Auf in den Kampf!

In dieser Nacht versuchte Monika lange, Amadeus herbeizurufen. Aber wie sehr sie sich auch bemühte und wie oft sie in der Dunkelheit seinen Namen raunte, er erschien nicht. Sie kletterte sogar auf den Dachboden hinauf, in der Hoffnung, ihn dort zu erreichen. Aber bald war sie so durchfroren, daß sie den Versuch aufgeben mußte.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich wieder zu Bett zu legen. Dabei hätte sie so gern mit Amadeus über Tante Elly gesprochen und mit ihm ausgemacht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Doch Amadeus schien verärgert zu sein, und sie konnte ihm das nicht einmal übelnehmen. Es kränkte ihn ja immer, wenn er nicht beachtet wurde. Wie sehr mußte es ihn da ärgern, daß Tante Elly nicht an seine Existenz glauben wollte, obwohl sie ihr lang und breit von ihm erzählt hatten.

Endlich schlief Monika in der Hoffnung ein, daß Amadeus sie doch noch mitten in der Nacht wecken würde, wie er es schon so oft getan hatte. Aber diesmal geschah nichts. Als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich wunderbar. Sie hatte seit langem zum erstenmal wieder durchgeschlafen.

Tante Elly war schon auf, als sie in die Wohndiele hinunterkam.

„Guten Morgen, Tante Elly!“ rief Monika vergnügt. „Gut geschlafen?“

Tante Elly würdigte sie keiner Antwort: sie war blaß, und ihr Gesicht, das sie trotz der frühen Stunde schon sorgfältig hergerichtet hatte, wirkte verkniffen.

„Etwas nicht in Ordnung?“ fragte Monika beunruhigt.

„Als ob du das nicht wüßtest!“

„Ich?“ Monika tippte sich verwundert den Finger auf die Brust.

„Ja, du! Tu bloß nicht so unschuldig. Ich habe dich durchschaut!“

Monika begriff, was passiert war. „Hat Amadeus dich geärgert?“ fragte sie. „Das hätte ich mir denken können! Bei mir hat er sich die ganze Nacht nicht blicken lassen!“

„Hör auf damit!“ fauchte Tante Elly. „Mir gegenüber kannst du dir dein blödes Amadeus-Gefasel sparen!“

„Du glaubst mir immer noch nicht, daß es ihn gibt?“

„Nicht, bis ich ihn mit eigenen Augen gesehen habe.“

„Gerade darüber wollte ich heute nacht mit ihm sprechen. Aber... leider. Ich werd’s noch mal versuchen, ganz bestimmt.“

Sie bekam nur einen giftigen Blick zur Antwort.

Nacheinander erschienen Liane und Peter. Sie wurden von der Tante sehr viel freundlicher begrüßt. Trotzdem war das Frühstück nicht so gemütlich wie sonst. Alle vermißten die Mutter.

„Wo ist mein Mitnehmbrot?“ fragte Liane, als sie aufstand. „Das wirst du dir wohl selber streichen können“, antwortete Tante Elly, „dazu bist du doch wahrhaftig groß genug.“

„Aber ich muß die S-Bahn erreichen! Ich habe keine Zeit!“

„Dann solltest du eben früher aufstehen.“

„Reg dich nicht auf, Liane“, mischte Monika sich ein, „ich mach dir ein Brot zurecht. Was willst du draufhaben? Bis du in deinen Stiefeln und dem Anorak steckst, habe ich es eingepackt.“

„Speck, bitte.“

Monika machte sich ans Werk und schaffte es tatsächlich, wenn das Päckchen auch nicht so ordentlich aussah, wie sie es von der Mutter gewohnt waren.

Liane steckte es ein und gab Monika in einer Anwandlung ungewohnter schwesterlicher Zärtlichkeit einen raschen Kuß. „Manchmal bist du doch ganz brauchbar, Kleine.“

„Und was ist mit dir, Peter?“ fragte Monika.

Der Bruder hatte sich inzwischen schon für die Fahrt in die Schule angezogen. „Ich nehme einfach einen Apfel und ein Stück trockenes Brot mit, das langt im Notfall“, sagte er brummig.

„Wenn ihr es schon gewohnt seid, hinten und vorn bedient zu werden“, fragte Elly spitz, „warum bittet ihr dann nicht euer berühmtes Hausgespenst um Hilfe?“

Liane und Peter verließen nach kurzem Gruß das Haus, ohne sich in eine Diskussion einzulassen.

Monika dagegen erklärte ernsthaft: „Das habe ich schon versucht, Tante Elly, aber damit ist bei ihm nichts zu wollen. Er lehnt es ab, nützlich zu sein. Er findet das langweilig.“

„So ähnlich habe ich mir das vorgestellt.“ Tante Elly setzte sich Monika gegenüber hin und betrachtete sie, als hätte sie ein seltenes Insekt vor sich unter dem Mikroskop. „Sag mal, wird dir die Geschichte allmählich nicht selber zu dumm?“

„Es ist keine Geschichte.“ Monika schenkte sich in aller Gemütsruhe noch eine Tasse Kakao ein.

Tante Elly seufzte. „Müßtest du nicht allmählich zur Schule?“

„Nein, Tante Elly. Erstens habe ich einen viel kürzeren Schulweg als Liane und Peter, und zweitens ist unsere Sportlehrerin krank, und so habe ich heute die ersten Stunden frei.“

„Und warum bist du dann schon aufgestanden?“

Monika tauchte mit der Nase aus der großen Kakaotasse auf. „Ich muß doch Bodo versorgen, mein Pferd. Und Kaspar muß auch sein Essen kriegen. Oder hast du ihm schon was gegeben?“

„Nein. Ich kenne mich damit noch nicht aus.“

„Na siehst du.“ Monika leerte ihre Tasse, stand auf und ballte die Fäuste. „Es gibt viel zu tun“, erklärte sie im Ton eines Werbespotsprechers, „packen wir’s an!“

Nun mußte Tante Elly doch lachen. „Du bist schon eine komische Nudel!“

„Wenn du lachst, siehst du viel hübscher aus.“

„Ich weiß. Aber man kann nicht immer fröhlich sein.“

Monika öffnete die Haustür und steckte den Kopf hinaus. „Hui, ist das wieder kalt!“ Sie zog sich warm an und vertauschte ihre Pantoffeln mit den Winterstiefeln. Das war ziemlich umständlich für den kurzen Weg, aber sie wollte nicht ausrutschen wie die Mutter.

Tante Elly beobachtete sie vom Tisch aus. „Sag mal ehrlich, Moni, bist du nicht sehr müde?“

„Müde?“ wiederholte Monika erstaunt. „Wovon denn?“

„Das weiß niemand besser als du.“

„Jetzt sprichst du aber wirklich in Rätseln! Ich habe die ganze Nacht geschlafen wie ein Murmeltier!“ Monika lief in die Küche, füllte Kaspars Freßnapf mit Hundefutter und brachte es ihm hinaus.

Nachts pflegte der riesige Hund frei um das Haus und die Nebengebäude herumzulaufen. Er begrüßte Monika freudig und ließ sich willig an die Kette legen.

Im Pferdestall war es so warm, daß Monika Anorak und Mütze ablegen konnte. Sie zog den Arbeitskittel über, begrüßte Bodo mit freundlichen Worten und führte ihn aus seiner Box heraus, damit sie diese ungestört und gründlich ausmisten konnte. Dann legte sie ihm eine Schicht Stroh ein und gab ihm Mischfutter in die Krippe. Geduldig wartete sie ab, bis Bodo die Mahlzeit verspeist hatte und vertrieb sich die Zeit damit, ihm von Tante Elly zu erzählen. Zum Nachtisch bekam er einen Eimer Wasser. Danach striegelte sie ihn von Kopf bis Fuß. Das war eine Heidenarbeit, die ihre Kräfte fast überschritt, und nie war sie ganz zufrieden mit ihrem Werk. Obwohl sie Bodo am liebsten allein versorgt hätte, war sie dem Vater doch dankbar, daß er an den Wochenenden das Putzen des Pferdes übernahm. Sie mußte ihm zugestehen, daß er das doch viel besser konnte als sie.

Als sie ins Haus zurückkam, hatte Tante Elly die benutzten Gedecke schon vom Tisch geräumt.

Monika blickte auf ihre Armbanduhr. „Vati muß gleich herunterkommen“, sagte sie. „Du solltest Kaffee kochen. Wenn Mutti zu Hause ist, trinkt er immer zusammen mit ihr Kaffee, bevor er ins Büro fährt.“

„Danke für den Tip“, sagte Tante Elly. „Seinen Kaffee soll er kriegen.“

Mit Besen, Kehrblech und Staubputzlappen bewaffnet stieg Monika nach oben. Da sie heute Zeit genug hatte, machte sie ihr Bett sorgfältiger als sonst, räumte ihr Zimmer gründlich auf und putzte es zum Schluß. Sie war glücklich über ihre eigenen vier Wände wie am ersten Tag, an dem sie aufs Land gezogen waren, und es machte ihr Spaß, den hübschen Raum in Ordnung zu halten. Außerdem hatte sie schon erkannt, daß Tante Elly hier bestimmt nichts tun würde. Monika und ihre Geschwister hatten zwar auch sonst die Verantwortung für den Zustand ihrer Zimmer, aber wenn ein Großputz fällig oder die Zeit sehr knapp war, v?ar die Mutter doch immer wieder einmal eingesprungen. Von Tante Elly war das nicht zu erwarten.

Anschließend wusch Monika sich noch einmal selber und hüpfte dann vergnügt die Treppe hinunter. Aber als sie den Absatz erreichte, an dem die Treppe einen Knick machte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie hatte gehört, wie ihr Vater und Tante Elly sich sehr lebhaft unterhielten.

Gewöhnlich pflegte Monika nicht zu horchen, und sie kannte auch den schönen Spruch „Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand’“. Aber in diesem Fall schien es ihr doch wichtig zu erfahren, was die Erwachsenen über die Spukerscheinungen im Haus am Seerosenteich wirklich dachten. Sie sollte es gleich erfahren.

„Du tust Monika unrecht“, sagte Herr Schmidt entschieden, „sie ist ein gutes Mädchen...“

„Daran zweifle ich ja gar nicht!“ warf Tante Elly dazwischen. „Wenn jemand im Haus mit anfaßt, dann ist es Monika! Sie versorgt fast allein Bodo, obwohl Liane eigentlich genauso verantwortlich für das Pferd ist, und wenn sie nicht wäre, wäre Kaspar längst verhungert und verlaust. Peter kümmert sich nämlich herzlich wenig um ihn.“

„Aber darum geht es doch gar nicht!“

„Monika hat auch als einzige meiner Frau im Sommer tüchtig im Garten geholfen.“

„Max, Max!“ rief Tante Elly. „Warum willst du mich denn nicht verstehen?! Alles, was du sagst, bestätigt mich ja nur in meiner Meinung. Verstehst du denn gar nichts von Psychologie? Monika ist ein Nachzügler. Als sie auf die Welt kam, hatten sich Peter und Liane längst einen festen Platz in euren Herzen erobert. Monika aber will genauso geliebt werden. Deshalb ist sie so tüchtig und strengt sich an. Ihr lobt sie dafür, nehme ich an. Aber das genügt ihr nicht...“

„Wir lieben Monika genauso wie die anderen beiden!“ warf der Vater ein.

„Das mag ja sein, aber sie will wahrscheinlich mehr geliebt werden. Wer kann ihr das verargen? Als ihr noch in München lebtet, hatte sie nur wenig Gelegenheit, sich hervorzutun. Aber als ihr in dies alte Haus auf dem Land zogt, in dem es knarrt und knackt und das für Stadtmenschen wirklich ein wenig unheimlich ist, da war ihre große Stunde gekommen. Sie erfand das Hausgespenst...“

„Aber nein, das ist keine Erfindung!“

„Was denn sonst? Dieses schauerliche Ölgemälde hat sie auf die Idee gebracht! Genau wie der Knabe auf dem Bild aussieht, so schildert sie ja ihren verflixten Amadeus!“

„Wenn du nur wüßtest, wie es hier zugegangen ist, bevor sie Amadeus versöhnt hat!“

„Oh, das weiß ich“, sagte Tante Elly, „davon habe ich schon eine gehörige Kostprobe bekommen.“

„Du meinst die Erscheinungen von gestern nachmittag? Die waren noch gar nichts.“

„Zwischen gestern und heute liegt eine ganze Nacht.“

Darauf sagte der Vater nichts, aber sein Schweigen wirkte auf Monika wie ein großes Fragezeichen. Auch sie spitzte die Ohren.

„Ich bin ein umsichtiger Mensch“, erklärte Tante Elly, „also habe ich mich gestern abend nicht sorglos schlafen gelegt, sondern eure Warnungen beachtet, das heißt, ich habe Bänder an alle vier Zipfel der Bettdecke genäht und sie so an das Gestell gebunden.“

„Donnerwetter!“ Aus Herrn Schmidts Stimme klang echte Bewunderung. „Daran hätte ich nie gedacht.“

„Es hat mir sehr wenig genützt“, bekannte Tante Elly. „Nicht?“

„Nein. Zuerst versuchte Monika... pardon, das Hausgespenst, es mit Krach. Davon hörte ich wenig, denn ich hatte mir die Ohren mit Wachs verstopft. Dann fing die Lampe an zu schaukeln. Das sah recht bedrohlich aus, aber ich kniff einfach die Augen zu. Ich war entschlossen zu schlafen, aber dann...“

Sie machte eine kleine Pause, sei es, um die Spannung zu steigern oder weil es ihr unangenehm war, ihren Reinfall zu gestehen.

„Was war dann?“ fragte Herr Schmidt gespannt.

„Mein Bett begann zu schaukeln, das ganze Bett. Natürlich machte ich mich so schwer wie möglich, aber es half nichts. Schließlich — du wirst es nicht für möglich halten, aber es war wirklich so — hob sich das Bett vom Boden und flog mit mir durch das Zimmer. Kreuz und quer und auf und ab.“

Monika, auf der Treppe, mußte grinsen.

„Sag jetzt nur nicht, ich hätte geträumt, Max! Das stimmt nämlich nicht!“ fuhr Tante Elly unten fort. „Ich war hellwach. Ich habe es wirklich erlebt. Ich wurde regelrecht seekrank davon.“

„Das glaube ich dir ohne weiteres. Was du erzählst, ist typisch Amadeus.“

„Nein, Max, da irrst du dich gewaltig! Monika steckt dahinter!“

„So ein Unsinn, Elly! Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, daß Monika imstande ist, dich samt deinem Bett durch die Gegend zu schaukeln?“

„Doch. Sie verfügt über telekinesische Fähigkeiten. Das habe ich dir ja schon gestern klarzumachen versucht. Solche telekinesischen Kräfte sind natürlich viel stärker als körperliche.“

„Unsinn!“

„Das ist kein Argument, Max. Monika hat mich vom ersten Augenblick an abgelehnt. Das habe ich sofort gespürt. Sie will mich aus dem Haus ekeln.“

„Nein, nein, Elly, du täuschst dich. Monika weiß, daß wir auf dich angewiesen sind.“

„Das ändert nichts daran, daß sie mich nicht mag.“

„Selbst wenn es so wäre, ist sie nie und nimmer imstande, solche Kunststückchen zu vollführen.“

„Ist sie doch! Max, ich sage dir allen Ernstes: Gib das Kind aus dem Haus, und du wirst deine Ruhe haben.“

„Wie stellst du dir das vor?!“

„Tu sie in ein Internat!“

„Nein, Elly. Ich weiß, du meinst es gut... ich hoffe, du meinst es gut, aber das kommt nicht in Frage. Selbst wenn du mich überzeugen könntest, daß Monika hinter diesen Spukerscheinungen steckt — was übrigens keineswegs der Fall ist —, würde ich sie nicht von der Familie trennen.“

Monikas Herz wurde warm bei diesen Worten.

„Sieh sie dir doch nur an! Diese roten Haare und die gritze-grünen Augen! Sie ist eine richtige kleine Hexe.“

„Bei dir piept’s ja, Elly“, widersprach der Vater ruhig. „Die roten Haare hat Monika von meiner Mutter und die grünen Augen von meiner Frau. Daran ist durchaus nichts Unnatürliches. Aber über dich muß ich mich wundern: An die Existenz unseres Hausgespenstes willst du nicht glauben, aber du schreckst nicht davor zurück, Monika als Hexe zu verschreien.“ Tante Elly merkte, daß sie zu weit gegangen ist. „Na ja, vielleicht hast du recht, Max. Ich glaube ja selber nicht an Hexen...“, ihre Stimme wurde wieder lauter, „... aber auch nicht an Gespenster!“

„Wenn du wirklich so lange bei uns bleiben willst, bis Hilde wieder gesund ist, wirst du es lernen.“

„Nie und nimmer! Und wenn es hier ein Hausgespenst gibt... wenn es diesen Amadeus wirklich gibt, dann wird er mich kennenlernen. Wir werden ja sehen, wer stärker ist — er oder ich! Ich fürchte mich nicht!“

In diesem Augenblick rutschten Monika Kehrblech und Besen aus der Hand und kollerten polternd die Treppe hinunter. Tante Elly sprang auf. „Nicht schon wieder!“

Monika beeilte sich aufzutauchen. „Entschuldigt bitte, das war nur ich“, sagte sie, „aber ich hab’s nicht mit Absicht getan.“

„Du kannst einen aber erschrecken!“ Tante Elly preßte beide Hände auf ihr Herz.

„Tut mir leid.“ Monika sammelte das Putzzeug auf und brachte es in die Küche. Als sie in die Wohndiele zurückkam, war sie zu einem Entschluß gekommen. „Ich habe euch eben zugehört“, gestand sie. „Ich weiß, das gehört sich nicht, aber eure Unterhaltung war zu interessant.“ Sie schlüpfte in ihren Anorak und nahm ihre Schultasche. „Wenn du wirklich den Kampf mit Amadeus aufnehmen willst, Tante Elly, dann viel Spaß. Aber kleinkriegen wirst du ihn nicht, verlaß dich drauf. Er ist nämlich viel stärker als du, und er ist mein Freund.“

Da dies ein guter Abgang war, gab sie Tante Elly keine Gelegenheit zu einer Erwiderung, sondern grüßte rasch und verließ das Haus.