Ich kündige dir die Freundschaft...

Es dauerte nicht lange, dann war Norbert wieder sauber. Monika hielt ihm eine Dose Creme hin und bestand darauf, daß er sich das Gesicht einrieb.

„So was ist weibisch“, wehrte Norbert ab.

„Hast du eine Ahnung! Jeder richtige Sportler schützt sich gegen Wind und Wetter.“

„Ist das wahr?“

„Verlaß dich drauf!“

Weniger aus Überzeugung als um des lieben Friedens willen gab Norbert nach.

Frau Schmidt erbot sich, Kakao zu kochen, aber die beiden wollten doch lieber zuerst hinaus. Auch Monika holte ihren Schlitten, und sie spazierten zu dem Hügel bei der Ruine. Hier gab es einen Abhang, den Monika mit Peter und Liane, ihren Geschwistern, ein paar Tage zuvor schon zu einer richtigen Piste geglättet hatte.

„Erzähl mir von Amadeus!“ bat Norbert.

„Doch nicht hier!“ entgegnete Monika.

„Und warum nicht? Du hast mir versprochen...“

„Ich weiß.“ Sie raunte: „Aber er kann hier überall sein, verstehst du.“

„Auch draußen?“

„Ja, sicher. Bis zur Ruine kommt er bestimmt.“

„Ach so. Dann sag mir wenigstens, warum ihr euch so einen komischen Namen für ihn ausgedacht habt.“

Statt zu antworten, sagte Monika: „Du liebes bißchen, jetzt haben wir den Salat!“

„Was soll denn das nun schon wieder heißen?“

„Merkst du denn nichts? Mein Schlitten läßt sich kaum noch ziehen!“ Monika strengte sich mächtig an und wurde ganz rot im Gesicht.

Plötzlich wurde der Schlitten wieder leicht, und sie fiel der Länge nach in den Schnee.

Dafür ächzte jetzt Norbert. „Ich glaube, er sitzt jetzt bei mir.“

Monika rappelte sich hoch und klopfte sich den Schnee von Hose und Anorak. „Geben wir es auf“, schlug sie vor, „das hat heute doch keinen Zweck. Du hast Amadeus beleidigt.“

Norbert ließ seinen Schlitten los. „Ich? Wie käme ich denn dazu?“

„Du hast behauptet, sein Name wäre komisch. Aber wir haben uns den nicht ausgedacht, sondern so heißt er wirklich. Ich finde, Amadeus klingt hübsch.“

„Ich habe ja auch nicht wirklich gemeint, daß er komisch ist, sondern...“ Norbert versuchte das richtige Wort zu finden, „...sondern sonderbar.“

„Dann hättest du das besser gleich so ausdrücken sollen. Halt deinen Schlitten fest!“

Die Warnung war gerade noch im letzten Augenblick gekommen. Als Norbert die Schnur seines Schlittens packte, spürte er einen kräftigen Ruck. Der Schlitten selber machte einen Satz zurück.

„Er will ihn mir aus der Hand reißen!“ schrie Norbert.

„Kann schon sein“, gab Monika gleichmütig zurück.

„Aber das ist doch unerhört!“

„Ja, er benimmt sich manchmal unerhört.“ Monika legte beide Hände an den Mund und rief drohend: „Amadeus! Noch so ein Streich, und ich kündige dir die Freundschaft!“

„Du bist mit ihm befreundet?“ fragte Norbert verwirrt. „Mit einem Gespenst?“

Monika legte mahnend den Finger an die Lippen. „Thema Papierkorb! Ich mache den Vorschlag, wir begeben uns jetzt nach Geretsried.“

„Aber wir wollten doch...“, sagte Norbert enttäuscht.

„Ich weiß selber, was wir wollten. Aber heute ist nun einmal nicht daran zu denken. Wir müssen aus dem Bannkreis des Hauses, sonst passiert noch was. Amadeus ist außer Rand und Band.“

„Wenn es denn sein muß...“

„Ja, es muß sein.“ Monika hatte schon den Rückweg angetreten. „Du schwingst dich am besten sofort.“

Norbert folgte ihr langsamer. „Warum?“

„Was für eine Frage! Weil du Amadeus aufregst, spürst du das denn nicht? Also geh schon voraus! Ich hol dich ein. Spätestens treffen wir uns im ,Gasthof Post‘.“

„Und warum kommst du nicht gleich mit?“

„Weil ich erst Bodo satteln muß. Ich habe ihn heute noch gar nicht bewegt und werde den Ausflug ins Dorf dazu benutzen.“

„Ich könnte dir doch dabei helfen oder mindestens Zusehen...“

„Nein. Heute nicht!“ widersprach Monika energisch. „Sieh zu, daß du fortkommst!“

Vor der Haustür trennten sie sich. Monika trat ein, um ihrer Mutter Bescheid zu sagen. Norbert machte sich unlustig auf den Weg nach Geretsried.

Als Monika wieder aus dem Haus kam, war Norbert immer noch nicht sehr weit gekommen. Sie wollte ihm schon zurufen, schneller zu laufen, da sah sie, wie ein Hagel von Schneebällen durch die Luft flog und auf Norberts Kopf und Rücken einschlug. Norbert drehte sich nach dem Angreifer um. Da trafen ihn die Schneebälle ins Gesicht. Monika legte beide Hände hinter den Rücken, um ihm zu zeigen, daß nicht sie es war, die ihn bombardierte.

Norbert prustete, schüttelte den Schnee ab und begann zu rennen, als gäbe es eine Meisterschaft zu gewinnen. Immer wieder wurde er von Schneebällen getroffen. Sie sausten ihm noch nach, als er die Kreuzung überschritten hatte, von der aus sich der Weg nach Geretsried und Heidholzen gabelte.

„Sehr witzig, Amadeus“, sagte Monika laut, „aber wehe, du läßt dir einfallen, Bodo zu erschrecken! Dann ist es aus mit uns beiden!“

Im Stall wurde sie von Bodo mit einem freudigen Wiehern empfangen. Während sie ihm die Trense ins Maul schob und ihm den Sattel auflegte, sprach sie mit liebevollen Worten auf ihn ein. Er sah sie an, als verstünde er, was sie ihm sagen wollte. Endlich schnallte sie den Sattelriemen unter seinem Bauch fest und führte ihn ins Freie. Wie immer freute sie sich an seinem glänzend gestriegelten braunen Fell. Bodo wirkte kräftig und gesund. Der böse Husten, der ihn geplagt hatte, als er noch ein Reitschulpferd gewesen war, hatte sich längst völlig verloren.

Bevor Monika aufsaß, befreite sie noch Kaspar, den großen, bernhardinerartigen Hund, von seiner Kette. Er hatte es zwar gemütlich in seiner warm ausgepolsterten Hütte, aber auch er brauchte, wie Bodo, täglich ausreichende Bewegung. Jetzt machte er Luftsprünge vor Freude bei der Aussicht auf einen Spaziergang. Er schoß dem Pferd und seiner Reiterin voraus, wobei er sich immer wieder wie ein Kreisel drehte, um sich zu vergewissern, daß sie ihm auch folgten. Aber als Monika antrabte, hatten sie ihn natürlich bald eingeholt, denn Bodo hatte entschieden die längeren und kräftigeren Beine.

Es war ein vergnüglicher Ausritt, und doch war Monika froh, als die große Wiese endlich hinter ihnen lag und sie die Wegkreuzung erreicht hatten. Ihre Nerven waren angespannt gewesen, denn in jedem Augenblick hätte sie einen neuen Streich erwarten müssen.

Erleichtert ließ sie Bodo jetzt ein gutes Stück galoppieren. Kaspar fiel zurück und konnte sie erst kurz vor der Hauptstraße von Geretsried wieder einholen.

Entlang der Straße führte ein ungepflasterter Fußweg, auf dem der Schnee zwar nicht geräumt, aber von vielen Füßen niedergetreten worden war. Es gab im Dorf keinen Bürgersteig, und um den Autos auszuweichen, pflegten die Fußgänger diesen Weg zu benutzen. Monika gab gut acht, daß keines der vorbeisausenden Fahrzeuge Bodo erschreckte und kam wohlbehalten im „Gasthof zur Post“ an.

Der Gastwirt hielt selber Kühe, Schweine und als Attraktion für die Sommergäste zwei Pferde. Monika stellte ihren Bodo in den Stall, vergewisserte sich, daß er nicht ins Schwitzen gekommen war und betrat dann, mit Kaspar, den Hausgang, der zur Wirtsstube führte. Das war ein heimeliger, dunkel getäfelter Raum mit niedriger Decke und kleinen Fenstern.

Norbert winkte ihr freudig zu.

„Hast du schon bestellt?“ fragte Monika.

„Nein, ich wollte auf dich warten.“

Monika streifte die Handschuhe ab und pellte sich aus ihrem Anorak. „Ich nehme eine Tasse Kakao, das ist das einzig Wahre bei diesem Wetter.“

„Gut, ich auch.“

„Und dazu ein Butterbrot!“

„Butterbrot?“ wiederholte Norbert erstaunt.

„Esse ich lieber als Kuchen... als den Kuchen hier, meine ich. Wenn meine Mutter einen bäckt, ist das was anderes.“

Als die Kellnerin kam, entschied sich Norbert doch für Kuchen. Er bereute seine Wahl aber, als er dann Zusehen mußte, wie genüßlich Monika das kräftige, dunkle, dick mit goldgelber Butter bestrichene Landbrot kaute.

„Mein Kuchen staubt mir im Mund!“ bekannte er. „Ich glaube, in Zukunft werde ich doch lieber auf dich hören.“

„Sehr richtig. Wenn du dich vorhin beeilt hättest, wäre dir das mit den Schneebällen wahrscheinlich auch nicht passiert.“

„Meinst du?“

„Er hätte dich wenigstens nicht so arg erwischt.“

„Wie ihr es nur mit diesem Teufel aushalten könnt!“

„Ein Teufel ist er sicher nicht. Er macht ja nur dumme Streiche.“

„Na, danke. Wenn ich nicht so mutig wäre, hätte ich vorhin in der Werkstatt tot umfallen können!“

Monika lachte. „So schnell stirbt man nicht.“ Sie wurde ernst. „Aber du hast dich wirklich tapfer gehalten. Alle Achtung. Eine Freundin von mir — eine frühere Freundin, meine ich — hat sich seinetwegen wahnsinnig angestellt. Deshalb sind wir auch auseinandergekommen. Hauptsächlich deshalb jedenfalls. Dazu kommt natürlich, daß ich jetzt hier zur Schule gehe und nicht mehr in München.“

„Weiß Ingrid Bescheid?“

„Ja. Auf die war er zuerst auch furchtbar eifersüchtig.“ Monika biß ein tüchtiges Stück Butterbrot ab und sprach mit vollem Mund weiter. „Aber inzwischen hat er sich an sie gewöhnt.“

Norbert trank einen Schluck Kakao, um den trockenen Kuchen besser hinunterzubekommen. „Ich finde trotzdem, ihr solltet ihn austreiben lassen.“

„Wenn das so leicht ginge!“

„Mein Vater kann das bestimmt. Er ist Schriftsteller, weißt du...“

„Na und?“

„Jetzt laß mich doch erst mal ausreden. Er beschäftigt sich viel mit Parapsychologie.. Norbert sprach das schwierige Wort sehr langsam und mit Bedacht aus, „...das ist die Wissenschaft von Erscheinungen, die man nach den bekannten physikalischen Gesetzen nicht erklären kann.“

„Klingt sehr gelehrt!“ Monika war beeindruckt. „Und dazu gehören auch Gespenster?“

„Bist du sicher, daß es eins ist?“

„Was soll es denn sonst sein?“

„Weiß ich nicht. Das müßte mein Vater erst untersuchen.“

„Kommt gar nicht in Frage. Du hast vorhin gesagt, daß du deinen Eltern alles erzählen mußt. Das verstehe ich schon. Aber in diesem Fall darfst du es nicht tun.“

„Warum denn nicht?“

„Weil mein Vater es nicht haben will. Er hat Angst vor dem Rummel, der entstehen könnte, wenn bekannt wird, daß wir ein Gespenst im Haus haben.“

„Mein Vater würde bes-timmt nicht darüber reden.“

„Aber vielleicht darüber schreiben!“

Norbert wurde nachdenklich. „Das könnte schon sein.“

„Na, siehst du. Und gerade das wollen wir nicht. Es ist schon schwierig genug, mit einem Hausgespenst zu leben...“

Norbert fiel ihr ins Wort. „Ich frage noch einmal: Woher weißt du, daß es ein Gespenst ist? Hat es das selber gesagt?“

„Nein, im Gegenteil, Amadeus mag den Ausdruck gar nicht leiden. Er hält sich für einen zwölfjährigen Jungen, der nur zufällig nicht essen und trinken und schlafen braucht, sich sichtbar und unsichtbar machen kann und über gewaltige Kräfte verfügt.“

„Sichtbar machen kann er sich auch?!“

„Und wie! Aber er zeigt sich nur mir. Er besucht mich fast jede Nacht, weißt du.“

„Ach, deshalb hältst du einen Mittagsschlaf!“

„Du hast es erfaßt.“

„Du schläfst also keine Nacht durch? Das kann nicht gut für dich sein, Monika. Laß mich mit meinem Vater sprechen...“

„Nein!“ Monika merkte, daß ihre Ablehnung etwas zu scharf ausgefallen war und fügte sanfter hinzu: „Das können wir ihm nicht antun. Wenn er nicht in unserem Haus gegeistert hätte, hätten wir nicht einmal zur Miete dort einziehen können. Es wäre viel zu teuer für uns gewesen. Jetzt haben wir es sogar gekauft.“

Norbert beugte sich über den Tisch. „Hat er etwa auch etwas mit dem Schatz zu tun?“

„Natürlich. Er hat uns die richtige Stelle gezeigt.“

„Hm, hm“, machte Norbert, „er scheint ein recht nützliches Gespenst zu sein.“

„Ja, das ist er. Und er ist so einsam, weißt du. Er macht seine Streiche nur, damit man sich um ihn kümmert. Er kann sich anders nicht bemerkbar machen. Er hat mir erzählt, daß er vor etwa zweihundert Jahren in unserem Haus gelebt hat, als richtiger lebendiger Junge. Dann ist er auf einer Kahnpartie in den Seerosenteich gefallen, und seitdem hat sich niemand mehr um ihn gekümmert. Bei Tisch ist kein Platz mehr für ihn gedeckt worden und niemand hat mehr ein Wort mit ihm geredet.“ Monikas klare grüne Augen verdunkelten sich. „Sag, Norbert, ist das nicht eigentlich schrecklich?“

„Wieso?“

„Nun denk doch mal nach! Was geschieht denn mit einem normalen Menschen, wenn er stirbt?“

„Du stellst Fragen! Das hat doch noch niemand herausgebracht.“

„Unser Pfarrer sagt, die Seelen kommen zu Gott, ja, sie erhalten sogar einen neuen verklärten Leib!“

„Mein Vater sagt, die Seelen werden von freundlichen Seelen erwartet und ins Jenseits geführt.“

„Er glaubt also auch an ein Leben nach dem Tod?“

„Ja“

„Na, siehst du. Aber Amadeus kann nicht daran teilnehmen. Er spricht zwar nicht darüber, aber nach allem, was er tut und sagt, habe ich den Eindruck, daß er spuken muß. Er ist an das Haus am Seerosenteich gebannt. Er kann sich auch nicht über einen bestimmten Umkreis hinausbewegen. Er tut zwar immer so, als ob er das gar nicht wollte. Aber ich bin sicher, er kann es nicht. Sonst hätte er dich doch heute zum Beispiel bestimmt bis nach Geretsried verfolgt.“

„Da hast du sicher recht. Aber wenn das nun alles gar nicht stimmt, ich meine, wenn es mit dem Tod einfach aus ist... Das kann doch auch sein, oder etwa nicht? Dann ist Amadeus doch fein heraus, weil er wenigstens gespenstern kann.“

„Glaubst du, das ist lustig?“

„Ja, bestimmt. Es muß doch Spaß machen, die Leute zu erschrecken und sich lauter Kunststücke auszudenken!“

Monika war sehr nachdenklich geworden, sie malte mit dem Zeigefinger Kreise auf der rot-weiß karierten Tischdecke. „Ich weiß nicht.“

„Wieso denn nicht?“

„Ganz allein auf der Welt zu sein und zu erleben, daß alle, die man kennt, wegsterben... Ist das nicht furchtbar traurig?“

„Hast du dich deshalb mit Amadeus befreundet? Um ihn zu trösten?“

„Nein, nein, das war ganz anders! Zuerst hat er uns alle zur Verzweiflung getrieben. Du kannst dir nicht vorstellen, was er alles angestellt hat! Bis meine Mutter es nicht mehr ausgehalten hat und ausziehen wollte. Dann habe ich mit Amadeus so etwas wie einen Vertrag geschlossen. Daß er die anderen nicht zu sehr ärgern und mich jederzeit stören darf.“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Ich wollte so gern da wohnen bleiben, und es ging mir auch um Bodo. Den hätte ich nicht behalten können, wenn wir fortgemußt hätten.“

„Das verstehe ich sehr gut!“

Monika sah Norbert an. Zum erstenmal überkam sie das Gefühl, daß es schön war, einen Freund zu haben, einen richtigen Freund aus Fleisch und Blut.

„Du wirst nichts verraten?“ bat sie.

„Großes Ehrenwort!“

„Dann werde ich versuchen, Amadeus zu besänftigen, damit du wiederkommen kannst!“