Buche

Die vierte Nacht in Folge ohne ausreichend Schlaf. Meine telefonische Seelsorge endete erst gegen halb vier Uhr in der Früh. Eine halbe Stunde später empfange ich meine Guten Morgen, gut geschlafen SMS und weitere dreißig Minuten danach startet King Kong wie üblich seinen Wagen und lässt den Motor laut aufheulen. Wie wichtig Schönheitsschlaf für mich ist, zeigt mir der Blick in den Spiegel. Grausam. Mitleiderregend. Ich packe meine Reisetasche und einen Korb mit Delikatessen aus unserem Vorrat und verstaue alles im Kofferraum. Danach klopfe ich kurz bei Anja an die Tür. Sie sitzt mit den Mädchen am Frühstückstisch und nimmt meine kurzfristigen Reisepläne mit wenig Begeisterung auf.
   »Gerade heute haben wir so viele Aufträge.«
   »Dann lass dir von deinem Chefkoch unter die Arme greifen. Eine gute Gelegenheit, endlich bei Gerald einen Schritt weiterzukommen. Ich muss mich dringend um einen alten Freund kümmern! Das geht vor!«
   »Kümmere dich lieber um deinen Seibert. Bist du heute Abend wieder zurück? Ihr seid doch verabredet.« Ich habe keine Ahnung und weiß nicht, was mich an der Ostsee erwartet. Wird es nur ein Tageausflug und ich komme mit meinem Trauerkloß noch am gleichen Tag zurück oder muss ich auf das Eintreffen von O.J. warten.
   »Ich melde mich«, verspreche ich und mache mich mit Kurt auf den Weg.

Nach mehr als drei Stunden Fahrt bin ich endlich am Zielort angekommen. Die Strecke Autobahn war schnell überstanden. Kaum Tempolimit, was mir sehr entgegen kommt. Allerdings der Rest der Strecke über die endlose Landstraße, hat meine Geduld auf die Probe gestellt. Rund dreißig feste Blitzer hatten es auf mich abgesehen. Ich hörte Pink und Gossip in voller Laustärke, um nicht einzuschlafen. Zweimal habe ich versucht, Martin bei Solution Partner anzurufen, um unser Treffen abzusagen.
   »Herr Seibert ist bis zwölf Uhr in einer Besprechung. Da kann und darf ich nicht stören.« Also gut, dann eben kurz per SMS. »Sorry, Notfall. Unser Treffen fällt leider aus.« Kurze Korrektur - und noch einmal. »Sorry, Notfall. Unser Treffen muss ausfallen. Bin an der Ostsee bei Buche. Er braucht meinen Trost. LG Lotte.«

Schon auf dem Weg über das Grundstück entdecke ich den demolierten Volvo. Ich meine, er sieht nach Totalschaden aus. Das war kein kleiner Bums. Das war ein richtiger Crash.
   »Du siehst aus wie ausgespukt? Hast du überhaupt in den letzten Tagen mal was gegessen?«, meckere ich gleich los, als Buche mir verkatert die Tür zu seinem Ferienhaus öffnet. Er schüttelt den Kopf und genießt meine warme Umarmung.
   »Boah, du stinkst mein Lieber. Ab und Zähne putzen. Rasieren wäre auch nicht schlecht. Danach gehen wir frühstücken.« Während er sich in der sterilen Abteilung wieder in einen Mensch verwandelt, bestaune ich das schöne Haus. Ein Neubau im nordischen Stil mit Reetdach und weißen Sprossenfenstern. Die Einrichtung ist überaus geschmackvoll. Es liegt in einer kleinen Wohnanlage mit sechs weiteren Landhausvillen gleicher Bauart. Die Putzfassaden sind alle unterschiedlich gestrichen. Buches Haus ist gelb. Haus Sonnenblume. Aber die richtige Sonne versteckt sich hinter dicken Wolken und es bläst ein unangenehmer Wind. Ich binde meine Haare zusammen und ziehe mir noch einen warmen Pulli über. Mit Kurt an der Leine rufe ich ihm zu. »Nun komm! Ich brauche dringend einen starken Kaffee.«

Buche geht mit uns in den Ort. Hinter Glas sitzen wir auf einer Terrasse und studieren die Speisekarte. Die restlichen Tische sind von Senioren besetzt, von denen die meisten ihren Pudel oder Dackel dabei haben. Ein lautes Gekläffe durchdringt das Café und ich sage zu meinem Hund »Halte ja den Rand, sonst geht es ab ins Tierheim!«
   »Na, du hast ja blendende Laune mitgebracht«, flachst Buche. »Besteht noch Hoffnung, dass sich das ändert?«
   »Nur wenn ich noch einen Espresso oder eine Mütze Schlaf bekomme. Seitdem ich wieder mit Solution Partner zu tun habe, hatte ich wenig Zeit zum Ausruhen.« Er fragt mich erneut, warum ich es vorziehe, allein zu leben.
   »Das habe ich eigentlich mein ganzes Leben lang getan. Mein Mann war doch nie da. Aber anders als du, habe ich mir dieses Leben ausgesucht. Ich wurde nicht bei Nacht und Nebel verlassen und durch einen anderen Partner ersetzt. Ich kann zwar nicht aus eigener Erfahrung nachempfinden wie du dich jetzt fühlst, aber ich habe zumindest eine grobe Vorstellung.« Er spricht wieder davon, wie sehr ihm die Kinder fehlen und dass er ihrem Gspusi am liebsten den Hals umdrehen würde.
   »Sag dieses Wort nicht!«
   »Welches Wort?«
   »Gspusi. Dann gehe ich gleich in die Luft.«
   »Immer noch dein Seibert Trauma?« Ich nicke und er lacht. Endlich wieder! Er versichert mir, dass er es ohnehin nie geglaubt hat und ich bin erleichtert. Wenigstens ein Mann mit Verstand. Allerdings gilt ihm mein Lob nur einen kurzen Moment lang, denn dann sagt er etwas, worauf ich ihm sofort einen Vogel zeige.
   »Du warst doch vielmehr auf O.J. fixiert! Streite es nicht ab. Ich habe eure Mails gelesen.«
   »Harmloses Geplänkel! Mehr nicht! Kennst du eigentlich seine aktuelle Freundin?« Buche zieht die Brauen hoch.
   »Sie heißt Maja und ist gerademal 23 Jahre alt.«
   »Biene Maja und Lodda Matthäus!« lache ich laut los. Ich will wissen, wie seine Pläne aussehen. Ob er bleiben will oder ob wir zurück nach Hamburg fahren sollen.
   »Die beiden kommen morgen. Bleibst du noch solange?« Ich verspreche, auf ihn aufzupassen und kann ehrlich gestanden nicht verstehen, warum seine Frau das Weite gesucht hat. In meinen Augen ist Buche ein liebenswerter Typ. Lustig, herzlich, tiefgründig, gut aussehend, fleißig und erfolgreich. Vielleicht ein wenig chaotisch. Aber welche Frau will schon einen Langweiler? Die Illusion von Mr. Perfect habe ich bereits vor Jahren aufgegeben. Aber was zählt schon meine Meinung. Mein Handy piept und ich ahne schon, wer der Absender dieser Kurzmitteilung ist.
   »Du bist ein Feigling, Charlotte Talbach! Und ich glaube dir kein Wort!« Ich will Martin eine Antwort schicken, aber noch vor dem Absenden stellt sich mein Handy aus. Akku leer.
   »Mist!«, schimpfe ich, denn ich weiß, dass mein Ladegerät auf dem Schreibtisch zu Hause liegt. Auf keinen Fall werde ich Buche bitten, mir sein Telefon zu borgen. Vielleicht versuche ich es später auf dem Festnetz im Haus, wenn er gerade nicht zuhört.

Wir gehen einkaufen und schlendern durch den Supermarkt. Er wundert sich über die Mengen, die ich in den Einkaufswagen lege.
   »Lotte, du kaufst nicht für deinen Catering Service ein, sondern nur für uns zwei.«
   »Und morgen hast du zwei weitere Esser am Tisch. Also lass mich mal machen.«
   »Wein?«
   »Maximal eine Flasche. Du gehst erst einmal auf Entzug, mein Lieber. Deine Augen sind Quitte gelb.«
   »Ja, Mami«, antwortet er verlegen und legt eine Flasche Rotwein in den Einkaufskorb. Als wir an der Kasse anstehen, greife ich mit meinen Fingern durch sein dichtes Haar.
   »Zieh dich nicht so runter, Lutz. Du bist ein prima Kerl und das Leben ist so wunderbar bunt. Es teilt sich in Phasen auf. Und jede Wandlung bringt neue, tolle und überraschende Wendungen. Es wird wieder besser, glaub mir!« Ich bekomme einen Kuss auf die Stirn und ich kräusele wieder meine Nase. Ja, ich hab dich auch gern, denke ich und packe unsere Einkäufe in umweltschonende Papiertüten.

»Großen Appetit habe ich nicht. Du brauchst dir keine große Mühe zu geben.«
   »Pasta?« Buche nickt und ich schlage vor, zornige Nudeln für uns zuzubereiten.
   »Penne Arrabiata. Schön scharf! Und wenn du brav aufisst, dann bekommst du sogar ein kleines Glas Wein dazu.« Das lässt sich mein Schluckspecht nicht zweimal sagen und öffnet sofort die Flasche Barbaresco. Der rote Rebensaft bekommt keine Gelegenheit zum Atmen und wird von ihm ohne lange Umschweife in zwei Gläser gefüllt.
   »Skol, Lotte und nochmal danke, dass du hier bist.« Ich schicke ihn hinaus zu meinem Wagen, um drei Gläser der pikanten Tomatensoße aus meinem Deli Korb zu holen. Rasch nutze ich die Gelegenheit und flitze zum Telefon im Wohnbereich. Aber der Festnetzanschluss ist tot. Enttäuscht verziehe ich das Gesicht und lege den Hörer wieder auf. Nicht unbemerkt vor Buche, denn er fragt »Willst du telefonieren? Den Festnetzanschluss haben wir abgemeldet. Für die kurzen Aufenthalte lohnte es sich nicht.«
   »Wieso habt ihr das Telefon abgemeldet.«
   »Na, weil das hier unser Haus ist. Meine Frau und ich haben es vor zwei Jahren gekauft. Du kannst gern mein Handy nehmen.« Aber ich lehne ab.
   »Ich hab mich schon gewundert. Für ein Ferienhaus zur Miete ist es hier eindeutig zu chic eingerichtet.«
   »Ja, dafür hatte meine Madame ein Händchen.«

Bei jeder Gabel verzieht er das Gesicht.
   »Sag, willst du mich umbringen? Das ist höllenscharf! Wie kriegst du das nur runter, ohne mit der Wimper zu zucken.«
   »Ich bin halt kein Weichei. So wie du!«, lache ich ihn aus.
   »Ich gebe dir gleich Weichei!« Aber es kommt nicht mehr dazu. Sein Handy vibriert und Buche liest die SMS laut vor.
   »O.J. und Maja kommen morgen früh schon gegen neun. Sie wollen noch vor der großen Reisewelle aufbrechen und sie bleiben bis Pfingstmontag. Super, dann lassen wir vier hier die Sau raus.«
   »Die Sau bleibt im Stall. Und ich werde morgen früh wieder nach Hause fahren.«
   »Warum? Hast du schon Heimweh nach King Kong? Sei nicht blöd, Lotte. Wir machen uns zusammen ein nettes Wochenende. Und wenn du darauf bestehst, bleibt die Sau im Stall.«

Es ist gerade mal 18.00 Uhr und ich bin unendlich müde. Ständig fallen mir die Augen zu und ich mache den Vorschlag, an die frische Luft zu gehen. Buche greift die Hundeleine und scheucht mich über die Dünen hinunter zum Strand. Durch die aufgelockerte Wolkendecke blitzt ab und zu die Sonne durch und ich atme die frische Seeluft tief ein. Plötzlich verlangsamt er das Tempo und flüstert mir zu, dass die beiden Frauen, die uns entgegen kommen, die besten Freudinnen seiner Madam sind.
   »Spiel mit, Lotte. Bitte. Ich entschuldige mich auch jetzt schon bei dir.« Ich verstehe kein Wort und erschrecke kurz, als er nach meiner Hand greift, sich dicht vor mir aufstellt und seine Lippen zärtlich auf meinen Mund drückt.
   »Lutz?«, ruft die Frau im roten Short und schaut uns entgeistert an.
   »Ach, Thea. Du auch hier? Darf ich vorstellen. Das sind Thea und Steffi, meine Nachbarinnen. Und das ist meine Lotte!« Meine Lotte? Warum sagt er das? Ich drücke meine Hand, die er immer noch festhält, mit ganzer Kraft um seine Finger und quetsche so lange, bis ich seine einzelnen Knochen fühlen kann.
   »Guten Tag«, sage ich kurz in die perplexen Gesichter der beiden Frauen. Ich erhalte einen abfälligen Blick und die besten Freudinnen seiner Madam verabschieden sich mit den Worten »Na dann viel Spaß!« Ich halte meine Wut gerade noch solange im Zaum, bis die Nachbarinnen in ausreichender Entfernung sind und sie meinen Ausbruch nicht mehr hören können.
   »Bist du noch dicht? Was sollte dieses kindische Schauspiel? So langsam reicht es mir. Ich stehe zwanzig Jahre lang im Verdacht, die Gespielin des Chefs gewesen zu sein. Zuhause in meiner Straße werde ich für eine Teilzeitnutte gehalten und jetzt gelte ich hier auch noch als die Neue an deiner Seite.«
   »Entkrampf dich wieder und sehe es doch mal so. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.« Ich schnaube noch immer vor Wut. Buche grinst über das ganze Gesicht. Seine Vorfreude darauf, dass seine Madame gleich über die Anwesenheit »seiner Lotte« informiert wird, bereitet ihm sichtbare Genugtuung.
   »Und heute Abend gehen wir ins Seezeichen. Das ist eine Künstlerkneipe hier im Ort. Da werde ich dir noch andere nette Leute vorstellen. Was hältst du davon?«
   »Ich meine, dass ich dieses Schmierentheater bestimmt nicht mitmachen werde. Was bezweckst du eigentlich damit? Ich denke, du willst deine Frau zurück?«
   »Wie kommst du denn auf die Idee? Die soll bleiben, wo der Pfeffer wächst!« Nun bin ich aber richtig verwirrt.

Ich nehme eine lange, heiße Dusche und schlüpfe danach in meinen kurzen Schlafanzug. Meine Haare föhne ich nur über Kopf kurz an. Abgeschminkt trete ich ins Wohnzimmer, wo Buche vor dem Fernseher sitzt.
   »So willst du mit mir auf die Piste gehen?«
   »Hast du einen Hörschaden? Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht mit dir ausgehe.«
   »Was hast du denn dann vor? Willst du mich etwa mit deinen dünnen Storchenbeinen scharf machen?«
   »Ich werde mit dir noch ein, zwei Runden zocken. Dich im Blackjack bis aufs Hemd ausnehmen und danach geht es in die Falle!« Ich werfe ihm das Kartenspiel zu und bestimme, dass er zuerst der Geber ist. Nach einer halben Stunde ist er blank und beschwert sich lautstark.
   »Wie soll ich mich konzentrieren, wenn du mir in diesem Aufzug gegenüber sitzt. Zieh dir gefälligst was über oder willst du, dass ich über dich herfalle?« Ich schreie vor Lachen laut auf und sage, dass er ein schlechter Verlierer ist.
   »Ich habe sexuellen Notstand. Schon seit zwei Wochen.«
   »Dann pflück dir einen. Ich werde dich dabei nicht stören. Komm Kurt. Auf gutes Gelingen. Bis morgen früh.«