Larissa

Schon morgens um halb sieben klingeln die ersten Gratulanten. Die komplette Affenfamilie hat sich vor meiner Haustür versammelt und beglückwünscht mich zu meinem Freudentag. King Kong hält eine Topfblume in der Hand und bejaht meine rein rhetorisch gemeinte Frage, ob er mit den Kindern auf einen Sprung hereinkommen möchte. Gegen halb neun haben sich fast alle Nachbarn in meiner Küche eingefunden und frühstücken. Gegen elf stoßen viele unserer langjährigen Kunden dazu und wir steigen von Kaffee auf Sekt um. Ab eins schaue ich regelmäßig auf die Uhr und aus dem Fenster, denn ich warte mit Vorfreude auf das Eintreffen der Frankfurter. Gegen Nachmittag versuche ich, Larissa auf dem Handy zu erreichen, aber es meldet sich nur die Mailbox. Als Julian anruft, mir gratuliert und stolz berichtet, dass er den Vertrag unterzeichnet hat, beruhigt er mich.
   »Vermutlich werden sie unterwegs sein und direkt zum Lokal kommen. So hatte Anja es doch auf die Einladung geschrieben.« Ich kann mir nicht helfen. Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit. Eine Art intuitiver Vorahnung, wie es nur Mütter und Großmütter spüren können. Für einen kurzen Moment bin ich abgelenkt, denn Martin kommt. Ich bekomme einen riesigen Blumenstrauß, eine lange Umarmung und viele Küsse vor allen Anwesenden. »So viel zum Thema heimliche Geliebte«, flüstert er mir leise zu und zieht mich die Treppe hinauf in meine Privaträume. »Nur einmal testen, ob du dich mit 50 anders anfühlst. Nee, alles wie gehabt«, lacht er. Ich erzähle ihm, dass Julian für Memphis unterschrieben hat.
   »Toller Karrieresprung. Allerdings Memphis ist nicht gerade der Jackpot. Da gibt es weitaus reizvollere Städte in den Staaten.« Ich bin mir nicht sicher, ob New York, Boston, Los Angeles oder San Francisco etwas an Larissas Entscheidung geändert hätte. Wo sie nur bleibt, frage ich mich.
   »Kannst du bitte den Leuten in der Küche sagen, dass hier jetzt Schluss ist. Ich ziehe mich nur noch rasch um und dann können wir losfahren.« Martin nickt und gibt den freundlichen Rausschmeißer für mich. Kurz darauf stehe ich in meinem neuen Kleid im Flur und greife meinen Autoschlüssel vom Bord.
   »Deinen Wagen brauchst du nicht. Wir fahren zusammen los und fahren auch zusammen zurück.«

Als wir auf dem Parkplatz der Alten Mühle ankommen, sehe ich schon O.J.s Cabrio. Er und Maja stehen im Eingang zusammen mit Buche und seiner Madame. Wie versprochen hat er sein freundliches Gesicht mitgebracht und ich erhalte eine kurze Umarmung von ihm und der Bienenkönigin.
   »Du musst Ute sein. Schön, dass du mitgekommen bist. Da haben wir uns ja einen guten Tag ausgesucht, um uns endlich kennenzulernen. Kommt mit rein und lasst uns anstoßen.« Ich gehe an der großen Tafel mit der Aufschrift Heute geschlossene Gesellschaft vorbei und winke den zahlreichen Gästen zunächst nur flüchtig mit der Hand zu. Meine Augen sind auf der Suche nach der Familie und ich frage Anja, ob sie Larissa und die Kinder schon gesehen hat. Langsam wird es mir zu bunt und ich spreche das aus, was ich schon seit Stunden ängstlich vermute. »Da stimmt was nicht.« Ich wähle ihr Handy an. Wieder nur Mailbox. Auch auf dem Festnetz läuft nur der AB. Ich wähle die Nummer von Julians Büro in Memphis und erfahre, dass mein Sohn nicht zu sprechen ist.
   »Listen! I am Mrs. Talbach, his mother and I really must talk to him, immediately. It’s an urgent private affair!«  Wenige Augenblicke später stellt sie mich durch.
   »Mama«, höre ich meinen Sohn winseln. Nicht, Hi Mum. Mama! Und ich weiß, dass etwas Schlimmes passiert ist.«
   »Larissa hatte einen Autounfall. Schon heute Morgen. Sie liegt auf der Intensivstation. Es besteht akute Lebensgefahr.«
   »Oh, mein Gott! Und die Jungs?«, schreie ich hysterisch und von einem Moment zum anderen verstummen alle Gäste um mich herum und starren mich an.
   »Ich weiß noch nichts. Ich weiß gar nichts. Ich hab es doch auch erst vor fünf Minuten erfahren. Ich nehme den ersten Flieger, den ich bekommen kann. Allerdings werde ich nicht vor morgen eintreffen können. Bitte Mama, halte du den Kontakt zum Krankenhaus. Ich gebe dir auch die Telefonnummern unserer Nachbarn und Freunde gleich durch. Versuche bitte, etwas heraus zu bekommen. Ich mache mich jetzt auf den Weg zum Flughafen. Und melde dich sofort, sobald du etwas erfahren hast.« Ich bin erst starr und steif vor Schreck, bevor mein ganzer Körper beginnt zu zittern. In die erwartungsvollen Gesichter meiner Gäste stammle ich nur »Unfall, Larissa, Kinder. Ich muss nach Frankfurt. Jetzt sofort.« Völlig kopflos laufe ich nach draußen und suche in der Handtasche meinen Schlüssel und auf dem Parkplatz meinen Wagen. Martin folgt mir und ich schreie »Wo ist mein Auto?«
   »Beruhige dich, Lotte. Dein Wagen steht bei dir zu Hause vor der Tür.«
   »Ich muss nach Frankfurt. Jetzt sofort!«
   »Ja, ist gut. Aber jetzt holst du erst einmal tief Luft. Dann fahren wir zu dir nach Hause. Du telefonierst und ich kümmere mich derweil um die Flüge. Okay?« Er nimmt mich fest in seine Arme und ich spüre, dass durch seine innige Berührung der Druck in meiner Brust langsam nachlässt, sich der Kloß in meinem Hals löst und den Weg für meine Tränen frei macht.
   »Um die Flüge?«, schluchze ich.
   »Ja sicher. Ich werde dich begleiten. Was hast du denn gedacht?«
  
Schon der zweite Anruf von der Telefonliste brachte die erste Erlösung. Sabine Burchard, die Nachbarin von Julian und Larissa sprach die befreienden Worte aus, auf die ich so hoffte.
   »Nein, Frau Talbach, die Kinder waren nicht mit im Wagen. Sie sind beide hier. Larissa wollte heute Morgen nur noch kurz Blumen kaufen und hat sie für den kurzen Moment bei mir gelassen. Als sie nach zwei Stunden immer noch nicht wieder zurück war, fing ich an, mir Sorgen zu machen und habe die Polizei informiert. Wissen Sie schon mehr über ihren Zustand? Mir gibt man keine Auskunft.« Mir fällt ein zentnerschwerer Stein vom Herzen und ich blicke erleichtert zu Martin. Aber er schüttelt den Kopf und sagt, dass es keine Flüge mehr nach Frankfurt gehen.
   »Die letzte Abendmaschine ist bereits weg.« Zuhause angekommen informiere ich Julian. Er wird am nächsten Tag gegen zehn Uhr in Frankfurt ankommen.
   »Ich werde mich gleich mit dem Auto auf den Weg machen.« Julian widerspricht und auch Martin zeigt mir, dass er das für eine dumme Idee hält. Er nimmt mir das Telefon aus der Hand und redet mit meinem Sohn.
   »Hallo, Herr Talbach. Hier spricht Martin Seibert. Ich halte es für keine gute Idee, dass Ihre Mutter in ihrem aufgewühlten Zustand jetzt mit dem Auto fährt. Ich werde sie morgen früh in die erste Lufthansa Maschine setzen. Dann landet sie um 8.15 h und nimmt sich ein Taxi. Was meinen Sie?« Das Telefon ist auf Lautsprecher gestellt und ich kann hören, wie Julian ihm antwortet.
   »Versuchen Sie es. Aber mir scheint, Sie kennen meine Mutter nicht. Wenn sie sich etwas in Kopf setzt, ist es schier unmöglich, sie davon abzubringen. Also viel Erfolg. Ich muss jetzt Schluss machen.«

Der Anruf im Krankenhaus versetzt mir einen kräftigen Stoß. Larissas Zustand wird als sehr kritisch beschrieben. »Wir haben wenig Hoffnung«, sagt die Stationsschwester. Ich hinterlasse meine Handy Nummer und bekomme einen Weinkrampf. Martin öffnet Anja die Tür. Sie wird von ihm über den Stand der Dinge in kurzen Worten aufgeklärt. Über ihren Vorschlag, zur Feier zurückzukehren, schüttel ich fassungslos den Kopf.
   »Du denkst, ich kann jetzt Party machen, während Larissa um ihr Leben kämpft?« Martin schließt hinter ihr die Tür und kommt zu mir aufs Sofa. Er sagt nichts, sondern nimmt mich in die Arme und küsst meinen Kopf. Sein wortloser Trost tut so gut. Noch nie zuvor habe ich dieses Gefühl gespürt. Ich kritischen Momenten war ich stets allein. Das erste Mal in meinem Leben muss ich nicht die starke Frau sein. Die unerschütterliche Charlotte, die alles allein auf die Reihe bringt. Ich befreie mich aus seinen Armen und schenke zwei Gläser Cognac ein. Nach einem kräftigen Schluck spreche ich das aus, was ich bereits seit einer Stunde denke.
   »Es ist noch gar nicht so lange her, da ist es mir schwer gefallen, dir zu sagen, dass ich dich lieb hab. Was immer aus uns wird, Martin, aber für dein Verhalten und deine Unterstützung heute, werde ich dich immer lieben.«

Ich trinke schon den dritten Kaffee und sage zum wiederholten Mal, dass es wirklich nicht nötig ist, dass er mich begleitet. Auch will ich selbst mit meinem Wagen zum Flughafen fahren. Der Versuch, meine verheulten Augen mit kalten Teebeuteln zum Abschwellen zu bewegen, brachte nicht den gewünschten Erfolg und ich setze meinen Sonnenbrille auf. Mit kleinem Handgepäck stehe ich im Flur und übergebe Anja gerade meinen Ersatzschlüssel, damit sie sich um den Hund kümmern kann, als mein Handy klingelt. Es ist sechs Uhr morgens und ich weiß, dass Julian noch in der Luft ist und nicht der Anrufer sein kann. Mit zittrigen Händen krame ich das Telefon aus meiner Handtasche und nehme die schreckliche Nachricht entgegen, die ich nun meinem Sohn und meinen Enkeln überbringen muss. Larissa ist um fünf Uhr morgens ihren schweren Verletzungen erlegen. Meine beiden vier und sechsjährigen Enkelsöhne werden ohne Mutter aufwachsen.

In Frankfurt gelandet, rufe ich die Nachbarin Frau Burchard an. Statt direkt mit dem Taxi zu ihr zu fahren, entscheide ich mich, auf die Landung der Maschine aus Memphis zu warten. Ich habe knapp eine Stunde Zeit mir zu überlegen, wie ich es meinem Sohn schonend beibringen kann. Ist es überhaupt möglich, eine Nachricht über den Tod eines geliebten Menschen schonend beizubringen?

Vieler Worte bedarf es nicht. Er sieht es mir bereits im Gesicht an.
   »Ja, Julian. Heute Morgen um fünf.« Ich spüre seinen Kloß in meinem Hals. So war es schon, als er noch ein kleines Kind war. Wenn er sich stieß, schmerzte auch mein Bein. Bis zum Taxistand hat er seine Gefühle unter Kontrolle. Im Wagen bricht es aus ihm heraus und er weint bitterlich. Wir lassen uns zu ihm nach Hause fahren. Er bittet mich, den Kindern noch nichts zu sagen und ich halte es für eine gute Idee.