schamlos mit mir flirtete. Er hatte damit Erfolg gehabt — ich stellte ihm keine einzige Frage mehr, ehe er abdüste (Geschäftliches, wie er sagte). Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung warum Strom mir so auswich. Geduld, mein alter Feind, saß in seiner Ecke vom Ring. Es versprach, ein Kampf bis auf den Tod zu werden.
»Was zum Teufel glaubst du eigentlich, was du hier machst?« polterte Crip, nachdem ich den hundertsten Fehler in meiner Aufgabe als Roulettecaddy gemacht hatte. Seine Nase hatte seit dem Zusammenstoß mit Lars’ Ellbogen am Vortag eine phantastische Lilatönung angenommen. Ich hatte das seltsame Bedürfnis, sie zu drücken. »Man rollt den verdammten Ball in die entgegengesetzte Richtung zum Rad. Scheiße.«
»Das widerspricht meiner linearen Art, Crip.«
»Widersprich dem mal, Liebling«, sagte er und kraulte seine Eier. Das Outhouse öffnete um zehn, und ungefähr ein Dutzend Leute kamen rein. Blackjack war das Spiel der Wahl, und am Rouletterad war nicht viel los. Das Spiel ist viel komplizierter, als ich dachte. Jeder Spieler hatte eine andere Farbe für seine Chips, und jede gesetzte Wette wird anders ausbezahlt, je nach Gewinnquote. Man kann auf eine ganze Reihe von Zahlen setzen, worauf ich noch nicht gekommen war. Und ehe der Ball nicht rollt, darf der Spieler sein Geld nicht hinlegen. Das verursacht dann eine hektische Aktivität. Von da, wo ich saß, sah es aus wie das reinste Chaos.
Ich hatte allerdings Hilfe. Ein dicklicher Typ in einem billigen Anzug saß auf einem Schemel zu meiner Rechten. Seine Haare waren zwar sauber, aber völlig durcheinandergewachsen. Er war für die Gewinnquoten zuständig. Er handhabte seinen Taschenrechner wie ein Schlachtermesser und hatte jede Wette schon ausgerechnet, ehe ich überhaupt mitbekommen hatte, in welche Kerbe der Ball gefallen war. (Strom hatte mich gezwungen, die Brille abzunehmen.) Er hieß Billy und summte unaufhörlich eine Melodie, die ich noch nie vorher gehört hatte. Anscheinend war Billy eine Art autistisches Genie, so hatte Crip es mir jedenfalls erklärt. Ich fand eigentlich nicht, daß er es damit getroffen hatte, obwohl Billy mich nie anschaute und nie sprach. Eher dachte ich, daß er alle seine geistigen und emotionalen Fähigkeiten beieinanderhatte, es aber vorzog, sie nicht zu benutzen. Er mußte in irgendeiner Art und Weise mißbraucht worden sein, und zwar so schlimm, daß er sich von menschlichem Kontakt zurückgezogen hatte.
Ich fing an, ihn zu bedauern, also versuchte ich, ihm eine Reaktion zu entlocken, indem ich ihn fragte, wie alt er sei. Er hämmerte Zahlen auf seinen Rechner, drehte ihn in seiner Hand um und hielt ihn wenige Zentimeter vor meine Nase. Zu lesen war hI. LOIS, was eigentlich eine auf den Kopf gestellte 5107.14 war. Ich fragte ihn, wo er wohne. Er hämmerte wie wild. Die Nachricht war diesmal ShELL.OIL (710.77345). Ich fragte ihn, ob dies die einzige Art für ihn sei, zu kommunizieren. Er hämmerte Oh.GEIL (7139.40) hinein. Ich sagte ihm, er solle sein verdammtes Maul halten.
Spielertypen sind keine Gentlemen. Obwohl eine Drehung des Rades ganze fünf Sekunden brauchte, hatte die schweinische Kundschaft immer noch Zeit genug, um geschmacklose Bemerkungen über meinen Aufzug zu machen. Und ich war mehr als ungeschickt, ließ den Ball fallen, verstreute aus Versehen Chips in alle Richtungen. Ich war so damit beschäftigt, mich lächerlich zu machen, daß ich über niemanden etwas erfahren konnte, geschweige denn über den Mann, der mich beauftragt hatte. Darüber hinaus verursachten meine hohen Hacken ein tödliches Kneifen an meinen großen Zehen. Ich war kurz davor, mich davonzumachen, als Crip mich rettete.
Er rief einer Frau in meinem Aufzug, die an der Bar arbeitete, zu: »Crutch, schieb deinen Zuckerarsch mal hier rüber.« Pflichtergeben humpelte sie her — ihre Hacken ließen meine im Vergleich aussehen wie ausgemusterte Verkleidungsklamotten aus dem Kindergarten. Ich würde mal sagen, sie war fünfundzwanzig und mindestens 1,82 Meter groß. Was immer ihr an Oberweite fehlen mochte — es wurde durch ihren üppigen Hintern ausgeglichen. Ich dachte immer, Männer würden harte, kleine Arsche mögen. Aber als Crutch vorbeiglitt, seufzte jeder einzelne der Typen im Laden, als ob er durch die Bewegung ihrer Hinterbacken betäubt worden sei. Sie rollten umher wie zwei kämpfende Katzen im Sack. Sie schien mir freundlich und süß zu sein und hatte offensichtlich etwas mit Crip. Das spürte ich: Er war der einzige Mann im Lokal, dem sie gerade in die Augen sah.
»Du da«, knurrte Crip mich an. »Sieh zu, daß du dich in mein Büro machst.«
Ich folgte ihm, froh über die Rettung und in der Hoffnung, nun einige Informationen über Flush und das fehlende Geld zu bekommen.
Im Büro angekommen, setzte sich Crip und sagte: »Sag es geraderaus, Liebling. Du bist genausowenig Stroms Mädchen wie ich.« Für mich gab es keinen Stuhl, also schwankte ich weiter auf meinen Stelzen.
Ich sagte: »Warst du in Flush verliebt?«
»Ach was. Ich liebe alle Frauen.«
»Wo hast du dir die Narbe geholt?« Er fuhr mit einem Finger dem Mal entlang, das von seinem Kinn bis zum Ohr reichte. Es war frisch, ungefähr eine Woche alt.
»Ein Unfall, als ich noch ein Kid war. Meine Mama ließ ’ne Bratpfanne fallen. Sie meinte das nicht so. Das Herz dieser Frau ist so groß wie Texas.«
»Und wo kommst du also her?«
»Aus meinem Schwanz. Und du?«
»Ich hab’ schon mal Wellensittiche gehört, die besser texanisch sprachen.«
»Dann mußt du ganz schön beeindruckende Piepmätze kennen, Süße.«
So kamen wir nicht weiter. Ich beschloß, Crips Loyalität zu testen. »Strom war gestern gemein zu dir«, sagte ich. »Ich konnte mir das kaum ansehen.«
Er schürzte die Lippen und wägte meine Worte ab. »Strom ist ein gefühlvoller Mensch«, sagte er, »unter der Schale.«
»Er ist traumhaft.« Und das meinte ich genau so.
»Es gibt Zauberei auf dieser Erde, Liebling. Sie wächst in manchen Leuten. So ist Strom. Er hat das, was immer es auch sein mag, das andere Leute dazu bringt, Sachen für ihn zu tun. Wenn ich du wäre, Süße, tät ich’s mir überlegen, ehe ich etwas für ihn machen würde oder ehe ich Fragen stellen würde, von denen er hören könnte und die ihn aufregen könnten.«
»Ist es das, was Flush getan hat? Ihn aufregen, durch dich?«
Er spitzte wieder die Lippen und fuhr mit seinem Finger neurotisch über die Narbe. Er sagte: »Wenn du einem Krüppel die Krücke wegtrittst, wird er nur nach der nächsten greifen. Ich greife dauernd.«
»Vielen Dank, daß ich daran teilhaben durfte, aber das beantwortet meine Frage nicht.«
»Ich denke mal, du bis’ auch so.«
»Ich beantworte Fragen, die mir gestellt werden.«
»Ich meine, eine Liebe mit einer anderen zu ersetzen. Was macht eigentlich dein gebrochenes Herz?« Plötzlich befanden wir uns auf der Concorde in Richtung Twilight Zone. Er lachte über meine Überraschung. »Ich hab’ rausgekriegt, wer du bist«, sagte er. »Und ich mag dich nicht. In meinen Augen hast du dafür gesorgt, daß Flush umgebracht wurde.« Mir drehte sich alles, verzweifelt suchte ich nach einer Verbindung.
»Versuch mal, nicht so schuldbewußt auszusehen, Liebling.«
Plötzlich hörten wir ein Krachen aus dem Kasino. Eine Frau schrie. Crip und ich liefen heraus, um zu sehen, was passiert war. Der Roulettetisch war auf die Seite gedreht, als wäre er ein gefangenes Kalb, das Rad lag in Stücken auf dem Boden, Chips waren überall. Crutch stand in der Mitte des Raumes, hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte. Alle Spieler und die Croupiers drückten sich gegen die Vorhänge und verkrochen sich vor Angst in sich selbst. Der Grund: ein großer, dünner Mann mit langem braunen Haar in einer Lederjacke, der auf seinen Knien lag und wie ein Verrückter mit beiden Fäusten auf den Boden hämmerte. Seine Hände waren zerschunden und blutig.
Crip brüllte: »He, Cowboy, was zum Teufel glaubst du eigentlich, was du da tust?« Er trottete hinüber und zog den Mann auf die Füße, der einen Blick auf Crip warf, seinen Arm nach hinten zog und ihm einen in den Kiefer schmetterte wie ein Preßlufthammer. Crip machte ein hübsches Geräusch, als der Schlag traf, und seine Wildlederjacke dämpfte das Geräusch seiner Landung auf dem Boden. Der Mann pflanzte seinen Turnschuh auf Crips Hals und sagte: »Ich weiß, daß du es getan hast, du stinkendes Stück gegrilltes texanisches Rind.« Crip bettelte und bat. Endlich wand er sich los und krabbelte zur Bar. Der Mann, bewegungslos, beobachtete ihn. Er schaute ungläubig seine blutigen Hände an und drehte sich langsam zu mir. Seine Augen waren wahnsinnig, und es wurde schlimmer mit ihnen, als das Wiedererkennen langsam einsetzte. Meine Haare. Kein Wunder. »Das ist Flushs Freund«, keuchte Crip, der menschliche Punchingball. »Ich glaube, ihr habt euch wohl schon mal bekannt gemacht.«
Der Mann formte lautlos »Wanda?« mit den Lippen.
»Alex«, sagte ich. »Schicke Jacke hast du an.« In vergangenen Wintern hatte er immer seine blau-goldene Michigan-Unijacke getragen. Dieses Lederdings war mein Geschenk zu unserem Sechsmonatigen. Wir trennten uns, ehe es kalt genug geworden war, um es zu tragen.
Alex trat auf mich zu. Als er nahe genug herangekommen war, versuchte er, mich in die Arme zu nehmen. Ich zischte: »Untersteh dich, mich anzufassen.« Das hatte gesessen, stellte ich fest. Er drehte mir den Rücken zu. Mal wieder.
Der wilde Mann, den ich an diesem Tag erlebte, war nicht der sanfte Hamster von Freund, mit dem ich sozusagen ein Jahr zusammengewohnt hatte. Die drei Monate seit unserer Schlußvorstellung mußten ihn verändert haben. Oder vielleicht war es auch nur ein schlechter Tag. Vielleicht habe ich ihn nie richtig gekannt. (Mir ist sehr wohl bewußt, daß das von allen gesagt wird, die gerade an die Luft gesetzt worden sind.) Das und »Ich habe ihn sowieso nie wirklich geliebt«. Was auch immer. In meinem Fall traf nur das erstere zu.
Am Tag, an dem Alex und ich Schluß machten, hatte ich eine Erkältung. Es war Mitte Dezember, und wir hatten die letzten beiden Wochen damit verbracht, dem launenhaften Ehemann einer jungen, hübschen Wall-Street-Gattin namens Penelope Bradshaw hinterherzujagen. Sie und ihr Mann, Winston, hatten sofort nach ihrem Abschluß in Bowdoin geheiratet. Er machte seinen Magister in Wirtschaft an der Columbia University, während sie, eine Politologin, als Aushilfskraft bei der Cosmopolitan Agency arbeitete. Kaum hatte er einen Job bei Whitestone and Little gelandet, hörte sie gänzlich auf zu arbeiten und konzentrierte sich zunächst völlig auf ihn und dann darauf, ihre Eigentumswohnung an der Park Avenue in ein Schmuckkästchen zu verwandeln. Sie schwor uns bei ihrem Besuch in Do It Right, daß sie Winston noch nach acht Jahren Ehe leidenschaftlich liebte. Sie schwärmte von ihren Freunden und ihrer Eigentumswohnung.
Alex fragte sie: »Also, was brauchen Sie dann von uns?«
Woraufhin sie in Tränen ausbrach und uns den Brief zeigte. Sie sagte, es sei seine Handschrift und daß sie ihn in der Jackentasche einer seiner Anzüge gefunden hatte. Zu lesen war: »Jetzt sind es schon Tage, und das einzige, woran ich denken kann, ist Dein Geruch. Er ist so einzigartig Du und so benebelnd, daß ich mir wünschte, ich wäre nie nahe genug an Dich herangekommen, um Dich zu schmecken. Wenn wir uns nicht bald Wiedersehen, wenn ich mich nicht bald zwischen Deinen Beinen vergraben kann, das heißt also diese Woche, werde ich wahnsinnig. Also jetzt weißt Du, daß Du mich hast. Ich gebe alle Kontrolle auf. Merkwürdig, sich vorzustellen, daß ich dachte, Du würdest mir noch mal hinterherrennen. Ich hätte es wissen sollen.« Das war’s. Keine Unterschrift, keine Adresse.
Alex schlug Penelope vor, Winston habe den Brief an sie geschrieben. Sie sagt: »Mein Geruch? Ich trage Joy von Patou. Ich dufte wie jede einzelne meiner Freundinnen. Einzigartig? Benebelnd? Ich bitte Sie.«
Alex schürzte die Lippen und sagte: »Ich glaube nicht, daß er den Duft an Ihrem Hals meinte.« Sie errötete vom Ausschnitt bis zum Haaransatz, wie Kirschsaft, der durch einen Strohhalm aufsteigt.
»Wenn Sie das meinen, was ich glaube, daß Sie meinen«, sagte sie, »das hat er für mich nie getan. Ich habe ihn gebeten, aber er hat sich jedesmal geweigert. Er kann also gar nicht wissen, wie ich rieche.«
Ich sah mir Penelope Bradshaw eingehend an, und Visionen des Jungfrau-Hure-Phänomens knüppelten sich in meine Gedanken hinein. Sie war zierlich, teuer gekleidet, geschrubbt und rosig, als ob sie fünfmal täglich duschte. Sie war jungfräulich — und ich meine das nicht als Beleidigung. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es immer noch Männer da draußen gab, die fanden, Frauen, die man heiratet, seien für experimentellen Sex nicht vorgesehen, oder daß Cunnilingus etwas anderes als eine Grundvoraussetzung für den Geschlechtsverkehr sein kann. Daß ein Mann seine Frau ihrer Lust berauben könnte, um seine sexuelle Kühnheit für seine Geliebte aufzuheben, war schon jenseits einer Fehleinschätzung und im Grunde eine Parallele zu der Art von Frauenfeindlichkeit, mit der ich mich in Frauenforschungskursen an der Uni befaßt hatte. Schon allein das machte mich wütend. Ich sollte außerdem erwähnen, daß ich damals heftig in Alex verliebt war, und Penelope in ihrer Reaktion auf den Treuebruch ihres Mannes zu beobachten schwemmte eine mitleidsvolle Welle durch mein Herz. Der Gedanke, Alex könnte eine andere Frau berühren oder für sie etwas tun, was er für mich nicht täte, war lähmend. Das einzige, was er nicht machen wollte, war, mit mir ein Bad zu nehmen. Keine Ahnung, warum.
Meine Erkältung setzte eine Woche nach Penelopes erstem Besuch bei uns ein. Bis zu dem Zeitpunkt hatten wir es geschafft, Winstons Rendezvous-Idylle ausfindig zu machen, ein Loft in Soho. Allerdings mußten wir noch Genaueres über die fragliche Dame ausfindig machen. Bei jedem von Winstons Besuchen (ungefähr zweimal die Woche) kam innerhalb einer Stunde nach seiner Ankunft ein Lieferant eines chinesischen Restaurants dorthin. Wir konnten uns natürlich nicht sicher sein, daß Winston das Essen bestellt hatte, aber in einem von Penelopes Heulanfällen, wie zauberhaft doch Winston sei, erzählte sie, daß er am liebsten chinesisch aß. Unser Schlachtplan: Ich würde den Lieferjungen bezahlen, und Alex würde an seiner Stelle hochgehen. Wenn Winston, oder die Frau, an die Tür käme, würde Alex das Essen in die Küche tragen und alles und jeden in seiner Nähe mit seiner Trick-Knopfloch-Kamera aufnehmen — der Auslöser war mit einem Draht, der in seiner Jackentasche steckte, verbunden. Der Plan hinkte, aber mein Fieber näherte sich 41 Grad. Ich fühlte mich kurz vor dem Tod und konnte nicht mehr auf eine bessere Idee warten.
Außerdem war der Fall für mich ein persönliches Anliegen geworden. Dieser männliche Verrat hatte sich so heftig in mein System eingefressen wie die Erkältung, und ich fing an, mir jede Frau auf der Straße vorzustellen, wie sie sich gerade mit Alex in der Badewanne einseifte. Rational konnte ich meine Halluzinationen auf meine Krankheit zurückführen. Aber im Interesse meiner körperlichen und geistigen Gesundheit sowie meiner Beziehung mußte ich diesen Fall so bald wie möglich beenden. Daher also das Hinken unseres Plans.
Der Gott der Erkältung rettete mich in dieser Nacht. Alex kriegte Bilder von Winston in seinen Boxershorts (blau-weiß gestreift) und seiner Geliebten (schwarzer Teddy) hin. Es war eine ältere Frau. Wir riefen Penelope her, und als sie die Fotos sah, fiel sie in Ohnmacht. Nach einigen Minuten kam sie wieder zu sich und weinte eine Stunde lang. Durch ihr Schluchzen hindurch konnte sie herausstoßen, daß die Frau — die Geliebte/Hure — ausgerechnet ihre Mutter war. Sie hatte es immer merkwürdig gefunden, wie bereitwillig Winston Abendessen-Verabredungen mit den Schwiegereltern einging. Dann setzte ihre Erinnerung ein, und sie sah blitzartig das Hochzeitsbild von Winston und ihrer Mutter, tanzend, seine Hand einfach so auf ihrer Hüfte; das Mal, als sie sie in ihrer Park-Avenue-Küche fand, wie sie sich umarmten, anstatt die Avocados zu entkernen; oder wie naß der Hörer von nervösem Schweiß immer war, wenn Winston ihn ihr nach oberflächlichen Gesprächen mit seiner Schwiegermutter reichte.
Sie sagte, sie fühle sich als wertloser Idiot, daß sie es hätte wissen müssen. Sie nahm unsere Bilder. Wir nahmen ihr Geld. Es ist ernüchternd, dafür bezahlt zu werden, anderer Leute Leben zu zerstören. Sie lehnte unsere halbherzige Einladung zu einem Abendessen ab, indem sie versicherte, es gehe ihr gut, und machte hinter sich die Tür zu. Ich hätte wahrscheinlich für sie geweint, aber nachdem ich vom Fieber so ausgelaugt war, hatte ich dafür einfach nicht mehr genug Flüssigkeit übrig.
Alex und ich nahmen ein Taxi bis zu meiner Wohnung in Brooklyn. Zu der Zeit lebte er mehr oder weniger mit mir zusammen. Nachdem ich Otis mit ein bißchen Leberpüree gefüttert hatte, schlug Alex vor, daß ich mich in die Badewanne legen sollte. Vielleicht ginge es mir dann besser, er würde im Wohnzimmer lesen, kein Problem. Ich merkte noch nicht einmal, wie distanziert er war. Ich war durch den Fall und durch meine Erkältung viel zu sehr in Anspruch genommen, um seine Ungeduld mir gegenüber zu bemerken. Oder zu merken, daß ich ihn die ganze Zeit über nicht beachtet hatte. Alles, woran ich denken konnte, war mein eigenes Unglück. (Santina würde jetzt sagen, daß ich schon wieder die Schuld auf mich lade — daß ich sie aber nicht allein trage. Daß er mehr auf mich hätte achten sollen. Ich war krank; ich flippte wegen des Falls aus. Offensichtlich hatte ich Schweres durchzumachen. Er hätte dankbar sein müssen, daß ich nicht an meinem Fieber sterbe. Und so weiter.) Ich sagte ihm, ein Bad klänge super, aber nur, wenn er es mit mir nähme.
»Könnten wir das bitte jetzt lassen?« bat er.
»Was lassen?«
»Dieser Streit regt uns beide auf, und ich bin zu müde, um ihn jetzt zu führen.«
»Ich will dich nicht aufregen.«
»Zum hundertsten Mal, Wanda, wenn ich nackt in heißem Wasser herumsitze, fühle ich mich wie ein weichgekochtes Ei.«
»Verdammt noch mal, Alex, die Hände des Teufels sind seit Tagen aus dem Boden herausgekommen und haben nach meinen Knöcheln gegrabbelt. Ich könnte ein bißchen Unterstützung gebrauchen. Ich könnte ein bißchen Zuneigung gebrauchen. Ich komme mir vor, als zerspringe ich gleich.« Ich hämmerte auf meine Knie. »Herz meines Herzens«, geiferte ich, »wenn du das jetzt nicht für mich machst, dann glaube ich nicht, daß wir weitermachen sollten.«
»Womit weitermachen?«
»Überhaupt weitermachen.«
»Also im Grunde«, sagte er ruhig, »wenn ich dich liebe, dann sollte ich ein Bad mit dir nehmen, auch wenn ich eine persönliche Abscheu dafür empfinde?«
»Ja.«
»Du bist...«
»Versuch jetzt nicht, mir zu erklären, daß ich unvernünftig, überemotional oder manipulativ bin. Ich hasse diese Worte.«
»Du bist krank und müde und schlechter Laune. Ich auch. Dieser Fall war auch für mich hart. Ich weiß, daß ich im Moment nicht klar denken kann. Und ich glaube nicht, daß du das gerade selber tust. Also laß uns das bis morgen aufheben.«
»Ich sehe hier zum ersten Mal in der ganzen Woche klar. Und was ich sehe, ist, daß, wenn du dieses Bad nicht mit mir nimmst, unsere Beziehung nicht soviel wert ist wie Sand in der Wüste.«
Er starrte mich vom Bett aus an, schwitzend, mit rotem Kopf, und wütend. Endlich sagte er: »Laß es uns hinter uns bringen« und zog sein Hemd aus. Das Bad dauerte ganze fünf Minuten, halb so lang, wie es brauchte, die Badewanne zu füllen. Wir konnten nicht verhindern, daß unsere Beine sich berührten, aber abgesehen davon blieb er so weit von mir entfernt wie nur möglich. Er wollte sich nicht anstecken. Als wir nachts im Bett lagen, konnte ich nicht schlafen. Ich brannte vor Wut, daß Alex mir seinen Rücken zugedreht hatte. Sonst schliefen wir immer wie die Kätzchen ineinander verschlungen. Ich rückte zu ihm herüber und hängte meinen Arm über seine Taille. Keine Erwiderung. Ich schaute, ob seine Augen geöffnet waren. Waren sie nicht. Ich küßte seinen Rücken und rieb mich gegen ihn. Er bewegte sich und berührte sanft meine Oberschenkel. Er sagte: »Ich schlafe, Liebling. Ist es o.k., wenn wir damit bis morgen warten?« — »Nein.«
»Morgen früh. Versprochen. Ich bin jetzt zu müde.«
Ich drehte ihn um, damit er mich anschaute. »Was ist dieser ganze >Morgen-morgen<-Scheiß?« Er seufzte.
»Du liebst mich nicht wirklich, nicht wahr?«
»Wanda, was soll das?«
»Du liebst mich nicht.«
»Ich hab’ mich immerhin mit dir in die Badewanne gesetzt.«
»Aber du liebst mich nicht wirklich.«
»Und das würde ich, wenn ich jetzt mit dir schlafe?«
»Ja.«
»Also, wenn ich nicht jetzt sofort mit dir schlafe, dann heißt das, daß ich dich nicht liebe?«
»Ja.«
»Ist dir bewußt, wie lächerlich das klingt?«
»Offensichtlich verstehst du mich nicht.«
»Stell dir mal vor, ich sag’ dir so was. Du würdest mir eine herunterhauen und verschwinden.«
»Würde ich nicht.«
»Würdest du wohl. Und jetzt, bitte, Wanda, es ist spät. Ich habe mittlerweile für einen Tag genug gehabt.«
»Ich schlafe auf der Couch.« Ich rollte mich weg und sprang aus dem Bett. Leider blieb mein Rückgrat hinter mir liegen. Eine Erkältung macht so etwas mit einem. Ich fiel neben ihm zurück. Er hielt mich und küßte mich auf die Schultern. Er sagte: »Ist es o.k., wenn ich dich nicht auf den Mund küsse?« Ich sagte ja und kriegte, wonach ich verlangt hatte.
Wir hatten beim Sex eine Regel. Sofern es die Position erlaubt schauen wir uns in die Augen, wenn wir kommen. Er beschreibt seinen Orgasmus als fünf Sekunden in der Hand Gottes, und ich sehe das in seinen Augen, wenn es passiert. Allein ihn zu beobachten, hat mich schon zum Höhepunkt gebracht. Ihn genauso, wenn er mich beobachtete. In dieser Nacht war alles mit unserem Sex falsch. Es war, als ob es ihm egal war, wie ich mich fühlte. Als ob er es hinter sich bringen wollte. Als es ihm kam (was schnell der Fall war), waren seine Augen flach, seelenlos und alles andere als göttlich. Ich kam in der Nacht nicht.
Zum Toast und O-Saft kriegte ich am nächsten Morgen eine Rede von Alex: »Ich habe mich entschlossen, für ein paar Wochen wegzugehen. Das ist hier keine Angst vor Nähe oder vor Verbindlichkeit, also sag Santina, sie soll den Mund halten, wenn sie dir das an den Kopf wirft. Ich kann das hier nur nicht mehr aushalten. Ich bin für zu viele Dinge in dieser Beziehung verantwortlich. Mehr, als ich bewältigen kann. Und das ist nicht wegen gestern nacht. Der Druck ist zu groß. Es ist, als ob du nichts anders als permanente, totale Ekstase akzeptieren kannst, und es tut mir leid, Wanda, aber das habe ich nicht in mir. Ich hasse es, daß ich dich nicht glücklich mache, und ich hasse dich, weil du nicht glücklich mit mir bist. Sag jetzt nicht, daß du’s bist. Es ist nicht so, als ob du deine Enttäuschung verbergen könntest. Und deine Durchschaubarkeit — du solltest da mal was gegen machen.
Ich fühle mich nicht gerne so unzulänglich. Ich schiebe dir nicht die Schuld zu, aber so habe ich mich nie vorher mit irgendeiner meiner früheren Freundinnen gefühlt.
Ich dachte mir, ich könnte damit fertig werden — du weißt schon, bei dir bleiben und in deinem Bett schlafen, bis du das auseinanderklamüsert hast. Aber ich glaube, ich kann jetzt nicht mehr darauf warten, daß du mich verläßt. Also gehe ich, bevor ich etwas tue oder sage, was ich bereuen könnte.«
Ich nahm einen Bissen Toast. »Warum sagst du nicht einfach, was du wirklich denkst?« fragte ich.
»Das ist genau, was ich denke, Wanda. Ich kann noch nicht mal in deinen Augen auf die richtige Art mit dir Schluß machen.«
»Ich werde dir fehlen.«
»Bestimmt wirst du das.«
»Ich werde dich nicht zurücknehmen.«
»Meine Eltern haben nächste Woche Hochzeitstag, und so werde ich nach Los Angeles fahren, um sie zu sehen.«
Ich sagte: »Ich hätte dich gestern abend schlafen lassen sollen.«
»Es ist nicht nur gestern abend.«
»Wenn du jetzt gehst, dann ist es endgültig aus.«
»Ich habe einen Müllsack von dir für meinen Kram genommen.«
»Du machst mich aber doch glücklich.«
»Allein wenn du das schon sagst, möchte ich nur noch schneller weglaufen.«
»Aber ich liebe dich.«
»Ich glaube nicht, daß ich dich liebe.« Das war der Moment, als eine Horde wildgewordener Bisons in meine Küche hereinstürmte und Alex zu einem dünnen Mus zertrampelte. Nein — in Wirklichkeit war das der Moment, in dem ich ihm mein Orangensaftglas entgegenschmiß. Ich traf ihn auf die Brust. Er zog sich nicht mehr um, bevor er ging. Meine letzte Erinnerung ist dieser orangefarbene Klecks auf seinem weißen T-Shirt. Seitdem trifft mich die bloße Erwähnung des Wortes Tropicana-Nektar in der Magengegend wie eine Nadel in einer Voodoo-Puppe.
Wie das Schicksal so spielt, trug Alex an dem Abend im Outhouse ein orangefarbenes T-Shirt. Ich müßte lügen, wenn ich behauptete, sein gewalttätiger Auftritt hätte mich nicht angeturnt. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er ging nach einer Zeit, die mir wie Stunden vorkam, die aber in Wirklichkeit eine halbe Sekunde war. Ich fing wieder an zu atmen, so gut es eben in meinem Mini ging. Jeder Tropfen Blut in meinem Körper raste in meinen Kopf. Alex zu sehen war schlimm genug. Zu hören, daß er Flushs Freund gewesen war, machte es noch schlimmer. Crip Beluga kauerte sich an die Bar. Crutch hatte sich entschlossen, Krankenschwester zu spielen, und hatte sich neben ihn hingekauert, um ihm ins Ohr zu gurren. Dann fing Crip an zu brüllen.
»Der Schmerz, der Schmerz. Ich kann den Schmerz nicht ertragen!« Er benahm sich wie ein kleines Kind, das erst dann merkt, daß es sich weh getan hat, wenn seine Mami einen Wirbel darum macht.
»Geh mir mal aus dem Weg«, sagte ich und schob Crutch beiseite. Sie fiel zurück auf den von der Natur dafür vorgesehenen Stoßdämpfer und versuchte, mir ihre lackierten Fingernägel in den Hals zu stechen. »Versuch das noch einmal, und du verspeist deine Bauchspeicheldrüse zum Abendbrot.« Sie zog sich zurück. Crip stöhnte. Sein Kiefer fing gerade schon an anzuschwellen. Ich legte meine Hände auf beide Seiten seines Gesichts, um zu sehen, ob er gebrochen war. War er nicht. Es würde ihm noch ein paar Tage lang weh tun, aber das war auch alles. Selbst auf dem Höhepunkt seiner Wut hatte Alex sich zurückgehalten. Er hätte Crips Kiefer auf alle Zeiten zerstören können. »Ich hoffe, du ißt gerne Suppe, Crip Baby.«
»Ich werde blind. Ich kann nichts mehr sehen.«
»Er ist an ungefähr fünfhundert Stellen gebrochen.« Na und — ich log.
»Die Lichter, sie werden schwächer. Kann irgend jemand meine Hand halten?«
»Die Ärzte werden deinen Mund wahrscheinlich für zwei, drei Jahre mit Drähten zubinden wollen.«
»Göttchen, Göttchen, ich bin zu jung, um schon zu sterben.«
Er delirierte. Was manche Leute so unternehmen, um ein bißchen Aufmerksamkeit zu erregen. Ich stand auf und sagte: »Ich ruf’ mal besser die Bullen«, was das Zimmer schneller räumte, als wenn ich »Feuer« gebrüllt hätte. Crutch, treu wie ein Jagdterrier, sprang auf, um meinen Platz an Crips Seite einzunehmen. Sie summte einen Zapfenstreich. Was für ein Trost.
Ich ging hinter die Bar an den Eisschrank. Alles, was er in Wirklichkeit brauchte, war eine Eiskompresse. Ich öffnete den Gefrierteil. Zwischen zwei Zehn-Pfund-Tüten Eiswürfel war etwas gequetscht, das aussah wie ein roter Baseballschläger. Ich fummelte es heraus und sah, daß es nur eine gefrorene Salami von einem halben Meter Länge war. Mußte mindestens zwanzig Pfund wiegen. Warum irgendjemand auf die Idee kommen würde, eine Salami einzufrieren, überstieg meine intellektuellen Fähigkeiten. Sie klebte an meinen Händen, also nahm ich mir einen Lappen von der Bar, um sie zu halten. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich dunkelbraune Sommersprossen an der Spitze, die ich für getrocknetes Blut hielt, sowie einige schwarze Haare, die an der Eisschicht hingen. Endlich, seufzte ich. Ein Indiz.
»Iiiiih«, kreischte Crutch, als sie es sah.
Crip, mit flatternden Augenlidern, sagte: »Was zum verdammten Teufel ist das?«
»Es ist, was wir hartgesottenen Typen ein stumpfes Objekt nennen. Beachten Sie bitte, wenn Sie so freundlich wären, die Haare — schwarz, wie die von jemandem, den wir kannten — , die hier am Ende angeklebt sind. Beachten Sie bitte auch, was Klümpchen von gefrorener Hirnmasse zu sein scheinen.«
»Das muß es sein, womit Flush umgebracht wurde!« triumphierte Crip.
»Bärchen, mein süßes, du bist so schlau!« schwärmte Crutch.
»Ja«, sagte ich, »für einen Idioten ist er wirklich genial.« Ich hatte die Wahl: das Werkzeug der Blutnachricht zu Dick und Bucky mitnehmen, es zu Strom bringen oder es da lassen, wo ich es gefunden hatte. Der Killer könnte es mit Absicht dort gelassen haben, damit es gerade gefunden wird. Wenn es dann trotzdem niemand entdecken würde, würde er oder sie besondere Anstrengungen unternehmen, um sicherzugehen, daß es doch noch gefunden würde. Wenn der Killer noch keine Gelegenheit gefunden hatte, es sich zurückzuholen, würde er oder sie das früher oder später versuchen. Also entschloß ich mich, das Ding da zu lassen. Der Plan würde nicht funktionieren, wenn Crip oder Crutch quatschten oder wenn einer der beiden der Killer war. Ich erinnerte mich, was Alex gesagt hatte, ehe er Crip zusammengeschlagen hatte: »Ich weiß, daß du es getan hast.« Verdammt, dachte ich. Jetzt mußte ich mich noch mal mit Alex treffen, um herauszufinden, was er gemeint hatte. Und das würde so angenehm werden wie eine Knochenmarkentnahme.
Ich legte die tödliche Salami zurück in den Gefrierschrank und holte meinen Mantel und meine Tasche aus Crips Büro. Als ich in das Kasino zurückkam, goß Crutch gerade Johnny Walker in Crip hinein. Seine Nase und sein Kiefer waren so geschwollen wie bei einem Kugelfisch. Ich sagte: »Ich bin jetzt weg. Wenn der Mörder herausfindet, daß wir das Mordinstrument gefunden haben, könnten wir uns durchaus ebenfalls als Leichen wiederfinden. Ich bitte euch also beide, mir zu versprechen, daß ihr niemandem davon erzählt.«
Sie nickten. Ich wußte, daß sie innerhalb der nächsten Stunde quatschen würden. Ich tätschelte Mama in meiner Handtasche, um mich zu beruhigen. Ich entschloß mich, einen Schwatz mit Strom zu halten. Ich wurde in viel zu viele verschiedene Richtungen gezerrt, und meine Geduld war zu Ende.
Crip sagte: »Du kannst deinem Freund Alex Beaudine erzählen, daß Crip Beluga nicht schläft. Ich werde ihn finden, und wenn ich ihn habe, werde ich ihn ausstopfen wie ein Kalb mit zwei Köpfen.« Nicht, wenn ich dir damit zuvorkomme, dachte ich. Aber das wollte ich mir für später aufheben. Mein Magen grummelte. Ich hatte kein Abendbrot gegessen. Ich grub in meinen Taschen herum.
»Ich brauche Geld.« Ich hatte mein Bündel Scheine zu Hause gelassen. Crip machte »Pah« und sagte Crutch, sie solle mir ihre Trinkgelder geben.
Sie schaute ihn grollend an und sagte: »Du bist ein mieser Scheißkerl, mein Bärchen, aber ich hab’ dich trotzdem lieb.« Sie ging in Crips Büro und kam mit einem zusammengefalteten Zwanzigdollarschein wieder. Sie zwinkerte mir zu, als sie ihn rausrückte, was ich merkwürdig fand. Ich tat den Schein in meine Tasche und machte mich vom Acker. Nach Mitternacht ist es im East Village wie Spielstunde in der Klapsmühle. Bars quellen über vor lauter Schickeriatypen — unter ihnen Mutter-Erde-Kinder, Retro-Punks, Yuppies, die >Arme gucken< gehen, gequälte Künstler und Pseudo-Intellektuelle. Der Stil: Intensität. Die Mode: mindestens ein schwarzer Bekleidungsgegenstand pro Besucher. Die Stimmung: erwartungsvoll. Was ich immer schon daran geliebt habe, durch diesen Kiez zu spazieren, ist das Gefühl, daß alles mögliche passieren könnte — sei es nun eine Kugel im Kopf vom Streufeuer oder Liebe auf den ersten Blick. Nichts davon ist mir an jenem Mittwoch widerfahren. Auf der Suche nach einer Pizza stapfte ich tapfer an dem Wilde-Visionen-Kristallkugel-Laden, an dem Räucherstäbchenladen Aroma Arena, einigen Buden für Fesselungsaccessoires und mindestens vier italienischen Feinkostläden, in deren Schaufenster Blutwurstketten baumelten, vorbei. Den Hersteller der Killersalami ausfindig zu machen würde nicht ganz leicht werden.
Tenth Street ist das Marihuanazentrum der Welt. Während ich an einer Ecke stand und darauf wartete, daß die Ampel grün würde, ging ein Kunde mit einer Mets-Baseballmütze auf einen der kolumbianischen Verkäufer zu, der sich vor seinem Häusereingang postiert hatte. »Hast du ’n Afghanen?« Der Dealer sagte ja (was er in jedem Fall tun würde, auch wenn er nur Oregano zu verkaufen hätte). Der Käufer verlangte zwei und reichte einen Zwanziger rüber. Der Dealer öffnete seine Mülltonne und nahm zwei Plastiktütchen, die er in den Deckel geklebt hatte. Mets schnupperte daran, um sicher zu sein, daß es auch wirklich ein »Afghane« war, nickte und machte sich in Richtung der Second Avenue auf. Die ganze Aktion dauerte genau zehn Sekunden, maximal. Ansonsten gingen die Sachen nicht so gut weg. Es schneite. Ich weiß nicht, seit wann schon — die Vorhänge im Outhouse hatten jedwede Aussicht auf die Straße verdeckt. Meine Füße waren klatschnaß, hohe Hacken bieten äußerst ungenügenden Schneeschutz. Ich hätte meine Gummistiefel anziehen sollen.
Den Wagen hatte ich nicht sofort gesehen. Ein Berber auf einem Belüftungsrost flüsterte: »Von hinten kommt was ran, Baby«, und ich drehte mich um, mir das anzuschauen. Der Sechstürer, der sich da an mich heranrobbte, hatte dicke, schwarze kugelsichere Scheiben. Die Lackierung war haifischgrau. Ich versuchte, den Fahrer festzustellen, aber durch den Schnee und die Fenster konnte ich nicht viel sehen. Die Limousine hielt und stellte sich in zweiter Reihe direkt neben den Eingang des Haschhändlers. Ich drehte mich um und starrte auf die Ampel. Ein Motorrad rauschte auf der Avenue vorbei. Ich hörte das Echo von Gelächter, das aus der Eckkneipe kam. Irgendwoher aus der Nähe hörte man den Knall einer Fehlzündung. Die Neugierde zwang mich, den Wagen noch mal zu begutachten. Während ich so den Horizont abtastete, bemerkte ich, daß sowohl der Stadtstreicher als auch der Dealer verschwunden waren. Der Wagen war geblieben. Aber obwohl er nur einen Meter entfernt stand, konnte ich ihn nicht sehen. Alles, was ich sehen konnte, war der fünfzehn Zentimeter lange Lauf eines 45er Colts, der direkt auf meine Nase gerichtet war.
Instinktiv griff ich nach Mama in meiner Handtasche. Der dreihundert Pfund schwere Schlägertyp, der an die Pistole angeschlossen war, hinderte mich daran. Er hatte Hände wie Speiseplatten. »Beweg den Arm, und er ist weg, Schwester«, riet er mir. Ich fragte mich, wieviel Schaden er anrichten würde, falls ich über seine typisch männliche Glatze frotzeln würde. Er musterte mich von oben bis unten und sagte: »Bismark ist so verdammt kalkulierbar.«
»Der deutsche Reichskanzler?« fragte ich.
»Nein, der Hering, Baby. Rein in den Wagen.« Er grub den Lauf in mein Kinn.
Ich stieg ins Auto. Der hintere Teil dieses Schlittens war so groß wie das Büro von Do It Right, nur wärmer. Es gab da eine Minibar, einen kleinen Kühlschrank und einen Farbfernseher, in dem gerade die Spätsendung lief. Irgendein Film mit Bette Davis. Der Name ist mir entfallen. Ein winziger Mann mit weißem Bart sah sich den Streifen an, gemütlich in einen seidenen Pyjama gewandet, und trank dabei Diät-Cola. Der Schläger rutschte neben mir hinein. Er hielt seine Pistole weiterhin auf meine Brust gerichtet. Wir warteten auf einen Werbespot.
Endlich sagte der alte Mann sanft: »Gigantor, du weißt doch, daß ich Pistolen hasse.« Der Schläger streckte sich weit zurück, um die Kanone unter seinen Gürtel zu stecken. Der alte Mann drehte sich zu mir. »Ich bin Nicolaus Vespucci. Ich habe eine Menge Spitznamen, aber der gebräuchlichste ist Saint Nick. Ich bin ein privater Investor. Und Sie sind eine private Detektivin. Das muß sehr interessant sein. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir mal eines Tages mehr darüber erzählen würden.« Er hielt seine altersfleckige kleine Hand zum Schütteln heraus. Ich schüttelte.
»Wanda Mallory. Keine Spitznamen.«
»Jeder sollte einen Spitznamen haben. Ich werde Sie, hmmmm. Noch eine Sekunde. Ich bin in so etwas sehr gut. Ich gebe jedem, den ich kenne, einen Namen. Ja, ich sehe Sie als, na ja... Hmmmm. Das ist ja merkwürdig. Mir fällt nichts ein.«
»Ich glaube, das ist der Grund, warum ich nie einen Spitznamen hatte.«
»Darauf können wir noch mal zurückkommen. Ich verhungere. Und Sie?«
Sterbenshungrig. Ich sagte: »Nein danke.« Nick langte in den Kühlschrank und holte eine Kabanossi hervor. Er schnitt längs in sie hinein und fing gleichzeitig an, riesige Brocken abzureißen und zu kauen. Ich habe noch nie jemanden Kabanossi mit einer solchen Hingabe verschlingen sehen. Der Knoblauchduft war himmlisch.
»Sind Sie sicher, daß Sie nichts möchten?« fragte er. »Sie sehen eigentlich so aus.«
Na und, also läuft mir das Wasser im Mund zusammen. »Nein, danke sehr, ich brauche nichts im Moment.«
»Ich vermute, Sie fragen sich, warum ich Sie durch Gigantor so habe entführen lassen.«
»Ich hätte nichts gegen eine ganz einfache Einladung gehabt.«
»Gewalt ist wirklich lästig, ich weiß. Das tut mir sehr leid, aber diese Gesellschaft erfordert es. Wenn ich alles so machen könnte, wie ich’s gerne würde, dann hätte ich Ihnen eine anständige Einladung geschickt. Gigantors Pistole war nur die Versicherung: um sicherzugehen, daß Sie mich auch wirklich besuchen kommen.« Seine Augenbrauen kippten in der Mitte nach oben. Dadurch sah er aus wie ein freundlicher alter Schülerlotse. »Ich bin jetzt da, also was gibt’s?« Er machte eine Pause, um einen Bissen zu nehmen. Während er in die Wurst hineinbiß, konnte ich einen Blick auf seine Zähne erhaschen. Sie waren spitz und scharf.
Er sprach langsam und sanft. »Wanda, wir müssen uns unterhalten, über einen gemeinsamen Freund. Es ist für seine Sicherheit und Ihre eigene sehr wichtig, daß Sie mich nicht belügen. Ich bin mir bewußt, daß Lügen, wie Gewalt, in der modernen Welt nicht zu vermeiden sind. Ich würde also Ihre Versuchung, mich anzulügen, verstehen, so wie Sie meine Versuchung, Waffen zu gebrauchen, verstehen. Sollten Sie mich belügen, werde ich Gigantor veranlassen, Ihre Finger zu brechen. In Ordnung?«
»Klingt vernünftig.« Aber sein Plan machte keinen Sinn. Wie würde er wissen, ob ich log? Ich sagte: »Ehe Sie anfangen, mir Fragen zu stellen, müssen Sie erst mal selber ein paar beantworten. Ich denke, das ist nur fair.«
»Hmmm, nein, ich glaube nicht. Tut mir leid, Wanda. Ich bin mir sicher, daß Sie das verstehen.« Seine Herablassung war eindeutig, und sein Sprachduktus war langsam, als unterhielte er sich mit einem Ausländer, einem Kind oder jemandem, dem ein paar Chromosomen fehlten. Ich beschloß, ihn mir den Buckel herunterrutschen zu lassen.
»Schießen Sie los«, half ich ihm nach.
»Strom Bismark hat Sie eingestellt, um fehlendes Geld aufzufinden, richtig?«
»Strom hat mich angestellt, um sein Geld zu schützen.«
»Sie sagen also, Strom hat kein Geld verloren.«
»Ja.« Nick machte eine Pause. Er lächelte, und beim Anblick seiner Zähne mußte ich an Dinosaurier denken.
»Und Flush Royale. Die Polizei scheint keine Ahnung zu haben, was da eigentlich passiert ist.«
»Ich auch nicht.«
»Hat irgendjemand die Mordwaffe gefunden?«
»Nein.«
»Irgendwelche Verdächtige?«
»Da müssen Sie schon die Bullen fragen.«
»Glauben Sie, daß Sie unter Schmerzen gestorben ist?« Seine Augenbrauen kippten schon wieder. Ich merkte, daß er sich ein »Nein« als Antwort wünschte.
»Sie hat nichts gespürt.«
»Um es zusammenzufassen, Strom hat Sie angestellt, um Geld zu beschützen, das nicht verlegt oder entfernt worden ist. Nach Ihrer Erkenntnis ist keine Mordwaffe gefunden worden, und Flush ist ohne Schmerzen gestorben.«
»Roger.«
»Ich würde Sie bitten, eine Nachricht von mir an Strom weiterzugeben. Bitte sagen Sie ihm, daß er sich einen großen Gefallen damit getan hat, eine offensichtlich so fähige, kluge und, wenn Sie einem alten Mann seine Meinung verzeihen, sehr attraktive junge Frau einzustellen. Sagen Sie ihm bitte auch, daß er noch eine Woche hat, sonst fahren wir nach Queens. Desweiteren sagen Sie ihm bitte, er sollte mehr Gemüse essen.«
»Queens und Gemüse. Wird gemacht.«
»Sie können jetzt gehen.« Wir schüttelten die Hände. Ich wunderte mich, warum Strom eine solche Angst vor diesem Mann hatte. Na und, also hatte er einen Leibwächter. Lars war jünger und könnte Gigantor locker fertigmachen. Außerdem hatte ich drei Lügen erzählt und würde gleich mit allen meinen Fingern im intendierten Originalzustand herauswandern. Ich schmunzelte selbstgefällig in mich hinein. Ich bin so elegant. Ich bin so cool. Ich bin zur Detektivin geboren.
Gigantor rutschte auf die andere Seite des Limousinenwohnzimmers, damit ich aussteigen konnte. Ich zog am Türgriff, aber nichts bewegte sich — abgeschlossen. Ich wandte mich zu Nick, aber der ignorierte mich, schon wieder von seinem Film in Anspruch genommen.
»Hey, Gigantor, laß mich raus«, sagte ich.
»Du hast mir nicht die Hand gegeben.« Ich hielt das für einen Hinweis darauf, daß ich mich nicht in aller Form von dem glatzköpfig werdenden Riesen verabschiedet hatte. Also hielt ich meine Flosse hin. Anstatt seine eigene anzubieten, faßte Gigantor mich am Handgelenk. Mit seiner anderen Speiseplatte machte er eine Bewegung, die zu schnell war, um sie genau zu beobachten (in der Nanosekunde sah es wie eine kneifende Bewegung aus), und knackte meinen kleinen Finger direkt über dem Knöchel, damit einen Ausrufeknacks zu Bette Davis in einem schwarzen Kleid liefernd. Ich sah tatsächlich Sterne. Der Schmerz war sofort da, brutal und sadistisch ortsgebunden. Vor Jahren, als ich mir einen Arm gebrochen hatte, nachdem ich von einem Pferd namens Ted heruntergefallen war, spürte ich ein dumpfes Pochen in meinem ganzen Körper. Diesmal konzentrierte sich der Stich auf genau den Ort. Ich schrie auf und fühlte mich schuldig, daß ich vorhin über Crip so gelästert hatte. Physische Qualen sind nicht komisch.
Gigantor warf seinen Kopf zurück und lachte breit. Er drückte einen Schalter, und die Tür war aufgeschlossen. Er öffnete sie und warf mich auf die Straße hinaus, in den Schnee.
»Du schmuddeliger Barbar«, brüllte ich, als er sich auf den Fahrersitz begab. »Mein Finger wird heilen. Aber in fünf Jahren hast du keine Haare mehr!« Doch sie waren schon längst im winterlichen Wind verschwunden. Der graue Hai segelte die First Avenue hinunter, und ich stand in meinen hohen Hacken auf. Die Netzstrümpfe waren ruiniert, und ich würde nie wieder einen Ring auf dem kleinen Finger tragen können. Ein leeres Taxi zog aus dem Nichts heran. Glück im Unglück. Ich warf mich auf den Rücksitz und lümmelte mich hin. Mein Finger pochte. »Ludlow und Delancey«, wimmerte ich.
Der Kutscher sagte: »Das müssen Sie mir zeigen.«
Ich stöhnte, quälte mich wieder hoch und zeigte Ashana Shamirez den Weg. Es machte nur drei Dollar fünfzig, also konnte ich ihn mit meinen Reservemünzen auf dem Boden meiner Handtasche bezahlen. Ich stolperte vor Alex’ Tür, im Schraubstock atemberaubender Qualen eingespannt. Na ja, vielleicht nicht ganz so schlimm. Ich hielt einen Finger über seine Türklingel, zögerte dann aber doch. Ich ließ die analytische Routine ablaufen und fragte mich, ob ich jetzt zu Alex rannte, damit er sich meiner erbarmte und mich zurück in sein Leben ließ. War ich ein Feigling, indem ich zu ihm rannte, wo ich doch selbst auf mich aufpassen konnte? Ich fragte mich, ob er mich die Nacht bei sich verbringen lassen würde. Vielleicht sogar in seinem Bett. Ich fragte mich weiter, ob das so eine gute Idee sei. Ich senkte meine Hand und atmete tief durch. Mein kleiner Finger war durch die unterbundene Zirkulation und durch die Kälte taub geworden. Er tat immer noch weh wie Arsch — ich bin nicht besonders tapfer. Ich ging die Ludlow Street rauf und klopfte mir selber auf die Schulter dafür, daß ich so erwachsen war.
Ich kam bis zur East Houston, bevor ich zurücklief.