10. Kapitel

 

 

Rio de Janeiro war nicht mehr weit entfernt. Lily konnte vom Oberdeck, auf dem sie stand, bereits die bekannten Wahrzeichen Rios, den Zuckerhut und die Christusstatue, erkennen. Nach zwölf Tagen auf See freute sie sich, endlich wieder Land unter die Füße zu bekommen.

Sie musste an das Abendessen mit Alexander Willoughby zurückdenken. Ihr gingen die schlechten Gedanken über ihn nicht mehr aus dem Kopf. Daher war das Abendessen nicht viel mehr als ein Essen. Der Wein und der Fisch schmeckten ausgezeichnet. Die Konversation war eher halbtrocken. Lily versuchte immer, die erotischen Erlebnisse mit Alex nicht anzusprechen. Aber Alex merkte, wie ihr genau das durch den Kopf ging und ließ die eine oder andere Bemerkung hierzu fallen. Lily wurde erneut leicht rot dabei, Alex fand das erfreulich, denn er wusste, dass er bei ihr etwas ausgelöst hatte. Sie wollte unbedingt vermeiden, dass er dieses Gefühl bekam. Es war ihr nicht gelungen. Aber am Ende entschied immer noch sie über ihren Körper. Und sie würde Alexander Willoughby sexuell meiden!

In einigen Minuten würden sie in Rio anlegen. Es kamen immer mehr Passagiere auf das Oberdeck und machten Fotos von dem spektakulären Anblick. Für den Landausflug hatte sich Lily knackige Jeansshorts und ein pinkfarbenes Shirt von Abercrombie & Fitch angezogen. Dazu trug sie bequeme Sportsneaker in den Farben weiß und pink.

»Wie gefällt dir der Ausblick, Lily, fragte Alexander Willoughby.

Lily hatte es die letzten Tage vermieden, Alex wieder zu treffen. jetzt stand er plötzlich neben ihr. Sie konnte nun schlecht davonrennen.

Alexander Willoughby trug eine dunkelblaue Jeans und schwarzes Hemd.

»Überwältigend!«

»Ja, Rio ist eine Stadt, die sehr viel zu bieten hat

»Du warst schon mal da

»Es gibt kaum eine Großstadt auf der Welt, in der ich nicht schon einmal war. Das bringt das Geschäft so mit sich

Stimmt, das Geschäft, dachte Lily. Das Geschäft und alles was man dafür tun muss.

»Du bist ein weit gereister Mann, Alex

Er lächelte. Dann genossen beide für einige Minuten den Anblick, der vor ihnen immer größer wurde.

»Darf ich dich heute Abend in Rio zum essen einladen, fragte Alex.

Lily überlegte. Sie wollte das eigentlich nicht, aber nachdem sie nun wieder einige Tage Abstand zu Alex gehalten hatte, verspürte sie wieder Lust, Zeit mit ihm zu verbringen. In dieser Zeit war sie, außer an zwei Nachmittagen, an denen sie mit Elijah Boule gespielt hatte, alleine und konnte ihren Kopf wieder freibekommen.

»Gerne, es würde mich freuen

Alex’ Smartphone klingelte. Er machte eine entschuldigende Geste und sah auf sein Display. Er nahm das Gespräch an.

»Al. Was gibt es, fragte er.

Alex ging ein paar Schritte von Lily weg.

Lily musste schnell eine Entscheidung treffen. Ihre Neugier siegte. Sie trippelte an Alex heran und versuchte, etwas von dem Gespräch mitzuhören.

»… du musst das erledigen … musst alles Nötige erfahren … ist wichtig für den Deal … wenn er lügt … mit allen Mitteln … Rocinha … Favela …«

Alex nahm das Smartphone vom Ohr und Lily trippelte zu ihrem Platz zurück. Er kam wieder auf sie zu.

»Was Wichtiges, fragte Lily.

»Ich muss zu einem Geschäftstermin in Rio

»Immer was zu tun«, sagte Lily mit einem Lächeln und schüttelte spielerisch den Kopf.

Nach Humor war ihr gerade überhaupt nicht zumute. Was sie gehört hatte, machte ihr schon wieder große Angst vor dem Mann Alexander Willoughby.

»Treffen wir uns also um acht Uhr beim Anleger? Dann hole ich dich dort ab«, fragte Alex.

»Was?«

»Unser Abendessen.«

Oh nein, dachte Lily.

»Ja, klar, um acht dann«, sagte Lily mit einem Lächeln, war innerlich aber verzweifelt.

 

Als die Lady Charlotte angelegt hatte, hatte Lily kein Auge für die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten, sondern ihre Aufmerksamkeit galt alleine Alexander Willoughby. Sie ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Sie musste wissen, was es mit dem Gehörten auf sich hatte. Sie hatte etwas von dem Favela Rocinha gehört. Sie wusste, dass das südlich der Stadt lag. Dort würde wohl dieses mysteriöse Treffen stattfinden, von dem im Gespräch die Rede war.

Alexander Willoughby verließ die Lady Charlotte mit schnellen Schritten. Am Anleger erwartete ihn bereits ein schwarzer Mercedes. Der Fahrer öffnete die Hintertür und Alexander Willoughby stieg ein.

Lily musste nun schnell handeln. Am Anleger warteten bereits mehrere Busse auf die Passagiere, die eine Stadtrundfahrt mit anschließendem Abendessen gebucht hatten. Und zahlreiche Taxis standen in der nächsten Reihe, für die Passagiere, die Land und Leute gerne selbst erkunden wollten. Hierzu gehörte auch Lily, aber in gefährlicher Mission.

Sie lief schnell zum nächsten freien Taxi und stieg hinten ein. Das Taxi war gelb mit jeweils einem blauen Streifen auf der Seite.

»Sprechen Sie Englisch, fragte sie den Fahrer.

»Ist okay«, sagte dieser.

»Gut. Verfolgen Sie bitte den schwarzen Mercedes, den sie da gerade wegfahren sehen Lily deutete auf das Fahrzeug von Alexander Willoughby.

»Haben Probleme

»Nein. Aber dem Mann, der in dem Mercedes sitzt, muss ich dringend etwas sagen. Daher, verlieren Sie ihn bitte nicht. Es ist wirklich wahnsinnig wichtig, sagte Lily erregt.

»Kosten mehr, wenn fahren für Sie spezielle Fahrt

Rausholen was geht, dachte Lily. Wenn man schon so einen Fahrgast hatte, musste man ihn auch bluten lassen.

»Okay, okay. Fahren Sie bitte nur endlich

Der gebräunte Fahrer schaltete seinen Taxameter ein, startete sein Taxi und drückte aufs Gas.

Lily wurde in den Rücksitz gepresst.

Lily war aufgeregt während der Verfolgung von Alex’ Mercedes. Für einen intensiven Blick auf Rio de Janeiro hatte sie keine Ruhe. Sie nahm daher nur am Rande die vielen Neubauten wahr, neben denen manchmal immer noch alte Häuser aus Zeiten standen, in denen Rio noch nicht in den Weltmittelpunkt gerückt war.

Sowohl der Mercedes als auch sie kamen einmal in einen Stau, aber ihr Fahrer enttäuschte sie nicht und blieb dem Mercedes auf den Fersen. Lily wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber sie hatten schon bald die ersten Favelas erreicht. Fast alle Häuser waren in Ziegelbauweise errichtet worden. Oft waren die Häuser unverputzt und das Rot der Ziegelsteine war die dominierende Farbe. Als Außenstehender dachte man, hier sei alles planlos an den Berghang gebaut worden, aber der Schein trügte. Irgendwie hatte diese Planlosigkeit doch einen Plan.

Sie fuhren nun fast nur noch bergauf und Lily sah mehrere Polizeieinheiten, die in den Favelas patrouillierten. Wenn Alex hier dunkle Geschäfte tätigen würde, dann musste er sich aber einen sicheren Platz aussuchen. Einige Minuten später hielt der Mercedes an einer Lagerhalle aus Wellblech. Lily bat ihren Fahrer, auch stehen zu bleiben. Sie hielten einige Wagenlängen entfernt auf der anderen Straßenseite an. Lily zahlte die Fahrt und zwanzig Dollar Zuschlag für den Verfolgungsservice.

Alex stieg aus dem Mercedes und ging zum Eingangstor der Lagerhalle. Sein Fahrer blieb im Auto sitzen und tippte auf seinem Smartphone herum.

Lily bat den Fahrer des Taxis zu warten. Dieser bejahte, wies aber darauf hin, dass das Extrakosten verursachen würde. Lily seufzte und sagte, dass das okay sei.

Lily stieg aus und sah sich kurz um. Auch hier waren viele Häuser aufeinander- und zusammengebaut. Sie war inmitten der Favelas angekommen.

Alex sah zu der Straßenseite herüber, auf der sich Lily befand. Lily duckte sich schnell hinter einem halb verrosteten Kleinbus. Alex schien sich sicher zu fühlen. Er öffnete das Eingangstor einen Spalt breit und schlüpfte hinein. Es war nicht abgeschlossen, was für Lily hieß, dass sich in der Lagerhalle bereits jemand befand, der auf Alex wartete.

Lily überquerte schnell die Straße und ging zum Eingangstor der Lagerhalle. Sie schlich hinter dem Mercedes herum, sodass der Fahrer sie nicht sehen konnte. Sie hatte Glück, denn dieser schien nur Augen für sein Smartphone zu haben.

Auch Lily konnte eines der beiden Tore leicht aufziehen. Alex hatte es von innen nicht verschlossen. Warum auch? Er dachte nicht, dass er verfolgt würde. Lily verschaffte sich kurz einen Überblick. Sie sah mindestens vierzig, fünfzig Kunststofffässer und viele Kartons, auf denen Willoughby Im- und Export stand. Lily wollte gerne wissen, was sich in den Kartons befand, aber sie durfte Alex’ Spur nicht verlieren. Lily ging an den Kartons und Fässern vorbei und hörte dann plötzlich einen Schrei.