Der Beginn eines heiteren Wochenendes

Am Samstag morgen schlief ich eng an Otis gekuschelt. Heute gab es keine Kamikaze-Selbstmordattacken auf meinen Magen. Ich hatte ihr Huhn- und Leberhäppchen zu fressen gegeben, bevor ich aufs Bett fiel. Es war halb zehn. »Früh« bedeutet für Alex und mich zehn Uhr. Es war Zeit, in Bewegung zu kommen. Das Telefon klingelte. Ich sagte: »Mallory.«

Skip Giddy sagte: »Morgen, Engelskind.«

Ich sagte: »Hi, Skip.«

Er sagte: »Wanda, mir geht es so schlecht.«

»Was ist los?«

»Du hast mich nicht zurückgerufen.«

»Ich hatte zu tun.« Ich langte über Otis auf meinen Nachttisch und fischte mir eine Zigarette aus der Schachtel. Ich steckte sie in Brand und inhalierte.

Skip sagte: »Bist du noch dran?«

Ich sagte: »Und wie.«

»Hör’ mal, Wanda. Ich muß dich heute sehen.«

»Ich bin im Streß. Deadline.« Gladmans’ Ausdrucksweise.

»Guck’ mal aus dem Fenster. Die Sonne scheint, der Himmel ist strahlend blau. Solche Tage kriegen wir nicht mehr viele, bevor der Herbst anfängt. Du bist also im Streß. Das versteh’ ich. Aber ich dachte mir, ein netter Tag auf dem Land könnte dir vielleicht den Kopf ein bißchen frei machen. Du weißt schon, neue Perspektive und so. Wir können uns auf grünen Wiesen wälzen. Wie , in dem Weinkühler-Werbespot. Wir können über uns reden, über deine Story.« Ich mußte daran denken, was Alex gestern abend in der Kneipe gesagt hatte.

Ich sagte: »Skip, bin ich anders als die tausend anderen Frauen, die du hattest?«

Er lachte und sagte: »Tausend wäre übertrieben.«

»Vergiß es. Ich kann nicht.«

»Ich kann das Cabrio aus der Garage holen. Wir können nach Norden ins Grüne fahren. Frische Luft atmen. Durch den Wald spazieren.« Als nächstes würde er wahrscheinlich sagen, im Heu schlafen!

Ich sagte: »Ein Tag auf dem Land, sagst du?«

»Mit heißem Punsch und Apfelwein.«

»Hol’ mich in einer Stunde ab.«

»Echt?« fragte er.

Ich sagte: »Hol’ mich in neunundfünfzig Minuten ab.«

Er schaffte es in siebenundfünfzig. Er war wie immer proper zurechtgestylt: rot-schwarz karierte Jägerjacke (erschreckend unpassend für das heiße Spätsommerwetter) , Jeans und Oxfordhemd. Seine Backen waren rosig vom Fahren mit offenem Dach, und seine Haare hingen putzig zerzaust über der beginnenden Hinterkopfglatze. Er küßte mich auf den Mund, und sofort jagte mir ein heißer Schauer durch den Vaginalbereich. Er sagte, ich sähe sehr nach Downtown aus — was soviel bedeutete wie sportlich-salopp. Ich hatte ein weißes Gap-T-Shirt an und Paradise-Design-Vans. Ich band mir eine Kaschmirstrickjacke um die Taille. Er musterte mich mit dem intensiven Blick, auf den ich so abfahre. Er hielt mir die Tür auf und hüpfte dann auf den Fahrersitz seines zweitürigen BMWs. Meine Haare waren offen und wüst, und der Fahrtwind machte es noch schlimmer, oder besser. Wir düsten zur Manhattan Bridge, und ich sagte ihm, er solle in den Brooklyn-Queens Expressway einbiegen.

Er sagte: »Wohin fahren wir, Zuckerpuppe?«

Ich sagte: »Greenwich, Connecticut.«

Ich hatte mir die Adresse von Belles Eltern bei der Auskunft besorgt, bevor Skip kam. Skip fuhr mit Bravura, Machismo, Karacho und noch ein paar anderen Begriffen, die so was wie »rasender Stier« bedeuten. Wenn wir Verkehr vor uns hatten, haute er auf das Lenkrad und fluchte. Er ließ mich schalten, während er auf die Kupplung trat. Ich hab’ das immer mit den Jungs auf der Highschool gemacht. Als wir auf den offenen Highway kamen, legte er die Hand auf meinen Oberschenkel, lange Finger suchten sich ihren Weg zu meinem Ort des Ursprungs. Ich ließ ihn gewähren. Es fühlte sich geil an, selbst durch die Jeans.

Als wir uns Belles Elternhaus in Greenwich näherten, fragte Skip: »Warum machen wir das eigentlich? Haben die armen Leute nicht schon genug durchgemacht?«

Ich sagte: »Es ist der nächstliegende logische Schritt. Außerdem hat sie sie erst vor zwei Wochen noch einmal besucht. Vielleicht hat sie ihnen was gesagt.«

»Warum nimmst du dir nicht ihr Apartment in der Stadt vor?«

»Geht nicht. Hat die Polizei versiegelt.«

»Dann könnte man also sagen, ich bin heute dein Partner?«

Ich gab zurück: »Mach’ nur das, was ich dir sage. Solche Situationen können ganz schön heikel sein.«

Er lehnte sich zu mir rüber und küßte mich. Er sagte: »Weinkühler-Werbung später?« Ich nickte, und wir waren da.

Skip hielt vor der Einfahrt an und zog die Handbremse. Das Haus war gediegen-unaufdringlicher Kolonialstil, aber schon ein paar grüne Packen wert. Dahinter jede Menge sanft gewelltes Hügelland. Es war ein Haus, das Stille und Intimität ausstrahlte. Vielleicht war das der Grund, warum die Beatrices nicht gerade begeistert zu sein schienen, als sie einen roten BMW ihre Einfahrt raufgebrettert kommen sahen, aus dessen Boxen James Brown dröhnte, so daß die Eichhörnchen, die sich dort versammelt hatten, in Panik auseinanderstoben und auf die Bäume flüchteten.

Belles Eltern — ein New-England-Ehepaar wie aus dem Bilderbuch — saßen in ihren Schaukelstühlen auf der Holzveranda und tranken Eistee. Ich sagte Skip, er solle einen Moment im Wagen sitzen bleiben. Ich wollte erst mal nur die Fühler ausstrecken. Ich ging die Stufen zur Veranda rauf und stellte mich vor. Anne, Belles Mutter, sagte, sie würde mich von der Testamentsverlesung her wiedererkennen. Bradley, Belles Vater, nickte und schlürfte seinen Tee. Ich drehte mich um, um Skip ranzuwinken, aber er war schon unterwegs.

»Skip, habe ich dich nicht gebeten, im Wagen zu warten?« sagte ich.

Er ignorierte mich. »Mr. und Mrs. Beatrice, ich möchte Ihnen sagen, wie betroffen mich der Tod Ihrer Tochter macht. Sie war eine großartige Frau und eine liebe Freundin von mir. Sie erinnern sich vielleicht an mich — ich war auch auf der Beerdigung. Mein Name ist Skip Giddy. Ich bin Redakteur beim Shinola-Magazin. Kein Konkurrenzblatt vom Midnight, aber ich bin sicher, wenn wir es wären, würde der Midnight uns aus dem Markt hauen. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.« Skip schüttelte Anne und Bradley die Hand. Sie sahen sich an und runzelten die Stirn.

Anne sah toll aus — so, wie Belle mit sechzig ausgesehen hätte. Graues Haar, locker nach hinten gerafft, das Gesicht von weich fallenden Strähnen eingerahmt. Sie hatte milchig-blaue Augen, wie eine Katze mit grauem Star. Ihre Haut war nicht mehr ganz so straff, aber nur, weil sie so dünn war. Keine Faceliftingnarben.

Ich sagte: »Skip hilft mir bei den Ermittlungen.« Ich sandte ihm ein warnendes Grinsen. »Jedenfalls für heute.«

Bradley nickte und schürzte die Lippen. Er war ein Neuengländer bis in die Haarspitzen. Kantiges Kinn, scharf vorspringende Nase, dauergebräunte Lederhaut. Er war älter als Anne, vielleicht zehn Jahre. Auch er hatte blaue Augen, aber sie waren schärfer und eisiger als Annes. Er schien kein Interesse am Plaudern zu haben, nur am Schaukeln und Teeschlürfen. Ich richtete meine Fragen an Anne. Ich sagte: »Ich dachte mir, ich komm’ mal vorbei. Mal sehen, wie es Ihnen geht. Vielleicht ein bißchen über Belle reden. Natürlich nur, wenn Ihnen danach zumute ist.«

Anne hatte eine seltsame Art, ihre Worte in die Länge zu ziehen. Sie klang wie Bette Davis auf Demerol. Sie stand auf und sagte: »Ja, meine Liebe. Wir möchten Ihnen gerne helfen. Brad und ich haben Sie sofort gemocht, als wir Sie bei der Testamentsverlesung sahen. Nicht wahr, Vater?« Bradley nickte und schlürfte Tee. Sie fuhr fort: »Brad und ich wollen, daß der Mörder gefunden und bestraft wird.« Eine Bö heißer Sommerwind fuhr über die Veranda und ließ den Schaukelstuhl, von dem Anne gerade aufgestanden war, leise knarren.

Ich sagte: »Danke, Mrs. Beatrice.«

Anne sagte: »Möchten Sie ein Glas Eistee? Ich hab’ drinnen noch einen ganzen Krug.«

Skip sagte: »Ich hätte gern etwas, Mrs. Beatrice. Ich hab’ eine ganz trockene Kehle von der Fahrt.« Bradley spitzte die Lippen und — das deutlichere Zeichen von Mißfallen — zog eine Augenbraue hoch.

Anne bat uns, ihr ins Haus zu folgen. Skip blubberte was von spitzenmäßigem Grün und wunderbar frischer Luft, und Anne lächelte geduldig. Sie führte uns durch ein Labyrinth von antiken Eichen- und Ahornmöbeln ins Wohnzimmer. Eine Brise ließ die Spitzengardinen leise rascheln. Als sie in der Küche war, zischte ich Skip ins Ohr: »Halt verdammt noch mal den Mund, Giddy. Ich führe diese Ermittlung durch. Merkst du denn nicht, daß du die Leute vergraulst? Was zum Teufel ist bloß in dich gefahren?«

Er flüsterte: »Ich glaube, ich kann hier durchaus einen positiven Beitrag leisten. Ich hab’ schon immer gewußt, daß ich was von einem Detektiv in mir habe.« Noch so ein Wandschrankschnüffler. Eines war klar: eine schlichte Bitte würde nichts nützen. Ich machte ihm daher folgendes Angebot: das Blaskonzert seines Lebens, wenn er für den Rest unseres Besuches die Klappe hielt. Er willigte sofort ein.

Anne kam mit einem Tablett mit Gläsern herein. Sie setzte sich auf die Paisley-Couch und sagte: »Sehen Sie die Urne dort auf dem Kaminsims?« Wir guckten. Sie war aus Porzellan und auf eine gediegene Neuengland-Weise schön. Ich nickte. Sie sagte: »Das ist Belle. Brad ist sehr bestürzt über das, was passiert ist. Er mag auch Fremde nicht sehr. Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns nicht in seiner Gegenwart über das Thema unterhalten. Zucker oder Milch?«

Ich sagte: »Ich trink’ ihn so.« Skip nahm beides. Ich trank einen Schluck und genoß den bitteren Geschmack des Eistees. Ich hatte jedoch Schwierigkeiten, Anne zu schlucken. Ihre Höflichkeit schmeckte nach künstlichem Süßstoff.

»Nun, wie kann ich Ihnen helfen?« fragte sie.

Ich sagte: »Ehrlich gesagt, Mrs. Beatrice, ich weiß eigentlich nicht genau, wonach ich suche. Alles, woran Sie sich erinnern, könnte uns weiterhelfen. Wissen Sie, ob Belle irgendwelche Feinde oder Feindinnen von früher hatte, irgendwelche offenen alten Rechnungen?«

Sie sagte: »Belle hatte keinen sehr guten Draht mehr zu Vater und mir, seit sie den Midnight aufgebaut hatte. Brad haßte das Blatt, und ich — nun ja, ich mochte es auch nicht sehr. Ich weiß Bescheid über Befreiung, einschließlich sexuelle Befreiung. Aber wir sind wohl einfach aus einer anderen Generation.« Sie bot uns getrocknete Äpfel von einem Tablett an, das mit Äpfeln bemalt war. Skip mampfte ein paar. Solange er ißt, hält er wenigstens den Mund, dachte ich. Anne fuhr fort: »Wir haben uns nie wirklich gestritten wegen der Zeitschrift. Das ist nicht unsere Art. Aber Vater und ich haben Belle zu verstehen gegeben, daß wir dagegen waren.« Ihre gezierte Sprechweise trieb mich auf die Kante der Couch.

Ich sagte: »Wie haben Sie das gemacht?«

»Entschuldigung, wie meinen Sie das?«

»Wie haben Sie Belle klargemacht, daß Sie etwas gegen die Zeitschrift hatten, ohne es ihr zu sagen?«

Annes Wangen erröteten. Sie sagte: »Es war nicht so, daß wir sie es nicht hätten wissen lassen — wir... wir haben halt nicht mit ihr darüber gesprochen.«

Belle hatte also über übersinnliche Wahrnehmung verfügt.

»Sie und Belle haben also nicht miteinander gesprochen?« fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Nein. Wir haben oft miteinander gesprochen. Wir haben nur nicht auf eine bestimmte Weise mit ihr gesprochen.«

»Belle hat immer sehr nett von Ihnen erzählt«, log ich.

Skip sagte leise: »Und sie hat Ihnen all die schönen Sachen vermacht.« Sie wandte sich zu ihm und spitzte den Mund. Dieser verdammte Pappkopf.

Anne sagte: »Brad und ich waren davon sehr überrascht. Wir haben bereits beschlossen, das meiste davon wegzugeben. Ein paar persönliche Dinge werden wir natürlich behalten. Aber wir sind finanziell abgesichert, und wir fühlen uns in New York City oder in den Hamptons nicht wohl. Wir lieben unser beschauliches Leben hier draußen in Greenwich.« Sie nippte an ihrem Glas und tupfte sich geziert den Mund mit einer Leinenserviette ab.

Ich sagte: »Wissen Sie irgend etwas über ihre Beziehung zu Johann Pesto?« Ich fand, er eignete sich gut als Übergang zu dem Thema Verflossene ganz allgemein. Besonders zu solchen, die gerne erotische Gedichte schreiben.

»Belle hat niemals mit uns über ihre intimen Beziehungen gesprochen«, sagte Anne.

Belles Beziehungen waren immer kurz und heftig. Obwohl ich nicht glaubte, daß sie es wissen würde, fragte ich: »Irgendwelche engen Freunde, die sie öfter erwähnte?«

Anne sagte: »Sie hat auch nie mit uns über ihren gesellschaftlichen Umgang gesprochen.«

»Sie haben also nicht über das Magazin gesprochen, und Sie haben nicht über Belles Umgang gesprochen. Entschuldigen Sie, Madam, aber worüber haben Sie eigentlich gesprochen?«

»Oh, über das Wetter. Die Leute in Greenwich. Unsere Gespräche drehten sich immer mehr um alltägliche Dinge als um Persönliches.«

»Und das hat Belle gereicht?«

Anne sagte mit gesetztem, altdamenhaftem Unwillen: »Sie hat sich nie beschwert. Aber ich will Ihnen eins sagen: Für uns steht ganz klar fest, daß diese Zeitschrift letztendlich schuld an ihrem Tod ist.« Wieder wehte eine Brise durch das Haus und ließ die Gardinen flattern.

Skip sagte: »Diese frische Luft ist wundervoll.« Ich warf ihm einen drohenden Blick zu.

»Könnten Sie das bitte näher erklären?« fragte ich. »Wieso das Magazin schuld daran sein soll, daß sie getötet wurde?«

»Belle war als Kind immer ein höfliches, rücksichtsvolles und liebes kleines Mädchen. Eine Spätzünderin. Sie hätten Sie als Teenager sehen sollen. Brad und ich dachten schon, wir würden ihr einen Ehemann kaufen müssen. Sie war so linkisch und dünn, und dann diese dicken Brillengläser. Wir hätten nie gedacht, daß sie einmal eine so schöne Frau werden würde. Wir waren so stolz darüber.« Oh, verflucht. Wie die Tochter, so die Mutter. Gleich würde die Sturzflut losbrechen. Anne tupfte sich die Augen mit der Serviette ab. Aber sie heulte nicht so ungehemmt drauflos wie Belle. Selbst in ihrem Schmerz war sie ganz die echte neuenglische Ehefrau, reserviert, würdevoll und gediegen. Nur ein paar salzige Tropfen entwischten ihr. Skip machte mir Handzeichen, als ob wir irgendwas unternehmen sollten. Ich winkte ab. Anne fing sich rasch wieder und sagte mit ruhigem Zorn: »Erst als sie diese Zeitschrift gründete, begann sie sich offen gegen Vater und mich zu stellen. Wir wußten nicht, wie wir uns verhalten sollten, zum einen, was diese Zeitschrift anging und daß alle unsere Freunde in der Stadt wußten, daß unsere Tochter für so etwas verantwortlich war, und zum andern, was Belles Veränderung in ihrer ganzen Einstellung betraf. Daß Sie mich nicht mißverstehen: wir liebten sie damals genausosehr, wie wir sie unser ganzes Leben geliebt haben. Es war bloß das erste Mal, daß wir eine ernste Meinungsverschiedenheit hatten.«

Und wahrscheinlich das erste Mal, daß Belle irgend etwas tat, das mit Liebe zu tun hatte. Ich glaube nicht, daß sie irgend etwas mehr geliebt oder an irgend etwas mehr gehangen hat als am Midnight. Ich sagte: »Und was hat das mit ihrer Ermordung zu tun, Mrs. Beatrice?«

Sie starrte mich an, so intensiv, wie ihre vom Star befallenen Augen das zuließen. Sie sagte: »Verstehen Sie denn nicht, Ms. Mallory? Sie hatte irgendein perverses, krankes Verhältnis während ihrer Jahre bei dieser Zeitschrift, das zu ihrer Ermordung führte. Überlegen Sie doch nur einmal, was für eine Art von Leuten sie da kennengelernt hat.«

Leute wie mich. »Sie glauben also, der Mörder ist jemand, den sie während der letzten fünf Jahre kennengelernt hat?« fragte ich.

»Oder jemand, den sie von früher kannte und der entsetzt von dem war, was sie gemacht hatte.« Müde bot sie Skip von dem Trockenobst an. Er dankte und schaufelte es in sich hinein.

Ich sagte: »Haben Sie irgendeine Idee, wer es gewesen sein könnte?«

Gereizt erwiderte sie: »Natürlich nicht.« Sie hatte ein bißchen Mühe, sich von der Couch zu erheben, und Skip sprang zu ihr und half ihr hoch. Sie lächelte ihn an und sagte: »Danke sehr, junger Mann.« Ein Kavalier der alten Schule. Ich hätte ihm eine knallen können. Sie sagte: »Ich fühle mich mit einem Mal sehr erschöpft. Wenn Sie nichts dagegen haben...«

Ich stand auf. Ich war bei Anne voll in den Matsch getreten. Und hatte einen ganzen Vormittag verschwendet. Ich sagte: »Noch eines, Mrs. Beatrice. Hätten Sie was dagegen, wenn wir uns mal ein bißchen in Belles Zimmer umsehen würden?«

Sie sagte: »Ich glaube nicht, daß Sie da oben irgendwas Interessantes finden. Belle hat seit Jahren nicht mehr hier geschlafen. Sie kam nur auf Tagesbesuche — und das auch nur noch ganz selten.« Wieder war sie den Tränen nahe. Sie geleitete uns zur Tür. Wir winkten ihr zum Abschied zu und stiegen ins Auto.

Wir fuhren die Zufahrt runter — langsam, auf mein Drängen hin. Skip stülpte seine Hand auf meine Brust und sagte: »Endlich sind wir allein.« Ich faßte ihn beim Daumen und zog sie weg.

»Das war ein echter Reinfall«, sagte ich.

»Man kann eben nicht immer nur Gewinne ziehen. Manchmal gibt’s halt auch Nieten.«

Ich fühlte einen Wutausbruch kommen. Und einen Druck auf der Blase.

Ich sagte: »Fahr’ noch mal zurück.«

»Wanda, wir sind schon eine Meile weg.«

»Fahr zurück. Ich muß pinkeln.« Und irgendwie in Belles Zimmer reinkommen.

Er sagte: »Hinter einem Baum am Straßenrand ist wohl nicht dein Stil?« Ich warf ihm einen wütenden Blick zu. Er wendete.

Anne und Bradley saßen noch auf der Veranda. Glücklicherweise blieb Skip diesmal im Wagen. Ich sagte mit gequältem Blick, dramatisch von einem Bein aufs andere tretend: »Tut mir leid, daß ich Sie noch einmal behellige, aber es ist noch ein weiter Weg bis New York. Hätten Sie was dagegen, wenn ich schnell mal ihre Toilette...«

»Folgen Sie mir.« Anne erhob sich aus ihrem Schaukelstuhl und führte mich zum Gästeklo.

Als ich Anne Weggehen hörte, beeilte ich mich und schlich mich heimlich aus dem Klo, ohne abzuziehen. Ich stieg leise die Treppe rauf; dabei stieß ich um ein Haar eine Schale von einem Ahorntisch, der gleich oben hinter der Treppe stand. Ich ging am Schlafzimmer der Beatrices vorbei und an einem Zimmer, das aussah wie ein Gästezimmer. Das einzige Zimmer, das das von Belle gewesen sein konnte, war das letzte links. Ich ging hinein.

Ich wurde geradezu erschlagen von Unmassen von Spitzen und Gingan, die den Raum ausfüllten. Ich erholte mich und bewegte mich rasch durch das Zimmer. Belle mußte das pikante Zeug mitgenommen haben, als sie auszog. Auf dem Bett lagen jede Menge Stofftiere herum. Die Regale waren mit Tagebüchern, Taschenbüchern und vergilbten Magazinen vollgestellt. Weder in ihrem Schrank noch in den Schubladen ihres Schreibtischs fand sich irgendwas Bemerkenswertes — nur halb-zerfledderte Notizbücher mit Herzchen drauf und zerrissene Unterwäsche. Ich konnte dem Drang nicht widerstehen, mir Belles Highschooljahrbuchbild anzugucken. Anne hatte recht. Sie war total unscheinbar — und braune Haare hatte sie auch. Ich wollte meine Suche gerade aufgeben, als mir einfiel, einen Blick unter das Bett zu werfen. (Das Zeug, das ich unter meinem Bett finde, löst immer alle Rätsel.) Und siehe da, ich entdeckte eine von Belles Lieblingshandtaschen. Ich hatte sie sehr oft bei ihr gesehen — es war die schwarze Hermes-Handtasche, von der sie mir bei unserem Lunch bei Harry’s erzählt hatte, daß sie sie verloren hätte. Ich schnappte sie mir, rannte die Treppe runter, betätigte die Klospülung und ging zurück nach vorn auf die Veranda. Ich hatte keine Möglichkeit, die Handtasche zu verstecken. Ich betete, daß ihnen nicht aufgefallen war, daß ich ohne Handtasche reingekommen war.

»Vielen Dank noch mal«, sagte ich zu den Beatrices. Der Riemen von Belles Handtasche kniff mir in die Schulter.

Anne schaute die Tasche an und sagte langsam: »Gern geschehen. Und viel Glück noch.«

Ich stieg in den Wagen. Skip murmelte etwas von wegen, was Frauen eigentlich immer so lange auf dem Klo machen. Ich bemerkte, daß Anne und Bradley auf uns zeigten. Plötzlich stand Bradley auf und kam zu uns geschlendert. Sie hatten die Handtasche wiedererkannt. Ich gab mich geschlagen und stieg aus dem Wagen.

Bradley packte meine Schulter. Er war überraschend kräftig für einen Mann seines Alters. Er knurrte: »Noch einen Moment, junges Fräulein.«

Ich hielt ihm die Tasche hin. Ich sagte: »Ich weiß, dies wirkt ganz schön blöd.«

»Finden Sie den Mörder meiner Tochter. Hören Sie?« Er lockerte seinen Griff nicht.

»Sie wollen die Handtasche nicht?«

»Was interessiert mich Ihre Handtasche? Ich will, daß Sie Ihren Job tun. Mutter und ich sind nie dazu gekommen, uns mit Belle auszusprechen, bevor sie starb. Sie verstehen?«

»Ja, Sir«, sagte ich. Er nickte und ließ mich los. Wir sprangen zurück in den Wagen und fuhren los. Ich steckte Belles Handtasche in meine größere. Skip merkte es entweder nicht, oder er hatte keine Lust, mich zu fragen.

An der ersten roten Ampel sagte er: »Mein Gott, was für zwei Griesgrame.«

Ich hatte diese Art von Frostigkeit schon einmal empfunden, nämlich während meiner Zeit in Dartmouth. Sie haben halt ihre ganz spezielle Art hier oben in New England. Dazu gehört unter anderem, so einladend zu sein wie ein Eisberg.

Ich sagte: »Muß irgendwas mit dem Wasser hier oben zu tun haben.«

Als wir auf den Highway kamen, sagte ich zu Skip, er solle mich zu Do It Right zurückbringen. Ich wollte meinen Fund untersuchen. Außerdem fragte sich Alex wahrscheinlich, wo ich blieb.

»Du hast mich als billiges Taxi benutzt«, sagte Skip.

»Die Pflicht ruft, Baby.«

»Aber ich wollte mit dir im Laub herumtollen und Wiesen runterkullern.«

»Ein andermal.«

»Und was ist mit dem Artikel für Shinola? Ich hab’ mit dem Boß darüber gesprochen, und er findet die Idee gut. Er verläßt sich auf mich, daß ich ihm die Story bringe.«

Ich sagte: »Ich arbeite dran.«

Er sagte: »Wirklich? Oder sollte ich lieber jemand anderen damit beauftragen? Ich mußte ihn ganz schön belabern, daß du die richtige Wahl bist. Und ich hasse es, Krach mit dem Bandleader zu kriegen.« Skip wandte sich mir zu. Seine grünen Augen funkelten.

Die Story war mein Sicherheitsnetz, und sie war meine Idee, das wußte er genau. Wenn sie einer schrieb, dann ich. Ich nahm an, daß Skip bloß sauer war, weil ich ihm keinen geblasen hatte. Ich sagte: »Es gibt eine Menge Dinge, die ich für dich tun möchte, Skip.« Ich beugte mich über den Schaltknüppel und küßte ihn auf den Hals.

Er sagte: »Ich mein’ das ernst, Wanda. Schreibst du die Story nun, oder schreibst du sie nicht?« Ich hauchte ihm seinen Namen ins Ohr. Ich bin noch nie eine große Namen-ins-Ohr-Haucherin gewesen. Aber Männer wie Skip, die narzißtischen Typen, fahren da total drauf ab. Das ist etwas, das ich nicht erst von Kanal 13 zu lernen brauchte. Ich schob meine Hand in seine Jägerjacke. Es war nett und schwitzig darin. Ich rieb ihm über sein verschwitztes Hemd und küßte ihn leidenschaftlich auf den Hals. Er nahm eine Hand vom Lenkrad und fing an, mir sanft den Nacken zu massieren.

Ich sagte: »Ich habe ein Versprechen zu halten.« Ich knöpfte seine Jacke auf und fing an, sein Hemd aufzuknöpfen. Ich versuchte, meinen Oberkörper um den Schaltknüppel herumzuwinden. Dabei sprang der Gang raus. Ich schlängelte mich wieder zurück.

Skip sagte: »Aber nicht doch, Engel. Mach’ ruhig weiter.« Er beschleunigte den BMW bis in den fünften Gang hoch. Wir hatten siebzig Meilen drauf, als ich den letzten Knopf von seinem Hemd aufhatte. Ich saugte an seiner haarlosen Brustwarze. Seine Knöchel auf dem Lenkrad traten weiß hervor. Seine rechte Hand tastete sich wieder zu meinem Nacken vor, und er drückte sanft meinen Kopf runter. Ich zog die Hand weg und lutschte an seinen Fingern. Der Wagen machte einen Schlenker. Ich legte seine rechte Hand zurück auf das Lenkrad und sagte ihm, er solle mich nicht anfassen. Ich preßte die Hand auf das kleine Zelt auf seinem Schoß. Skip stöhnte und zuckte hoch. Wieder machte der Wagen einen Schlenker. Seine Hose aufzukriegen war ein echtes Experiment in Feinfühligkeit. Ein Schlagloch, und wir würden uns in der nächsten Notaufnahme wiederfinden. Ich tastete nach dem Knopf am Radio und drehte die Lautstärke hoch. Die Geräusche einer Blasnummer können ganz schön abtörnend sein — all das Geschmatze und Geschlürfe. Da waren die Urgrunzer von James Brown schon eine weitaus adäquatere Geräuschkulisse.

Einmal ausgepackt, sprang Skips Schwanz wie ein Stehaufmännchen in die Höhe und wippte und wackelte im Rhythmus der Asphalts. Ich betrachtete ihn eine Zeitlang. Es war ein hübsches Teil. Genau die richtige Krümmung, konservative Länge, verwegene Dicke. Skip schaute mir zu, wie ich mich seitlich um den Schaltknüppel schlängelte und mich auf seine Beine stützte. Sein Gesichtsausdruck erinnerte mich an den von Johann in der Orchid Lounge. Ich lächelte, befahl ihm, den Blick auf die Fahrbahn zu richten, und fing an zu lutschen. James Brown ächzte stöhnend und gurgelnd um Gnade. Skip auch.

Kurz bevor wir die Triboro Bridge erreichten, war ich fertig mit ihm. Ich richtete mich auf und drückte den Zigarettenanzünder am Armaturenbrett rein. Der Fahrer in dem Winnebago auf der Nebenspur zog begeistert seinen Hut. Skip hatte seine Sache gut gemacht — wir waren noch am Leben. Ich sagte: »Klar mach’ ich die Story. Aber du mußt halt noch ein bißchen warten.«

Er sagte: »Ich kann warten.«

»Gut. Und jetzt fahr mich zu Do It Right.«

Skip hielt vor meinem Büro auf der 42. Straße an. Vor dem Schaufenster des Imbißladens im Erdgeschoß meines Hauses stand eine Gestalt mit Sonnenbrille, Schlapphut und Trenchcoat, die mir vage bekannt vorkam. Ich gab Skip zum Abschied einen Kuß. Als ich mich wieder umdrehte, war der Mann verschwunden. Ich ging zu Fuß zum vierten Stock rauf.

Alex saß hinter meinem Schreibtisch. Er sagte: »Wo zum Teufel bist du gewesen? Ich warte seit Stunden hier auf dich. Und wem zum Teufel gehört dieser rote BMW?« Das Büro war makellos sauber und aufgeräumt; er mußte sich echt Sorgen gemacht haben.

»Woher weißt du, daß ich in einem roten BMW war?« fragte ich.

»Santina hat dich heute morgen darin wegfahren sehen«, erwiderte er.

»Ich möchte dir was zeigen.«

»Ja, ja, ich möchte dir auch was zeigen, aber zuerst sagst du mir, wo du die ganze Zeit gewesen bist und wieso du mich nicht wenigstens angerufen und mir Bescheid gesagt hast, daß du nicht kommst.« Er verschränkte die Arme über seiner schmalen Brust, und eine Haarsträhne fiel ihm in die Augen. Er harkte sie mit den Fingern zurück. Er sagte: »Ich warte.« Ich zog Belles Handtasche aus meiner heraus und warf sie auf meinen Schreibtisch. Ihr Gewicht ließ dessen lockeres Bein ein wenig wackeln. »Beweisstück A: Belles verschwundene Handtasche, die ich heute morgen trickreich aus dem Haus ihrer Eltern in Greenwich habe mitgehen lassen.«

Alex sagte: »Toll. Echt. Ich wollte damit ja auch nicht sagen, daß du nichts getan hast. Ich bin schon davon ausgegangen, daß du gearbeitet hast. Trotzdem...« Alex nahm Belles Handtasche und roch daran. »Echt Leder.«

»Entschuldige, daß ich nicht angerufen habe. Ich war abgelenkt.«

»Dann warst du also doch wieder mit Skip zusammen.«

»Laß uns nicht wieder damit anfangen.«

»Er ist so ein unglaubliches Arschloch«, sagte Alex.

»Hör’ jetzt auf.« Ich setzte mich auf das Telefonbuch auf meinem Schreibtischstuhl. In Belles Handtasche war nicht viel; lediglich ein fast neuer Lippenstift, sirenenrot, und zwei Briefe. Wir nahmen jeder einen davon.

Der von Alex war auf weißem Schreibmaschinenpapier geschrieben. Er lautete:

Ode an Belles Brustwarzen

Sie scheinen zu starren, die Brustwarzen meiner Liebsten
Sie starren auf mein heißes Glied — lockend, neckend,
Prüfend. Rosinen, in ihre Bluse geschlüpft
Verdorrt von ihrer eigenen Hitze
Und doch aufgeblasen und drall
Betteln sie um den kühlen Atem meiner Lippen.

Alex sagte: »Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ein paar dieser Gedichte machen mich heiß.«

Ich sagte: »Hör’ dir mal das hier an. Es ist ein Brief von Herb an Belle. Geschrieben am Freitag, dem fünften Oktober. >Liebe Belle — Dein Vorschlag ist verlockend. Ich brauche zwei Wochen Bedenkzeit. Der Midnight bedeutet mir mehr als Du glaubst. Ich bin sicher, wir kriegen das geregelt. Ich habe schon härtere Jobs gehabt, als den, Dich zu lieben. Bis Montag. Herb.<«

Alex sagte: »Ich wußte gar nicht, daß sie eine Affäre hatten.«

»Genau das gleiche hat Skip auf der Beerdigung auch gesagt. Aber laß uns keine voreiligen Schlüsse ziehen. Herb hat gesagt, er hätte das Gedicht nicht geschrieben.«

»Aber würdest du nicht auch lügen, um dich selbst zu schützen?«

»Ich denke, wir setzen Herb wieder auf die Verdächtigenliste.« Ich nahm den Hörer ab, um ihn anzurufen.

»Nein, ruf’ ihn nicht an. Laß uns ohne Vorwarnung bei ihm aufkreuzen«, sagte Alex. Ich legte den Hörer wieder auf.

»Erzähl’ mal, wie waren denn Belles Eltern so?« fragte Alex.

»Wie ein Schneesturm am Mardi Gras.«

»Kein Spaß?«

»Ein bißchen frostig.« Ich mußte an Belles Highschoolfoto denken. Sie hatte mir nie von diesem Abschnitt in ihrem Leben erzählt. Ich fragte mich, was sie sonst noch für Geheimnisse gehabt hatte. Ich vermißte sie.

Alex und ich waren an dem Abend bei Santina zum Essen eingeladen. Wir hatten den Nachmittag mit unproduktivem Herumspekulieren verbracht und versucht, Zusammenhänge zwischen platzenden Spermaballons, Mord und schlechten Gedichten zu finden, aber beim besten Willen keine entdeckt. Und dann waren da immer noch ein paar Fragen hinsichtlich des angeblichen Überfalls auf Martha offen. Wir riefen Gladman an, und der bestätigte uns, daß sie am Donnerstag abend bis gegen neun zusammen in seinem Büro gearbeitet hatten. Obwohl Alex mir sagte, ich solle mich beruhigen, hatte ich Befürchtungen, daß jemand bei Stephanopoulos mich anzeigen würde. Ich hätte Mama besser in der Handtasche gelassen. Ich bin halt manchmal ganz schön ungeduldig. Aber wenn mich bis jetzt noch keiner bei der Polizei gemeldet hatte, dann würde es wahrscheinlich auch keiner mehr tun.

Santina lenkte uns ziemlich gut ab. Ich hatte ihr gesagt, daß ich nur unter der Bedingung zu ihr zum Essen käme, daß sie mir versprechen würde, die folgenden Themen nicht zu erwähnen: Jurastudium, Times Square, mein Sexualleben und den Fall. Sie bekreuzigte sich und schwor bei ihrer Geheimmixtur (»ein schimmerndes Gold/Kastanienbraun — macht die Männer schwach«), kein Wort darüber zu verlieren. Sie beugte sich über den Herd und schlug rohe Eier über heiße Pasta, um Fettucini Carbonara zu machen. Alex und ich saßen am Tisch und tunkten Baguettestücke in Vinaigrette. Santinas Zwei-Etagen-Apartment ist so angelegt, daß es ihre zwei Grundbedürfnisse ideal befriedigt — die Küche und das Eßzimmer auf der unteren Etage, das Schlafzimmer auf der oberen. Jede gerade Fläche ihrer Wohnung ist mit Bildern, Nippes, Souvenirs und sonstigem Krimskrams vollgestellt und — gehangen. Santina leidet an Sammelwut, und sie versteckt nichts.

Santina rührte wild die Eier unter und sagte: »Heh! Finger weg! Das ist für nachher für den Salat.« Sie drohte uns mit einem Holzlöffel. »Und du, Alex, leg’ gefälligst die Serviette auf deinen Schoß! Was glaubst du, was das hier ist? Eine Scheune?« Alex tat wie befohlen, aber nicht ohne ein Gesicht zu ziehen.

Ich sagte: »Beruhig’ dich, Santi. Du machst dem armen Kerl ja angst.« Ich lächelte Alex an.

Santi sagte: »Angst — so’n Quatsch! Alex und ich haben schon zusammen Toiletten geschrubbt. Nicht wahr, Liebling? Und leg’ endlich die Serviette auf den Schoß, Miss Ich-hab’-bessere-Manieren-als-du. Also, dann erzähl’ ich jetzt weiter.

Ich hab’ also zu ihm gesagt: >Okay, Shlomo<, hab’ ich zu ihm gesagt. >Dann tu, was du nicht lassen kannst. Ersauf doch von mir aus.<

Ich sagte: »Hört sich lustig an, Santi.«

»Lustig? Vielleicht für dich, Miss Abenteuerland. Ich kann daran überhaupt nichts Lustiges finden, wenn Shlomo den Mercedes nimmt und mich allein in Brooklyn läßt, um mit dieser Kuh vom Learning Annex vor Rhode Island rumzusegeln.«

Alex sagte: »Die Melone mit Schinken ist super.«

»Die Melone ist nicht reif. Ich hab’ jede einzelne bei dem Koreaner unten neben’s Ohr gehalten und geschüttelt. Und glaubt mir, dem hab’ ich vielleicht ein paar Takte erzählt. Aber es half nichts, ich muß euch jetzt unreife Melonen servieren.«

»Wem gehört die Yacht überhaupt?« fragte ich.

Santi sagte: »Der gefärbten Blondine, die den Segelkurs leitet. Metallic-Lidschatten und Kirmes-Lipgloss. Läßt sich die Haare bei Georgette Klinger machen. Verschon’ mich. Die armselige Kreatur hat einen Geschmack wie eine Kuh.« Santi stach mit der Gabel in den Topf und probierte die Pasta. »Ich glaub’, sie ist gut. Kommt her mit euren Tellern.« Sie winkte uns mit dem Löffel zu sich herüber. Sie fuhr fort: »Und da sagt er zu mir: >Santina<, sagt er, >ich bin doch nur für zwei Tage weg.< Und da hab’ ich zu ihm gesagt: >Das reicht für mich, um einen Nervenzusammenbruch zu kriegen.<«

»Wie viele andere Segelschüler sind noch mit dabei?« fragte Alex. Ich steckte die Hand in den Topf und fischte mir ein Stück Speck raus. Santina haute mir mit dem Holzlöffel auf die Hand.

Sie sagte: »Kannst du nicht warten?« Sie stach mit der Gabel in die Pasta und schaufelte Alex einen Riesenberg auf den Teller. Ich kriegte eher einen Ameisenhaufen. Sie schüttelte den Kopf und blies die Backen auf, als ich mehr verlangte. Sie sagte zu Alex: »Ich weiß nicht, wieviel sonst noch mit sind. Aber ich sag’ dir eins, sollte ich je rauskriegen, daß Shlomo der einzige war, der mitgefahren ist, dann kann er seinen Koffer packen und wieder auf seine heißgeliebte Upper East Side ziehen. Soll diese Dumpftusse doch mit ihm pennen, soviel sie will! Meint ihr vielleicht, das macht mir irgendwas aus? Meint ihr vielleicht, das wär’ mir nicht aber auch so was von scheißegal?« Und ob es ihr was ausmachte. Um das zu sehen, brauchten Alex und ich keine Detektive zu sein.

Aber ich kannte Shlomo. Ein Mann, der Kurse im Learning Annex ernst nimmt, ein Zimmergärtner, der beim Anblick eines Wacholderbaums einen Orgasmus kriegt, ein Arzt, der nach Brooklyn gezogen ist, um einer verrückten Kosmetikerin mit einem Tick für »farbige Umgebung« einen Gefallen zu tun — konnte ein solcher Mann seine Frau betrügen? Aber Santi kennt ihn besser als ich. Und sie liebt es, eine gesunde Spannung in ihrer Beziehung zu halten. Die hilft ihr, sie in ihrer irrationalen Angst vor der Ehe zu bekräftigen.

Wir aßen. Santina saß kaum einmal eine Sekunde still. Ständig stand sie auf und holte irgendwas — Salz, Pfeffer, Wein, Parmesan. Schließlich sagte Alex: »Santina. Hör’ mal...«

»Was möchtest du, Schatz? Noch ein bißchen Brot? Noch etwas Wein? Noch einen Schlag Nudeln? Ihr jungen Burschen könnt ja echt was verdrücken.«

»Ich wollte dir bloß einen kleinen Rat geben«, sagte Alex.

»Schieß los. Ich liebe es, den Gedanken der jüngeren Generation zu lauschen. Ich bin ganz Ohr. Schieß los.«

Er sagte: »Okay. Ich würde sagen, es gibt eine Sache, die Männer von ihren Frauen mehr wollen als alles andere.«

Ich sagte: »Sex.«

Er sagte: »Nun, sicher, aber das ist nicht das, was ich meine. Die Männer wollen, daß ihre Frauen ihnen vertrauen. Mehr als alles andere.« Santina und ich waren so baff, daß wir beide nichts erwidern konnten und zu essen aufhörten. Alex mampfte munter weiter; er schien gar nicht zu merken, daß wir die Gabeln hingelegt hatten. Ich lauschte dem Summen des Kühlschranks.

Santina fand als erste ihre Sprache wieder. Sie sagte: »Tja, Alex. Jetzt komm’ ich mir wie eine alte Närrin vor.« Sie zögerte einen Moment. »Bist du sicher, daß du keinen Nachschlag haben willst?«

Er hielt ihr seinen leeren Teller hin und sagte: »Ich hätte gerne noch was. Danke.«

Santina lächelte Alex an. Es war ein unverfälschtes Lächeln — eine echte Seltenheit bei ihr. Sie nahm seinen Teller und ging in die Küche. Ich stand auf und folgte ihr mit meinem leeren Teller. Ihr perfekt geschminktes Gesicht war weich geworden, ein eigenartiger Kontrast zu ihrem hoch aufgetürmten Haargebirge.

In der Küche sagte ich: »Er hat recht.«

Mit ungewohnt leiser Stimme sagte sie: »Vielleicht sollte ich Shlomo heiraten.«

»Vielleicht solltest du das.« Alex kam herein und holte den Salat aus dem Kühlschrank. Er sagte zu Santi, er hätte den Salat ganz vergessen und würde, obwohl die Pasta wirklich köstlich schmeckte, doch lieber auf den Nachschlag verzichten, damit er noch Platz für den Nachtisch hätte. Dieses ganze Gerede über das Essen ließ Santi wieder zu ihrem gewohnten Schwung zurückfinden. Sie nahm Alex die Salatschüssel ab und begann, den Salat in kleine Schalen zu füllen. Sie schilderte wortreich und schwungvoll ihre stundenlange Odyssee durch die Gemüseläden und tratschte über die Kassiererinnen in all den Feinschmeckerläden von Park Slope. Ich schlich mich hinter sie und versuchte, mir noch einen Schlag Pasta auf den Teller zu schaufeln. Santi nahm mir den Teller ab und schmiß die übriggebliebenen Nudeln in den Müll.

»Ich glaube, du hast genug habt, Miss Ich-brauch’-keine-Diät-zu-machen.«

Ich zuckte die Achseln. Niemanden außer Santina schien es zu kümmern, wieviel ich aß. Ich ging zurück ins Eßzimmer und zündete mir eine Zigarette an.

»Wie läuft denn die Ermittlung so?« fragte Santina.

Alex antwortete: »Ganz gut. Jede Menge bizarrer Hinweise, aber keine soliden Anhaltspunkte.«

»Inwiefern bizarr?«

»Überfälle auf der Straße, erotische Gedichte, mit Sperma gefüllte Luftballons.«

Ich sagte: »Alex, du solltest doch nicht vor ihr über den Fall sprechen.«

Santina versicherte uns, daß wir das ruhig könnten, aber ich wußte es besser. Wir hatten gerade mit dem Salat angefangen, als sie auffuhr.

»Ach ja, bevor ich’s vergesse«, sagte sie, »ich hab’ oben Bewerbungsunterlagen fürs Jurastudium. Ich glaube, es würde dir guttun, wenn du sie ausfüllen würdest. Alle. Das gilt auch für dich, Alex. Wir können sie nachher nach dem Kaffee kurz durchgehen. Wanda kriegt natürlich Ingwertee. Ich weiß, ich habe versprochen, nicht damit anzufangen, aber ehrlich, Miss Spürnase, du bist in Gefahr. Ich kann das förmlich fühlen. Das ist keine Umgebung für dich, Wanda, diese widerwärtige Times-Square-Bude. Und außerdem weiß ich genau, daß du noch immer die Abkürzung über die Baustelle nimmst, um da hinzukommen. Ich kann das nicht mehr mitansehen. Wenn Shlomo nach Hause kommt, kriegst du von ihm auch noch ein paar Takte zu hören.«

Da hatte ich ja was, worauf ich mich freuen konnte. Nach dem Dessert — Alex bekam Pfirsich Melba, ich kriegte eine halbe Pampelmuse — gingen wir runter in mein Apartment.

Es war zehn Uhr. Wir setzten uns auf meine Couch, pappsatt von dem köstlichen Essen. Otis zwängte sich zwischen uns und fing laut an zu schnurren. Alex kraulte sie zwischen den Ohren. Ich sagte: »Morgen sollten wir uns als erstes Herb vornehmen und ihn über seine geheime Affäre mit Belle ausquetschen. Und wir sollten uns diese Gedichte noch einmal genau durchlesen. Vielleicht haben wir was übersehen.«

»Glaubst du wirklich, daß er irgendwas mit dem Überfall zu tun hat?« fragte Alex.

»Ich habe immer noch Probleme, daran zu glauben, daß dieser Überfall überhaupt stattgefunden hat. Aber sie sagen, vom Körpertyp her könnte es Herb gewesen sein. Ich hab’ ihn freilich noch nie mit einem Hut gesehen.« Mir fiel der Mann mit dem Schlapphut ein, den ich vor Do It Right hatte herumlungern sehen.

»Alle Dinge klären sich irgendwann«, sagte Alex. »Wir müssen nur warten.«

Otis streckte jedes Bein einzeln von sich und sprang runter. Sie trabte zu dem Napf, den ich ihr hingestellt hatte. Ich sagte: »Alex, ich fand gut, was du vorhin oben gesagt hast.«

»Was?«

»Das, was du Santina über Shlomo gesagt hast. Das mit dem Vertrauen.«

»Ach, das.«

»Das hat mir unheimlich gefallen.« Ehrlich gesagt törnte es mich sogar an. Das und der Wein.

Er sagte: »Gut.«

»Hast du das wirklich so gemeint?«

»Ja.«

»Du meinst also, Vertrauen ist so wichtig?«

»Für mich schon.«

Ich sah auf die Uhr auf dem Video. Ich sagte: »Du kannst heute nacht hierbleiben, wenn du keine Lust mehr hast, noch zu dir zu fahren.« Alex wohnt in einem unscheinbaren Ein-Zimmer-Apartment auf der Delancey Street. Es ist dort laut bis tief in die Nacht hinein.

Er sagte: »Okay. Danke.«

»Ich mein’ nur, falls du nicht noch woanders hin mußt.« Ich meinte damit zu seiner Freundin.

»Wo sollte ich denn hin müssen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht in die Dunkelkammer.« Sein Euphemismus.

Er sagte: »Ich nehm’ mir heute nacht frei.« Ich überlegte, was er damit meinen konnte. Hieß das, er nahm sich die Nacht frei von seiner Frau, um eine Sex-unter-Freunden-Nummer mit mir zu schieben? Oder hatten sie Krach, und er hatte keine Lust, sich mit ihr herumzuzanken? Oder nahm er sich von Frauen überhaupt frei, indem er die Nacht bei mir, einer Kollegin, verbrachte? Ich beschloß, es auszuprobieren. Ich rückte näher an ihn heran, die Lücke schließend, die Otis geschaffen hatte. Ich sagte: »Vertraust du mir?«

Er schaute mich an, blinzelte. Er sagte: »Du bist nicht meine Frau.«

Ich legte meine Hand auf sein Knie und sagte: »Ich vertraue dir.« Ich küßte ihn auf die Wange. Er schloß die Augen. Ich spielte an seinem Ohr. Ich küßte ihn wieder. Er rutsche ein Stück zur Seite und schob mich sanft von sich weg.

Er sagte: »Nein, Wanda.«

»Was meinst du mit >nein<?«

»Na was schon?«

»Du sagst also >nein<?«

»Ja, ich sage >nein<.«

Ich sagte: »Was zum Teufel meinst du damit?«

»Du hast einen Freund, hast du das vergessen?« Ich brauchte eine volle Minute, um zu kapieren, daß er von Skip redete.

»Er hat nichts mit dir zu tun.« Aber in der Zwischenzeit war meine Lust schon wieder verflogen.

Er sah mich nicht an, als er erwiderte: »Es ist spät geworden, Wanda. Laß uns schlafen gehen.« Sein Ion hatte nichts Neckendes.

»Ich hol’ dir eine Decke«, sagte ich. »Für die Couch.«

»Prima.«

Ich stand auf und holte eine Decke und ein Sofakissen. Die körperliche Distanz half. Was hatte ich mir nur gedacht? Ich warf ihm das Zeug entgegen, als ich zurückkam. Ich sagte: »Hier. Ich hoffe, du erstickst dran.«

»Danke.« Er lächelte in sich hinein.

»Was grinst du so blöd?«

»Du bist so supercool. Aber du benimmst dich wie ein verwöhntes Balg, wenn du nicht bekommst, was du willst.«

»Ach — und Mr. Superschlau weiß wohl, was ich will?«

»Ich denke, ich hab’ da so eine Ahnung.«

Otis galoppierte mir in mein Schlafzimmer nach. Ich wusch mich und ging ins Bett. Ich nahm mir vor, bei Gelegenheit meine Geschichte auf das Thema Vertrauen hin zu erforschen. Und ich machte eine Beobachtung: das Ich-bin-nicht-leicht-zu-haben-Spiel funktioniert.