Ein Haufen Überraschungen
Alex weckte mich nicht,
als er am Sonntag morgen abdüste. Er hinterließ einen Zettel auf
meinem Küchentisch: Treffen uns um zwölf im Büro. Nur noch drei
Tage bis zur Deadline. Es war wieder ein herrlicher Tag. Ich nahm
den D-Train und machte wie üblich meine Abkürzung über die
Baustelle. Ich war zwanzig Minuten zu früh dran. Von weitem glaubte
ich, wieder den Mann mit dem Schlapphut zu sehen, aber er war nicht
zu sehen, als ich vor dem Haus ankam. Das Display am
Anrufbeantworter blinkte. Ich hörte das Band ab. Zuerst kamen
eindeutig-zweideutige Atemgeräusche. Dann eine Männerstimme: »Ich
warte auf dich.« Es klang so, als hätte er versucht, seine Stimme
zu verstellen. Ich erkannte sie nicht. Ich fühlte, wie mir ein
kalter Schauer über den Rücken lief. Ich hoffte, daß Alex sich
beeilen würde. Ich spielte mit Make-up aus dem Erste-Hilfe-Kasten
herum, um die Zeit totzuschlagen. Mir fiel ein, daß ich immer noch
nicht daran gedacht hatte, mir das passende Ketchup für
Häftlingsblässe wie meine zu kaufen — das einzige, was ich habe,
ist dieser Gesichtsbräuner (»für Puertoricanerinnen«, wie Santi
meint). Als Alex endlich ankam, spielte ich ihm die Nachricht vor.
Er meinte, es hätte nichts zu sagen. »Wahrscheinlich irgendeine
arme Sau, die aufs Geratewohl irgendeine Nummer gewählt hat.« Ich
war da nicht so sicher. Wir fuhren mit dem F-Train zur 4. Straße
West und gingen zu Fuß zu Herbs Studio-Apartment am Waverly Place
im West Village. Als hätte der Tag mit dem anonymen Anruf nicht
schon schlecht genug für mich angefangen, war auch noch die
Klimaanlage im Zug im Eimer. Horden von Wochenendtouristen aus New
Jersey und Long Island verstopften die Sixth Avenue, die ohnehin
schon überfüllt war von Straßenverkäufern, die schlechtes
Räucherwerk, noch schlechteren Schmuck und abgrundtief scheußliche
Kitschportraits verkauften. Auf dem geteerten Hof gegenüber dem
Kiosk spielten ein paar Kids Basketball. Wir kaufen Bagels und
Kaffee (für mich Tee) und setzten uns auf eine Hauseingangstreppe
gegenüber von Herbs Haus. Wir warteten. Es war ungefähr halb eins.
Ich wußte, daß Herb jeden Sonntagmorgen die Times von
vorne bis hinten durchliest und seine
Wohnung nie vor ein Uhr mittags verläßt. Er hatte damit oft
beim Midnight geprahlt.
Wir aßen unser Frühstück. Keiner von uns erwähnte den Kuß der
letzten Nacht. Ich dachte allerdings daran. Ich hoffte nur, daß er
sich nicht in irgendeiner Weise problematisch auf unsere Ermittlung
auswirken würde.
Ich dachte über die Möglichkeit nach, daß Herb und Belle was miteinander hatten. Herb sonnte sich in Belles Aufmerksamkeit — wie jeder andere beim Midnight auch. Daß vieles davon reine Koketterie war, schien ihn nie zu stören. Im Gegenteil, er trug sogar noch dick damit auf. Eine heimliche Liebesaffäre wäre nicht total abwegig. Alex meinte, die Tatsache, daß wir die Brustwarzenode zusammen mit dem Brief in ihrer Handtasche gefunden hatten, könnte ein Indiz dafür sein, daß Herb der Poet war und möglicherweise auch der Mörder. Ich hatte noch keinen genauen Plan, wie Alex und ich uns ihm gegenüber verhalten sollten. Herb war ein Freund von mir. Es widerstrebte mir, ihn zu beschuldigen. Falls er uns entdeckte, würden wir improvisieren müssen. Wenn nicht, würden wir halt Herbs Privatleben ein bißchen besser kennenlernen.
Pünktlich wie die Maurer kam Herb um 1 Uhr aus der Haustür. Wir versteckten uns hinter Zeitungen, als er auf der anderen Straßenseite an uns vorbeiging. Er hatte sich voll rausgeputzt. Er trug einen leichten grauen Valentino-Anzug mit einem weißen Strunztuch in der Brusttasche. (Ich hatte meine Brille auf, so daß ich alles sehen konnte.) Alex und ich gingen langsam aus unserem Hauseingang raus und pirschten ihm unauffällig nach. Ich war ganz in Schwarz gekleidet, um möglichst unauffällig zu wirken bei unserer verdeckten Ermittlung — wahrscheinlich eine schlechte Wahl: die Sonne briet mich. Alex trug seine gewohnte 501.
Herb hielt vor einem Spirituosenladen und ging hinein. Er kaufte eine Flasche Brombeerbrandy. »Eklig«, flüsterte ich Alex zu. Er gab dazu keinen Kommentar. Als nächstes blieb Herb vor einem Postamt stehen. Er zog einen Brief aus der Tasche, zog sich eine Briefmarke am Automat, klebte sie drauf und steckte den Brief in den Briefkasten. »Ich würde gern wissen, für wen der ist«, murmelte mir Alex zu. Als nächstes hielt Herb vor einem Store 24 auf der Greenwich Avenue an. Er zog sich etwas Bargeld — ziemlich viel sogar — an dem Quick-Stop-Bargeldautomaten im Innern. Er kaufte eine Tüte Pepperidge Farm Goldfischli mit Parmesangeschmack. Wieder draußen, steckte er das Geld in die Tüte mit den Fischen. Langsam begann die Sache interessant zu werden.
Herbs nächster Halt war ein schickes Downtown-Restaurant namens Knickerbockers. Die Vorderfront besteht aus einem einzigen großen Fenster, sehr zu Alex und meiner Erleichterung. Aber die Dunkelheit im Innern des Restaurants, die noch verstärkt wurde durch das helle Licht draußen, machte es schwer, etwas zu erkennen. Wir spähten durch das Fenster. Herb saß mit dem Rücken zu uns. Er saß in einer mit roten Polsterstühlen möblierten Nische und bestellte sich einen Drink. Nach ein paar Minuten setzte sich ein Mann zu ihm an den Tisch. Ich erkannte ihn von der Beerdigung wieder; es war Max Rudberg, CEO und Präsident der Foxboro Corporation. Die Foxboro Corporation hielt sowohl das Aktienkapital des Magazins als auch Belles Privatportefeuille. Ich konnte mich nicht erinnern, Rudberg bei der Beerdigung mit Herb sprechen gesehen zu haben. Das einzige, was die beiden meines Wissens miteinander gemein hatten, war, daß Belle es nie geschafft hatte, sie zu verführen.
Sie lachten und unterhielten sich, während sie einen späten Lunch aßen. Als Herb Rudberg den Brombeerbrandy und die Tüte Goldfischli überreichte, war ich sicher, daß da irgendeine faule Sache ablief. Vielleicht glaubte Rudberg, sich bei der Liquidation von Belles Aktien einen hübschen kleinen Nebenverdienst einstreichen zu können, gewissermaßen als Lohn für seine Bemühungen — etwa eine Scheibe von Beatrice Publishing. Das gesamte Kapital war unter Herbs Obhut. Vielleicht hatten sie von dem Testament gewußt und geplant, Belle umzubringen, um ihre Anteile so zu arrangieren, daß sie sich damit sanieren konnten. Aber was hatte es mit dem Geld in der Goldfischlitüte auf sich? Es waren mindestens ein paar hundert. Das mochte für einen Mann wie Rudberg vielleicht nicht viel sein, aber für Herb war es eine Menge Holz. Ein Schmiergeld? Eine Abzahlungsrate für irgendwas? Hatte Rudberg Herb vielleicht bei irgendwelchen Manipulationen mit dem Kapital erwischt und erpreßte ihn jetzt? Es gab viele Möglichkeiten, und sie alle liefen auf nichts Gutes hinaus.
Sie aßen zu Ende und trennten sich mit einem männlichen Händedruck. Als sie weg waren, beschlossen Alex und ich, die Kellnerin zu fragen, ob sie irgendwas von ihrem Gespräch mitgekriegt hatte. Wir fanden sie hinter der Theke. Ich hatte sie von draußen nicht weiter beachtet, weil ich mich ganz auf die Beobachtung von Herb und Rudberg konzentriert hatte. Als ich sie jetzt aus der Nähe sah, gefiel mir das, was ich sah, nicht.
Man konnte sich beinahe plastisch vorstellen, wie die gesunden roten Blutkörperchen durch ihre jungfräulichen Arterien schwammen. Sie war geradezu unverschämt süß und niedlich und saftig. So richtig zum Anbeißen. Aber wer ist das nicht mit siebzehn? Sie blinzelte mit ihren unschuldigen blauen Augen und warf lässig ihre prächtige blonde Mähne über die wohlgestalteten Schultern. Alex reckte sich zu seinen vollen einsneunzig hoch, beugte sich über die Theke und grinste sie mit irrem Blick an.
»Wieviel Personen?« fragte sie.
Ich sagte: »Wir wollen nicht essen. Wir wollen eine Auskunft.«
Sie sah mich verblüfft an. Alex übernahm die Regie. Er sagte: »Sie müssen entschuldigen. Wir kommen wegen der zwei Herren, die eben da drüben gesessen haben.« Er zeigte auf die leere Nische.
Sie fuhr sich mit ihrem manikürten Fingernagel über die prallen Lippen. Sie sagte: »Da kommen Sie leider zu spät. Sie sind gerade gegangen.«
Alex sagte: »Ich weiß. Wir haben sie rausgehen sehen. Ich glaube, in einem von ihnen einen alten Freund unserer Familie erkannt zu haben. Sie haben nicht zufällig gehört, worüber sie sich unterhalten haben?«
Sie kicherte und ließ ihre makellosen Zähne aufblitzen. »Was ist hier eigentlich los? Sind Sie ein Bulle oder so was?« Mir schoß sofort der Gedanke durch den Kopf, daß sie nie auf die Idee gekommen wäre, uns dies zu fragen, wenn sie nicht irgendwas Verdächtiges mitgehört hätte. Sie fuhr fort, Alex anzulächeln. Das gefiel mir nicht.
Ich sagte: »Sehen wir so aus wie Bullen?«
Sie erwiderte: »Eigentlich nicht, aber man weiß ja heutzutage nie. Ein Citygirl muß heutzutage vorsichtig sein.« Belle hatte dies auf die harte Art lernen müssen. Alex starrte die Kellnerin an und rieb sich dabei unbewußt den Bauch.
»Hast du schon mal als Model gejobbt?« fragte Alex.
Sie wand sich dekorativ auf ihrem Hocker und schnurrte. »Nein, aber interessieren würde mich das.«
Er sagte: »Ich hab’ früher Fotos für Modezeitschriften gemacht. Du könntest ohne Probleme Jobs kriegen. Deine Wangenknochen sind sensationell.«
Ich traute meinen Ohren nicht.
Sie sagte: »Echt?«
»Wie heißt du?« flirtete Alex weiter.
»Candie.«
Alex lächelte und zeigte seine Zähne. Das machte er sonst nie, nicht einmal beim Flirten. »Candie«, sagte er, »um die Wahrheit zu sagen, der Mann ist gar kein alter Freund der Familie.« Er legte die Hand auf die Rückenlehne ihres Stuhls. Sein Handgelenk berührte ihre nackte Schulter. Sie schmiegte sich daran wie eine Katze und starrte mit großen Augen zu ihm rauf. Ich nahm mir vor, in nächster Zeit Diät zu machen.
Sie sagte: »Wer ist er dann?«
Alex sagte: »Er ist mein Vater. Ich hab’ ihn zehn Jahre nicht mehr gesehen. Wir... wir hatten Krach. Ich bin nicht mal hundertprozentig sicher, daß er das überhaupt war. Hat er irgendeinen Namen fallenlassen oder sonst was gesagt, an das du dich erinnern kannst?«
Sie zuckte mit ihren langen Wimpern und sagte: »Das ist echt hart. Bestimmt vermißt du ihn.«
Er sagte: »Ich vermiß ihn sehr.« Alex senkte den Blick und guckte auf seine Füße. Candie stand tatsächlich auf und nahm ihn in den Arm. Ich kam nicht umhin zu bemerken, daß ihre Brüste unter dem Druck kein bißchen nachgaben. Alex legte die Arme um sie. Meine weibliche Allwissenheit sagte mir, daß er wirklich flirtete. Und so was redet von Vertrauen! Ich erwog sogar ernsthaft einen Moment, es seiner Freundin zu petzen. Er fuhr fort: »Jeder noch so kleine Gesprächsfetzen könnte mir weiterhelfen.«
Sie sagte: »Laß mich mal kurz überlegen. Hier, setz’ dich solange auf meinen Stuhl.« Er setzte sich, und sie legte die Hand auf seine Schulter. Was für ein reizendes Paar!
Ich setzte mich auf einen der Stühle und betrachtete die ekelhafte Szene. Ich zupfte eine Zigarette aus der Packung in meiner Handtasche, zündete sie an und tätschelte Mama.
Candie hauchte: »Warte. Sie haben wohl was gesagt. Jetzt erinner’ ich mich wieder.« Alex blickte mit Kuhaugen zu ihr auf. Ich beugte mich nach vorn. Candie wandte sich zu mir um und guckte mich giftig an. Ich winkte ihr zu. Sie drehte sich wieder Alex zu und fragte: »Wer ist die denn?«
Er sagte leise, aber so laut, daß ich es auch mitkriegte: »Meine Schwester. Weißt du, ich habe mein Erbteil für meine Kunst verschwendet. Ich bin Maler. Und meine Schwester gibt mir keinen Cent vom Familienvermögen, wenn wir nicht meinen Vater finden und seine Zustimmung kriegen.« Ich konnte sehen, wie Candie vor Mitleid fast zerfloß.
Sie kaute auf einem Sektquirl und flüsterte zurück: »Dafür hasse ich sie.«
Ihre Blicke verhakten sich. Ich kenne diesen Augenausdruck; er führt gewöhnlich auf geradem Weg in die Horizontale. Was Alex da veranstaltete, war kein Zweckflirt mehr, sondern schamlose Baggerei. Ich hatte genug gesehen.
Ich stand auf und sagte: »Du siehst doch, dieser Teenie wird dir nicht weiterhelfen. Laß uns gehen.« Ich packte Alex beim Handgelenk. »Ich sagte, wir gehen.«
Alex rührte sich nicht. Mit mehr Heftigkeit in der Stimme als notwendig sagte ich: »Wer ist hier der Boß, Alex?«
Candie sagte: »Reg’ dich schon ab, Lady.« Sie wandte sich zu Alex und sagte: »Sie wurden zwar jedesmal ganz leise, wenn ich an ihren Tisch kam, aber ich kann mich erinnern, daß sie was von einem Treffen geredet haben, das heute abend stattfinden soll. Der Jüngere sagte, er hoffe, daß alle kommen, besonders irgendein Banker oder so was.« Sie planten also ein geheimes Treffen mit einem anderen Banker. Bestimmt, um irgendwelche krummen Manipulationen mit Belles Hinterlassenschaft zu besprechen. Ich konnte einfach nicht glauben, daß Herb sich für so eine linke Sache hergab. Ausgerechnet Herb. Was wieder einmal bewies, daß man wirklich niemandem trauen darf. Bevor wir gingen, schrieb Candie Alex ihre Telefonnummer auf eine Serviette. Ging ganz schön ran, die Kleine. Sie flötete irgendwas von wegen, sie müßten sich unbedingt bald treffen, und Alex versprach ihr, sie anzurufen.
Als wir draußen waren, warf er mir einen scheelen Blick zu. Ich sagte: »Vielleicht möchtest du sie ja küssen.«
Er sagte: »Jetzt halt’ bloß die Luft an, Mallory. Du hättest es fast vermasselt.«
»Was vermasselt — deine Karriere als Kinderschänder?«
»Wenn ich nicht gewesen wäre, würden wir jetzt da drinstehen und uns den Pimmel halten.«
»Ich hab’ keinen Pimmel«, sagte ich.
Er sagte: »Entschuldigung. Manchmal vergeß’ ich das.« Ich ließ ihm das letzte Wort. Ich schlucke alles einmal runter, inklusive meinen florettartigen Witz.
Die Sonne stand noch immer hoch, und im Village trieben sich immer noch mehr Leute herum. Ein Tarotkartenleser mit einem Kartentisch versuchte mit allerlei Gesten, Passanten anzulocken. Zwei Männer knutschten auf der Haube eines Impala herum. Nachdem sich die Spannung wieder einigermaßen gelegt hatte, einigten wir uns darauf, direkt zu Herb zu gehen. Als wir zurück zur 4. Straße West gingen, war Alex ungewöhnlich ruhig. Er vermied jeden Blickkontakt mit mir. Ich bin nicht übel anzuschauen, aber ich kam natürlich nicht an Candie heran. Ich wünschte, ich hätte ihn nicht so angeschrien. Ich guckte auf meine Uhr; es war kurz vor vier.
Ich war noch nie in Herbs Wohnung gewesen. Es gab keinen Pförtner in dem Haus. Aber da genau in dem Moment, als wir vor der Hautür ankamen, ein anderer Hausbewohner rauskam, brauchten wir nicht zu klingeln, um reinzukommen. Anhand der Namensschilder neben der Klingel sahen wir, daß Herb im ersten Stock wohnte. Wir klopften an seine Tür.
Ein atemberaubend attraktiver Mann mit einem schlanken, braungebrannten Körper machte uns auf. Er trug eine violette Calvin-Klein-Unterhose und hatte ein grünes Kopftuch um den Kopf gewickelt. Wir stellten uns als Freunde von Herb vor. Er bat uns reinzukommen.
Ich sagte: »Hübscher Frisbeehelm.«
Er sagte: »Gefällt er Ihnen? Ist ein ganz neuer Look für mich.«
Ich sagte: »Steht Ihnen gut. Sie haben die richtige Kopfform dafür.« Er fühlte sich vollkommen easy in seiner Unterhose; ein Mann so ganz nach meinem Geschmack.
»Ich hab’ mir gerade einen neuen Haarschnitt verpassen lassen. Der gefällt mir überhaupt nicht.« Er nahm das Kopftuch ab und zeigte ihn uns. Ich fand nicht, daß es schlecht aussah — mit so einem Gesicht konnte man gar nichts falsch machen.
Ich sagte: »Ich würd’ mir deswegen keine grauen Haare wachsen lassen.«
»Ich hab’ mir den Schnitt für ein Vorsprechen machen lassen; ich bin Schauspieler. Natürlich hab’ ich die Rolle nicht gekriegt. Und jetzt muß ich die nächsten paar Wochen wie ein Westpoint-Kadett rumlaufen. Wartet hier, ich hol’ Herb.« Er ging raus, so daß wir Gelegenheit hatten, uns die Wohnung anzuschauen. Eine Wohnungsanzeige in der Times hätte sie etwa so beschrieben: »Helles, geräumiges Ein-Schlafraum-Apartment mit Parkettböden und hohen Decken.« Die Wände im Wohnzimmer waren pink gestrichen. Hübsche, einfache Ausstattung. Wenn ich mein eigenes Apartment neu entwerfen könnte, würde es so ähnlich aussehen wie das von Herb. Die fensterfreie Wand war mit Regalen bedeckt. Die Regale standen voll mit Pflanzen, hauptsächlich Philodendren, dazwischen ein paar Farne. Die Möbel waren alle aus Holz, das Design war geschmackvoll und konservativ. An der Decke hing eine Schiene mit Halo-Spots. An der Wand war ein gerahmtes Poster von einem Foto, das ich mit ziemlicher Sicherheit irgendwo schon einmal gesehen hatte; ich wußte bloß nicht mehr, wo. Zwei Männerköpfe im Profil.
»Mapplethorpe«, sagte Alex.
Herb, der Bär, kam herein, ganz in Valentino gekleidet. »Wanda, Alex, was für eine Überraschung«, sagte er langsam.
Ich sagte: »Ich hoffe, eine angenehme.«
Er sagte: »Larry habt ihr ja schon kennengelernt.«
Ich sagte: »Er ist süß.«
»Ja, das ist er. Wir leben zusammen.« Herb grinste.
Ich kapierte.
Ich sagte: »Wie kommt’s, daß du mir nie was davon erzählt hast?«
Er sagte ernst: »Ich hielt das nicht für wichtig für unsere berufliche Beziehung.«
»Aber wir sind doch auch Freunde.«
»Wenn wir Freunde wären, würdest du dann nicht wissen, daß ich schwul bin?«
Ich ließ das erst mal einen Moment einsinken.
»Dann hat Belle wohl auch nichts davon gewußt?«
»Natürlich wußte sie es. Belle und ich standen uns sehr nahe.«
»Wieso hat sie dich dann immer angemacht?«
»Das gehörte einfach mit zu unserer Freundschaft. Wir hatten beide Spaß am Flirten, und es war ungefährlich, weil wir wußten, daß eh nie was passieren würde.« Wie bei mir und Alex. Ich schaute zu ihm rüber, und er wich meinem Blick bewußt aus. Immer noch sauer, dachte ich.
»Und was ist mit diesem Brief?« fragte ich und zeigte ihm den Brief, den ich in Belles Handtasche gefunden hatte.
Er warf einen kurzen Blick darauf und sagte: »Was soll denn damit sein? Ich hatte ein Angebot von einer anderen Zeitschrift bekommen, und die Idee eines Tapetenwechsels erschien mir nicht ohne Reiz. Belle bot mir mehr Gehalt an, aber keinen neuen Titel. Ich wollte Bedenkzeit. Mehr steht in dem Brief nicht drin. Was hast du denn gedacht — daß wir eine heimliche Liebesaffäre hatten?«
Ich sagte: »Und wieso dann der Spruch: >Ich hatte schon härtere Jobs als den, dich zu lieben<?«
Er sagte: »Hast du sie nicht auch geliebt?«
Ich kam mir plötzlich unheimlich bescheuert vor, noch bescheuerter als gewöhnlich. »Wir sind dir gefolgt«, sagte ich.
Herb warf den Kopf zurück und lachte. Er sagte: »Dann bin ich jetzt also ein schlimmer Junge? Wow, das gefällt mir.« Er rief in das andere Zimmer hinüber: »Larry! Ich bin ein schlimmer Junge.«
Ich sagte: »Wir haben gesehen, wie du mucho dinero in die Goldfischtüte gesteckt hast und sie Rudberg gegeben hast. Kannst du uns das erklären?«
»Das hatte nichts mit Belles Tod zu tun.«
»Aber was ist mit Belles Geld?« fragte Alex.
Larry kam aus dem Schlafzimmer. Er sah umwerfend aus in seinem braunen Armani-Anzug. Er legte die Hand auf Herbs Schulter und sagte: »Klar bist du ein schlimmer Junge. Fertig? Max wartet wahrscheinlich schon im Club.«
Herb faßte Larrys Hand und sagte: »Einen Moment noch.« Er wandte sich zu uns. »Wir gehen zu einer ACT-UP-Party in meinem Männerclub auf der Cornelia Street. Max Rudberg ist dort auch Mitglied. Die Goldfischtüte ist der Türpreis. Es ist ein Gag. Der Gewinner kriegt sie und denkt, »Scheiße, das war ja wohl nichts.« Dann macht er sie auf und sieht die Scheine. Und es ist wohl kaum mucho dinero, Wanda. Es sind ganze fünfzig Schleifen.«
Larry sagte: »Eine Schnapsidee. Ich find’ sie überhaupt nicht gut.«
Herb nickte. »Max’ Idee«, sagte er. »Ich wäre euch übrigens sehr verbunden, wenn ihr ihn da raushalten könntet. Er ist nicht scharf darauf, geoutet zu werden. Das gilt übrigens für viele Mitglieder des Clubs. Wenn ihr Lust habt, als meine Gäste mitzukommen, seid ihr herzlich eingeladen. Es ist für einen guten Zweck.«
»Ein andermal«, sagte ich. Wir bedankten uns bei Herb und gingen. Ich nahm mir vor, das alles zu überprüfen, aber Herbs Story erklärte doch sehr plausibel, warum Belle ihn und Max nie rumgekriegt hatte. Ich steckte mir eine Zigarette an, als wir draußen waren. Sie schmeckte hervorragend.
Als Alex und ich am Nachmittag zu Do It Right zurückkehrten, hörte ich als erstes den Anrufbeantworter ab. Aber es waren keine neuen obszönen Anrufe eingegangen. Alex legte seine Brieftasche und seine Schlüssel auf meinen Schreibtisch, bevor er den Flur hinunter zur Toilette ging. In einer spontanen Blitzaktion filzte ich seine Brieftasche durch und fand die Serviette mit Candies Telefonnummer drauf. Ich zerriß sie und aß sie auf. Ich konnte nicht zulassen, daß er sich ins Unglück stürzte. Er würde es mir später danken.
Als er zurückkam, drückte ich ihm die eine Hälfte der Liebesgedichte in die Hand, die wir inzwischen gesammelt hatten. Wir suchten nach irgendeinem Anhaltspunkt — einer wiederkehrenden Sprachfigur, einem klemmenden Buchstaben — irgend etwas. Ich zündete mir eine Zigarette an. Ich hatte zuletzt viel geraucht. Alex hustete. Er sagte: »Könntest du den Qualm bitte aus dem Fenster blasen?« Candie war wahrscheinlich Nichtraucherin. Can-die schnitt sich wahrscheinlich nicht ins eigene Fleisch.
Ich sagte: »Kein Problem«, aber ein paar Züge später vergaß ich’s wieder. Alex hustete demonstrativ, nahm seinen Packen Briefe und schleppte seinen Stuhl auf die andere Seite des Raums.
Er sah, wie ich ihm dabei zuschaute. Er sagte: »Was ist los?«
»Nichts ist los«, sagte ich.
Ich konzentrierte mich auf die Gedichte und fragte mich, ob sie Belle wohl angemacht hatten. Ich erinnerte mich, daß Belle einmal zu mir gesagt hatte: »Das einzige, was mich überhaupt noch erregt, sind mehrere Orgasmen hintereinander und Ehrenpreise.« Ich blickte zu Alex rüber. Er hatte fast nichts geredet, seit wir bei Herb weggegangen waren.
Ich sagte: »Ich kann einfach nicht glauben, daß Herb ernsthaft erwogen haben soll, vom Midnight wegzugehen. Belle muß einen Anfall gekriegt haben.«
Alex schaute nicht auf. Er sagte: »Veränderung ist gut. Du siehst doch, wie sich dein Leben verändert hat, als du beim Midnight aufgehört hast.« Ich fragte mich, ob Alex vorhatte, bei Do It Right aufzuhören. Er schien nicht allzu glücklich mit mir zu sein.
»Was willst du mir damit sagen?« fragte ich.
»Daß Veränderung gut ist, sonst nichts.«
»Du ziehst doch ganz offensichtlich einen Vergleich zwischen Herb und Belle und dir und mir.« Meine analytische Ader gewann die Oberhand.
»Wovon redest du?«
Ich sagte: »Er überlegte, ob er sie verlassen sollte, du überlegst, ob du mich verlassen sollst.«
»Wie kommst du denn darauf?« fragte er. »Willst du, daß ich die Agentur verlasse?«
»Wenn du gehen willst, geh’.«
Er sah mich scharf an. Ich glaube, ich hatte ihm wehgetan. Er sagte: »Ich hab’ dich gefragt, ob du willst, daß ich gehe.«
Ich sagte: »Du scheinst mir nicht sehr glücklich bei mir zu sein. Vielleicht wärst du woanders glücklicher.« Er stand auf und ging im Raum auf und ab. »Nein, ich meine, ich will nicht, daß du gehst«, platzte ich heraus.
»Ich will auch nicht gehen«, sagte er leise. Wir sahen uns zum ersten Mal an diesem Tag in die Augen. So, das war also abgehakt. Ich fragte mich, wieso ich mich immer noch so angespannt fühlte.
Alex schlug vor, daß wir uns was zu essen kommen ließen. Ich nahm den Hörer ab und rief in dem Imbißladen unten im Haus an, um ein paar Sandwiches zu bestellen. Alex erbot sich freiwillig, sie raufzuholen. Er überprüfte seine finanzielle Lage, während ich telefonierte.
Die Stimme sagte: »Deli Express.« Alex inspizierte seine Brieftasche und stutzte. Er trat mit zwei Riesenschritten zu mir und haute mit der Faust auf den Schreibtisch. Ich konnte an seinem Gesichtsausdruck sehen, daß es eine Weile dauern würde, bis ich Sandwiches zu sehen kriegen würde. Ich sagte ins Telefon: »Einen Moment.«
Alex sagte: »Leg’ auf.«
Ich hielt die Sprechmuschel mit der Hand zu und sagte: »Was wolltest du noch mal? Thunfisch?«
Der Imbißmann rief mir ins Ohr: »Was ist jetzt? Ich kann nicht den ganzen Tag warten.«
Alex sagte: »Leg’ auf.«
Ich sagte: »Oder war’s Schinken?«
Alex sagte: »Leg’ auf — sofort.«
Der Imbißmann sagte: »Was ist jetzt? Wollen Sie was bestellen oder nicht?«
Alex wand mir den Hörer aus der Hand und knallte ihn auf die Gabel. Ich sagte: »Du wirkst irgendwie sauer.«
»Und ob ich sauer bin. Wo ist Candies Telefonnummer?«
»Du mußt sie verloren haben.« Ich log also, um mich selbst zu schützen.
»Ich glaube eher, du hast sie für mich verloren.«
»Was interessiert mich diese frühreife Göre?«
»Sag’ mir sofort, wo du sie hast, und wir vergessen die ganze Sache.«
»Ich hab’ sie nicht.«
Seine Ohren waren vor Wut ganz rot, aber er schluckte seinen Zorn runter und sagte ruhig: »Na gut, dann eben nicht. Ist auch egal. Ich kann jederzeit noch mal zu ihr hin, wenn ich will. Aber wir sollten ein paar Dinge ein für allemal klarstellen, Wanda. Wenn du wirklich willst, daß ich bei Do It Right bleibe, dann halte dich aus meinen Privatangelegenheiten raus.«
Ich sagte: »Findest du es nicht interessant, daß du ständig in übelster Weise über Skip herziehen kannst, aber wenn ich mal ein leises — und ich betone: leises — Interesse an deinem Privatleben zeige, du sofort zu rotieren anfängst?«
»Du willst also, daß wir über unsere Macken diskutieren?« fragte er. »Okay, dann fangen wir mal bei dir an.« Er nahm seine Finger zu Hilfe, um sie der Reihe nach aufzuzählen. »Du bist egoistisch, egozentrisch und grob. Du kontrollierst mich. Du glaubst, du wärst die einzige, die irgendwas von Detektivarbeit versteht oder davon, wie man einen Zeugen ausfragt. Du bist unsensibel. Und dann ist da noch eine andere Sache.«
»Was für eine andere Sache?« fragte ich.
»Du hast keine Ahnung von Romantik«, sagte er
»Selbst wenn es so wäre, ich wüßte nicht, was das mit dir zu tun hätte.«
»Du hattest gestern abend deine Zunge halb in meinem Ohr, oder hast du das schon vergessen?«
»Meinst du damit meinen platonischen kleinen Kuß? Meine harmlose Geste freundschaftlicher Zuneigung?«
Das war zuviel. Er ging zur Tür. Er schaute auf den Kleiderständer und sagte: »Seit diesem sogenannten platonischen Kuß gestern abend schikanierst du mich herum, behandelst mich wie einen Zehnjährigen und lügst mich an. Und das gefällt mir nicht. Es ist offensichtlich, daß du selbst nicht so genau weißt, was du von mir willst. Du bist dir ja nicht mal sicher, ob du überhaupt willst, daß ich hier arbeite. Wenn du’s rausgekriegt hast, kannst du mich ja anrufen.« Er hielt einen Moment inne, dann sagte er feierlich: »Übrigens, diese Candie ist mir echt scheißegal. Und ich bin wirklich überrascht, daß du allen Ernstes geglaubt hast, ich will was von ihr. Ich hätte eigentlich gedacht, daß du mir ein bißchen mehr Zutrauen würdest.« Alex zog leise die Tür hinter sich zu. Ich stand auf und knallte sie richtig zu.
Gegen zehn beschloß ich, einen kleinen Spaziergang um den Times Square zu machen. Alex war schon seit Stunden weg. Kurz bevor ich losgehen wollte, klingelte das Telefon. Ich hoffte, daß es Alex war. Es war der obszöne Anrufer. Er sagte mit verstellter Stimme: »Ich beobachte dich«, und legte wieder auf. Ich fror und hatte ein Gefühl von Klaustrophobie. Ich rief Alex in der Delancey Street an, aber er nahm nicht ab. Ich schloß die Bürotür zu und joggte die vier Stockwerke hinunter; es ist nicht ratsam, spätabends den Aufzug zu benutzen. Ich ging mit schnellen Schritten den Broadway rauf, im Fußgängerverkehr mitschwimmend. Als ich an einem Schuhgeschäft vorbeikam, warf ich einen Blick auf mein Spiegelbild in der Schaufensterscheibe. Einen Moment lang glaubte ich, den Mann mit dem Schlapphut hinter mir zu sehen. Ich ging zügig weiter. An der nächsten Schaufensterfront warf ich wieder einen Blick zur Seite, um zu sehen, ob er immer noch da war. Er war weg. Ich blieb stehen und tat so, als würde ich meine Haare ordnen. Niemand näherte sich mir. Ich schüttelte den Kopf und rieb mir die Augen. Ich fing offenbar langsam an zu spinnen. Jemand tippte mir auf die Schulter. Ich wirbelte herum und fuhr mit der Hand in die Handtasche, um notfalls sofort Mama herausziehen zu können. Es war ein Offizier von der Heilsarmee. Er fragte mich, ob alles in Ordnung mit mir sei. Ich sagte ihm, er solle abhauen und ging weiter, nach irgendeinem Ort Ausschau haltend, wo ich hingehen konnte.
Die Rausschmeißer, die sonst vor der Orchid Lounge standen, hatten offenbar ihren freien Abend. Ich ging rein. Vielleicht konnte ich ein bißchen was über Johann und Martha in Erfahrung bringen. In der Orchid Lounge war an diesem Abend nicht viel los. Ich hatte schon ein paar Amarettos im Büro getrunken und dabei fast den Kundenalkoholvorrat erschöpft. Luigi mixte mir einen Margarita on the rocks mit Salz. Warum sollte ich mir nicht an einem einsamen Sonntagabend einen kleinen Mescal gönnen, dachte ich. Luigi grinste mich mit seiner Zahnlücke an, als ich meinen ersten Schluck nahm. Er sagte, er würde sich von dem Abend mit Johann und Martha an mich erinnern. Er nannte mich dauernd Wixie.
Die Jalapeño-Birnen an der Decke blinkten, und ich fragte mich, was die Unten-ohne-Kellnerinnen wohl machten, wenn sie ihre Tage hatten. Ich fragte Luigi, der mich gerade mit einer Story von drei Stewardessen aus Muskogee, Oklahoma, vollblubberte. Er kicherte vergnügt und fuhr mit seinem Stewardessen-Epos fort. Der Margarita ging mir runter wie Nerzöl auf Leder. Ich schielte immer mal wieder zur Tür, ob vielleicht der Schlapphut aufkreuzte. Ich trank zügig den nächsten Tequila.
Luigi schrubbte die Theke mit einem Lappen ab. Ich schien offenbar leicht zu schwanken; er fragte mich, ob ich okay wäre. Ich konnte einem zahnlosen Porno-Impresario nicht abkaufen, daß er sich um mich sorgte, also sagte ich ihm, er solle sich verziehen. Das tat er auch, aber er kam mit einer Freundin wieder. Er sagte: »Heh, Wixie. Keine Lust, mal ein bißchen an dem kleinen süßen Mäuschen hier rumzulutschen?« Ich blickte leicht benebelt auf. Neben Luigi stand eine der Unten-ohne-Kellnerinnen.
Sie sagte: »Du siehst niedergeschlagen aus.«
»Was machst du, wenn du deine Tage hast?« fragte ich.
Luigi sagte: »Das ist Deb. Sie ist echt nett.« Sie hatte rubinrote Lippen, Gold-Metallic-Lidschatten, zwei kampflustig über ihren Ohren wippende braune Zöpfchen, ein herzförmiges Gesicht und einen unglaublich tollen Körper.
Ich sagte: »Ich fick’ nicht mit Frauen.«
Deb sagte: »Du siehst so aus, als bräuchtest du jemanden zum Reden.«
Ich zeigte auf meinen Drink. »Das ist alles, was ich brauche.«
Deb spülte ein paar schmutzige Gläser. Sie sagte: »Luigi sagt, er wär’ ein Freund von dir.«
»Ich hab’ keine Freunde.«
»Dann laß mich deine Freundin sein.«
Ich sagte: »Ich hab’ nicht gesagt, daß ich welche haben will.«
»Ich will dich nicht anmachen.«
»Hab’ ich dir das unterstellt?« Ich nahm einen Schluck; Öl auf Leder.
»Ich möchte mich bloß mit dir unterhalten.«
»Ich will mich nicht unterhalten. Wenn du dich unbedingt unterhalten willst, hier sitzen genug Leute rum. Zum Beispiel die Typen da drüben.« Ich zeigte auf ein paar Männer, die mit Luigi plauderten.
Sie sagte: »Um die kümmert sich schon Luigi.« Sie stellte eine Flasche Mescal auf die Theke. »Sich mit dir zu unterhalten ist, als ob man eine Konservendose mit einer Gabel aufmachen würde.« Das hätte von mir sein können. Sie zwirbelte einen ihrer Zöpfe um den Finger. Ich peilte sie mit meinem Tequila-Blick an. Ich schätzte sie auf Anfang zwanzig. Ihre Augen ließen Intelligenz erkennen. Wahrscheinlich fühlte sie sich genauso allein wie ich. Was konnte es schaden, dachte ich plötzlich, wenn ich meinen Reichtum an Trübsal mit dieser einsamen Unten-ohne-Kellnerin teilte? »Also gut, Deb. Worüber möchtest du dich denn unterhalten?« fragte ich.
Sie sagte: »Wie wär’s, wenn wir uns über dich unterhalten? «
Ich dachte, lieber laß ich mich von einer Horde Holzfäller vergewaltigen. Ich sagte: »Ich möchte nicht über mich reden.«
»Warum nicht?«
»Meine Probleme sind meine Sache.«
»Aber andere Leute können dir bei deinen Problemen helfen.«
Ich sagte: »Es ist voll genug hier.« Ich klopfte mir mit dem Rand meines Glases an den Kopf. Das Eis klimperte. Ich brauchte noch einen Drink. Deb goß mir einen ein.
»Der geht aufs Haus«, sagte sie.
»Danke.« Ich stülpte das Gebräu in einem Zug. Sie füllte nach.
»Was arbeitest du?« fragte sie.
»Was arbeitest du? Ach — streich’ das. Ich weiß schon.«
»Du weißt nur die Hälfte. Ich studiere. Ich mach’ gerade mein Abschlußsemester in klinischer Psychologie an der NYU. Und eigentlich muß ich dir ein kleines Geständnis machen. Ich teste meine Hausarbeit an dir.«
»Das machst du aber nicht besonders gut«, sagte ich.
»Noch nicht.« Sie fummelte an einem Riemchen ihres Oberteils herum und drehte weiter an ihren Zöpfen.
»Okay. Wie lautet die Hausaufgabe?« fragte ich.
»Es ist so gesehen eigentlich keine richtige Hausaufgabe«, sagte sie. »Ich sprech’ einfach gern mit Leuten, die so aussehen, als bräuchten sie einen Freund. Ein bißchen Freelance-Arbeit.«
»Deb und Luigi — das Wohltätergespann.«
»Du kannst dich gern über mich lustig machen, wenn du möchtest. Aber ich helfe gerne Menschen aus der Not.«
»Und Neandertalern für einen Zehner einen zu blasen gehört wohl auch zu deiner Hilfsmission.«
»Blasen kostet fünfzig«, sagte sie lächelnd.
Ich gab mich geschlagen. Dies war ganz bestimmt nicht die typische Durchschnittsstudentin. Oder die typische Hinterzimmernutte. Ich sagte: »Wenn du mir helfen willst, dann sag’ mir, ob du schon mal einen großen Blonden namens Johann Pesto dazwischengehabt hast.«
»Klar kenn’ ich Johann. Er hat den Mädchen oft Geschenke mitgebracht.« Unter anderem wohl die Handschellen und den Federstaubwedel mit Pimmelgriff, die ich ihn im Snack Happy hatte kaufen sehen. Sie fuhr fort: »Er ist in letzter Zeit nicht mehr so oft hiergewesen, jetzt, wo er eine Berühmtheit ist. Ich glaub’, er hat was Festes.«
»Du meinst bestimmt Martha Schreckenspiel. Groß, lange braune Haare.«
»Ich hab’ ihn noch nie mit ihr gesehen«, sagte sie. »Er hat mir bloß neulich abends mal erzählt, er würde demnächst heiraten.« Er mußte Belle gemeint haben.
»Wann war das?«
»Vor einer Woche.«
»Hat er je was von einer Frau namens Belle Beatrice erzählt?«
Deb lächelte und sagte: »Ich war ein großer Fan von ihr, mußt du wissen.«
»Ich auch«, sagte ich.
Sie wischte die Theke mit dem dreckigen Lappen ab. Sie goß Mescal in ihre Schnapsgläser. Sie sagte: »Kann ich dir noch einen ausgeben?«
Ich sagte: »Aber immer.« Sie kippte ihren runter. Ich langte nach meinem Glas und stieß es um. Ich war betrunkener, als ich geglaubt hatte.
Deb sagte: »Ärger mit ‘nem Typ?«
»Ich möchte nicht darüber sprechen.«
»Was hast du zu verlieren?«
Ich sagte: »Er ist mein Partner.«
»Liebespartner oder Geschäftspartner?«
»Beides. Weder noch.« Sie gab den unverbindlich-dezenten »Mmh-mmh«-Laut von sich, den alle Seelenklempner der Welt von sich geben, wenn sie ihr Gegenüber zum Weiterreden ermuntern wollen. Ich sagte: »Er findet, ich wär’ grob und unsensibel.«
»Hat er recht?«
»Es ist doch wohl nichts Schlimmes dabei, wenn jemand ein bißchen Feuer im Arsch hat.« Ich leckte Salz von meiner Handfläche. Ich konnte förmlich sehen, wie es in ihrem Kopf blinkte. Ich sagte: »Ich will mich nicht rechtfertigen.«
»Genau das tust du. Sonst würdest du nicht so darauf pochen, daß du es nicht tust.«
Ich schmunzelte. »Er sagt, ich würde ihn kontrollieren.«
»Und? Hat er recht?«
»Er kann tun und lassen, was er will.« Zum Beispiel einfach abhauen und mich hängenlassen. Aber vielleicht hatte ich ihn auch dazu gebracht.
»Liebst du ihn?« fragte sie.
»Nein. Wir sind Partner. Ich kenne ihn schon zu lange als Freund.«
»Gefühle können sich ändern.«
»Und wenn. Ist eh egal. Er ist weg.«
»Hast du versucht, ihn aufzuhalten?«
»Natürlich nicht.«
»Hast du ihm gesagt, daß du ihn liebst?«
»Ich hab’ dir doch gerade gesagt, daß ich ihn nicht liebe.«
»Wen liebst du?« fragte sie.
Ich sagte: »Ich liebe niemanden. Ich liebe meinen Job.«
»Und wie läuft der?«
»Beschissen. Wenn ich Pech habe, kann ich Mittwoch den Laden dichtmachen.«
»Laß deswegen den Kopf nicht hängen. Die Dinge regeln sich schon immer irgendwie von selbst. Laß das Leben einfach geschehen. Folge deinem eigenen Lebensplan.« Eine Taoistin war sie also auch noch, diese Deb.
Ich sagte: »Ich würde im Seminar lieber nicht so reden, wenn ich du wäre.«
»Auf der NYU fahren sie voll auf dieses Zeug ab.«
Ich bat sie, mir mehr von Johann zu erzählen. »Ist er vielleicht schon mal ein bißchen zu stürmisch geworden? Ich meine, daß er vielleicht versucht hat, eine zu würgen oder so was?« Sie sagte: »So einer ist Johann nicht. Er ist total normal drauf. Du brauchst ihn nur einmal anzufassen, und er hat sofort eine Latte bis zum Kinn. Ich selbst hab’ ihn einmal an einem Abend fünfmal zum Spritzen gebracht. Das war, bevor die Sache mit Belle anfing.«
»Hat er irgendwas über sie erzählt?«
»Nie Näheres. Er hat mir bloß gesagt, mit ihr hätte er das große Los gezogen. Ich glaube, er war mehr Kavalier, als er selbst glaubte. Ich glaube, er liebte sie.«
»Und du müßtest es ja eigentlich wissen«, sagte ich. Glaubst du, daß Luigi sich vielleicht an irgendwas Spezifischeres erinnern könnte?«
Sie sagte: »Ich weiß nicht. Aber ich würde ihn nicht fragen. Er legt großen Wert darauf, daß seine Kunden anonym bleiben.«
Ich schaute auf meine Uhr. Die Zeiger drehten sich ein bißchen zu schnell. Vielleicht war das auch mein Kopf. Es war Mitternacht, und die Orchid Lounge begann sich zu füllen. Deb konnte nicht umhin, immer mal wieder zur Tür zu schielen, um potentielle Ficks vorzutaxieren. Es wurde Zeit, daß ich die Biege machte. Ich versuchte aufzustehen. Klappte nicht. Meine Beine waren wie Kaugummi. Deb kam um die Theke herum, um mir zu helfen. Ihre Brüste und ihre Zöpfchen wippten putzig auf und ab. Sie legte den Arm um meine Taille und brachte mich zur Tür. Ich sagte: »Wieviel schulde ich dir?«
»Mach’ dir deswegen jetzt keine Gedanken. Gib mir das Geld das nächste Mal, wenn wir uns sehen.«
»Ich meinte, für die Therapiesitzung.«
»Ich glaube nicht, daß ich dir sehr geholfen habe.«
»Ich fühl’ mich jedenfalls nicht schlechter als vorher. Andererseits fühl’ ich mich eigentlich gar nicht.«
»Geht aufs Haus«, sagte sie. »Dafür, daß du länger als fünf Minuten mit mir gesprochen hast, ohne mir an die Titten zu gehen.«
Ich verabschiedete mich von ihr und ging raus. Den Mann mit dem Schlapphut hatte ich ganz vergessen. Ich wankte um den Times Square auf der Suche nach einem funktionierenden Telefon. Ich fand schließlich eins und rief Alex bei sich zu Hause an. Er kam dran und sagte hallo; ich hängte sofort wieder ein. Ich bin sicher, er wußte, daß ich es war. Ich hasse es, wenn ich mich wie eine Vierzehnjährige benehme.