Meine Bücher und ich
Autobiographische Notizen
Sie kennen doch die Quallen, die im Meere herumtreiben; sie tun nichts, sich ihr Futter zu erjagen, der Zufall trägt sie hierhin und dorthin, und der Zufall führt ihnen die Nahrung zu. Lauter kleines lebendiges Zeug kommt mit ihren Fangarmen in Berührung, wird ergriffen, verschlungen und verdaut. Stellen Sie sich vor, ich sei so eine Qualle - dann werden die erbeuteten Opfer zu Ideen, zu Geschichten, Umrissen und Motiven -, wählen Sie selbst den Ausdruck, der Ihnen am geeignetsten scheint, das Gerüst eines Romans zu bezeichnen. Freilich gibt es im Meer weit höhere Lebensformen als die Quallen, und wenn auch alle Menschenwesen im Meere der Menschheit so ziemlich die gleichen Erfahrungen machen, so sind eben doch manche Menschen Quallen und manche sind Haifische. Den Schriftsteller möchte ich unter die Quallen rechnen: auch er nimmt die winzigsten Futterteilchen wahr; für ihn sind das all die kleinen, anregenden Beobachtungen und Erlebnisse, die er einfängt und für seine besonderen Zwecke verwendet. Wir können die Analogie noch weiterführen: Ist das erbeutete Opfer erst im Magen der Qualle, so beginnen die Verdauungssäfte zu fließen und verwandeln den Stoff in ein anderes Protoplasma, ohne daß die Qualle bewußt irgend etwas dazu tut. Plötzlich aber ist es aus mit dieser Analogie, und damit endet das Quallendasein.
In meinem eigenen Falle spielt sich das zumeist so ab, daß ich die erste Anregung auch als das erkenne, was sie ist. Die zufällige Bemerkung eines Freundes in der Unterhaltung, ein Abschnitt in einem Buche, etwas, das ich im Vorbeigehen beobachte, spricht mich besonders an, und ich heiße es freudig willkommen. Gleich nach dem herzlichen Willkomm aber wird es vergessen oder wenigstens nicht weiter beachtet. Es sinkt in den Abgrund meines Unterbewußtseins wie ein wasserdurchtränktes Stück Holz in den Schlamm am Grunde eines Hafens, wo es Seite an Seite mit anderen liegt, die ihm vorausgegangen sind. Von Zeit zu Zeit wird es dann - jedoch keineswegs systematisch - heraufgeholt, um prüfend betrachtet zu werden; früher oder später findet sich ein Holz, an dem Muscheln gewachsen sind. Eines Morgens beim Rasieren, eines Abends, wenn ich überlege, ob mein Dinner Weißwein oder Roten verlangt, kommt mir die ursprüngliche, unreife Idee wieder in den Sinn - und ist gewachsen. Fast immer hat sie etwas zu tun mit dem Thema, das schließlich zum Mittelpunkt eines Romans oder einer Novelle wird, und manchmal ist sie dem Ende und manchmal dem Anfang zu gewachsen. Die Ausfälle sind dabei hoch - an manchem Holz setzen sich keine Muscheln an -, aber es haben sich immerhin genug entwickelt, um mich mehr als vierzig Jahre lang beschäftigt zu halten.
Nach beendeter Prüfung versenke ich das Holz wieder in den Schlamm, fische es ab und zu wieder heraus, bis sich zeigt, daß die Muscheln daran hübsch zahlreich geworden sind. Das ist der Augenblick, wo der Stoff wirklich beginnt, Form anzunehmen.
Immer öfter tauchen nun die auf diesen Stoff gerichteten Gedanken in mir auf und nehmen meine Aufmerksamkeit im Laufe der Tage mehr und mehr in Anspruch, bis man schließlich fast sagen kann, die Geschichte sei zu einer fixen Idee geworden, die mein Denken färbt, meine Handlungen und mein Benehmen beeinflußt. Gewöhnlich ist auf dieser Stufe etwas wirkliche Arbeit erforderlich, um die eine oder andere handwerkliche Schwierigkeit zu lösen. An einem bestimmten Punkt der Handlung mag es für die Lydia und die Natividad wichtig sein, zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu stehen - welche Kräfte (außer dem rein zufälligen Zusammentreffen) könnten das herbeiführen? Was ist früher geschehen, daß ein solches Treffen unvermeidlich wird? Hier muß eine andere Art Erfindungsgabe einsetzen.
Solche Schwierigkeiten klären sich zuweilen auf seltsame und oft dankenswerte Weise - das ist mir wohl ein halb dutzendmal geschehen. Ich hatte zwei verschiedene Möglichkeiten des Ablaufs entwickelt, beide irgendwie unbefriedigend, und dann fügten sie sich plötzlich genau ineinander wie zwei getrennte Hälften eines Puzzle-Spiels. Jetzt sind die Schwierigkeiten auf einmal verschwunden, die Geschichte ist beieinander, und ich erlebe eine ganz besondere, intensive Freude, eine wohlige Befriedigung - gänzlich unverdient -, und das ist vielleicht die größte Belohnung in meinem Beruf.
Endlich ist der Aufbau nun also vollständig, über Anfang und Ende ist entschieden, auch alle Zwischenstufen sind klar (mit gelegentlichen Ausnahmen, von denen die eine oder andere später in diesem Essay auftauchen wird), so daß nur übrigbleibt, die Sache zu schreiben. Bitte denken Sie nicht, daß ich hier Regeln zum Schreiben von Romanen niederlege. Andere Schriftsteller wenden andere Methoden an. Manche beginnen ihre Romane auch ohne jede Planung; ihre schöpferische Phantasie trägt sie zu einem Ende, das sie anfangs selbst nicht voraussehen konnten. Zuweilen übernehmen Charaktere in einem Roman die Initiative, während er geschrieben wird, und bestehen dann auf völlig ungeahnten Entwicklungen. Das mag vorkommen, aber ich glaube, im Grunde gibt es keine wesentlichen Unterschiede der Methode. Schriftsteller, die auf solche Art und Weise arbeiten, tun auf dem Papier, was ich lieber im Kopf tue - oder tun muß -, ehe ich auf dem Papier beginne. Wenn meine Charaktere Richtlinien geben, so tun sie das während der vorausgehenden Gedankengänge; solche Entwicklungen sind neue Muscheln am Holz. Nun zur Konstruktion eines Buches: es gibt hier zweifellos zwei Extreme in der Verfahrensweise. Der Schriftsteller kann erst den Ablauf der Handlung ausdenken und sich dann fragen, welche Person am geeignetsten und am interessantesten wäre, eine solche Handlung durchzuführen; andererseits könnte der Autor sich einen Charakter ausdenken und sich dann fragen, was für eine Handlung wohl für diese Person naheliegend und interessant wäre. Es kann sich doch wohl niemand recht vorstellen, daß Jonathan Swift sich erst den Charakter Lemuel Gullivers ausgedacht habe und dann auf den Gedanken gekommen sei, ihn auf eine Insel zu schicken, die von einer 15 Zentimeter großen Menschenrasse bewohnt ist. Swift muß erst an die Liliputaner gedacht und dann die Person erfunden haben, die am geeignetsten war, dorthin geschickt zu werden. Gulliver mit seinem Scharfsinn und seiner Einfalt, seiner Weltkenntnis und seiner Arglosigkeit - in allem ganz menschlich und glaubhaft - war wirklich die ideale Person, die Kulturen zu beobachten, denen er begegnete, und sich dazu zu äußern. Ohne Gulliver wären die ›Reisen‹ unbedeutende Phantasieprodukte; ohne die ›Reisen‹ wäre Gulliver noch immer jemand, mit dem man rechnen muß. Wie dem auch sei, er verdankt sein Dasein den ›Reisen‹ . In Hamlet haben wir ein großartiges, Ehrfurcht heischendes Beispiel für diese Methode des Aufbaus. Es ist nicht anzunehmen, daß Shakespeare diesen komplizierten Charakter heraufbeschworen und ihn dann willkürlich zu einem entrechteten Prinzen in Dänemark gemacht hat. Es scheint ganz offensichtlich, daß Shakespeare zuerst die Situation ausgedacht (oder von einer solchen gelesen) hat - die Blutschande, den Mord, die Entrechtung - und dann in seinen Gedanken Hamlet erfunden hat als die interessanteste Gestalt, die er dieser Situation gegenüberstellen konnte, allein, ohne Vertrauen, und von seinen eigenen Komplexen gehemmt.
Das geeignetste Beispiel, das mir einfällt für die andere Art der Konstruktion, wobei der Charakter zuerst kommt, ist Madame Bovary. Ich bin ganz sicher, daß Flaubert schon eine ganze Menge über sie wußte, bevor er bestimmte, wie sie handeln sollte, und daß er sie für sich aufgebaut hatte, ehe er entdeckte, daß sie sehr geeignet wäre, um mit ihr das Problem des Realismus zu behandeln, das ihn nach der ›Versuchung des heiligen Antonius‹ reizte. Daraufhin diktierte diese Entdeckung natürlich alles weitere, alles, was ihr widerfuhr und was sie tat.
Die Geschichte kam durch Madame Bovary zustande und nicht andersherum.
Nun ja, mit welcher Art der Konstruktion auch immer, das Buch muß erst noch geschrieben werden. Was sich im Kopf geformt hat, muß zu Papier gebracht werden. Erst einmal muß der Anfang gemacht sein - diese Feststellung des Naheliegenden ist gerechtfertigt durch die Wichtigkeit der Wahrheit, die sie enthält. Die sorglosen Methoden der Qualle müssen nun aufgegeben werden zugunsten des Fleißes der Ameise und der Ausdauer des Maultiers.
Für mich persönlich ist die Veränderung meiner Verfassung, die dadurch zustande kommt, daß ich zu schreiben beginne, jäh und heftig. Es ist eben ein Unterschied, ob man oben auf der Höhe der Rodelbahn steht, oder zur Abfahrt starten muß. Es heißt den Sprung wagen, die Pille schlucken, durch die Türe gehen, über der steht ›Laß alle Hoffnung fahren‹ . Es heißt, das angenehme Leben der Kontemplation aufzugeben für eine Zeit härtester und mitleidloser Arbeit, denn es ist (wie Erfahrung mich längst gelehrt hat) harte Arbeit, anstrengende Arbeit.
Sowohl die Erinnerung an das, was ich zurücklasse, wie der Gedanke an das, was vor mir liegt, hemmt mich. In einem gewissen Augenblick muß ich mich an meinen Arbeitstisch kommandieren, die Zahl 1 oben auf die erste Seite meines Blocks schreiben und dann zum einleitenden Absatz ansetzen; das ist der Augenblick, in dem der Schlitten abgestoßen wird, dann gibt es kein Zurück mehr. Das zu erreichen, gibt es verschiedene Tricks; der gebräuchlichste ist der, dem Verleger zu sagen, daß ich einen Roman im Sinn habe, und ihm einen Ablieferungstermin zu versprechen - ihn feierlich zu versprechen ohne wenn und vielleicht. Das habe ich wohl zwanzigmal getan, und nie habe ich ein solches Versprechen gebrochen. Wenn ich das täte, käme ich mir vor wie ein bekehrter Säufer, der wieder zum Whisky greift. Meine letzte Sicherung gegen Faulheit wäre dahin. Die schnell wechselnden Daten auf dem Kalender zu betrachten, die Tage zu zählen, die mir zur Erfüllung meines Versprechens noch bleiben, das bringt mich früher oder später zur Tat - selten früher, meist später.
Für mich gibt es keinen anderen Weg, einen Roman zu schreiben, als am Anfang zu beginnen und fortzufahren bis zum Ende, und das ist gar nicht so selbstverständlich, wie es scheinen mag. Andere Leute haben andere Methoden. Ich habe von Romanen gehört, die in der Mitte begonnen wurden oder am Ende, die in einzelnen Teilen geschrieben wurden, um dann später zusammengeflickt zu werden; ich selbst aber habe nie den leisesten Wunsch verspürt, dergleichen zu tun. Ich habe das Ende natürlich im Kopf und ebenso die Zwischenpassagen, und ich eile voran, von einem festen Stützpunkt zum anderen springend, wie Eliza auf dem Flusse Ohio von einer Eisscholle zur anderen hüpfte.
Denken und Planen sind auch weiter vonnöten, aber in anderem Maßstab und anderer Art. Die Arbeit ist bei mir, wenn ich am Morgen erwache, sie ist bei mir, während ich im Bett mein Frühstück nehme und die Zeitung überfliege, während ich mich rasiere, bade und anziehe. Es ist die Arbeit des kommenden Tages, die meine Gedanken beschäftigt; die anspruchslosen, kleinen täglichen Verrichtungen erlauben den Gedanken, ja, ermutigen sie sogar, an den sich nähernden Schwierigkeiten zu arbeiten, die taktischen Probleme zu lösen, die bei der Durchführung des strategischen Planes auftauchen.
Gewöhnlich ist also die Tagesarbeit in meinem Kopf klar, wenn ich dastehe und meinen Entschluß zur Weiterarbeit spanne, wie man eine Uhr zu neuer Tagesleistung aufzieht. Plötzlich finde ich mich in meinem Arbeitszimmer, ertappe mich dabei, wie ich meine Füllfeder aufschraube, meinen Block an mich heranziehe und überschaue, was ich gestern geschrieben habe - und im Nu hat mich die Lust am Fabulieren davongetragen.
Und doch ist es, manchmal zu meiner eigenen Überraschung, harte Arbeit, peinliche und ermüdende Arbeit. Die Freude, die der schöpferische Akt bereiten kann, ist für mich überlagert von der körperlichen und geistigen Ermüdung, die er mit sich bringt.
Zwar kenne ich viele Romanschreiber, die das nicht so empfinden. Ich aber würde zuweilen wirklich lieber auf dem Stuhl beim Zahnarzt sitzen als am Schreibtisch. Weitgehend ist das einer Eigenart meines Temperaments zuzuschreiben, das einfach nicht zuläßt, daß ich langsam arbeite. In all diesen Jahren habe ich maßvolle Zurückhaltung nicht lernen können.
Eine Pause einzulegen, ruhig abzuwarten bringe ich nicht über mich. Habe ich einmal begonnen, so muß das Tagespensum geschafft werden, und es wird geschafft, vielleicht in einer Stunde, vielleicht in drei Stunden; aber jedes Mal, wenn ich fertig bin, bin ich auch körperlich fertig, kommt dieser elende Überdruß, dieses fade Gefühl der Erschöpfung. Dem Leben ist auf einmal alle Freude genommen; ich bin ausgetrocknet und leer und lebe den Tag zu Ende wie ein fremdes Wesen, ohne Saft und Kraft, und erst wenn der Abend sich neigt, wird dieses armselige Geschöpf langsam wieder so etwas wie ein Mensch.
Daß ich weiß: so wird es kommen, das macht es mir so schwer, den Mut zum Anfang zu finden. Das Zögern, das sich auch weiter jeden Morgen einstellt, ist leichter zu überwinden. Vor allem hat mir die Erfahrung eines gezeigt: wenn ich die Arbeit einen einzigen Tag hinausschiebe, so wirkt sich das aus wie das erste Glas für einen Trinker. Morgen schiebe ich schon leichter auf, und wenn ich schließlich auftauche aus der faulen Tour, sind drei Wochen vergangen, und die Folgen sind so unerfreulich, daß ich mit der Zeit gelernt habe, bei der Stange zu bleiben. Auch Routine spielt eine gewisse Rolle; habe ich erst ein paar Tage gearbeitet, dann habe ich mich unversehens daran gewöhnt, jeden Morgen so früh wie möglich an die Arbeit zu gehen. So zuwider mir der Gedanke an die Arbeit auch ist, ich bringe es schließlich so weit, daß mir das Gefühl, noch nicht bei der Arbeit zu sein, noch unangenehmer ist. Und das will etwas heißen. Schließlich spielt auch das in meinem Temperament begründete Verlangen eine Rolle, mit dieser Sache fertig zu werden. Nicht nur, weil ich die Bürde los sein möchte, die ich mir aufgepackt habe, sondern auch, um meine eigene Neugier zu befriedigen. Bestimmte Dinge liegen da vor mir - gewisse Stimmungen müssen ihren Ausdruck finden, es sind schwierige Ecken zu runden. Werden meine vorgefaßten Pläne sich bewähren? Werde ich die rechten Worte finden, um das Gefühl, das ich vermitteln möchte, auszudrücken? Das kann sich nur herausstellen, indem ich weiterschreibe - also!
Man sitzt an einem Tisch und schreibt Worte auf ein Papier; was ist es, das diese Worte bildet? Was geht in mir vor, während ich sie niederschreibe? In meinem Fall habe ich keinen Zweifel: es handelt sich um eine Reihe von Schauungen. Nicht zweidimensional wie auf dem Bildschirm des Fernsehapparates; eher dreidimensional, als wäre ich ein dünner, unsichtbarer Geist, der auf einer Bühne herumspaziert, während die Aufführung in vollem Gange ist. Ich kann mich bewegen, wohin immer ich will, kann die Schauspieler genauso von hinten wie von vorne betrachten, von der rechten Bühnenseite wie von der linken, kann ihre Posten, ihre verborgenen Gesten, ihre Reden beobachten. Fast könnte man sie vierdimensional nennen, denn ich nehme ja auch ihre Gefühle wahr und ihre Motive. Und alles, was mir wesentlich scheint an der Szene, deren heimlicher Zeuge ich bin, merke ich mir. Ich kann eine Szene auch wiederholt ablaufen lassen, wie ein Hollywood-Regisseur in seinem Stuhl im Vorführraum, und wenn ich mit einer Szene fertig bin, lege ich sie beiseite und beschwöre eine andere herauf, die ich mir in all jenen Wochen der glücklichen Zeit des Entwerfens ausgedacht habe. Im Grunde handelt es sich von nun an wirklich nur um ein Berichten, denn das Ganze ist schon so gut wie vollständig erfunden, und doch ist bei dieser Niederschrift auch noch ein erstaunliches Maß an Konzentration notwendig. Wenn die Arbeit für den Tag getan ist und ich ins zivilisierte Leben zurückkehre, bin ich ähnlich verwirrt wie beim Erwachen aus lebhaftem Traum - wenn auch glücklicherweise nur für kurze Zeit. Aber es kann geschehen, daß ich zurückfalle, daß ich aus dem Alltag, aus meinem Privatleben wieder abtreibe und zurückschleiche in mein geheimes Theater, auf die geheime Bühne, so daß meine Tischgenossen mich mißtrauisch beäugen oder meine Bridge-Gegner über meine Versager triumphieren.
Fast die ganze Geschichte ist, wie gesagt, schon ausgedacht, aber doch noch nicht alles. Was noch fehlt, sind unbedeutende Ergänzungen während der Arbeit am Schreibtisch - mehr Taktik als Strategie. Die Worte müssen gewählt, Sätze gebaut werden, die so genau wie möglich, sparsamst und doch treffend die Szene wiedergeben, deren Zeuge ich war. Dauernd muß ich mich fragen, ob der Abschnitt, den ich gerade schreibe, die gleiche Szene für das innere Auge des Lesers heraufbeschwören kann, ob die Gefühle, deren ich dabei gewahr werde, ihm wohl ebenso bewußt werden. Ein schlechter Satz könnte den Leser herausreißen wie ein brechender Zweig ein äsendes Wild aufschreckt. Ein ganz anderer Eindruck, als ich ihn übermitteln möchte, kann dabei herauskommen, wenn ein Satz falsch formuliert ist. Ich muß also jeden geschriebenen Satz objektiv überprüfen. Objektivität und Subjektivität müssen zusammen - oder wenigstens abwechselnd zur Wirkung kommen.
Und hierin liegt der große Vorteil des Schreibens mit der Hand gegenüber dem Maschineschreiben. Änderungen können leicht angebracht werden, und nicht nur im eben vollendeten Satz. Es erweist sich manchmal als notwendig, ein oder zwei Seiten zurückzublättern, um nachzuschauen, ob das Schiff gerade mit einem oder zwei Reffs segelt, oder wer die letzte Bemerkung gemacht hatte. Wort für Wort muß nachgeprüft werden, und dabei heißt es natürlich Selbstkritik üben. Auf einer handgeschriebenen Seite ist es sehr einfach, ein Wort durch ein anderes zu ersetzen oder Redewendungen durch einen Kreis mit Pfeil an einen anderen Platz zu verweisen. Vor einer Seite Maschinenschrift, mit dem Zwang, die Durchschläge wieder genau auf Linie zu bringen, wird man leicht faul, findet man leicht, daß die gegenwärtige Formulierung es doch wohl auch tut - obwohl das Gewissen es anders sagt. Eine Anwandlung von Selbstkritik wird ohnehin allzu leicht zerstreut, denn es ist nun einmal widerwärtig, ihr nachzugeben, die Tatsache zuzugeben, daß ich etwas unkorrekt beschrieben, etwas falsch beurteilt habe, oder daß ich einfach schlampig gewesen bin. Es kommt mich hart an, meine Unzulänglichkeiten zu erkennen; auch noch danach zu suchen, ist viel verlangt, aber es ist nötig - wie eine häßliche Frau sich zwingen muß, ihr Bild unvoreingenommen zu prüfen, um zu sehen, was sie dazu tun kann, es zu verschönern.
So vergeht die Zeit. Jeder Tag bringt seine Quote an Worten, die Seiten füllen sich, und mit jedem Tage wächst das Verlangen, die Sache zu Ende zu bringen. Ich habe gelernt, dem nicht nachzugeben. Unangenehme Erfahrungen haben mich gelehrt, daß nichts dabei herauskommt, den ganzen Tag lang zu arbeiten und zu versuchen, eine übermäßige Leistung auf einen Sitz zu vollbringen. (Vergessen Sie nicht, daß ich nur von mir rede; andere Leute wenden mit Erfolg andere Methoden an.) Habe ich es doch einmal versucht, dann fühle ich mich am nächsten Tage elend, bin knochenlahm und kann überhaupt nicht arbeiten. In diesem Zustand kann dann noch nicht einmal die objektivste, unpersönlichste Analyse meiner Motive mich zu der Überzeugung bringen, daß bloße Faulheit und der Horror vor der Anstrengung mich lahmen. Es ist mir wirklich unmöglich, zu arbeiten, und der gestrige Gewinn wiegt den heutigen Verlust nicht auf. Darum muß ich also nach einer bestimmten Ordnung und methodisch vorgehen, obgleich es wohl nicht viele Menschen auf der Welt gibt, denen Ordnung und Methode so wenig liegen wie mir. Ich muß einen Tag nach dem anderen schuften, vom Anfang bis zum Ende, wenn ich auch instinktiv so tun möchte, als sei der Anfang ein brennender Wald und das Ende eine sichere Zuflucht im gelobten Land.
Drei Monate - vier Monate - soviel Zeit etwa braucht es, und dann ist die Geschichte endlich fertig. Aber es macht mir keine besondere Freude, das letzte Wort zu schreiben; mein Kopf ist zu dumpf, um irgend etwas dergleichen zu empfinden. Noch nicht einmal Erleichterung - denn als nächstes muß nun das vollständig getippte Schriftstück durchgelesen werden. Eine Kummer gewohnte Sekretärin ist dicht hinter mir geblieben, etwa zwei oder drei Tage im Rückstand, und nach einem oder zwei weiteren Tagen sind die letzten Seiten getippt. Natürlich habe ich während der Arbeit hin und wieder einen Blick hineingeworfen, aber nun muß ich das ganze Zeug noch einmal lesen - vielleicht aus Neugier? Ich kann mir nicht vorstellen, was sonst mich dazu veranlassen sollte.
Und da haben wir's! Die häßliche Frau kann nach beendetem Makeup nun das Ergebnis prüfen - natürlich gibt es eine Enttäuschung. Kann ein fertiges Buch je so gut sein wie das, davon der Schriftsteller träumte, ehe er es zu schreiben begann?
Ich kann nicht glauben, daß das je möglich ist; und zwar aus naheliegenden Gründen; ich jedenfalls habe das nie erlebt. Es ist noch ein Glück, daß Dumpfheit und Müdigkeit der Enttäuschung etwas von ihrer Schärfe nehmen. Ich bin zu erschöpft, um sie tief zu fühlen. Langsam wandelt sich dann meine Geistesverfassung wieder ein wenig, so daß ich mich überwinden kann, das Manuskript an einen Verleger abzuschicken.
Wenn ich versuche, so objektiv zu sein, wie ich nur kann, bin ich zögernd bereit zuzugeben, daß das Buch so gut ist, wie ich es eben machen kann - ich kann es nicht weiter verbessern. Was mir daran mißfällt, kommt aus meiner eigenen Unzulänglichkeit, und ich habe lange genug mit meinen Unzulänglichkeiten gelebt, um nun ihnen gegenüber ein dickes Fell zu haben. Wenn ich am Ende eines Buches bin, dann bin ich gegen so gut wie alles dickfellig.
Laß es also gehen - laßt mich zurückkehren in die normale Welt, die ich vor drei Monaten verließ. In diesen drei Monaten konnte ich überhaupt nicht vernünftig reagieren, mein Alltagsleben war fühllos wie unter einer Betäubung.
Mein Widerwille gegen meine eigenen Werke hält erstaunlich lange an.
Ein Vater, der zum erstenmal auf sein Erstgeborenes hinunterblickt, mag vielleicht einen Schock erleiden; im allgemeinen aber erholt er sich davon schnell wieder, und nach einem oder zwei Tagen findet er das Baby wirklich entzückend.
Wenn ich auf meine Bücher so reagieren könnte, wäre mein Leben glücklicher - und seltsamerweise ist es trotz alledem wahr, daß wenige Menschen ein glücklicheres Leben führen als ich. Ich muß wohl so etwas wie eine Prinzessin sein, die die Erbse durch sieben Matratzen hindurch spürte. Jedes Buch ist so eine Erbse. Unvermeidlich kommen nun die Fahnenabzüge herein, Bogen für Bogen, englische proofs, amerikanische proofs, Bogen in periodischer Folge, und alle müssen gründlich durchgesehen werden auf der Suche nach Druckfehlern, deren jeder Fahnenabzug andere enthält. Schon an den ersten Satz Fahnen gehe ich widerstrebend heran, an den vierten oder fünften aber mit Grauen. Mittlerweile sind die Mängel in meinen Augen so gewachsen, daß ich ganz ernsthaft glaube, daß kein Mensch sich je mit diesem Blödsinn abgeben wird. Und wegen dieser Niedergeschlagenheit geben mir selbst die günstigen Kritiken und die wohlwollenden Kommentare der Freunde nicht die Befriedigung, die ich mir erhoffte, als ich zu schreiben begann. Mir scheint dann, daß Leute, die sich nett über meine Bücher äußern, Menschen ohne jedes Urteilsvermögen sein müssen, und daß es nicht lohnt, ihre Meinung überhaupt in Betracht zu ziehen. Glücklicherweise hält diese Phase akuten Verstörtseins nicht lange an. Ein Gefühl belustigter Toleranz verdrängt den Widerwillen, und bald sind alle Sorgen vergessen über der herzerquickenden Freude, nicht mehr Tag für Tag erschöpft zu sein.
Ja, ich verdanke es geradezu diesem meinem Beruf, daß ich viele Dinge sehr viel intensiver genieße als andere Menschen - wie zum Beispiel: wenn ich auf der Straße gehe und dabei meinen Kindern begegne; wieder einmal den kaum faßbaren Unterschied zu erspüren zwischen Whisttable- und Colchester-Austern (den zu fühlen ich während der Arbeit unfähig bin); die Morgendämmerung als einen alten Freund zu begrüßen, ob ich nun auf dem Heimweg bin oder das Haus gerade verlasse; zu baden im Überschwang des Bewußtseins, daß ich Energie zu vergeuden habe - oder eines der unzähligen Vorhaben anzugehen die mit Romanschreiben nichts zu tun haben, die ich liegen lassen mußte während dieses kleinen Gestorbenseins.
Und schon schleicht sich, fast unbemerkt, die nächste Geschichte in dieses erfreuliche Leben ein. Die Schlange hat Eingang in Eden gefunden ohne mein Mißtrauen zu erregen, selbst als ich sie schließlich als das erkannte, was sie ist. Ich bin ja noch in der glücklichen Zeit der Erfindung, und jeder Fortschritt in der Konstruktion bringt Augenblicke starker Befriedigung mit sich, schenkt mir wahre Freude, die ich um so lebhafter empfinde, als sie ganz unverdient ist, wenn mir während eines müßig vertanen Morgens plötzlich aufgeht, daß eine Schwierigkeit wie von selbst überwunden ist. Das sind die unschuldigen und doch erstaunlich stark erlebten Freuden, die die Wonne noch erhöhen, lebendig und in Eden zu sein. Kann es überhaupt ein besseres Leben geben?
Selbst dann, wenn es dem Ende zugeht und das Planen zur ernsten Arbeit wird, zeigt sich noch immer keine Wolke, die die Sonne verdunkeln könnte. Wenn es je dazu kommt, daß ich dieses neue Buch schreibe, wird es so vollkommen werden, wie ein Buch überhaupt sein kann. Es wird mir nicht schwer fallen, diesmal auf der Hut zu sein und die Mängel zu vermeiden, die das letzte Buch beeinträchtigen. Sollte ich mich wirklich entschließen, es zu schreiben, werde ich vernünftiger vorgehen.
Ich werde langsam arbeiten und mich freihalten von Übermüdung; ich werde mir die gute Stimmung zu bewahren wissen. Vielleicht wird das Schreiben diesmal eine sehr viel angenehmere Erfahrung als das letzte Mal - schlimmer kann es ohnehin nicht kommen. Und wenn ich diese Geschichte, die nach Ausdruck verlangt, noch länger zurückhalte, wird auch Eden nicht mehr das gleiche Eden bleiben. Und so gehe ich in mein Arbeitszimmer, schraube meine Füllfeder auf, und die Tore von Eden schlagen hinter mir zu und werden sich nicht wieder öffnen, bis ich den ganzen Zirkel aufs neue durchlitten habe.
Ich weiß noch gut, wie es mit Hornblower begann. Ein Bucherwerb war es, der den Schlamm vorbereitete, in den ich das erste wasserdurchtränkte Stück Holz versenken sollte. Und zwar kaufte ich das Naval Chronicle, eine Monatsschrift, die etwa von 1790 bis 1820 erschienen war und hauptsächlich Beiträge von Seeoffizieren für Seeoffiziere enthielt. In einem Antiquariat fand ich drei Bände davon - je sechs Hefte zu einem Band vereint -, und ich kaufte sie 1927, weil ich nach Büchern für eine Bibliothek Ausschau hielt, die ich mir auf dem kleinen Schiff anlegen wollte, das für mehrere Monate meine Behausung werden sollte. Es waren ziemlich umfangreiche Bände mit kleiner Schrift, vollgestopft mit Fakten aus einem weitgesteckten Gebiet - geradezu ideal für meinen Zweck. Daß sie seemännisch von Interesse waren, machte sie mir besonders anziehend, obgleich das nicht den Ausschlag gab. Ich könnte ja auch Bücher über Jura oder über das Bankwesen gekauft haben - hätte ich mich dann wohl veranlaßt gefühlt, einen Romanzyklus über das Bankwesen zu schreiben? Ich glaube kaum, obwohl auch das möglich sein dürfte.
In den Monaten, die ich dann auf meinem Boot lebte, las ich wieder und wieder in dieser Marine-Chronik, und etwas von der Atmosphäre mag dabei in mich eingegangen sein; jedenfalls wurde ich recht vertraut mit der Geisteshaltung der Seeoffiziere jener Zeit in bezug auf die verschiedensten Aspekte ihres Berufes.
Einer der Bände enthielt den genauen Text des Genfer Vertrages, der im Dezember 1814 abgeschlossen wurde und den Frieden zwischen den Vereinigten Staaten und England besiegelte. In jedem ordentlichen Geschichtsbuch können die Hauptbedingungen nachgelesen werden, mich aber reizten ganz besonders die Details - wie diese Dinge damals tatsächlich ausgedrückt wurden, der genaue Wortlaut, die Stimmungen, die hinter den Worten mitschwangen.
Da war zum Beispiel Artikel II mit der Angabe, wann der Krieg rechtlich enden solle; im Nordatlantik zwölf Tage nach der Ratifizierung, aber die Zeitspanne wurde ausgedehnt bis zu vierzig Tagen für die Ostsee und so weiter bis zu hundertundzwanzig Tagen für entfernte Teile des Stillen Ozeans.
Das gab ein interessantes Bild von der Schwierigkeit der Nachrichtenübermittlung und rief seltsame Gedankengänge in mir wach. Wenn du hundertundneunzehn Tage nach der Ratifizierung vor Java ein Schiff aufbrächtest, so wäre das Schiff dein; fiele es dir aber hundertundeinundzwanzig Tage nach der Ratifizierung in die Hände, so müßtest du es zurückgeben. Wenn die Kaperung aber genau nach hundertundzwanzig Tagen erfolgte - was dann? Und wenn sie auf der falschen Seite der International Dateline geschah? Alle möglichen Fehlschläge, Neid und Groll könnten dabei aufkommen... hinunter in den Schlamm mit dem wasserträchtigen Holz.
Es war auf alle Fälle eher Sache des Unterbewußtseins, sich mit der Lage eines Mannes zu befassen, dem es oblag, ganz auf sich allein gestellt wichtige Entscheidungen zu treffen. Der auf sich gestellte Mensch - ja. Technische Hilfe mag ihm zur Verfügung stehen, vielleicht hat er sogar Freunde; steht er aber einer Krise gegenüber, kann er nur nach seiner eigenen Beurteilung der Lage handeln, und geht etwas schief, hat er allein die Verantwortung zu tragen. Der Mörder, der, nachdem er das Verbrechen begangen hat, sich niemandem anzuvertrauen wagt und sein weiteres Handeln ohne jede Hilfe planen muß, ist ein Beispiel für den auf sich gestellten Menschen. Im reifen Alter von dreiundzwanzig Jahren hatte ich mich erschöpfend (so meinte ich wenigstens) mit dem Mörder und seinen Problemen befaßt, aber es gab immer noch eine Menge zu sagen über den auf sich gestellten Menschen. Zwar gab es den unheimlich vollkommenen Hamlet; aber auch nachdem die Bogenlampen erfunden waren, gab es und gibt es in der Welt noch immer Gelegenheiten, bei denen man Kerzen verwenden kann. Dieser auf sich gestellte Mensch beschäftigte meine Phantasie. Der Kapitän eines Schiffes, und besonders eines Kriegsschiffes, war in den Tagen vor Erfindung der Funkentelegrafie sehr allein.
Von einem solchen Kapitän hatte ich gelesen - am versenkten Holz wuchsen eifrig die Muscheln. Es gab noch etwas anderes neben dem Naval Chronicle und der weiteren Lektüre, die sich daraus ergab, was zu jener Zeit mein lebhaftes Interesse fand, und das war Englands Krieg in Spanien gegen Frankreich (1808 bis 1814). Die Geschichte dieses Krieges war eben, von Sir Charles Oman meisterhaft geschildert, in mehreren starken Bänden herausgekommen. Dieses Werk gehört ohne Zweifel zu den besten militärischen Geschichtsbüchern, die je geschrieben wurden. Ehrfurchtsvoll bewunderte ich Sir Omans gewissenhafte Sorgfalt. Seine unzähligen Details begeisterten mich so, daß ich zwei militärische Romane schrieb, die sich mit diesem Zeitabschnitt befaßten. Aber obwohl diese Arbeiten nun hinter mir lagen und andere Pläne meine Aufmerksamkeit beanspruchten, lungerten diese Schilderungen noch immer in meinem Gedächtnis herum. Schon allein Wellingtons Charakter war faszinierend, und er gab ganz gewiß während dieses Krieges ein Beispiel ab für den auf sich gestellten Mann, wenn auch nicht ganz dem Typ entsprechend, der sich in meinem Kopf zu formen begann. Hinzu kam, daß einer der meist beredeten Skandale jenes skandalreichen Jahrhunderts in Wellingtons Familie entstand. Seines Bruders Frau war mit dem Kavallerie-General durchgebrannt, der später zum Marquis of Anglesey wurde. Die Rückwirkungen dieser Entführung waren noch sehr lange in den geschichtlichen Ereignissen spürbar; das war höchst interessant und bemerkenswert.
Noch etwas erregte meine Aufmerksamkeit: in der entscheidenden Phase des Krieges, als die spanische Regierung gegen Napoleons Armeen um ihr Leben kämpfte, wurden tatsächlich spanische Truppen aus dem Kampf gezogen und über den Atlantik geschickt, um eine Rebellion zu unterdrücken, die in Mexiko ausgebrochen war. Das spanischamerikanische Reich begann auseinander zufallen, und die Nachrichtenübermittlung war außerordentlich schwierig und langsam. Und wieder wuchsen Muscheln am versunkenen Holz, sie setzten sich fast unbemerkt an, während meine bewußten Gedanken an Romanen wie ›Die afrikanische Königin‹ und ›Der General‹ arbeiteten.
In diese Zeit fiel ein Ereignis, dessen Zusammenhang mit Hornblower ich damals nicht im entferntesten vermuten konnte: Hugh Walpole war zu jener Zeit einer der maßgebenden Leute in Hollywood, dem Hollywood der neumodischen Filme auf der Höhe seiner Macht, seines Stolzes, seines Reichtums und seiner Anmaßung. Ich hatte ihn nie gesehen, hatte noch nie mit ihm gesprochen oder korrespondiert; aber er hatte meinen Namen genannt, als er gefragt wurde, welcher unter den jungen englischen Schriftstellern wohl geeignet sein könnte, für dieses neue Massenmedium nutzbringend zu arbeiten. So kam es zu dem Brief, in dem ich gefragt wurde, ob ich wohl geneigt wäre anzunehmen, wenn ich nach Hollywood eingeladen würde, um dort mitzuarbeiten. Sollte ich mich wirklich entschließen, diese ausländischen Vereinigten Staaten jenseits des Atlantiks zu besuchen? Sollte ich mich diesem Hollywood verpflichten, über das so phantastische Geschichten in Umlauf waren?
Wahrscheinlich hätte ich abgesagt, wäre ich gerade in einen Roman verstrickt gewesen; aber es fügte sich so, daß mich im Augenblick nur eine unwichtigere Sache beschäftigte - nur ein Marionettentheater. Und außerdem: es war allgemein bekannt, daß Hollywood viel versprach und wenig hielt. Im Grunde überzeugt davon, daß diese Einladung nie kommen würde, schrieb ich zurück, ich wäre bereit, sie anzunehmen, wenn sie käme. Und sie kam - und zwar so brandeilig, wie es in Hollywood üblich ist. Nach achtundvierzigstündiger Jagd nach dem Visum und überhasteter Packerei fand ich mich wahrhaftig an Bord der alten Aquitania auf der Fahrt nach New York.
Für das, was ich hier erzählen möchte, sind nähere Einzelheiten aus jener ersten Arbeitszeit in Hollywood uninteressant, ein Gesichtspunkt ausgenommen. Und zwar habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, daß sich in Zeiten eines sozusagen kontemplativen Lebens keine Ideen in meinem Kopf formen. Nichtstun macht mich nicht schöpferisch. Aber beschwingte Betriebsamkeit, starke Interessen außerhalb meines Schriftstellerlebens, zweimal in der Woche eine Krisis, jeden Sonnabend eine Katastrophe und weder Muse noch Kraft, über irgend etwas ernsthaft nachzudenken - ein paar Wochen solchen Lebens: wenn dann eine Atempause eintritt, mache ich plötzlich die erfreuliche Entdeckung, daß die Ideen sich inzwischen im Unterbewußtsein entwickelt haben und frische Muscheln am versenkten Holze gewachsen sind. Hollywood aber bot dem Neuling zu jener Zeit zweimal am Tage eine Krisis, nicht nur zweimal wöchentlich. Um dahinter zu kommen, daß im Grunde keiner dieser Krisen irgendwelche Bedeutung zukam und daß die Erregung der Gemüter kaum bis unter die Haut ging, brauchte es einige Erfahrung. Ich stand einem neuen Lebensgefühl gegenüber, neue Ausblicke boten sich, ich atmete eine andere Luft - und da mich eine natürliche Neugier zu immer neuen Unternehmungen trieb, so blieb mir für Besinnlichkeit einfach keine Zeit.
Die letzte Krisis betraf mich selbst. Ich hatte meine Stellung mehrmals gewechselt und war schließlich bei Irving Thalberg gelandet, damals wohl die prominenteste Erscheinung in Hollywood. Er hatte mich zur Mitarbeit an einem Film über Charles Stewart Parnell engagiert. Aber kaum zwei Leute auf Erden konnten zu gemeinsamer Arbeit weniger geeignet sein als Thalberg und ich; und der Geist Parnells war auch nicht gerade dazu angetan, unsere persönlichen Gegensätze auszugleichen.
Da kam mir zufällig eine Anzeige unter die Augen, die besagte, daß das schwedische Schiff Margaret Johnson von der Johnson-Linie am nächsten Tage mit Fracht und Passagieren von San Pedro auslaufen sollte, um über mittelamerikanische Häfen und den Panama-Kanal nach England zu fahren.
Nur eine beiläufig gelesene Notiz vielleicht, aber sie führte sogleich eine Veränderung herbei. Plötzlich wurde mir klar, daß ich genug hatte von Hollywood, daß ich es satt hatte, nach Anweisungen eines anderen zu arbeiten, daß ich meine Freiheit haben wollte, daß mich leidenschaftlich danach verlangte, England wiederzusehen. (Hier fühle ich mich veranlaßt, meine Erzählung durch die Feststellung zu unterbrechen, daß es mir seither gelungen ist, in Hollywood zu arbeiten, ohne richtig unglücklich zu sein.) Jetzt aber war der Augenblick zur Tat gekommen. Zur selben Stunde noch war ich ein freier Mann.
Meine Kündigung hatte ich gerade noch rechtzeitig anbringen können, bevor ich selbst eine erhielt. Noch ehe der Tag zu Ende ging, hatte ich die Überfahrt gebucht und - bitte! - sogar meine Einkommensteuer bei der Staatskasse bezahlt. Und bevor die Sonne am nächsten Tag ihre Höhe erreichte, stand ich an Deck der Margaret Johnson und sah die Vereinigten Staaten unter den Horizont sinken.
Es wurde eine unglaublich glückliche Zeit. Damals konnte man Mittelamerika überhaupt nur zu Schiff besuchen - mit solchen Schiffen wie die Margaret Johnson eines war. Es war gerade die Zeit der Kaffee-Ernte. Wir bummelten von einem kleinen Hafen zum anderen, von einer offenen Reede zur nächsten, luden hier 50 Sack Kaffee und dort hundert. Und wenn die Hafenanlagen - die wacklige Pier oder die alten abgenutzten Leichter - schon von einem anderen Schiff in Anspruch genommen waren, so gingen wir vor Anker und warteten ohne Ungeduld. Als wir in den Golf von Fonseca einliefen und den Hafen von La Union schon besetzt fanden, so daß wir vor der Insel Meanguera vor Anker gehen mußten, machte der Kapitän sich die Verzögerung zunutze und ließ die Rettungsboote ihrer jährlichen Prüfung unterziehen. Als auch das große Motor-Rettungsboot im Wasser war, beredeten der Erste Offizier und ich den Kapitän, uns damit auf eine Entdeckungsreise in die inneren geheimnisvollen Buchten des Golfes abziehen zu lassen.
Da gab es vergessene Dörfer, verwaschen vom Regen und in der Sonne gedörrt, in denen sich ein armseliges Leben im Schneckentempo vollzog. Uralte Frauen hockten auf dem Marktplatz und boten stumm alles, was sie besaßen, zum Verkauf an - ein einziges Ei in welker Hand. Als wir wieder in See waren, überfielen uns plötzlich heftige Stürme, und die Margaret Johnson wurde hart umhergeworfen. Einmal nahm ich mich nicht in acht, als ich an Oberdeck ging; da ergriff mich der Hurrikan und schleuderte mich mehrere Meter weit gegen die Reling und um ein Haar unter ihr hindurch. Aber wir erlebten auch flammende Sonnentage, nächtlich erglühende Vulkane und das Kreuz des Südens, wie es am südlichen Horizont erschien.
Zivilisierter ging es zu, als wir den Panama-Kanal durchführen, und im Karibischen Meer setzten wir dann unseren gemütlichen Küstenbummel fort.
Sechs Wochen ging das so weiter, sechs Wochen lang Nichtstun, nur beobachten, nur empfinden, vage verschwommene Gedanken nur - so löste sich langsam die Spannung, die in Hollywood immer ärger geworden war. Der Kapitän spielte begeistert, ja geradezu besessen Shuffleboard.
Dieses Spiel gehörte für ihn zu den wichtigen Dingen des Lebens, und wir, das heißt er und ich, spielten es hundert- und aberhundertmal auf dem blendend weiß gescheuerten Deck. Die Margaret Johnson rollte langsam und leicht in der Dünung, und es lag etwas Faszinierendes darin, dazustehen und die Scheibe noch nicht abzustoßen, mit einem Auge über die Reling zu schielen, um dann genau den richtigen Moment zu erwischen, die Scheibe mit einem Schwung zwischen zwei feindlichen Scheiben durchschlittern zu lassen, die da im Wege lagen. Wenn man den rechten Augenblick nutzte, konnte man erreichen, daß sich das Ding geradezu intelligent benahm. Schlingertanks haben das Spiel seines halben Reizes beraubt. Wie dem auch sei, Shuffleboard stellte keine übertriebenen Ansprüche an das Gehirn, es war eine gesunde Körperübung und hielt den Kopf gerade genug beschäftigt, daß er nicht anfangen konnte, selbständig zu arbeiten. So hatte das Unbewußte freies Spiel.
Von Zeit zu Zeit wurde deutlich, was da vor sich gegangen war, denn die versenkten Hölzer wiesen frische Muscheln auf. Da war dieser Zusammenbruch des spanischamerikanischen Reiches. Mindestens zweimal hatte England, während Bonaparte Verbündeter Spaniens war, mit den Unzufriedenen in Südamerika gemeinsame Sache gemacht in der Hoffnung, die spanischen Kolonien der spanischen Krone zu entreißen. Das Ergebnis war verheerend. Welch seltsame Vorstellung: britische Kräfte kämpften in Montevideo und Buenos Aires! Aber es hatte ja sogar Zeiten gegeben, da die britische Flagge in Manila und Java wehte. Und an der einsamen pazifischen Küste konnte schon allerlei Ungewöhnliches passieren. Irgend jemand konnte sich einfach für unabhängig erklären und in diesem ›kultivierten‹ Lande dann leicht zum hemmungslosen Tyrannen werden, wie die spätere Geschichte der mittelamerikanischen Republiken zur Genüge bewiesen hat. Ein Tyrann in diesem Lande...? El Supremo begann in meinem Kopf Gestalt anzunehmen, und damit ergab sich auch eine Möglichkeit, die britische Unterstützung ins Spiel zu bringen.
Hätte nicht Nelson selbst als junger Kapitän bei einer ähnlich hirnverbrannten Expedition an der Mosquito-Küste fast sein Leben eingebüßt? Nelson war ja auch in jenen Nelson-Hamilton-Skandal verwickelt, der dem Anglesey-Wellesley-Skandal vorausgegangen war. Hatte Wellington je eine Schwester gehabt und nicht nur eine Schwägerin? In der weiblichen Linie müßte der ungeheuer interessante Charakter von Wellington noch fesselnder in Erscheinung treten. Über den Einfluß der Politik auf die Karrieren in der Navy wußte ich bereits genug, um mir vorstellen zu können, was für eine Rolle in einem Roman über die damalige Zeit der Wellesley-Clan spielen müßte. Falls eine Wellesley-Schwester nicht existierte, gab es gar keinen Zweifel (wie schon in anderem Zusammenhang erwähnt): es mußte unbedingt eine erfunden werden!
Die Margaret Johnson gelangte durch die Mona-Passage aus dem Karibischen Meer in den Atlantik, und damit - wahrscheinlich sogar dadurch - fand ich zum entscheidenden Schritt im Aufbau meiner Geschichte. Vor Jahren hatte ich einen ersten Fingerzeig erhalten, der unvergessen blieb und meine Aufmerksamkeit wieder und wieder auf ein Problem lenkte, das Beachtung verlangte und danach drängte, gestaltet zu werden: das war die Schwierigkeit, in alten Zeiten die Nachricht zu verbreiten, daß ein Krieg beendet sei und Frieden herrsche. Und traf das nicht besonders auf die Lage in Mittelamerika zu? Denn der Umschwung in der Haltung Spaniens im Jahre 1808 war nicht nur schnell, sondern geradezu drastisch. Bonapartes Versuch, seinen Bruder auf den Thron von Spanien zu setzen, machte über Nacht jeden Spanier von einem Feinde Englands zu Englands leidenschaftlichem Verbündeten; die Geschichte hatte wenige so plötzliche politische Veränderungen aufzuweisen - gewöhnlich ging dem Krieg doch eine Zeit der Spannung voraus und dem Frieden eine Periode der Verhandlungen. In Mittelamerika mußten die Auswirkungen einer so radikalen Umkehr der Verhältnisse besonders dramatisch sein, wenn eine britische Expeditionsflotte eine separatistische Bewegung erst ermutigt hätte und sich nun gezwungen sähe, bei ihrer Unterdrückung zu helfen. Mein düsterer Tyrann an den Küsten des Golfes von Fonseca mochte so Gelegenheit haben, sich erst als Verbündeter und dann als Feind zu zeigen. Die Anwesenheit von Barbara Wellesley (ich glaube, sie war nun schon getauft) ließe sich schon erklären, ohne zu sehr an den Haaren herbeigezogen zu sein. So, nun hatte mein Roman einen Anfang und ein Ende, und - um wieder das alte Bild anzuwenden - mit der einwandfreien Festlegung des Mittelstücks fand sich das Puzzle-Spiel wie von selbst zusammen und zeigte nun ohne weitere Muhe das Bild im Ganzen. Wirklich, es war ein Augenblick riesiger Genugtuung, als die Margaret Johnson im Passatwind nordöstlich über den Atlantik steuerte und das langsame Rollen, das dem Shuffleboard so viel Reiz verliehen hatte, von kürzerem Stampfen abgelöst wurde, das dem Spiel einen ganz anderen Charakter gab. Mein Charakter änderte sich auch. Ich wurde nun zu Tom O'Bedlam, dem seine Traumgestalten wirklicher waren als seine Umwelt. Geistig sanft entrückt, gab ich dem Alltag auf dem Schiff sein Recht, ohne ihm einen Gedanken zu widmen; mein Kopf aber hatte nun viel zu tun: Wann und wie sollte die Nachricht vom Frieden meinen Helden erreichen? Wie sollten sich die Leutnants der Fregatte zueinander verhalten? Wie könnte die Dramatik dieser oder jener Situation am besten dargestellt werden? Der Mensch, der mich da um Mittag angesprochen hatte und mir von der Berechnung der Geschwindigkeit unseres Schiffes etwas erzählen wollte, war wahrscheinlich leicht verwundert über meine Unaufmerksamkeit; es mußte wohl aussehen, als sei ich plötzlich taub geworden. Er hatte mich möglicherweise gerade aus einem Interview mit El Supremo abgerufen; sicher habe ich ausgesehen wie jemand, der aus einem Traum erwacht, obwohl ich anscheinend ganz normal an Deck spazierengegangen war.
Immerhin versagte ich es mir, dabei meine unberechenbaren Phantasien laut von mir zu geben - eine gewisse Selbstkontrolle verhinderte diese letzte Bloßstellung meines Entrücktseins, so leicht das auch bei meiner inneren Erregung hätte eintreten können.
Wir näherten uns den Azoren; der Passatwind flaute ab, und Hornblower begann, sich zu einer Persönlichkeit zu entwickeln.
Die Geschichte selbst hatte natürlich seinen Charakter schon weitgehend festgelegt. So wie im wirklichen Leben Erbe und Umgebung uns prägen, so müssen die Gestalten in Romanen bestimmte Charakterzüge haben, die ihnen ermöglichen, die Aufgaben zu erfüllen, die ihnen zugedacht sind; und dann muß man ihnen noch einige dazugeben, damit ihr Charakter auch glaubhaft wird, oder weil sie ohne diese zusätzlichen Eigenschaften nicht ertragen könnten, was sie zu erleben und zu erleiden haben - oder schließlich ganz einfach, weil diese Eigenschaften eben zweckdienlich, passend und richtig sind.
Hornblower sollte der auf sich gestellte Mensch werden, nach dem ich suchte. Ich hatte ihm in dem Roman, der sich in mir vorbereitete, eine bestimmte Aufgabe zugedacht - die sich allerdings aus verschiedenen einzelnen Aufgaben und Pflichten zusammensetzte -, aber diese Bestimmung war nur Teil eines größeren Ganzen: Sein Kampf gegen El Supremo war zugleich ein Dienst für sein Vaterland gegen die Tyrannei Bonapartes.
Und noch etwas anderes hatte ich mit ihm vor, einen Streit von ungleich längerer Dauer sollte er führen, der für ihn selbst vielleicht noch wesentlicher war, ganz gewiß aber noch wichtiger für mich. Kriege mußten ganz einfach einmal enden; Bonapartes Fall war auch mehr oder weniger vorauszusehen - jedenfalls bestand doch die Möglichkeit solch günstiger Lösungen -, Hornblowers anderer Kampf aber würde nicht enden, solange er lebte, denn es war der Kampf mit sich selbst.
Es war nötig, ihm ein ungewöhnliches Maß an Selbstkritik mitzugeben. So wie von niemandem erwartet wird, daß er in den Augen seines Kammerdieners ein Held ist, so konnte Hornblower nicht vor sich selbst die Rolle des Helden spielen.
Er mußte seine Motive zu mißtrauisch betrachten, sich seiner Schwächen zu sehr bewußt sein, als daß er je mit sich zufrieden sein konnte. Und doch mußte er ein Mann von beachtlicher Charakterstärke sein, so daß es glaubwürdig erschien, daß er trotz Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit diesen Kampf mit sich selbst nicht aufgab und nicht absackte in Selbstzufriedenheit oder demütiges Sich-Ergeben.
So, mein Hornblower hatte nun mehr oder weniger Gestalt bekommen: Er war Kommandant einer britischen Fregatte - nicht eines Linienschiffes, denn es gehörte zur Methode der Seekriegsführung, daß Linienschiffe in einer Flotte, oder wenigstens in einem Geschwader, beieinander blieben und nicht einzeln in See gingen. Hornblower konnte auch nicht etwa nur Kommandant einer Korvette sein, denn eine Korvette war zu klein für die Aufgabe, die ich für ihn plante.
Das legte auch sein Dienstalter ungefähr fest, denn in der Regel bekam der ältere Kapitän das größere Schiff. Hornblowers Dienstalter als Stabsoffizier mußte zwischen drei und zehn Jahren liegen. Er hatte kein blaues Blut, das würde ihm die Sache mit Lady Barbara zu leicht machen. Seine Beförderung hatte er also nicht irgendwelcher Fürsprache, sondern seiner Tüchtigkeit zu verdanken; dieser Umstand fand nachdrückliche Bestätigung durch die Tatsache, daß man ihn mit einer selbständigen Mission betraut hatte - wenn auch nur mit einer relativ bescheidenen. Alles in allem war er aber doch eine markante Persönlichkeit. Wenn er also ziemlich schnell befördert worden war, konnte er jetzt etwa Anfang der Dreißiger sein - dieses Alter war gerade recht für seine Verstrickung in die Affäre mit Lady Barbara, deren älterer Bruder auf alle Fälle im Jahre 1808 neununddreißig Jahre alt war. Dieses Alter paßte mir gut, auch ich war Ende dreißig und konnte auf die Jüngeren mit olympischem Gleichmut herabsehen.
Ach so, Hornblower mußte ja auch gut Spanisch sprechen, sonst gäbe es unendliche Schwierigkeiten mit Dolmetschern, wenn er mit El Supremo zu verhandeln hatte. Dafür mußte ich natürlich eine vernünftige Erklärung haben, und ich fand sie in seiner militärischen Vergangenheit: er war einmal Kriegsgefangener in Spanien gewesen. Selbstverständlich war er verheiratet - sonst hätte es ja keine Schwierigkeiten mit Lady Barbara gegeben. Was schon erfunden und festgelegt war, gab mir wichtige Anhaltspunkte auch für den Charakter seiner Frau, die zwar persönlich nicht weiter in Erscheinung treten sollte, über die man aber doch auch etwas wissen mußte. Sie war wohl kaum sehr empfindsam, auch nicht besonders klug oder lebenserfahren, denn sonst hätte man doch erwarten können, daß sie wenigstens etwas dazu beigetragen hätte, die Schlingen zu lockern, die ihren Mann gefesselt hielten. Auch war sie eine Frau aus dem Volke, denn wäre sie adlig gewesen, so hätte das wiederum Hornblowers Annäherung an Lady Barbara zu sehr begünstigt. Zum Glück war es nicht nötig zu erklären, wieso ein Mann wie Hornblower eine Frau wie diese Maria geheiratet hatte; man konnte vom Leser erwarten, daß er wußte, daß so etwas vorkommt.
Was fehlte nun Hornblower selbst noch? Er mußte eine gute Auffassungs- und Vorstellungsgabe haben, denn sonst würde er die Dinge und die Möglichkeiten nicht wahrnehmen, die mit seinen Augen beobachtet werden sollten. Ich wollte auch keinen völlig furchtlosen Mann aus ihm machen - das lag schon in seinem vorgesehenen Wesen. Wenn er sich in Gefahr begab, dann mußte er die Lage auch als gefährlich erkennen, damit ich, der Erzähler, nicht nur als außenstehender Beobachter, sondern aus seinem subjektiven Erleben heraus die Situation beschreiben konnte. Wir kennen ihn schon als einen besonders fähigen Mann; aber er mußte auch zum Führer geeignet sein - diese Eignung konnte sich aus seiner Feinfühligkeit und seiner Beobachtungsgabe entwickeln lassen. Seine Führerqualität sollte mehr auf Taktgefühl und weniger auf animalischen Kräften beruhen. Als die Margaret Johnson sich England näherte, hatte Hornblower seinen Charakter also schon zugeteilt bekommen.
Nur Einzelheiten waren noch einzufügen. Ich dachte ihn mir als einen hochgewachsenen, ja staksigen und unbeholfenen Mann; das stand in wirkungsvollem Kontrast zu seinen geistigen Gaben und wäre Öl auf das Feuer seiner Selbstkritik. Aber ein ausgezeichneter Mathematiker mußte er sein. Ich selbst war von Natur unfähig, je den Sprung vom binomischen Lehrsatz zur höheren Analysis zu tun; wie würde ich es genießen, einen Helden zu haben, für den das ein leichtes wäre, zumal unter meinen nahen Freunden ein paar gute Mathematiker gewesen waren. Freilich schwelgte ich in schamloser Erfüllung meiner Wunschträume, wenn ich Hornblower zum Mathematiker machte, das aber geht mir erst heute auf, da ich diese Zeilen schreibe.
Mein Hornblower war befangen und außerdem scheu und zurückhaltend - diese Eigenschaften sind eng verbunden -, das war nötig, um seine Beziehung zu Lady Barbara noch schwieriger zu machen, und dabei konnte ich mir selbst beträchtlich zu Hilfe kommen, denn über Scheu und Zurückhaltung wußte ich aus eigener Erfahrung nur zu gut Bescheid. Er mußte ein ausgesprochen gut aussehender Mann sein, von der Art, die Frauen auffällt, selbst aber sein gutes Aussehen nicht zu schätzen wissen; dazu kamen noch gute, vielleicht sogar schöne Hände, Hände, wie sie Männern mit der Wesensart, die ich ihm geben wollte, oft zu eigen sind; aber wiederum durfte er sich ihres Reizes nicht bewußt sein.
Noch etwas kam mir in den Sinn: Lady Barbaras Vater, der erste Lord Mornington, war musikalisch gewesen, sogar ein ganz guter Komponist, und Wellington, ihr Bruder, hatte zu seinem eigenen Vergnügen Geige gespielt, bis seine militärischen Studien dem ein Ende setzten. Bestimmt war Lady Barbara auch musikalisch. An mir aber war diese Muse achtlos vorübergegangen. Ich verstand mich weit besser auf die Etikette am Hofe von Habsburg-Lothringen als auf Harmonielehre und Kontrapunkt. Es durfte nicht sein, daß Lady Barbara und Hornblower in der Musik ein gemeinsames Feld fanden - und zwar aus verschiedenen Gründen. Äußerst drastisch, ja geradezu kaltblütig beschloß ich: Hornblower mußte absolut unmusikalisch sein, so daß ihm die Freude an der Musik für immer verwehrt war. Das konnte mir helfen, ihn trotz seiner überragenden Intelligenz menschlicher erscheinen zu lassen.
Früher war mir einmal ein Mann begegnet, den ich dann gut kennenlernte und von Herzen verabscheute, der war höchst unmusikalisch gewesen und hatte mir oft Gelegenheit gegeben, seinen Zustand zu beobachten. Aber auch wenn er mein Freund gewesen wäre, hätte ich wohl den gleichen Nutzen aus seiner Schwäche gezogen.
Ein letzter Punkt war noch zu klären, bevor die Margaret Johnson den Bishop-Rock-Leuchtturm in Sicht bekam und wir in den Kanal einliefen: dieser merkwürdige Bursche mußte einen Namen haben. Bisher war er in meinen Selbstgesprächen nur ›er‹ gewesen. Es sollte ein Name sein, der dem Leser leicht im Gedächtnis haftenblieb, der aus dem Schriftsatz hervorstach und mit keinem anderen Namen verwechselt wurde. ›Krieg und Frieden‹ hatte für mich seine letzte Vollkommenheit nicht erreicht, weil ich bei der Lektüre immer wieder Schwierigkeiten hatte, die Charaktere an ihren Namen zu erkennen. Es wäre eigentlich nett - wenn auch nicht unbedingt notwendig -, wenn er einen etwas grotesken Namen bekäme, und damit einen neuen Grund zu Verlegenheit, denn er war doch fast albern befangen.
Am wenigsten fiel bei meinen Überlegungen ins Gewicht - höchstens ein Milligramm -, daß er auch selbst etwas Bizarres an sich hatte. Zuerst kam mir ›Horatio‹ in den Sinn, und zwar spaßhafterweise nicht wegen Nelson, sondern wegen Hamlet.
Jedenfalls erfüllte dieser Name eine wesentliche Forderung, weil sich mit ihm Gedankengänge an die damalige Zeit verbinden.
Nelson war um die Wende des 18. Jahrhunderts durchaus nicht der einzige Horatio gewesen. Und vom Horatio aus war es ein leichter natürlicher Schritt zu Hornblower. Eben war er noch ›er‹ gewesen, im nächsten Augenblick war er Horatio, und wieder einen Augenblick später Kapitän Horatio Hornblower von Seiner Britannischen Majestät Navy. Und damit war die letzte Hürde genommen und der Roman sozusagen bereit zur Niederschrift - und da lag auch England in voller Sicht an Backbord voraus.
Aber bevor ich zu schreiben beginnen konnte, gab es noch allerlei zu tun. Ich mußte mich mit meiner Frau und meiner Familie gewissermaßen aufs neue bekannt machen; ich mußte mich der alten Umgebung wieder anpassen; wenn auch höchst widerstrebend, mußte ich einiges Geschäftliche erledigen, und ich mußte noch sehr viel nachlesen, um den geschichtlichen Hintergrund meines Romans richtig zu treffen. Irgendwie häuften sich diesmal so viele Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, daß ich sogar richtig ungeduldig wurde.
Sonst war es doch immer so gewesen, daß ich dazu getrieben werden mußte, mit der Arbeit am Schreibtisch zu beginnen, daß ich mich davor fürchtete und sie immer wieder verschob - diesmal aber schien mich alles davon abhalten zu wollen, und mit dem Eigensinn meiner Natur rieb ich mich an den Hindernissen wund. Wie immer steigerte sich ständig meine Neugier, ob ich denn auch wirklich imstande sei, die Pläne, die ich im Kopf geschmiedet hatte, durchzuführen, und das besonders, seit ich durch eifriges Lesen auch die unbedeutenderen Punkte geklärt hatte. Wirklich, der innere Druck erreichte eine Stärke, daß ich meinte, explodieren zu müssen.
Immer hat es mich in unbehagliche Verlegenheit versetzt, wenn ich gefragt wurde: ›Was ist diesmal Ihr Thema?‹ Das ist zwar eine menschlich sehr natürliche Frage, und ich muß irgendeine höfliche Antwort darauf finden, aber es ist außerordentlich schwierig für mich, sie zu beantworten - selbst wenn ich schon beim Schreiben bin, und praktisch unmöglich, wenn ich noch nicht soweit bin. Eine mögliche Antwort ist: ›Männer und Frauen‹ - die aber kann ich nur anwenden, wenn mir reichlich Grund gegeben wurde, so unverschämt zu sein. Ich habe es mir selber nie erklären können, warum es mir soviel Schwierigkeiten bereitet, auf diese Frage einzugehen. Es muß da eine Art von geistiger Hemmung eintreten, die eine völlige Blockierung herbeiführt, irgendeine Vorrichtung, die fast ebenso perfekt arbeitet wie jene, die verhindert, daß man durch die Luftröhre schluckt. Michael Joseph war mein Verleger, und zwar schon jahrelang, und Jahre zuvor war er schon mein Freund gewesen. Er verdiente eine anständige Antwort; ich wollte ihm sogar antworten. Für ihn spielte natürlich auch der praktische Gesichtspunkt eine Rolle: Verleger müssen schließlich ihre Produktion vorausplanen und - das nehme ich wenigstens an - auch den Boden für die nächsten Bücher vorbereiten. Joseph sagte also: ›Was kommt nun dran?‹ Ich riß mich zusammen und brachte die armselige Antwort heraus: ›Ich habe vor, einen Roman über einen Kapitän zur See im Jahre 1808 zu schreiben.‹ Er zuckte nicht mit der Wimper, er schrie mich auch nicht an. Es kam nur eine lange Pause, und Josephs Blick wurde starr und ausdruckslos, ehe er antwortete: ›Großartig.‹ Von der Magie des Jahres 1808 ahnte er nichts, und das konnte man ihm auch nicht vorwerfen - da mußte man schon Spezialist sein; für alle anderen endete die Seefahrtsgeschichte Englands mit Trafalgar, also drei Jahre früher. Selbst Joseph, der doch an rascher Auffassungsgabe kaum einem nachstand, konnte sich aus meinem mühsamen Gestammel keinen Vers machen, nicht einmal, als ich noch hinzufügte: ›Ich denke, ich werde ihn Hornblower nennen.‹ Als wir uns trennten, war er kaum klüger, aber wohl sehr viel beunruhigter als vor unserer Begegnung.
Ich konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen; die Schuld war allein auf meiner Seite, und ich war gereizt und verwirrt. Da hatten wir's! Wieder ein Beweis mehr für die selbstverständliche Tatsache, daß man ein Buch nicht beurteilen kann, bevor es geschrieben ist. Und so kam es dazu, daß ich mich am nächsten Morgen an meinen Tisch setzte, meinen Block an mich zog und die Worte niederschrieb, die sich in meinem Kopf geformt hatten, während ich meinen Frühstückskaffee trank: Bald nach dem Anbruch der Morgendämmerung betrat Kapitän Hornblower das Achterdeck der Lydia. Vielleicht war das ein Sprung über die erste Hürde, die ich wohl nicht ganz in dieser Form genommen hätte, wären mir nicht durch Josephs höflich leeren Blick die Sporen gegeben worden.
Nun folgte wieder, was ich schon zu gut kannte: die Periode intensiver Arbeit, dann die unvermeidliche Erschöpfung, in der mir jeder Sinn für die Zusammengehörigkeit mit dieser Welt verloren geht. Das alles hatte ich kommen sehen, hatte es erwartet und bewußt durchlebt - und dann war die Geschichte eines Tages fertig, wurde an zwei Verleger abgeschickt, und ich konnte mich zurückfallen lassen in Vergessen und Vergessenwerden.
Was dann geschah, bleibt auch für mich immer eine erstaunliche Folge von Erfahrungen. Da ist die Sache mit dem verlorenen Roman - etwas, was ich wohl nie richtig erklären kann. Der Mann, der ich damals war, unterscheidet sich von dem Mann, der ich heute bin, und wenn ich auf mich selber zurückschaue, geschieht es unzähligemal, daß ich den Kontakt verliere und daß mich das hoffnungslose Gefühl überkommt, als spräche ich zu einem fremden Wesen, so wie Väter es im Gespräch mit ihren heranwachsenden Söhnen erleben. Nun, was das angeht, so bin ich jetzt alt genug, um dem jungen Forester jener Tage ein Vater zu sein, und es ist wohl besser, nicht weiter darüber nachzudenken, was er von mir gehalten hätte, wäre er mir so begegnet, wie ich jetzt bin.
Hier möchte ich die Aufmerksamkeit noch einmal auf die unerfreuliche Sache mit dem verlorenen Roman lenken.
Hornblower war fertig, abgeschickt und vergessen. Ich kümmerte mich so wenig um das Buch, daß ich, als meine amerikanischen Verleger vorschlugen, den Titel zu ändern (amerikanische Verleger wollen immer die Titel ändern), ohne nochmals darüber nachzudenken, zustimmte. So kam es, daß das Buch ›Der Kapitän‹ in England ›The happy return‹ und in Amerika ›Beat to quarters‹ heißt - eine Unstimmigkeit, die mir bis auf den heutigen Tag unbehaglich ist. Zur Zeit, als die Fahnenabzüge kamen, war ich schon wieder tief in einen anderen Roman versunken. Ein anderer Stapel Holz, vollgesogen mit Wasser, hatte schon wieder eine neue Ernte an Muscheln hervorgebracht; im dumpfigen Schlamm meines Unterbewußtseins gärte im Überfluß Nahrung für niedere Lebensformen. Und auch dieser Roman wurde geschrieben, wurde nach London und Boston geschickt und angenommen und war nun Gegenstand unterzeichneter Verträge.
Dann kam die nächste Stufe der Entwicklung: Ich erholte mich eben von meinen Anstrengungen, war in hundert Dinge verstrickt, die alle nicht das geringste mit Literatur zu tun hatten, und erfreute mich überschwenglich meiner hart erworbenen Freiheit, da, unversehens, zeigten sich wieder die alten Symptome und alles nahm mit fieberhafter Geschwindigkeit seinen Verlauf: Irgendwann im Jahre 1809 oder 1810, als der Spanische Krieg gegen Frankreich seinen Höhepunkt erreicht hatte, lag es Bonaparte am Herzen, seine Garnison in Barcelona mit dem notwendigen Proviant zu versorgen. Barcelona war damals fast in einem Belagerungszustand dank der Tätigkeit der spanischen Guerilleros. Die Nachrichtenübermittlung zu Land war äußerst schwierig, so entschloß sich Bonaparte, ein kleines Geschwader unter Admiral Cosmao von Toulon auszusenden mit dem Befehl, nach Barcelona durchzubrechen und der umzingelten Stadt das Erforderliche zu bringen. Jeder konnte das Schicksal voraussehen, das Cosmao ereilte. Britische Seestreitkräfte unter Admiral Martin schnitten ihm den Weg ab und vernichteten das Geschwader. - Das war vorerst einmal alles. Das war die Pioniermuschel, die sich als erste an das Holz hängte. Nun setzte mit Macht das wirkliche Leben ein, eine furchtbare Wirklichkeit, an die man nur ungern denken und über die man noch weniger gern schreiben mag: General Franco hatte in Spanien die Standarte der Revolution aufgepflanzt, und der Spanische Bürgerkrieg zerriß das Land. Ich war einer von den Männern, die nach Spanien gingen, um zu versuchen dahinterzukommen, was dort eigentlich geschah. Wie gut, daß ich nicht im einzelnen beschreiben muß, was wir dort zu sehen bekamen. Hier ist es nur nötig, festzustellen, daß es ein äußerst bedrückendes Erlebnis war. Ich hatte währenddessen keinen Augenblick Zeit, an irgend etwas anderes zu denken als an das, was da um mich herum vor sich ging. Das alles stand in krassestem, schrecklichem Gegensatz zu den läppischen Krisen und den unechten Gefühlen von Hollywood; tief bewegt und seelisch ausgelaugt kehrte ich nach England zurück.
Nun, mit der Zeit füllten sich die Kraftreserven wieder auf, die alten Eingebungen machten sich wieder geltend, und damit wurde auch die Lust am Fabulieren wieder wach.
Natürlich brachte ich alles, was ich in Spanien erlebte, sofort in Beziehung zu den Tatsachen, die mir vom Krieg gegen Napoleon bekannt waren; es gab da viele Analogien und Parallelen, und vor allem durfte man dabei nie den unbeugsamen spanischen Nationalcharakter außer acht lassen. In jenem Krieg (1808-1814) war es von lebenswichtiger Bedeutung, in wessen Händen die Herrschaft zur See lag; davon hing der Sieg mehr ab als von dem bewundernswerten Entschluß des spanischen Volkes, sich niemals dem Eroberer zu unterwerfen. Ich witterte die Möglichkeit zu einem neuen Roman...
Als ich nach meiner Rückkehr nach England langsam wieder zu mir kam, wurde ich gewahr, daß eine ganze Reihe unzusammenhängender Bilder von den Großtaten, die der Royal Navy während des Krieges gelungen waren, sich in meinen Vorstellungen angesiedelt hatte: vernichtete Geleitzüge, in die Luft gesprengte Signalstationen, Hilfsaktionen für die Guerilleros, Bombardierung marschierender Kolonnen, plötzlich zupackende Überfälle auf die Küste - das alles gab Stoff für eine Geschichte voll Spannung und Kraft, der als Hauptthema das Problem der Seeherrschaft zugrunde liegen mußte.
Und dann - und dann... hier setzte die alte Woge der Begeisterung wieder ein, als ich erkannte, was für Möglichkeiten dieses Thema bot, wie Szenen und Situationen nur so hervorsprudelten. Wer konnte solche Heldentaten wohl am besten vollbringen? Wer war der Mann, der klar genug denken und fein genug empfinden konnte, um den Einfluß der Seeherrschaft richtig einzuschätzen? Wer sonst als die schon entlassene Gestalt in meinem vorletzten Roman, Horatio Hornblower? Das geschichtliche Rahmenwerk paßte genau: seine ›Glückliche Heimkehr‹ wäre gerade zur rechten Zeit erfolgt, so daß er ein Linienschiff übernehmen und an die spanische Küste gesandt werden konnte, wo seine Kenntnis der spanischen Sprache (wie der Admiralität gewiß nicht entgehen würde) von Nutzen wäre. Hornblower war sowohl geistig wie technisch gut ausgerüstet für Operationen an der Küste, bei denen es auf feinfühligste Handhabung des Schiffs und schnelle Improvisation der Planung ankam. Und dann: jener Versuch der Franzosen, das umzingelte Barcelona mit Proviant zu versorgen... das gäbe einen Höhepunkt der Geschichte ab, wenn Hornblower sich zwischen die Franzosen und ihr Ziel warf!
Aber natürlich bedurfte das alles noch genauer Überlegung.
Es wäre natürlich töricht, wollte man über Fragen des Geschmacks und der künstlerischen Konvention Regeln aufstellen; aber es ist doch offensichtlich so, daß ein Roman mit einem Augenblick der Ruhe beginnt und wieder an einem Ruhepunkt endet. (Sicher gibt es Ausnahmen, aber mir fällt jetzt kein einziges Beispiel ein.) Der Augenblick der Ruhe kann vielleicht sehr flüchtig sein, aber er ist doch unbestreitbar da.
Falls die Handlung schon im einleitenden Absatz im Gange ist, wird es notwendig, in einem späteren darauf zurückzukommen, um zu erklären, wie es zu dieser Handlung kam. Die Handlung geht voran, vielleicht löst sie weitere Ereignisse aus, aber früher oder später findet sie ihr Ende. Trotzdem kann es dem Leser am Schluß des Buches klar sein, daß auch noch weitere Konsequenzen und Möglichkeiten sich daraus ergeben. Der konventionelle Schluß, eine Liebesgeschichte mit der Heirat zu beenden, ist ein abgedroschenes Beispiel dafür. Mit seinem Auftauchen im Golf von Fonseca war Hornblower nach einer Ruhepause zum Leben erwacht; seine Trennung von Lady Barbara bezeichnete den Beginn einer neuen Ruhezeit. Wir können ihn nun im Ausklingen einer Ruhepause wieder aufgreifen - während er sein neues Schiff instand setzt - und ihn bis zu einer nächsten begleiten. Erst aber müßte er noch seine letzte Schlacht gegen das französische Geschwader bestehen.
Und in gewissem Sinne müßte diese entscheidende Schlacht ein großartiger Fehlschlag sein. Ich fand, daß es irgendwie meinem Hornblower nicht anstand, zu erfolgreich zu sein. Es schien mir besser und geeigneter, wenn der Roman damit enden würde, daß seine Karriere in der Navy ruiniert, und er - wenigstens bis zum Ende des Krieges - sowohl von seiner Maria wie von seiner Barbara getrennt wäre.
An diesem Punkt der Planung überrieselten mich wahre Freudenschauer. Es würde Gelegenheit geben, ja, tatsächlich notwendig sein, Maria wieder aufleben zu lassen. Bis jetzt hatte ich sie ja nur skizziert; aus diesen Andeutungen mußte eine wirkliche Person geschaffen werden - so wie von einem Paläontologen erwartet wird, daß er aus einem einzigen Knochen gedanklich einen ganzen Dinosaurus aufbaut.
Das stellte eine interessante Anforderung an mich, die mir geradezu Spaß machte. Und Barbara? Auch sie würde wieder in Erscheinung treten müssen. Nur wenn das bedeutete, die Wahrscheinlichkeit gar zu sehr zu überspannen, könnte ich auf sie verzichten - so sagte ich mir. Im Grunde sehnte ich mich ebenso danach, sie dazuhaben, wie Hornblower. Das müßte sich doch machen lassen - ach freilich, leicht genug! Was war natürlicher, als daß Barbara, nach England zurückkehrend, einen berühmten, vornehmen Admiral heiratete?
Und wiederum wäre nichts natürlicher, als daß dieser Admiral, mit den einflußreichen Wellesleys hinter sich, das neue Oberkommando übertragen bekam, das infolge der spanischen Revolte gegen die Franzosen gebildet worden war. Und für Barbara war es gewiß nur natürlich, ihres Gatten Aufmerksamkeit auf Hornblowers Talente zu lenken. Sie hatte ja selbst gesehen, wie er seine Fähigkeiten entfaltete; es konnte nicht anders sein, als daß sie eine Schwäche für ihn hatte, was auch zwischen ihnen geschehen war. Er war gerade unbeschäftigt, und da wurde just um diese Zeit das Geschwader aufgestellt, das an der spanischen Küste eingesetzt werden sollte.
Alles schien sich prächtig ineinander zu fügen. Ich hatte zwar in meiner Planung erst an den Wagen und dann an das Pferd gedacht, im Roman aber würde das Pferd ganz von selbst seinen Platz vorm Wagen einnehmen. Das sind so die Freuden des Fabulierens! Wieder wurde es immer leichter, die übriggebliebenen Stücke in das halbfertige Puzzlespiel einzuordnen, denn das Bild wurde zunehmend klarer. All die seltsamen Muscheln, die am versenkten Holz gewachsen waren, hatten sich als brauchbar erwiesen. Noch ein paar verträumte Tage in halbbewußter Arbeit, und die ganze Geschichte war von Anfang bis zu Ende fertig. Nun war es nur noch nötig (hier erschien als düsterer Vorbote der Wirklichkeit das Gerippe beim Festmahl) - nur noch nötig, sie zu schreiben.
Wir müssen nun noch einmal zurückkommen auf den verlorenen Roman - fast verdient er diesen Namen nun wirklich, denn er ist auch aus dieser Erzählung verschwunden, nachdem wir ihn Seiten zuvor nur ganz kurz erwähnt hatten. Die Durchschläge lagen schon in Boston und London und sollten bald in Druck gehen. Ich aber wollte nicht, daß dieser Roman erschiene, jedenfalls nicht, wenn ich ›An Spaniens Küsten‹ noch schreiben sollte. Es wäre wirklich ganz unpassend, dieses Buch zwischen den beiden Hornblower-Romanen zu veröffentlichen.
Das wäre eine ganz unkünstlerische Anordnung (wie greulich das auch klingen mag). Und ›An Spaniens Küsten‹ verlangte danach, geschrieben zu werden. Es blieb mir nur eines übrig: die Veröffentlichung des verlorenen Romans mußte hinausgeschoben werden. Ich wünschte, ich könnte mich besser an diesen Roman erinnern. Er spielte in der Gegenwart, und es kam wenigstens ein Mord und ein Gemunkel über Blutschande darin vor. Die Hauptfiguren waren (wenn ich mich recht erinnere) Frauen, aber ich kann mich auf keine genaueren Einzelheiten mehr besinnen. Alle drei oder vier Jahre erinnert mich irgend etwas an dieses Buch - und dann vergesse ich es wieder. Etwas wie Hohn und Spott mischt sich in meinen Verdacht, daß dies ein schlechter Roman war, und deshalb lasse ich ihn ganz gern in Vergessenheit ruhen. Vermutlich hatte ich ihn in der Enttäuschung, die mich immer nach einer beendeten Arbeit heimsucht, geschrieben, obwohl ich nicht glaube, daß mich das beeinflußt hat; wenigstens war ich mir dessen nicht bewußt. Wie dem auch sei, ich hatte London und Boston davon benachrichtigt, daß ich mich entschlossen habe, dieses Buch jetzt nicht zu veröffentlichen, daß ich aber vorhabe, eine Fortsetzung von ›Der Kapitän‹ zu schreiben, um die entstandene Lücke zu füllen. Ich versprach sogar, diese neue Arbeit zu dem Termin abzuliefern, der ursprünglich zur Veröffentlichung des verworfenen Romans vorgesehen war.
Wenn ich zurückdenke, wundere ich mich selber über die Unbeschwertheit, mit der ich das alles handhabte. Meine Verleger nahmen die Sache weit ernster als ich. Ich erinnere mich noch gut an das lange Telegramm aus Boston mit der sorgfältigen Darlegung der Für und Wider - aber es erreichte mich erst, als ich schon mit der Niederschrift von ›An Spaniens Küsten‹ begonnen hatte und somit außerstande war, irgendwelche nur praktischen Fragen sachlich zu beurteilen. Ich lebte schon wieder in einer anderen Welt. Und wie es mir immer geht, wenn ich ein Buch beginne, so war ich auch diesmal überzeugt, daß dieses Buch mir weit besser gelingen würde als alles, was ich früher geschrieben hatte. Was ging mich so ein schwacher anderer Roman an, der ohnehin schon halb vergessen war? Und so ging der verlorene Roman wirklich verloren.
Vielleicht, daß die maschinengeschriebenen Blätter noch irgendwo in selten betretenen Lagerräumen in Boston und Bloomsbury vergessen herumliegen und sich der Staub auf ihnen sammelt. Vielleicht kommt eines Tages der eine oder andere in diese Lagerräume und fragt sich, was denn das für ein Bündel von Durchschlägen sein mag, über das er da gestolpert ist. Ich bin es durchaus zufrieden, es dabei zu belassen. Mögen meine Literatur-Vollstrecker sich über die Ethik der Verlagsarbeit unterhalten.
›An Spaniens Küsten‹ wurde also geschrieben, und zwar mit stürmischer Geschwindigkeit, hatte ich doch neben meiner altgewohnten, unangebrachten Ungeduld diesmal einen guten Grund zur Eile. Der Titel lag von Anfang an fest, aber das ist bei mir meistens der Fall. Wenn man während des Schreibens schon weiß, wie das Buch heißen soll, dann hat man auch den Schluß schon mit im Sinn. Geht es dann müde und erschöpft dem Ende zu, steht der Titel schwach wahrnehmbar für das innere Auge neben dem Ziel.
Das Schiff selbst, HMS Sutherland, unter Hornblowers Kommando, gewann meine besondere Zuneigung. Sein holländischer Baustil - wie seine meisten Zeitgenossen war es als Prise in die Royal Navy gekommen - kam Hornblower und mir ganz zupaß; es war so etwas wie ein häßliches Entchen, das mir ans Herz wuchs.
Gerade als ich das erste Kapitel begonnen hatte, erlebte ich etwas Spaßiges. Ich aß in einem der armenischen Restaurants zu Abend - noch war es nicht so weit, daß mir vor Müdigkeit kein Essen mehr schmeckte - und hatte den unvermeidlichen ›shish kebab‹ bestellt. Da wurde er gebracht: Stücke von Pfefferschoten, Stückchen vom Lamm, halbe Pilze, Zwiebelscheiben - ein Dutzend und mehr Einzelteile auf einem Spieß. Den Spieß fest in der Hand, mit der Gabel ein langsames Abstreifen - und da lag das alles übereinandergepurzelt auf meinem Teller. Als ich da saß und das bunte Durcheinander anstarrte, schoß mir eine Analogie durch den Sinn: Das Buch, das ich gerade angefangen hatte (und das mir, was ich auch tat, im Bewußtsein blieb), würde so etwas Ähnliches werden.
Ausschnitte von Expeditionen, Convoy-Schlachten und Überfällen auf die Küste würden die Paprika- und Lammstücke und die Zwiebeln sein. Und der Spieß, der alles zusammenhielt und dem Ganzen Gestalt und Sinn gab? Das war HMS
Sutherland unter seinem berühmten Kommandanten. Das, glaube ich, muß der Augenblick gewesen sein, in dem meine Liebe zu diesem Schiff zu keimen begann.
Ich weiß jedenfalls, daß ich mich von da an beim Schreiben zurückhalten mußte, damit sich nicht etwa Gefühle einschlichen.
Noch heute, nach mehr als fünfundzwanzig Jahren, erweckt der Anblick von ›shish kebab‹ am Spieß vor meinem geistigen Auge ein dreidimensionales Bild von blauer See, heißer Sonne und HMS Sutherland, wie es seinem Rendezvous bei Palamos mit günstigem Wind zusteuert. Sentimentalität, ›shish kebab‹ und Sutherland - ein seltsames Trio, aber unlöslich verbunden.
Hornblower und sein Schiff Sutherland machten sich auf nach ihrer Ruhepause und hatten endlich ihre nächste Ruhepause erreicht: das Buch war fertig. Gut rechtzeitig für den Termin der Herausgabe konnte ich die Durchschläge abschicken, genau ein Jahr nach ›Der Kapitän‹ . Es war ein sehr erfülltes Jahr gewesen, und wieder beschlich mich die lähmende Verstörtheit, die mich immer überkommt, wenn plötzlich keine geistige Anstrengung mehr von mir gefordert wird. Aber sobald mir die Selbstempfindung zurückkam, schlichen sich auch schon hängengebliebene Gedanken ein... Ich lebte Tag für Tag dahin, Einzelheiten aus jener Zeit sind natürlich (und vielleicht gnädig) nur verschwommen in meinem Gedächtnis bewahrt. Das einzige, was ich sicher weiß, ist, daß ich wieder - wie immer - lebendig am häuslichen und geselligen Geschehen teilnahm, daß ich bunt durcheinander las, reiste und sogar einiges schrieb, denn ich hatte damals einen Kontrakt mit einer Zeitung und war verpflichtet, die drei Monate wieder einzuholen, die ›An Spaniens Küsten‹ meinem Leben gekostet hatte.
Die hängengebliebenen Gedanken schlichen heimtückisch näher. Hornblower spukte noch immer im Hintergrund.
Bevor ich zu Bett gehe, pflege ich trockene Tatsachenberichte zu lesen - zuweilen sogar die Encyclopaedia Britannica. So stand unter den Büchern neben meinem Bett auch ein Band unveröffentlichter Briefe Napoleons I., die aus naheliegenden Gründen in der offiziellen Sammlung, die Napoleon III. herausgegeben hatte, nicht erschienen waren. Hier war zum Beispiel ein Brief an seinen Bruder Joseph, den er in Spanien als König aufgedrängt hatte. ›Die fünf oder sechs Leute, die General Merlin in Bilbao festgenommen hat, müssen hingerichtet werden.‹
Fast alle diese Briefe zeigten Bonaparte als äußerst skrupellos und erbarmungslos, wenn er meinte, daß seine Interessen, sein kostbares Prestige gefährdet waren. Auch Anzeichen für Bonapartes Rachegelüste entdeckte ich - Racheakte waren politisch vielleicht immer unklug, aber dieser Zug mochte aus seiner korsischen Knabenzeit herrühren. Aber Hornblower war im Augenblick ein Gefangener in Bonapartes Händen - Hornblower, der seiner Herrschaft in Spanien solch listige Schläge versetzt hatte, der seine Generäle zum Narren gehalten hatte und so anmaßend, ja unverschämt gewesen war, die geheiligte Erde von Frankreich zu entweihen. Es gab übergenug abscheuliche Beispiele dafür, daß Bonaparte in gemeiner Weise zu persönlicher Rache gegriffen hatte: Alvarez von Gerona, Andreas Hofer in Tirol waren zum Tode verurteilt worden, als Großmütigkeit ihn wirklich nichts gekostet hätte. Schon den Namen Hornblower mußte Bonaparte hassen, und außerdem war Hornblower bei einer Gelegenheit an der Küste Spaniens unter falschen Farben, unter französischer Flagge, gesegelt.
Das war eine legitime Kriegslist; dafür gab es in der Geschichte eine Menge Beispiele, ein besonders bemerkenswertes bei den vorbereitenden Bewegungen zum Angriff auf Quebec im Jahre 1759. In seinen eigenen Augen aber konnte das Bonaparte sehr wohl zur Entschuldigung dienen, seinem Rachedurst zu frönen, wenn er gerade einen der wenigen englischen Kommandanten, die während der Napoleonischen Kriege in Gefangenschaft gerieten, in seiner Macht hatte. Hornblower erschießen zu lassen wäre eine Befriedigung für Bonapartes Verlangen nach Rache. Einen englischen Kommandanten grober Übertretungen des Kriegsrechtes zu beschuldigen, könnte dazu dienen, Frankreich und Europa zu erklären, warum die Marine des Kaisers in letzter Zeit nicht allzu erfolgreich gewesen war. Aber vielleicht gab sich Bonaparte mit einer etwas milderen Maßnahme als Mord zufrieden - zum mindesten könnte es ihm vorteilhafter erscheinen, Hornblower den Prozeß zu machen, ihn zu verurteilen, ihn fast zu Tode zu erschrecken, um ihn dann mit einer großartigen Geste von Edelmut zu begnadigen. Das müßte doch in Bonapartes Augen ein wirkungsvoller Theaterauftritt sein, so etwa wie der feierliche Augenblick, als er in Gegenwart der Gräfin Hatzfeldt den Brief verbrennen ließ. Vielleicht könnte Lady Barbara ein persönliches Gnadengesuch für Hornblower bei Bonaparte einreichen? Nein, das war nicht ganz richtig. Oder vielleicht war das ein Thema, das eine genügende Ausarbeitung nicht zuließ. Nein - ich war auf einer falschen Fährte.
Das überraschte mich. Das sah ja aus, als gäbe ich zu, daß eine Fährte da war, der ich folgen sollte. Ich lag in meinem Bett und versuchte, endlich einzuschlafen, und doch wußte ich aus langjähriger Erfahrung, daß es kein wirksameres Mittel gibt, den Schlaf zu vertreiben, als um Mitternacht mit Plänen und Ideen zu liebäugeln. Ich hatte Hornblower zum Kriegsgefangenen gemacht - dabei sollte es bleiben. Der Roman kam demnächst heraus, ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ich legte die Lettres Inedites also zur Seite, knipste die Bettlampe aus und brachte mich in Schlafstellung - und war eine Stunde später wieder aus dem Bett, um nach einem noch langweiligeren Buch zu suchen, das mich vielleicht von diesen nagenden Gedanken ablenken konnte.
Natürlich nahm der Plan von selbst Form an; wenn sich das auch nicht an der Oberfläche zeigte, so war es doch wie das Wühlen eines Maulwurfs im Inneren spürbar. Sollte Hornblower nicht offiziell begnadigt werden, dann mußte er eben aus der Gefangenschaft entfliehen. Es gab eine ziemlich ausgedehnte Literatur über solche Ausbrüche aus den Gefängnissen des Kaisers, aber nichts von allem, was ich darüber gelesen hatte, schien mir wirklich befriedigend und überzeugend. Im Jahre 1810 war außerdem ein so großer Teil Europas unter französischer Herrschaft, daß Hornblower unmöglich ein neutrales Land erreichen konnte, selbst wenn die Flucht gelang.
Er mußte sich bis zum Meer durchschlagen. Natürlich mußte er das Meer erreichen! - es gab doch gar keine andere Lösung. Ich entdeckte, daß ich selbst geradezu danach schmachtete, daß es zu dieser Flucht käme; ich wünschte Hornblower leidenschaftlich, daß er der Haft entrinnen könne, die er bei seinem Temperament ganz unerträglich finden mußte. Er sollte dem trügerischen Land entfliehen und die Freiheit der See wiedergewinnen! Oh, das mußte eine lange und verzwickte Fahrt ergeben. Nun erlebte ich wieder einen der überraschenden Augenblicke, wo sich eine Idee ganz unerwartet einer anderen, scheinbar fernliegenden, zugesellt. Und wieder machte ich die Entdeckung bei der völlig belanglosen Durchsicht der Morgenpost, obgleich keiner der Briefe zu Hornblowers Flucht in Beziehung stand. Vor einigen Jahren war ich in einem Motorboot die Loire hinabgefahren - ungelesen legte ich einen Brief nieder und faßte die neue Erkenntnis ins Auge, daß Hornblower denselben Weg zur See benutzen konnte. Ein kleines Boot - ich hatte Monate, vielleicht ein ganzes Jahr in kleinen Booten verbracht - ein kleines Boot auf einem Fluß war ein sehr geeignetes Transportmittel für einen Flüchtling. Es schloß die Möglichkeit aus, sich zu verirren, und trug wesentlich dazu bei, den dauernden Kontrollen von Pässen und Papieren zu entgehen, denen die Reisenden im kaiserlichen Frankreich ausgesetzt waren. Und ganz besonders traf das für die Loire zu, die ich aus eigener Erfahrung als einsam, wenig benutzt, anscheinend unschiffbar und doch befahrbar kannte.
Vor Erregung jagte mir das Blut in den Adern. An der Grenze der Tiefseeschiffahrt der Loire lag die Stadt Nantes. Seefahrende Schiffe kamen bis an die dortigen Kais - ich erinnerte mich, sie dort gesehen zu haben. Vielleicht konnte Hornblower - plötzlich kochte ich über, und als die nervöse Erregung sich gelegt hatte, stand das Bild Hornblowers, wie er die Witch of Endor wiedergewinnt, lebendig und zwingend im Geiste vor mir.
Daraus ergab sich logisch ineinandergreifend dies und das in natürlicher Folge: um ein solches Kunststück zu vollbringen, brauchte Hornblower Hilfe, und zwar fachmännisch erfahrene Hilfe. Er mußte also Bush und Brown bei sich haben. Das bedeutete, daß er sie auch bei seiner Fahrt die Loire hinab bei sich haben mußte - das wiederum rief neue Gedankenbilder wach: Hornblower als Kommandant einer dreiköpfigen Schiffsbesatzung; ein sechs Meter langes Boot anstatt eines Zwei- oder Dreitausend-Tonners. All das beschwor eine ziemlich verdrehte aber doch dramatische Situation herauf, die unabweislich nach einer gründlichen Betrachtung verlangte.
Aber eines war sicher: mein Vorurteil gegen eine weitere Beschäftigung mit Hornblower ließ sich kaum halten.
Noch etwas anderes kam dazu. Die Fahnenabzüge von ›An Spaniens Küstern‹ liefen ein, und ich mußte mich - wenn auch mit meinem üblichen Zögern - daranmachen, sie zu lesen. Da schaute mir mein kleiner Sohn über die Schulter, um zu sehen, was ich da mache. ›Oh, mach schnell, daß du damit fertig wirst, Daddy‹ , sagte er. ›Ich möchte das lesen. Das erste hat mir so gut gefallen.‹ Dieser Sohn hat nun selbst schon einen Sohn im gleichen Alter, aber noch heute fühle ich die Dankbarkeit genauso frisch wie in jenem Augenblick. Das war ein Ausgleich, ein überreicher Lohn, nicht nur für die Mühsal der Elternschaft, sondern auch für die Arbeit des Schreibens. Gefühl beiseite - warum hatte der Mann, der ich damals war, nur solches Mißtrauen gegen Gefühle? -, aber es konnte nicht anders sein, als daß dieser Vorfall mir half, mich mit der Erkenntnis abzufinden, daß ich noch einen weiteren Roman über Hornblower schreiben mußte. Michael Joseph half dann den Zaubertrank zu brauen. Ich versuchte, ihm zu erklären, was für ein Aufruhr in mir war, und kämpfte dabei mit meiner ewigen Scheu, irgendeiner Seele gegenüber in Worte zu fassen, was da an halbgeformten Ideen in mir wuchs. Aber irgendwie gelang es mir wohl doch, das Thema, das mir im Sinne lag, mit dürftigen Worten darzulegen. ›Du willst ihn also unter wehender Flagge zurückbringen‹ ; sagte Michael Joseph. Diesmal war er es, dem ein leerer Blick begegnete, als hätte diese Bemerkung kein Wässerchen gekräuselt. Das konnte sie auch nicht: sie war gefallen, aber nicht in den flüssigen, lebendigen Strom der Unterhaltung, sondern in den trägen Schlamm des Unterbewußtseins, wo sie tiefer und tiefer versank, um die Muscheln zu vermehrter Produktion anzuregen. Die unmittelbare Wirkung war natürlich ganz entgegengesetzt.
Klarer Triumph, unverfälschter Erfolg war nicht das Thema, nach dem ich suchte. Was das betrifft, auch ich hatte schöne persönliche Erfolge genossen und war mir zutiefst bewußt, daß Genus keinesfalls die rechte Bezeichnung dafür war. Die Widerspenstigkeit der menschlichen Natur läßt uns dem geschenkten Gaul immer ins Maul schauen und feststellen, daß er lange Zähne hat; immer ist ein Blatt an der Rose verschrumpelt. Einfaches Schicksal aber und unwesentliche Geschehnisse fügen der Süße unabwendbar Bitterkeit und dem Glatten auch Rauhes bei und vermischen überdies die Begriffe.
Es geschah Hornblower nur recht, wenn auch ihm das passierte; aber (laßt uns um jeden Preis Gefühle aus der Literatur heraushalten) jedenfalls hatte ich die Sicherheit, daß es künstlerisch (wieder dies abscheuliche Wort) befriedigend wäre.
Die Tage gingen hin, und andere Ideen, die mich bewegt hatten, begannen sich einzufügen, obwohl sie in gar keiner Beziehung zu Hornblower zu stehen schienen. Ich hatte sie früher sogar als Keime zu einer neuen Arbeit betrachtet: so hatte ich zum Beispiel die Idee einer gestörten flüchtigen Liebschaft sich entwickeln sehen; heiße Leidenschaft, die ihre Erfüllung fand und doch abgebrochen wurde. Natürlich mußte es Hornblower sein, dem das widerfuhr. Warum war mir das nicht früher aufgegangen? Hornblower einer Liebe lebend - wenn auch nicht gerade mit einem Auge auf der Uhr, so doch mit lauter anderen Gedanken im Kopf; Hornblower, wie immer vom Glück begünstigt und doch unzufrieden und unfähig, sich hinzugeben; Hornblower, ein Mann, in den sich jede Frau ernstlich verlieben konnte und von dem eine kluge oder intuitive Frau doch wissen mußte, daß er sich weder halten noch binden ließ. Wenn er einmal ein wenig Muße und Freizeit hatte, mußte ihm so etwas doch früher oder später begegnen.
Zu jener Zeit mochten sich auch die refractaires in Frankreich bemerkbar machen, die jungen Leute, die sich vor der Einziehung drückten. Ich hatte einen Augenblick überlegt, ob es möglich sei, daß Hornblower bei seiner Flucht von einigen dieser Leute irgendwie Hilfe erhalten konnte. Auch war damals in Frankreich eine Gruppe im Wachsen, die mit reiferen, vernünftigeren Ansichten in der öffentlichen Meinung sich Bonaparte entgegenstellte, weil sie liberalere Überzeugungen vertrat. Oder vielleicht auch einfach, weil sie die verheerenden Folgen des Bonapartismus erkannte. Damit fanden viele Teilchen des Puzzlespiels ihren Platz. Ich wußte nun, wo Hornblower die notwendige Hilfe fand und wie seine Liebschaft zustande kam. Noch ein paar letzte Entschlüsse waren zu fassen.
Es mußte ein Todesurteil gesprochen werden - tatsächlich sogar zwei. Arme Mrs. Hornblower. Ihr Tod war beschlossen, wenn auch nicht ohne Zaudern, nicht ohne fruchtloses Mitleid. Ich glaubte sie so gut zu kennen. Aber es war kein Platz mehr für sie da, und ihr Tod war es, der Hornblowers Erfolg einen sehr bitteren Beigeschmack geben sollte. Es war nicht weiter schwer, ihn herbeizuführen, denn im letzten Roman war sie schon schwanger, und Tod im Kindbett war zu jener Zeit so häufig, daß es nicht nötig war, viele Worte darüber zu verlieren. Sie hatte schwanger sein müssen, um mir zu ermöglichen, in ›An Spaniens Küsten‹ einen besonderen Punkt für mich zu buchen.
Jetzt kam mir diese Tatsache wieder zugute, als hätte ich die weitere Entwicklung damals schon im Kopf gehabt. Ich kann aber aufrichtig versichern, daß dem nicht so war; dennoch vermute ich, daß es möglich ist, daß ihr nahender Tod da unten bei den Muscheln ganz unbemerkt schon geplant wurde. Mit Admiral Leightons, Barbaras Gatten, Tod gab es weiter keine Schwierigkeiten. Er war ein Seemann im aktiven Dienst, und es war ohnehin klar, daß er sich bald den Weg in die Rosas Bay erkämpfen mußte, um die Schiffe zu zerstören, die Hornblower dort außer Gefecht gesetzt hatte. Ich konnte wohl sicher sein, daß kaum jemand über Leightons Schicksal eine Träne vergießen würde - vielleicht noch nicht einmal Barbara.
Jetzt sah es fast so aus, als sei der Roman nun so weit, geschrieben zu werden. Zweifellos stellte sich auch die alte Rastlosigkeit wieder ein. Wieder fühlte ich den Reiz, die Versuchung, herauszubekommen, ob ich wirklich die Vielfalt der Geschehnisse und Stimmungen, die mir im Kopf umgingen, aufs Papier bannen konnte. Und wieder bewegte mich die gleiche unvernünftige Hoffnung, daß dieser Roman sich leichter schreiben ließe als der vorige. Und dann kam wieder der gleiche Sprung ins Wasser: Es kam der Tag, an dem ich Seite 1 und Kapitel 1 schrieb und Admiral Leighton seinen Angriff auf die Rosas Bay einleitete. Die Arbeit ging ganz gut voran, wenn man bei ganz gut die unvermeidliche tägliche Erschöpfung mit einbezieht.
Oberst Caillard und seine Gendarmen erschienen, um Hornblower, Bush und Brown abzuführen, als Hornblower gerade noch genug über Leightons Schicksal erfahren hatte, um ihn während der nächsten Monate in verzweifelter Ungewißheit zu halten. Die Arbeit nahm ihren normalen Verlauf, bis der Schock eintrat, so plötzlich und in jeder Fiber so schmerzhaft, als liefe man im Dunkeln gegen eine Türkante. Als ich eines Morgens meine Tagesarbeit plante, überfielen mich schreckliche Zweifel - ich aber schloß einfach die Augen davor; am nächsten Tage waren die Zweifel Gewißheiten, und ich stand einer Katastrophe gegenüber.
Ich kann mir nicht erklären, wie es dazu kam, wie ich so unglaublich achtlos, so blind, so unaufmerksam sein konnte. Im Entwurf der Geschichte hatte ich mir an diesem Punkt einfach gesagt, hier entfliehen sie, und dann nicht weiter daran gedacht.
Ich hatte eine Lücke gelassen und nichts vorbereitet, sie zu füllen. Durch irgendeinen noch nicht da gewesenen Lapsus hatte ich dieses Loch, diesen Abgrund noch nicht einmal bemerkt, bis ich ihn vor meinen Füßen gähnen sah. Sie mußten entfliehen; im Herzen Frankreichs mußten sie aus einer Bewachung von zwanzig Gendarmen entkommen - und Bush fing eben erst an, sich von der Amputation eines Fußes zu erholen - er konnte keinen Meter laufen. Wie in aller Welt sollte ihnen da die Flucht gelingen? Bush zurücklassen - das kam nicht in Frage - so etwas hätte Hornblower nie getan, und außerdem brauchte ich Bush dringend für die übrige Geschichte. Ich hatte mir Schwierigkeiten über Schwierigkeiten aufgeladen; ich hatte die Hornblower-Affäre zu einer so wichtigen Sache gemacht, daß ich seiner Eskorte noch einen von Bonapartes fähigsten Polizeioffizieren zu seiner Bewachung beigegeben hatte. Oberst Caillard ließ bestimmt keine Gelegenheit zu einer Flucht offen, deren ich mich hätte bedienen können.
Das gab für mich eine wahre Zerreißprobe. Ich schämte mich, war schockiert von meinem Verhalten, aufgezehrt von Zweifeln, ob ich überhaupt für diesen Beruf geeignet sei. Das aber war erst eine spätere Sorge, wichtiger war im Augenblick die Lösung des Problems, das unmittelbar und zwingend vor mir stand. Die Geschichte brach einfach ab, und es schien keinen Weg aus dieser Sackgasse zu geben, in die ich so blind hineingerannt war. Vielleicht mußte ich zurückgehen und einen ganz anderen Weg einschlagen. Das aber hieße, die ganze Sache noch einmal machen, den Entwurf noch einmal planen und nach der neuen Planung aufs neue schreiben. In den letzten fünfzehn Jahren mußte ich ein einziges Kapitel noch einmal schreiben. Von diesem Buch waren schon fünf Kapitel fertig. Mußte ich die alle noch einmal schreiben? Wie gewöhnlich wurde schon durch den Gedanken meine leidenschaftliche und unvernünftige Abneigung, mich noch einmal mit einer fertigen Arbeit zu befassen, wieder aufgerührt, bis ich wirklich in einem Zustand der Panik war. Aber wie sollte auch ein Mann, dem ein Fuß frisch amputiert war, zwanzig Gendarmen entkommen?
Natürlich entfloh er am Ende. Ich durfte entdecken, daß mein Beruf neben seinen Bürden auch seine Vorrechte hat, und das Glück war auf meiner Seite. Es kostete mich zwei Tage (glaube ich) bangen Nachdenkens, und ich hatte die Lösung erarbeitet.
Zwei Tage lang jeden Morgen auf und ab tigern in meinem Arbeitszimmer und jeden Nachmittag und jede Nacht wie wahnsinnig durch gefühllose Straßen wandern... Es war nicht umsonst, daß Hornblower die Gewohnheit angenommen hatte, auf seinem Achterdeck auf und ab zu laufen, wenn es ein Problem zu lösen galt. Aber ich glaube nicht, daß körperliche Ermattung meine Angst abstumpfen konnte. Aus Entsetzen vor mir haben sich meine Kinder in jenen Tagen immer wieder verkrochen.
Der Schriftsteller hat aber Kräfte zur Verfügung, mit denen früher Hexen und Zauberer begabt waren. Er kann Stürme und Fluten heraufbeschwören. Zum Glück war das Wetter ohnehin auf meiner Seite; die Schlacht der Sutherland hatte im Spätherbst stattgefunden, und nun war es Winter und ein Schneesturm nicht nur möglich, sondern geradezu wahrscheinlich. Ein Schneesturm - ein Fluß - ein Boot - eine Flut - und meine drei Helden waren entkommen - wie jeder sehen kann, der sich die Mühe nimmt, Kapitel 6 zu lesen. Und ich selbst war durch eine solche Erfahrung gegangen, daß ich nie wieder der alte sein konnte - so dachte ich wenigstens. Noch ein paar Tage nach diesem Zwischenfall hätte ich tatsächlich grollend zugegeben (wenn diese Sache je zur Sprache gekommen wäre), daß es Schlimmeres gab, als Tag für Tag an einem Roman zu schreiben, so wie jemand, der einmal das Strappado geschmeckt hat, zugeben mag, daß es Schlimmeres gibt als die Folterbank.
Nur wenige Tage später machte ich wieder eine neue Erfahrung, die mir bis heute ebenso klar im Gedächtnis geblieben ist wie die eben erzählte. Hornblower war wieder unterwegs; seine Liebschaft mit Marie de Gracey war vorüber - oder wenigstens im Entschweben -, und er war mit seinen beiden Gefährten auf der Fahrt die Loire hinunter. Vor ihm lagen Sorgen und Unbilden, und hinter ihm lagen Sorgen und Unbilden - in diesem Augenblick aber war er so sorglos, wie er je hoffen konnte zu sein. Ich kenne dieses Gefühl selbst so gut; ich beneidete Hornblower und fühlte mich doch gleichzeitig in tiefem Einverständnis mit ihm. Hornblower war zu jener Zeit glücklicher, als sein hartes Leben der Tat es ihm bisher je vergönnt hatte. Noch immer war er der auf sich gestellte Mann, aber nun erlebte er einmal die Kameradschaft und persönliche Nähe, die er bisher hatte entbehren müssen - wenn auch zum Teil durch die Fehler seiner eigenen Persönlichkeit. Er erlebte nun einmal die Freuden des Landes, sah viel Schönes, das ihm ganz neu war: wie die Morgendämmerung durch den Nebel über dem schweigenden Fluß kroch, oder wie eine Reihe von Weiden gegen den anders grünen Hintergrund der Hügel stand. Er war unterwegs - das gehörte für einen rastlosen Burschen wie ihn zum Glücklichsein unbedingt dazu -, aber geruhsam, ohne Druck, und dabei ergaben sich doch genug kleine Zwischenfälle und Aufgaben (wie zum Beispiel eine Fahrrinne durch die Sandbänke zu finden), um sein ewig tätiges Gehirn davor zu bewahren, sich selbst in Unzufriedenheit hineinzumanövrieren.
Es geschah mir nun zuweilen in der Zeit, als ich an diesen Abschnitten schrieb, daß ich beobachtete - und zwar höchst erstaunt, ja vielleicht sogar bestürzt -, wie ich morgens tatsächlich voll Eifer an meinen Arbeitstisch ging, wie ich mich auf einen Morgen mit Hornblower freute, solange er, endlich einmal, in gewisser Weise ruhigen Gemütes war. Ich war sogar versucht, die Reise noch zu verlängern, jedenfalls spürte ich ein leises Bedauern, daß die Loire nicht so lang war wie der Amazonas. Aber Geographie wie Geschichte stellten sich jeder Genußsucht energisch entgegen. Noch etwas Wichtiges wirkte dabei mit, nämlich die Notwendigkeit, das Gleichgewicht zu bewahren und den Forderungen meines künstlerischen Urteils zu gehorchen, eben mein literarischer Geschmack. (Wieder diese abscheulichen Worte, die sich immer einzuschleichen versuchen wie Krankheitsbazillen in den menschlichen Körper.) Meine Erzählung verlangte eine gewisse Sparsamkeit mit Glück, und es über einen bestimmten Punkt wachsen zu lassen, konnte das Gleichgewicht stören. Mein Geschmack und mein Urteil sagten mir: so viel darf es sein und nicht mehr. In ähnlicher Gemütsverfassung wie Gibbon seufzte der Empfindsame in mir, aber der Handwerker gehorchte. Ich fand schwachen Trost im Gedanken an einen Küchenchef, der sich anschickt, ein meisterhaftes Gericht zusammenzustellen, und dabei die nötige Zurückhaltung übt in der Anwendung seiner Lieblingskräuter.
So fuhr Hornblower weiter nach Nantes, Ehren und Auszeichnungen entgegen und der Welle öffentlicher Bewunderung zu, die ihm so widerwärtig war.
Sechs Jahre vergingen, ehe er in mein Leben zurückkehrte und mich als einen anderen Menschen, zum mindesten körperlich, wiederfand. Aber dieses Erlebnis habe ich erst kürzlich beschrieben, und so gehe ich an diesen Bericht mit der Abneigung heran, die ich gewöhnlich gegen eine beendete Arbeit empfinde. Ich war nun ein kranker Mann; jedenfalls war mir gesagt worden, daß ich ein Invalide sei, oder ich dachte, ich wäre einer. Etwas vorzeitig, zwanzig Jahre oder so ungefähr, bevor man vielleicht damit rechnen mußte, hatte sich eine Alterserscheinung eingestellt. Meine Arterien begannen sich zu schließen - vergeben Sie mir bitte diese anatomischen Einzelheiten -, und es war anzunehmen, daß der Prozeß fortschreiten werde. Schon waren meiner Bewegungsfreiheit Grenzen gesetzt, ich konnte nicht mehr laufen wie zuvor, nicht mehr Treppen steigen, und von Woche zu Woche verringerte sich meine Bewegungsmöglichkeit. Bald konnte ich kaum noch fünfzig Meter gehen und nur einen Treppenabsatz steigen, ohne daß die Schmerzen so heftig wurden, daß eine Ruhepause vor jeder weiteren Anstrengung nötig war. Die Zukunft sah düster aus; bald würden meine Glieder nicht mehr genügend mit Blut versorgt sein, und Amputation und Hilflosigkeit mochten folgen.
Es gab keinen Trost für die Zukunft. Ich konnte nicht ahnen, und auch die Ärzte konnten nicht voraussehen, daß ich ein komischer Kauz, ein Sonderfall war, über den in der Fachpresse (angenehm unpersönliche) Artikel erscheinen sollten, denn ganz am Rande der absoluten Katastrophe kam die Krankheit in bisher unbekannter Weise von selbst zum Stillstand. Die Ärzte hatten den pessimistischen Rat gegeben, ein Haus ohne Treppen zu suchen, so daß ich umhergefahren werden konnte, und außerdem sagten sie, daß nur ein völlig untätiges Leben ein Vermeiden jeder Aufregung und Anstrengung, selbst geistiger, das Schlimmste für kurze Zeit hinausschieben könnte.
Ich versuchte es natürlich, aber es konnte nicht anders sein: es war mir unmöglich. Man kann wirklich niemandem empfehlen, trübsinnig dazusitzen und auf den Verfall zu warten... und dann gab es doch diese kleinen, mit Mörsern bestückten Kanonenboote, im Englischen ›bomb ketches‹ genannt -. So lächerlich das klingen mag, aber ich muß zugeben, daß ich persönlich diesen Kanonenbooten sehr viel verdanke. In meiner Lektüre während der Rekonvaleszenz stieß ich immer wieder auf die Kanonenboote, diese absonderlichen hochspezialisierten Küstenschiffe, die erfunden worden waren, um Landziele von See aus mit Bomben zu bewerfen, und zwar - auf Grund der großen Erhöhung ihrer Mörser - ganz besonders Ziele, die hinter Hügeln oder Befestigungen im toten Winkel des Geländes lagen.
Während der Napoleonischen Kriege wurden sie bei amphibischen Unternehmungen häufig verwendet, und in Friedenszeiten waren sie für die Erforschung der arktischen Gebiete gut zu gebrauchen wegen ihrer stabilen Bauart, die ihnen ermöglichte, dem Anprall des Eises standzuhalten. Nelson hatte selbst einmal eine Fahrt in die Arktis auf einem dieser Schiffe gemacht. Es wäre doch interessant, irgendeine erdachte Schlacht auszuarbeiten, bei der Kanonenboote eine wichtige Rolle spielten. Das würde natürlich den Einsatz eines ganzen Geschwaders erfordern, denn die Bombenschiffe brauchten unbedingt Schutz gegen den Angriff stärkerer Kriegsschiffe.
Wiederholt waren sie gegen Bonapartes Invasionsflotte in den Häfen am Kanal eingesetzt worden, aber der Erfolg war selbst unter Nelsons Kommando nicht groß gewesen. Sie waren eine Überraschungs- und Gelegenheitswaffe, und auch Bonapartes Admiräle kannten die Anwendungsmöglichkeiten der Mörser und konnten grundsätzliche Vorsichtsmaßnahmen dagegen treffen. Überraschung und Gelegenheit! Etwas geschah mit mir, etwas, von dem ich dachte, daß es nun nie wieder geschehen würde - und etwas, das den Ärzten zufolge nicht geschehen durfte: Wieder überkam mich diese Aufregung des Erfindens, dieses wunderbare Gefühl des Wiedererkennens, wie unter einer Zauberkraft. Eine riesige Welle der Erleichterung überflutete mich, daß diese Symptome wieder auftraten, daß etwas Normales geschah in dieser schrecklich anomalen Welt. Diese gesegneten Worte: Überraschung und Gelegenheit, durften in mein Unterbewußtsein hinabsinken, um dort unten etwas in Gang zu bringen. Und sollte die Amputation dadurch wirklich näher rücken, so war ich in der Stimmung zu sagen: es war mir's wert. Kanonenboote; beim zweiten britischen Angriff auf Kopenhagen im Jahre 1807 waren sie eingesetzt worden.
Wellington hatte sie als Divisions-General dabei im Gefecht gesehen. Aber damals hatte es sich um eine offizielle Schlacht mit gehöriger Vorwarnung gehandelt - da gab es nicht viele Gelegenheiten und keine Möglichkeit einer Überraschung. Und Wellington hatte einen Schwager, obgleich er noch weitere fünfzig Jahre lebte, ohne auch nur zu ahnen, daß er überhaupt eine Schwester hatte. Nun waren die düsteren Vormittage auf einmal nicht mehr düster; sie bekamen neues Leben durch die hinreißenden Entdeckungen dessen, was da über Nacht ohne mein Zutun geschehen war. Immer Neues fand sich eilends dazu, besonders seit Hornblower wieder in die Debatte eingetreten war - wenn auch bisher ohne formelle Anerkennung.
Er war nicht mit berücksichtigt, aber es gab mir jedes Mal einen Stich schmerzlichen Bedauerns, wenn ich mich seiner erinnerte, denn ich war mir bewußt, ihn an der Schwelle eines interessanten Abschnitts seiner Karriere abgetan zu haben, als er nämlich endlich mit seiner Barbara verheiratet war, die er verehrte und so weit liebte, wie es seine begrenzte Möglichkeit je zulassen würde. Hornblower beim Versuch, ein Landedelmann zu werden - das gäbe ein reizvolles Bild. Wenn man andererseits seinen öffentlichen und privaten Triumph bedachte, so mußte er doch wieder mit einer wichtigen Aufgabe betraut werden, denn die Napoleonischen Kriege waren keineswegs zu Ende. Die Admiralität mochte es allerdings schwierig finden, die richtige Lücke zu entdecken, in die ein so verquerer Kauz wie Hornblower eingefügt werden konnte. Er war die Kapitänsliste erst halb hinaufgeklettert. Hornblower als Kommandant eines Linienschiffes, eines unter etwa zwanzig anderen, die die endlose Eintönigkeit des Blockadedienstes zu ertragen hatten - das konnte eine interessante psychologische Studie abgeben. Da aber Hornblower, was mich anging, erledigt war, so lag weiter keine Befriedigung - eher das Gegenteil - in diesem Ausspinnen seiner späteren Laufbahn. Es war weit besser, zu unseren Kanonenbooten zurückzukehren. Natürlich kam hier die Ostsee ins Spiel. In diesen Gewässern mußten die nächsten wichtigen Entwicklungen des weltweiten Krieges stattfinden. Hier konnten Kanonenboote eingesetzt werden: seichtes Gewässer und wichtiger Küstenhandel, dazu wiederholte plötzliche Veränderungen in der Politik der Länder konnten die nötigen Überraschungen und Gelegenheiten bieten.
Es war eine brennende Frage, ob Bonaparte tatsächlich mit Alexander von Rußland Krieg anzufangen wagte. Die britische Diplomatie hatte schwer gearbeitet, um Alexander in seiner gegnerischen Haltung zum französischen Kaiserreich zu bestärken; und wo die britische Diplomatie am Werke war, blieb die Royal Navy nicht weit zurück.
Natürlich! Natürlich! (Die wirklich lohnenden Augenblicke der Planung werden immer von einem ›natürlich‹ statt von einem ›vielleicht‹ eingeleitet.) Bonaparte versuchte, Meile für Meile an der Küste entlang sein kontinentales System zu befestigen, und während er seinen Überraschungsangriff auf Rußland plante und dann schließlich seinen linken Flügel auf St. Petersburg zu vorschob, hatte er eine sehr lange, sehr verwundbare Verbindungslinie entlang der südlichen Küste der Ostsee. Das war ein ideales Gebiet für den Einsatz von Kanonenbooten. Ich wußte, daß ein britisches Geschwader tatsächlich seinen Weg in die Ostsee hinein durchgesetzt hatte.
Ein einsatzbereiter und findiger Seeoffizier war dort vonnöten, der keine Verantwortung scheute und auch für ein diplomatisches Problem Verständnis hatte, der dem launenhaften und unberechenbaren Alexander das Rückgrat steifen konnte, der imstande war, auch durch das Wirrsal neutraler Gesetze seinen Weg zu finden. Und er mußte Kanonenboote zum sofortigen Einsatz unter seinem Kommando haben. Und natürlich war Hornblower dieser Offizier.
Er war gerade alt genug im Rang, so daß es ganz am Platze schien, wenn er nun zum Kommodore eines kleinen Verbandes ernannt wurde, der etwa aus einem Linienschiff, ein paar Korvetten und ein paar Kanonenbooten bestand. Er würde eine ungeheure Verantwortung zu tragen haben, aber so viel Sorgen das auch mit sich brächte, es könnte seine Stimmung nur heben.
Natürlich mußte es Hornblower sein. Die Teile fügten sich ineinander, als wären sie in sich selbst vernunftbegabt. Der Frühling und damit die Eröffnung der Schiffahrt in der Ostsee konnte gerade dann einsetzen, wenn Hornblower nach seinen letzten Abenteuern lange genug Urlaub gehabt hatte, um dahinter zukommen, wie man sich als Landedelmann und Barbaras Gatte fühlte. Die eigenartige Frage der Neutralität Schwedisch-Pommerns kam da mit ins Spiel - ebenso wie das Benehmen der französischen Truppen, die diese Provinz schließlich überrannten, ein klassisches Beispiel dafür lieferte, was geschieht, wenn unbezahlte und ausgehungerte Soldaten aus der Kontrolle gefühlloser Generäle ausbrechen. Und da war Schweden, das damals unter der Regierung eines von Napoleon eingesetzten Marschalls stand. Und natürlich (!) wurde die linke Spitze von Bonapartes Angriff auf Rußland, die auf St. Petersburg zielte, während er selbst auf Moskau zumarschierte, bei Riga aufgehalten. Nach einer verzweifelten, aber gescheiterten Belagerung zu Wasser und zu Land hatten die Franzosen sich zurückgezogen. Das Signal dazu hatte der Abfall des preußischen Kontingents gegeben, der den Zerfall von Bonapartes Kaiserreich voraussehen ließ. Wenn Hornblower unruhige Gewässer brauchte, um darin zu fischen, konnte er keine unruhigeren verlangen, als die Ostsee im Jahre 1812 sie bot. Da konnte er so viel Verantwortung haben, wie ein Mann sich nur wünschen konnte. Bei Riga konnte er seine kostbaren Mörser benutzen und, endlich einmal, konnte ihm Gerechtigkeit widerfahren, indem man ihm erlaubte, tatsächlich zur Stelle zu sein im Augenblick, als das Französische Kaiserreich den weitest vorgeschobenen Punkt seiner Eroberungen erreichte.
Und endlich (waren wir schon beim ›endlich‹ angekommen?) - wäre Hornblower nicht droben in der Ostsee sicher untergebracht, bestand die Gefahr (die ich mir lieber nicht vorstellen wollte), daß seine Bomben über Baltimore zerbarsten.
So war es zur Entscheidung gekommen, ohne daß ich überhaupt wußte, daß eine Entscheidung bevorstand. Nun blieb mir nur die Arbeit an der Vollendung des Entwurfs, die Durchführung der angenehm logischen Aufgabe, über einen Anfang und einen Schluß zu entscheiden und die Folge der Ereignisse in das Gerüst von Geschichte und Geographie einzuordnen. Es war zwar fünfzehn Jahre her, seit ich die scharfe Luft der Ostsee geatmet hatte, aber glücklicherweise ließ mich mein Gedächtnis nicht im Stich. Erst mußte ich nun erfinden, dann auswählen und meine Urteilskraft und meinen Geschmack anwenden. All das war so grundverschieden von dem elenden Versuch, das Leben eines Kohlkopfes in dumpfer Resignation zu leben, daß wirklich nur das abgegriffene Bild vom Unterschied zwischen Hölle und Himmel dazu dienen kann, die Veränderung gebührend zu kennzeichnen.
Aber zum mindesten eine wichtige Veränderung zeigte sich doch, und zwar in der Technik. Ich war erstaunt zu entdecken, einen wie großen Teil der Denkarbeit ich früher immer stehend getan hatte. Es war mir in alten Tagen zur zweiten Natur geworden, umherzugehen, wenn ich den Denkmechanismus anregen wollte, weil es galt, eine besondere Situation durchzukonstruieren; so zum Beispiel, wenn es notwendig war, die entsprechenden Mittel bereitzuhalten, durch die Hornblowers Gefühle zum Ausdruck kommen konnten, oder, noch verzweifelter, die Umstände auszudenken, unter denen er dem Oberst Caillard entkommen konnte. Gerade beim Gehen, ob ich nun zu ebendiesem Zweck überlegend herumwanderte oder auch nur zufällig unterwegs war, um dorthin zu kommen, wohin ich kommen mußte, erzeugten sich die Ideen von selbst, und nicht einmal nur die unbedeutenden, sondern zuweilen ganze Hauptstücke der Erfindung. Laufen war nun nicht mehr möglich; ich mußte etwas anderes finden, das meinen Geist zur Tätigkeit anregte. Schon in meiner Knabenzeit gewöhnte ich mir an, beim Gehen nachzudenken, und während eines schöpferischen Lebens von mehr als zwanzig Jahren hatte sich diese Gewohnheit festgesetzt. Durch Überlegung konnte ich ebensowenig ein neues System ausdenken, wie ich durch Überlegung einen neuen literarischen Plan erfinden konnte. Der Ersatz fand sich durch einen glücklichen Zufall. Ich beschäftigte mich mit kleinen mathematischen Problemen; es handelte sich um nichts besonders Schwieriges, fast nur um reine Arithmetik und eher um Übungen in der Logik als in Algebra, die ich mir selbst auszudenken pflegte und mir dann zu lösen vornahm.
Dazu war ein wenig Erfindungsgabe nötig und ein gutes Maß an Geduld, um unstreitig zu beweisen, daß in der Aufgabe, die ich da vor mir hatte, A nur sieben und X nur neun sein konnte. Und in den kleinen Pausen zwischen dem Überlegen der mathematischen Aufgabe konnte ich über meine Fabel nachdenken. Die Arithmetik trug den Aufbau in sich wie ein Schwamm das Wasser.
Dann war da noch das absurde, lächerliche Spiel, das ich zum Essen der Suppe erfand. Ich habe noch keiner Seele je davon erzählt, dies ist ein erstes und öffentliches Bekenntnis: die Mahlzeit beginnt, und es wird eine Schale Suppe vor mich gestellt. Dann muß ich die Menge der Suppe in der Schale und den Inhalt meines Löffels schätzen und ausrechnen, wie viele Löffel ich brauche, um die Suppe auszuessen - all dies geht natürlich vor sich während der höflichen Unterhaltung, die man so bei der Suppe führt. Dann muß ich die Löffel, einen nach dem anderen, zählen und dabei wenigstens nach außen den Eindruck eines vernünftigen, normalen Menschen aufrechterhalten. Dr. Johnson konnte während des Spaziergangs munter reden und dabei unentwegt das Aufstoßen seines Spazierstockes weiterzählen. Ich kann dasselbe mit den Löffeln voll Suppe tun, selbst während der steigenden Aufregung, wenn ich beim vierundzwanzigsten Löffel bin und feststelle, daß nur ungefähr drei noch übrigbleiben und meine ursprüngliche Schätzung die Summe von achtundzwanzig ergeben hatte.
Wieso das Hornblower helfen konnte, ein Mittel zu finden, seine Kanonenboote in Schußweite der französischen Belagerungsbatterien zu bringen, kann ich mir nicht vorstellen, aber zum Glück war das der Fall.
Der Entwurf war also nun vollständig und das Buch zur Niederschrift fertig, aber die ewige Frage, ob und wann ich damit anfangen solle, war diesmal besonders schwerwiegend.
Unter Androhung schrecklicher Strafen war ich gewarnt worden, mich niemals der Ermüdung auszusetzen, nichts zu tun, was eine Erhöhung des Blutdrucks herbeiführen könnte, und ich wußte doch nur zu gut, wie mühselig der Prozeß des Komponierens und der geistigen Vergegenwärtigung war. Ich sagte mir, daß ein vernünftiger Mann sich mit der Freude am Entwurf zufriedengab und nun zum Leben eines Kohlkopfes zurückkehren und die Geheimnisse von Hornblowers Kampf in der Ostsee mit sich ins Grab nehmen sollte.
Da lag der Hase im Pfeffer. Als ich es in diese Worte faßte, wurde mir sofort und restlos klar, daß ich das nicht übers Herz brächte. Die Sache mußte einfach geschrieben werden. Ich konnte mir die unangenehme Tatsache nicht verheimlichen, daß es mich, vielleicht selbstgefällig, zur Äußerung drängte. Bisher hatte ich die Reihenfolge von Planung, Komposition und Veröffentlichung noch nie analysiert. Es war mir noch nie in den Sinn gekommen, daß diese Reihenfolge durchaus nicht festgelegt und unabänderlich ist, sondern durch einen bloßen Willensakt vielleicht auch abgebrochen werden kann. Ich glaube, ich hatte mir gelegentlich sogar gesagt, daß eine Arbeit nicht als abgeschlossen betrachtet werden könne, ehe sie nicht in Druck und dem Publikum übergeben worden sei. Nun erkannte ich, daß ich nur eine Ausrede gebraucht hatte, daß ich in Wirklichkeit dringend danach verlangte, mein Werk zu veröffentlichen, es herauszubringen. Wie stark und wie echt auch meine Abneigung war, persönlich in Erscheinung zu treten, wie ungern ich auch fremde Leute traf - aber mich verlangte danach, es durch einen Stellvertreter zu tun. Meine flüchtigen persönlichen Auftritte in der literarischen Welt mache ich fast ebenso zögernd, wie ich mich am Trafalgar Square meiner Kleider entledigen würde - aber es bedeutete eine entschiedene und reine Freude für mich - ja, mehr noch, ein wirkliches Bedürfnis -, Hornblower in die Welt hinauszuschicken. Das zuzugeben, bezog einen neuen Gesichtspunkt ein, klar heraus gesagt: die Todesfurcht. Ich mußte die Möglichkeit bedenken, daß ich sterben könnte, bevor ich den ›Kommodore‹ beendet hätte. Ganz besonders vom Standpunkt des Kommodore aus war mir dieser Gedanke sehr zuwider. Es war nicht eigentlich so, daß ich traurig gewesen wäre, wenn der Welt ein Meisterwerk verlorenginge, als vielmehr, daß die Welt dem Meisterwerk verlorenginge. Es unfertig zu lassen war vielleicht noch schlimmer, als es überhaupt nicht zu schreiben. All die alten Diskussionen über Edwin Drood hatten mich immer tief beunruhigt. Hornblower hatte nun schon genug Aufmerksamkeit auf sich gezogen, so daß es durchaus im Bereich der Möglichkeit lag, daß ein unfertiger ›Kommodore‹ allerlei Mutmaßungen heraufbeschwören konnte, wie der Schluß wohl gedacht war. Und der Gedanke, daß ein anderer sich daran versuchen könnte, der Gedanke an das törichte Zeug, das dabei herauskommen mochte, versetzte mich in Panikstimmung. Es gab also dringende Gründe, mit der Niederschrift zu beginnen, und noch dringendere, sie zu Ende zu bringen. Aber während des Schreibens gab es wiederum bestimmte Gründe zur Mäßigung. Ich fühlte mich in genau der gleichen Lage, als wollte ich einen Wagen mit knappem Benzin unbedingt noch bis zu einer Tankstelle fahren - zu schnell zu fahren, bedeutete einfach, den Erfolg selbst zu vereiteln, wie groß die Versuchung auch war. Es mußte eine gewisse Höchstgeschwindigkeit eingehalten werden, und glücklicherweise kannte ich diese Höchstgeschwindigkeit recht gut, denn ich hatte ja genug Erfahrung hinter mir. Das war es ja gerade, was ich beim Schreiben der etwa zwanzig früheren Bücher immer einzuhalten versucht hatte, als es aber noch nicht so verzweifelt wichtig war.
Mit einer Mischung von Bedauern und Befriedigung bedachte ich die Tatsache, daß keine schriftlichen Notizen vorhanden waren, die ein literarischer Vollstrecker durchsehen könnte. Nie im Leben hatte ich mir schriftliche Notizen gemacht; das war mir immer zu mühsam gewesen, und ich würde bestimmt nicht jetzt noch damit anfangen. Außerdem war ich überzeugt, daß schriftliche Notizen - ebenso wie Gespräche mit einem Verleger über den Mittagstisch hinüber - auch nur ungefähr das vermitteln konnten, was ich mir als Eindruck wünschte, und noch heute bin ich mir dessen genauso sicher. Nur nach dem Zeugnis des fertigen Buches kann ein Buch beurteilt werden.
Ich selbst war also zum Entschluß gekommen. Ich setzte mich an meinen Arbeitstisch, und Hornblower setzte ich in seine Sitzbadewanne, bereit, nun das Kommando über die kostbaren Kanonenboote zu übernehmen, die all dies ausgelöst hatten, und die Arbeit an der Komposition begann. Alles ging seinen gewohnten Gang, kaum anders als bei den vorigen Büchern.
Aber sowohl beim Schreiben wie im Aufbau war eine Änderung nötig. Ich wurde gewahr, daß ich die Gewohnheit hatte, ziemlich häufig vom Arbeitstisch aufzustehen, um im Zimmer auf und ab zu gehen. Früher war mir das gar nicht aufgefallen. Teils diente es dazu, meine steifen Gelenke zu lockern, teils, meinem Kopf eine kleine Debatte über dies und das zu erlauben. War es wohl besser, jemandes Gemütsverfassung vom Erzähler aus zu beschreiben, oder sie durch seine eigenen Reden deutlich werden zu lassen? Sollte der Text eines schriftlichen Befehls im Wortlaut oder nur als Zusammenfassung gegeben werden? Ich war erstaunt, wie oft ich die Runde durchs Zimmer gemacht hatte, um solche Fragen des Geschmacks zu klären. Nun aber war das Gehen hundertmal ermüdender als vordem. Nach zwei Stunden Arbeit war es für mich, als sei ich so viel gelaufen wie ein gesunder Mensch, wenn er fünfzig Meilen zurückgelegt hat.
So ging es nicht, und es waren nur ein oder zwei Versuchstage nötig, um mir das zu beweisen. Glücklicherweise - es war wirklich ein großes Glück - fand ich (fast ganz unbewußt) durch Leid und Irrtum eine Lösung: Als Ergebnis jahrelanger Gewohnheit stehe ich auch jetzt auf, frage mich dann aber, ob der Punkt schwerwiegend genug ist, um einen Gang zu rechtfertigen - und schon dadurch klärt sich die Schwierigkeit meist auf. Sonst stehe ich aufrecht und schaue lange genug ins Leere, daß die Sitzgelenke sich lockern können, bis das, was ich schon geschrieben habe, meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, so daß ich mich wieder hinsetze und die letzten Abschnitte noch einmal durchlese. Schon das bringt mich meist über die augenblickliche Hemmung hinweg, wie ein Pferd, das verweigerte, den Sprung beim zweitenmal machen wird, wenn man ihm einen Blick auf das Hindernis gewährt und dann genügend Anlauf gibt.
Das Buch war fertig. Während der Stunden der geistigen Verwirklichung hatte ich in einer Welt gelebt, in der Arterienverkalkung keine Rolle spielte. In den übrigen Stunden des Tages kam erst wieder die gewohnte Dumpfheit, die immer eintrat, wenn die eigenen Nöte nachließen, der dann aber das nicht zu unterdrückende Interesse an der Arbeit des nächsten Tages folgte. Drei Monate waren vergangen, und ich lebte noch - und was wichtiger war: die verflixte Krankheit war nicht schlimmer geworden. Ich aber hatte gelernt, daß es durchaus möglich war, auch als behinderter Mensch dem Rest des Lebens ruhig entgegenzusehen. Hornblower hatte mir unaussprechlichen Segen gebracht. In späteren Jahren konnte ich die Größe der Wohltat noch besser einschätzen, wenn ich das Buch wieder las, abgesehen von der unvermeidlichen Abneigung, mit der ich an frühere Arbeiten herangehe. Da liegt es vor mir, ein Buch voller Abenteuer, teils auch Spannung, eine Untersuchung über Tat und Verantwortung. Seine literarischen Verdienste stehen hier nicht zur Debatte (ich will nicht sagen: glücklicherweise), aber es ergibt sich der interessante Schluß, daß es kein unglückliches Buch ist.
Ich glaube wirklich nicht, daß jemand vermuten kann, daß es von einem Manne geschrieben wurde, der gerade durch eine Periode tiefer Verdüsterung schritt. Ich muß hier noch hinzufügen, daß ich zu jener Zeit auch allerlei anderen, heftigen persönlichen Verdruß erlebte, auf den ich nicht weiter eingehen will. Die Tatsache, daß keine Andeutung davon in den Seiten des Buches zu finden ist, ist der klarste Beweis dafür, in welchem Maße die Tätigkeit des Schreibens einem helfen kann, zum Gefühl völlig veränderter Umstände zu kommen, und, wie ich schon sagte, auch ein Beweis für den Dank, den ich diesem Buche schulde. Zur Zeit, als ich den ›Kommodore‹ beendete, war die Welt ein vergnüglicherer Ort für mich geworden, und gleichzeitig lichteten sich die Wolken über der ganzen Welt mit dem Sieg der Alliierten über Deutschland und Japan. Ich hatte entdeckt, daß es durchaus möglich war, ein volles Leben zu leben, ohne je mehr als fünfzig Meter auf einmal zu gehen - und diese Gelegenheit möchte ich benutzen, um ein für allemal zu sagen, daß ich zwanzig Jahre mit dieser Behinderung gelebt und dabei nie aufgehört habe, mich des Lebens zu freuen.
Ebenso wichtig war freilich, daß die Krankheit irgendwie zum Stehen gekommen war, obwohl ich schwer gearbeitet hatte. So fand der Optimismus wieder Eingang, und ich konnte zum Leben zurückkehren. Die erste Arbeit, die mir unter diesen neuen Verhältnissen übertragen wurde, kam - natürlich - im Auftrag der Alliierten Regierungen, und in gewisser Hinsicht waren die Darstellungen der Situation an sich höchst optimistisch. Mr. Churchill und Mr. Roosevelt waren überzeugt, daß die Hitler-Regierung und die Verteidigung Deutschlands am Zusammenbrechen waren. Jedem, der Zeitungen las, mußte es scheinen, als stünde dieser Zusammenbruch unmittelbar bevor; es war beruhigend, zu hören, daß die obersten Autoritäten ebenso dachten. Die gleichen höchsten Stellen nahmen jedoch an, daß nach dem Fall Deutschlands Japan sich noch lange verzweifelt verteidigen könnte. Ich verstand das nicht recht, denn in den Geographiestunden in der Schule war immer betont worden, daß Japan, wie England, als Inselmacht schnell zur Übergabe gezwungen werden konnte, sobald seine Seeherrschaft verlorenging. Aber die Regierung war jetzt anderer Meinung und brachte das auch zum Ausdruck. Freilich glaubte die Regierung selbst nur halb an diese Version, denn andererseits wußte sie um die Weiterentwicklung der Atombombe, ohne viel Vertrauen in ihre Wirksamkeit zu haben.
Was London und Washington fürchteten, war, daß die Öffentlichkeit sowohl in England wie in Amerika in ihrer großen Zuversicht auf den Fall Deutschlands vor der Aussicht eines langen und blutigen Kampfes im Stillen Ozean zurückschrecken und auf einem vorzeitigen unbefriedigenden Abschluß des Krieges bestehen könnte. Es war nun meine Aufgabe, die öffentliche Meinung auf diese nächste Entwicklung vorzubereiten und damit schon anzufangen, während die alliierten Truppen am Rhein entlang verteilt waren, um Kraft zu sammeln für den letzten Schlag. Ich wurde deshalb in Washington untergebracht, hatte freien Zutritt zu allen Abteilungen des Marine-Departements, und man enthüllte mir alle Geheimnisse über die Schwierigkeiten, die es bereiten würde, über die weiten Entfernungen des Stillen Ozeans hin einen massiven Angriff auf Japan zu starten. Von allen Seiten hörte ich das magische Wort ›logistics‹ , zu deutsch: Bewegungs-, Unterbringungs- und Verpflegungskunde. Betäubt und verwirrt las ich mich durch endlose Listen der Schiffs- und sonstigen Spezial-Ausrüstungen hindurch, die für solch einen Fall erforderlich wären. Ich hörte ernste Debatten mit an, wie die Armee der Vereinigten Staaten wohl reagieren mochte, wenn sie gleich nach der Eroberung Deutschlands aufgerufen würde, die noch schwierigere Eroberung Japans anzupacken, ich ging hierhin und dorthin, um alles mit eigenen Augen zu sehen.
Erinnert sich heute noch irgend jemand an das System des Vorrangs bei der Luftfahrt? Als alle Flugzeuge überfüllt waren, konnte jeder, der im Besitz eines Ausweises über seinen höheren Vorrang war, auf einem Flugplatz warten, und wenn ein Flugzeug ankam mit dem Bestimmungsort, zu dem er beordert war, konnte er einen Unglücklichen mit niedrigerem Vorrang hinausschmeißen und fröhlich davonfliegen. Das arme Opfer blieb zurück und wartete - oft tagelang - auf eine Gelegenheit, in ein anderes Flugzeug hineinzukommen. In der Washingtoner Gesellschaft der Kriegszeit war dieser Vorrang der genaue und hochwichtige Maßstab für den Stand einer Person. Bei den unzähligen Parties wurden geschickte Fragen gestellt, um herauszubekommen, welchen Vorrang der andere hatte; und ich hatte Nr. 2, wie die viersternigen Generäle und Admirale, und wurde mit entsprechender Hochachtung behandelt. Das war bei weitem nicht so angenehm, als wieder zur See zu fahren und dabei zu entdecken - was mir schon vorher hätte klar sein sollen -, daß ich auch mit meiner Behinderung noch gut an Bord eines Kriegsschiffes leben konnte, wenn es nicht größer war als ein Zerstörer. Den Entfernungen auf einem Flugzeugträger war ich nicht gewachsen. Bei einer Gelegenheit (die ihre wichtigen Folgen hatte), als mein Schiff durch den Schweif eines Taifuns fuhr, erlebte ich das schlimmste Wetter, dem ich je auf See begegnet bin.
Unter diesen Bedingungen hatte Hornblower keine Chance, sich geltend zu machen; aber ich vermute, daß all diese kleinen und scheinbar unzusammenhängenden Erfahrungen sich in meinem Unterbewußtsein aufstapelten, selbst während ich mich mit den Artikeln über den Krieg im Stillen Ozean abmühte - sie waren denn auch danach: Versorgungskunde für den kleinen Mann. Indessen fiel Deutschland, und ich bereitete mich vor, die britischen Seestreitkräfte im Pazifik zu begleiten. Und dann war der Krieg zu Ende und Hornblower beanspruchte meine Aufmerksamkeit in nicht zu überhörender Weise.
Ich hatte schon immer mit dem Fall von Reichen zu tun gehabt. Hornblower konnte sich gerade zur Zeit von seinem Typhusanfall erholt haben, um zur Verfügung zu stehen, als das französische Reich zusammenbrach. Daraus ergaben sich politische Betrachtungen, Friedenskonferenzen, die Frage einer neuen Regierung für Frankreich - wie auch für Japan.
Mussolinis Macht war unter dem alliierten Angriff zerbrochen.
Hornblower hatte in den letzten Tagen des Kaiserreiches den interessanten Abfall Bordeaux vom imperialistischen Regime miterlebt. Ich hatte mich oft gefragt - und meine Lektüre hatte mir keine Antwort gegeben -, was denn wohl mit dem royalistischen Bürgermeister von Bordeaux, Lynch, geschehen war, als Bonaparte während der Hundert Tage wieder zur Macht kam. In jenen wilden Tagen mußte wohl gar mancher entdecken, daß er auf das falsche Pferd gesetzt hatte.
Diese Überlegungen waren mir besonders wichtig, weil mir die Schicksalsprüfungen der irregeführten Verräter - wie Lord Haw-Haw und anderer - frisch im Gedächtnis waren, als die Nürnberger Prozesse stattfanden. Ich konnte mich nicht erinnern, irgendwo gelesen zu haben, daß nach dem Fall des Napoleonischen Reiches England irgendeine intensive Verfolgung der zahlreichen Deserteure und selbst Verräter unternommen hätte, die sich zitternd in Frankreich verborgen halten mußten und darauf warteten, verhaftet zu werden.
Nun, was geschah eigentlich zu jener Zeit mit solchen Leuten? Die Meuterer der Hermione waren eine Generation früher zu Tode gehetzt und erbarmungslos gehenkt worden. Und natürlich, was war denn wohl dem Comte de Gracey und seiner Schwiegertochter Marie zugestoßen, als Bonaparte sie während der Hundert Tage in seiner Macht hatte, falls er dahintergekommen war, daß sie Hornblower zur Flucht verholfen hatten? Und Hornblower? Der kleinste Zug von vorn oder Schubs von hinten genügte gewiß, ihn wieder in seine Liaison mit Marie zu stürzen. Unter solchen Umständen konnte auch er selbst während der Hundert Tage in eine recht schwierige Situation geraten. Und zuvor mußte er ein gut Teil zum Fall des Reiches beigetragen haben. Und jene Meuterer - was war mit ihnen geschehen?
Dies war das Problem, das sich mir nun stellte, und ich fand, es war eine interessante Kopfübung: Wie sollte man sich gegen eine Besatzung von Meuterern verhalten, die sich ihres Schiffes bemächtigt hatten und drohten, es dem Feind zu übergeben (was ein- oder zweimal tatsächlich vorgekommen war), wenn man ihnen nicht Straffreiheit zusicherte. Sie bekämpfen? Das war unmöglich, wenn die Meuterer die Gewässer, in denen sie kreuzten, sorgfältig auswählten. Es war erheiternd - aber nein, das war nicht ganz das passende Wort, anregend war besser -, einen Plan auszudenken, der Erfolg versprach.
Und dann war da dieser Sturm - ich sähe Hornblower gern wieder auf See und schlechtem Wetter ausgesetzt; und dann der Friedensschluß und der Wiener Kongreß zur Neuordnung Europas. Wellington nahm als Außerordentlicher Gesandter daran teil; sicher war doch auch seine Schwester, wenn nicht gar sein Schwager, mit beteiligt, besonders, da bekannt war, daß Wellington nicht allzu gut mit seiner Duchesse, seiner Herzogin, stand. Und Marie de Gracey, an die ich fast mein Herz verloren hatte? Erdhaft war sie und süß; so intuitiv wie klug, empfindsam wie großmütig; was - wenn überhaupt etwas - hatte die Zukunft wohl für sie bereit? Ein seltsamer Wirrwarr von Ideen und Gefühlen - aber die Geschichtsfakten boten genug festes Rüstzeug, um aus diesem zusammengewürfelten Material ein Gerüst aufzubauen. Diesmal standen beide Systeme des Aufbaus, die ich in Kapitel 2 beschrieben habe, zur Verfügung: die Taten waren vorgesehen, aber die Täter waren auch schon zur Hand, und glücklicherweise erwiesen sich die beiden Methoden als gegenseitige Stützen und widerstritten einander nicht. Alles ordnete sich ein, und es kam der Augenblick, da ich wieder entschwebte in eine Welt von Stürmen im Kanal, unbedeutenden, aber ermüdenden Reibereien zwischen Hornblower und Barbara und dunkel sich abhebender Tragik, von Augenblicken irdischer Liebe, ausgeglichen durch eine idyllische Dorfhochzeit - Hornblower stieg dabei auf die höchste Spitze beruflicher Anerkennung, während er gleichzeitig einen empfindlichen persönlichen Verlust erlitt. Der Krieg hat viele schreckliche Aspekte; Menschen werden im Krieg getötet, und die Überlebenden sind nicht mehr die, die sie waren - kurze Worte, aber mit Tragik beladen. Aber nun war auch ›Lord Hornblower‹ fertig, und ich konnte in meine eigene Welt zurückkehren. Vielleicht ist dies der Augenblick, in dem ich noch eine persönliche Bemerkung anbringen kann. Wenn ich je gefragt würde (und offensichtlich auch ohne gefragt zu sein), welches die beste Zehn-Minuten-Arbeit war, die ich je geleistet habe, welche Seite unter all den Tausenden, die ich geschrieben habe, mir am wenigsten mißfällt, möchte ich die letzte, abschließende Seite von ›Lord Hornblower‹ aussuchen - da ist eine Verflechtung von Handlungen und Gefühlen etwa so genau mit sparsamsten und treffendsten Worten ausgedrückt, wie ich meine, es je zustande bringen zu können.
Nun muß ich, wenn auch zögernd, zulassen, daß meine Gesundheit sich wieder in diesen Bericht über die Entstehung der Hornblower-Serie einmischt, das enfant terrible unterbricht wieder einmal die höfliche Unterhaltung der feineren Leute. Ein paar Jahre waren vergangen; andere Romane hatten meine Aufmerksamkeit verlangt und - selbstverständlich - kam zwischendurch auch das Leben zu seinem Recht. Dann plötzlich aber hörte das Leben fast auf. Der Herzanfall traf mich um zwei Uhr morgens; ein Infarkt ernster Art und außerordentlich schmerzhaft. Zum Glück wurden meine Hilfeschreie gehört, und Dr. Fox sprang in guter alter Ärzte-Tradition sogleich aus dem Bett und fuhr durch neblige Straßen, um mir zu Hilfe zu eilen.
Nach den ersten paar Sekunden wußte ich, was mir geschehen war; drei Monate zuvor war einer meiner nächsten Freunde innerhalb einer Stunde nach einem solchen Herzkrampf gestorben. Es blieb mir Zeit, die Lage zu überblicken; mit tiefer Befriedigung stellte ich fest, daß ich mein Testament gemacht und meine Angelegenheiten leidlich geordnet hatte. Natürlich fühlte ich auch Bedauern und sehr bittere Reue - Bedauern, dieses angenehme Leben zu lassen, verschärft durch die Erkenntnis alles dessen, was ich zu tun versäumt hatte, und noch weiter gesteigert durch den Gedanken an all die halbgeformten Ideen, die zur vollen Entwicklung zu bringen ich nun keine Gelegenheit mehr hatte. Dr. Fox stand neben meinem Bett; es war kaum nötig, ihm zu sagen, was mit mir los sei. Die Schmerzen waren heftig; ich wälzte mich im Bett umher im Bestreben, eine weniger unbequeme Lage zu finden - da erkannte ich plötzlich mit einmaliger Klarheit, daß ich mich im Todeskampf wand. Ich hatte so etwas früher schon gesehen, sowohl bei Menschen wie bei Tieren, aber ich hatte mich noch nie selbst im Todeskampf gekrümmt, und es war mir nicht beigekommen, daß das je geschehen könnte. Diese Erkenntnis brachte mich dazu, still zu liegen - soweit ich das vermochte.
Die Nadel stach ein und der Kolben wurde zurückgeschoben. ›Wollen Sie denn überhaupt nicht reagieren?‹ fragte Dr. Fox, als er vom Telefon zurückkam, wo er einen Krankenwagen bestellt hatte. Dann trat die Reaktion ein, die gesegnete Erleichterung durch das Morphium, das Nachlassen des Schmerzes und das Aufhören der Angst. Rosa Wolken wirklichen, wenn auch unerklärlichen Glücks begannen um mein Bett zu wogen. Und aus den Wolken kamen drei Worte. Ich bin ganz sicher, daß nicht Dr. Fox sie gesprochen hat - dazu waren sie viel zu unmedizinisch - noch sonst irgend jemand neben meinem Bett. Aber die drei Worte formten sich in mir so klar, als hätte ich sie gehört: gleich auf gleich. Das war es: gleich auf gleich. In der glücklichen Unlogik unter der Einwirkung des Morphiums entlockten mir diese Worte sogar ein Lächeln.
Die Krankenträger mit ihrer Bahre kamen herein, und ich wurde in die Nacht hinausgetragen. Die rosa Wolken rollten mit mir und die drei Worte folgten mir nach, den ganzen Weg bis ins Krankenhaus. Wochen erzwungener Hilflosigkeit folgten (ich glaube, heutzutage behandelt man solchen Krampf der Aorta weniger zeremoniell); immer länger mußte ich in einem Sauerstoffzelt zu atmen versuchen, verwirrt strengste ich mich an, logisch zu denken und mich mit Dingen dieser Welt zu befassen, während der Denkapparat durch beruhigende Drogen gelähmt war. Langsam kam die Klarheit zurück und mit ihr natürlich die Langeweile. Während der letzten Woche in der Klinik hatte ich übergenug Gelegenheit zum Nachdenken und sonst so gut wie nichts zu tun. Die netten Schwestern waren so leicht zu necken, daß ich des Spiels bald überdrüssig wurde - es glich zu sehr dem Schießen auf sitzende Vögel -, und nachdem ich mir einmal im Kopf ausgerechnet hatte, daß ich für dieses Klinikzimmer ein Luxusappartement auf der Queen Mary (oder den Flügel eines orientalischen Palastes, komplett mit Tänzerinnen) hätte haben können und noch immer Geld übriggeblieben wäre, zog es mich mehr zu anderen Themen.
Noch immer war ich zu schwach, längere Zeit ein Buch zu halten; es mußte also beim Denken bleiben.
Die wunderliche Sache mit dem ›gleich auf gleich‹ kam mir wieder ins Gedächtnis. Vielleicht hatte ich unbewußt meine eigene Chance zu überleben abgeschätzt. Möglicherweise handelte es sich auch um den Durchbruch des Keimes zu einer neuen Geschichte, tief aus dem Inneren hervor, der noch zu jung war, um ihn recht zu erkennen - vielleicht war es unter der Anregung des Morphiums ein plötzliches Auftauchen eines wasserträchtigen Holzes mit einer noch unreifen Muschel daran.
Jedenfalls war dieser Begriff, diese Wendung, nun da und begann zu sprießen, nach oben und nach unten, wie ein Same seine Schößlinge aussendet - daran war nichts zu ändern.
Es war ein Ausdruck, der vielleicht auf ein Duell anwendbar war. Nein, das stimmte nicht. Alle Regeln und die Etikette des Duells waren darauf gerichtet, ein ›gleich auf gleich‹ auszuschließen, sicherzustellen, daß der Geschicktere nicht infolge zufälliger Umstände zu Schaden komme. Das Vergleichen der Säbel, das Wählen ebenen Grundes, alles dies sah bestechend so aus, als wolle man versuchen, gerecht zu sein, tatsächlich bedeutete es aber, daß der bessere Schütze oder der bessere Fechter auch die bessere Aussicht hatte - und das bei einem Ehrenhandel, der doch wahrhaftig nichts mit Treffsicherheit oder Fechtkunst zu tun hatte. Ein ungeübter Duellant, der sich mit Recht beleidigt fühlte, konnte sich durchaus beklagen, daß er auf diese Weise benachteiligt war, und mochte sogar versuchen zu erreichen, seine Sache wieder ›gleich auf gleich‹ zu bringen. So wuchs in mir das Bild eines Mannes, der so verärgert oder so unglücklich war, daß er bereit war, sein Leben zu riskieren, wenn er dabei - ›gleich auf gleich‹ - Aussicht hätte, seinen Nöten ein Ende zu machen. Und es mußte wohl ein junger Mann sein - seit der zivilisierten Ära (und des formell zugelassenen Mordes) hat sich erwiesen, daß junge Männer, die ungleich mehr zu verlieren haben als alte, diesen Verlust weit eher wirklich riskieren. Es mußte also ein junger Mann sein, der heftige Unbill erlitt, die er einem anderen, vermutlich auch jungen Manne zuschreiben konnte. Ein Schuljunge mochte so empfinden, nur war ein Duell unter Schuljungen recht ungewöhnlich.
Aber ein Fähnrich in den alten Tagen der Navy...
Fürchterliche Dinge gingen damals in der Fähnrichmesse vor sich, und Duelle kamen so häufig vor, daß man sie schon nicht mehr als ungewöhnlich empfand. Es konnte leicht jemandem einfallen, eine mathematische Berechnung aufzustellen, bei der die Aussicht zu überleben ›gleich auf gleich‹ gegen die Sicherheit stand, daß sonst kein Ende seines Elends abzusehen war. Eine mathematische Berechnung! Ha, wen kannte ich, und wem hatte ich einst genießerisch eine besondere mathematische Begabung verliehen? Die Antwort brauchte nicht einmal in Worte gefaßt zu werden. Alles, was ich über den älteren Hornblower wußte, schien zum Bild des jungen Hornblower, das sich in mir zu formen begann, ausgezeichnet zu passen. Und der spätere Hornblower hatte ja einen so mannigfaltigen, verzwickten Charakter, daß es Spaß machen mußte, sich auszudenken, wie er wohl dazu gekommen war.
All dies gehörte zu einer wichtigen Entwicklungsphase, das war klar. Schon jahrelang war Hornblower meinen Gedanken entrückt; ich hatte ihn auf die Spitze des Baumes hinaufgebracht und ihn dort - nicht allzu bequem - sitzen lassen in der festen Absicht, mich nie wieder nach ihm umzuschauen. Dutzende von anderen Plänen beschäftigten mich, ein Dutzend andere Eier lagen zum Ausbrüten im Nest, und ich hatte die größten Bedenken, so ein Kuckucksei einzulassen. Dann verließ ich die Klinik, und alle Projekte waren vergessen über der Wonne, wieder leben zu lernen.
Viel Freude und Glück hat mir dieser, mein seltsamer Beruf gebracht, obwohl ich dieses Bekenntnis etwas schamhaft ausspreche. Aber ich erlebte nun eine unvergeßliche glückliche Zeit droben in der klaren, herrlichen Luft der Hohen Sierra, von der man sagt, sie sei wie Champagner. Vielleicht sprudelten deshalb die Ideen nur so heraus. Dieser aufgeschlossene, grüblerische Jüngling, der da in meinen Gedanken Gestalt annahm, wurde mir immer lieber. Er neigte dazu, die Dinge überernst zu nehmen, und lernte doch auch das Lachen. Er hatte sehr gute Anlagen, und sein Hang zur Selbstanalyse machte ihn auf seine eigenen Schwächen aufmerksam, so daß er sich bemühte, sie zu überwinden oder wenigstens ihre Auswirkung zu verhindern. Auf diese Weise konnte er durch die harte Ausbildung, die ein junger Offizier in jener bewegten Zeit erfuhr, wirklich viel gewinnen. Eine rastlose Zeit konnte das bestimmt werden, mit all den Ideen, die in endloser Folge hervorsprudelten. Jenes Duell ›gleich auf gleich‹ konnte leicht in ein noch lebhafteres Unternehmungsfeld mit vielen Möglichkeiten des Einsatzes hinüberleiten. Im Jahre 1794 wurde der Handel im Golf von Biskaya empfindlich getroffen. Häufig wurden blutjunge Offiziere beordert, Prisen in heimatliche Häfen zu bringen - hier kam mir die Idee einer Reisladung, die durch ein Leck zum Aufquellen kommt. Hornblower nahm sich selbst so feierlich ernst, daß ihn das wohl dazu bringen konnte, sich selbst zu einer Strafe wegen Versagens zu verdammen. Zu Anfang des Jahres 1795 fand dann die unheilvolle Expedition nach Quiberon statt.
1796 kam es - wie so oft in der Geschichte - zu einem Überwechseln der spanischen Regierung auf die andere Seite, und das führte natürlich zu einem Geplänkel mit den spanischen Galeeren, die Jahrhunderte lang die Entwicklung des Schiffbaus überlebt hatten - (das alles machte ich mir klar, während ich vorsichtig ein Boot über die blauen Wasser des Fallen-Leaf-Sees ruderte).
Es konnte unendlich viel geschehen, und doch nicht ganz endlos. Wie Cassandra sah ich das böse Geschick voraus, das Hornblower erwartete. Vor einem Dutzend Jahren schon war von diesem Schicksal die Rede gewesen. Er sollte von den Spaniern gefangengenommen werden, denn er mußte die spanische Sprache lernen, um im Jahre 1808 imstande zu sein, sich mit El Supremo zu unterhalten. Diese Gefangenschaft aber durfte seine Beförderung nicht aufhalten, mußte also lange vor dem natürlichen Ende beim Friedensschluß von Amiens im Jahre 1801 beendet sein. Die Gefangennahme auszudenken war eine Kleinigkeit - er konnte in einem kleinen Fahrzeug Depeschen befördern und vor der Schlacht von Kap St. Vincent 1797 ohne seine Schuld auf See in die Hände der spanischen Flotte fallen. Und gerade dieses Pech konnte benutzt werden, seine nun fällige Beförderung zum Leutnant herbeizuführen.
Dann aber mußte er irgendwie wieder freikommen. Flucht?
Seltsam, er war ja schon einmal aus der Gefangenschaft entflohen - es ist wahr, das geschah viele Jahre später, im Jahre 1810, aber wir konnten ihn das doch nicht 1798 noch einmal wiederholen lassen. Ein ganz bestimmter Anlaß mußte gefunden werden, der seine Freilassung wirklich gut begründete. Diesmal machte es so wenig Mühe wie kaum je zuvor, das notwendige Ineinandergreifen dazu auszudenken - schon das war ein zu starkes Wort -, es genügte, sich die Notwendigkeit klarzumachen, und die Lösung stellte sich von selbst ein. Fast lohnte es sich, wochenlang im Krankenhaus zu liegen, wenn der Kopf hinterher so gutwillig arbeitete.
Es blieb also, natürlich, nichts anderes übrig, als das alles zu schreiben. Das mußte diesmal ganz einfach sein, denn die Geschichte hatte sich in einzelnen Episoden dargeboten; ein vernünftiger Mann mußte also imstande sein, eine davon zu schreiben, und dann eine Erholungspause einlegen, ehe er an die nächste ging. Es war, in der Tat, sehr ratsam, es so zu machen - mit dem Herzinfarkt in jüngster Vergangenheit. Reiner Unsinn, natürlich. Da eine jede Geschichte von unten heraufblubberte, sobald das tote Gewicht der ihr vorangehenden von ihr genommen war, blieb mir nichts anderes übrig, als gleich wieder zu beginnen. Immer irrlichterte es in mir: diese Erzählung ist nicht so gut, wie ich es erhoffte, aber die nächste wird bestimmt ausgezeichnet. So floß eine Erzählung nach der anderen aus meiner Feder, eine jede begann hoffnungsvoll, und es ist nicht wahr, daß ich jede verzweifelt beendete - denn die nächste beanspruchte meine Aufmerksamkeit zu sehr, als daß ich der letzten noch einen Gedanken widmen konnte.
Teils war dies der Grund, größtenteils aber andere Umstände, daß die Niederschrift dieses Mal nicht ganz so mühsam war wie gewöhnlich. Ich hatte ehrliche Freude daran, meinen jungen Mann aufwachsen zu sehen, zu beobachten, wie er zunahm an Vernunft und Festigkeit. Sooft sich meine Phantasie voll Spannung mit ihm beschäftigte, sah ich den jungen Burschen vor mir, dem alles neu war, der sich aller Spannkraft der Jugend erfreute - und, so lächerlich es klingen mag, es war tatsächlich so, daß er etwas davon auf mich übertrug. Und schließlich gab mir das Erreichte auch Befriedigung; die Teile fügten sich zueinander. Hätte ich je vorher haltgemacht, um nachzudenken, mochte mir die Vorstellung vielleicht Bestürzung eingejagt haben, daß ich da einen Jüngling erfinden mußte, der in jemanden hineinzuwachsen hatte, dessen Mannesalter uns schon gut bekannt war. Aber in der freudigen Erregung des Augenblicks war ich dieser Schwierigkeit gar nicht gewahr geworden - der Gedanke war nur eine zusätzliche Würze für mein in Aussicht stehendes Gericht. Erst später konnte ich rückschauend brummig zugeben, daß es etwas war, was die Mühe des Versuchs gelohnt hatte.
Als der ›Fähnrich Hornblower‹ fertig war, gab es andere Arbeit zu leisten. Auf die jüngsten Ereignisse hin mußte das simple Dasein vielleicht noch mehr als bisher in den Vordergrund treten. Hornblower war nun eine allgemein bekannte Figur. Er hatte mir unzählige Freunde eingebracht. An allerlei Grenzen konnte ich mit meinem Gepäck ankommen und mich einem Zollbeamten zuwenden, sobald mein Name gefallen war, sagte der Beamte ›Doch nicht...?‹ und ich sagte ›Ja‹ , und mein Gepäck wurde sofort durchgeschleust.
Hornblower wurde so etwas wie ein ständiger Reisebegleiter, obgleich er den neuen Gedanken ganz fern stand, die mich für eine künftige Arbeit bewegten. Ständig liefen Briefe ein, die sich auf ihn bezogen, und ein überraschend großer Teil davon verlangte nach mehr Neuigkeiten über Hornblower. Leserbriefe sind häufig das, was ich Aber-Briefe nenne - ›Ihr Buch hat mir gut gefallen, aber - ‹ ; doch dies waren fast alles freundliche Briefe. Ich glaube nicht, daß sie irgendeinen unmittelbaren Einfluß auf mich ausübten. Nie, außer im Kriegsdienst, habe ich ein Wort geschrieben, das ich nicht schreiben wollte, und die einzige Person, die ich je durch meine Arbeit zu erfreuen versuchte, bin ich selbst. Aber es war schwer, sich Hornblower ganz aus dem Kopf zu schlagen, wenn der Postbote bei jeder Zustellung solche Briefe brachte. Und fast nie konnte ich mich mit Bekannten unterhalten, ohne daß schon bei den ersten Sätzen Hornblowers Name fiel. Freunde lernten mich besser kennen. Das ist eine praktische Erklärung dafür, daß alles wieder von vorn anfing - aber es spielte auch anderes mit. Es reizte mich immer wieder, Hornblowers Heirat mit Maria zu erklären. Jahre zuvor, in ›Der Kapitän‹ , war es ein leichtes, und ich glaube auch nicht inkonsequent, sie als etwas abzutun, das eben passiert; aber tatsächlich Wort für Wort zu beschreiben, wie es dazu kam, das lockte mich nun gerade wegen der Schwierigkeit. Technische Probleme haben ihren besonderen Reiz; sie sind unleugbar überaus verführerisch, und - hier kommt das Bekenntnis - ich wollte es selbst wissen, ich wollte selbst hinter die Einzelheiten kommen, selbst ausarbeiten, wie es dazu kam. Bilder eines anderen jungen Mannes schlichen sich bei mir ein, eines unglaublich mageren, hohlwangigen und ernsten Burschen, der während eines unfreundlichen Winters seine Tage damit verbrachte, Zahlungsaufschub zu schreiben, und seine Nächte als Berufsspieler am Bridgetisch saß; der gut aß, wenn die Stiche sich bei ihm sammelten, und bemerkenswert spärlich, wenn das nicht der Fall war. Ich konnte mich dieses jungen Mannes recht gut entsinnen; mir war, als sei er ein Freund meiner Jugendzeit gewesen, der vor Jahren gestorben war. Ich nehme an, er war auch wirklich tot, und das gegenwärtige Ich bewohnte den verwandelten Körper, den er zurückgelassen hatte. Es war wirklich interessant, wie diese Erinnerungen in mir umgingen. Ein weiteres Problem: Hornblower war aus seiner Fähnrichs-Raupe geschlüpft und zum Leutnants-Schmetterling geworden. Aber wie war es denn eigentlich möglich gewesen, daß er den nächsten Schritt zum Commander machte über die Köpfe von Hunderten hinweg, die rangälter waren als er? Wie war das zustande gekommen, ohne daß ein Hauch von Ruhm ihn umwehte? Und wie in aller Welt konnte es geschehen, daß Hornblower doch das recht zynische und unbefriedigte Individuum blieb, zu dem er sich entwickelte?
Die Zeit fliegt; 1803 war er ein Kapitän mit einigen Dienstjahren - in die Zwischenjahre mußte viel hineingepackt werden, und die Ereignisse mußten ganz besonderer Art sein.
Außerdem durfte ich den Frieden von Amiens nicht außer acht lassen - fast zwei Jahre Friedenszeit ohne jede Gelegenheit sich auszuzeichnen. Zwei Jahre wahrscheinlich auf Halbsold - und es war uns ja schon bekannt, daß Hornblower ein vortrefflicher Whist-Spieler war.
Und wieder geschah etwas - etwas, das ebenso schwer erklärbar ist, wie alle solche Sachen. Wie kam das Artillerie-Handbuch für die britische Miliz, Jahrgang 1860, in ein Antiquariat in San Francisco? Ein Exemplar jedenfalls tauchte dort auf, denn ich habe es gekauft. 1860 hatte die britische Miliz sich mit der Möglichkeit einer Invasion der Truppen Napoleons III. zu beschäftigen, aber ihre Artilleristen bemannten noch immer die gleichen Geschütze, die gegen Napoleon I. benutzt worden waren Die Hauptaufgabe der Miliz-Artillerie war die Verteidigung der Küste, und zwar Küstenverteidigung gegen Holzschiffe - die Zeit der Panzerschiffe begann eben erst zu dämmern Noch immer wurde bei der Miliz-Artillerie mit glühenden Kugeln geschossen, so wie bei der Verteidigung Gibraltars fast hundert Jahre früher. Die gute Hälfte des Handbuches war dem Drill zur Verwendung der rotglühenden Kugeln gewidmet. Es war eine Sache, die sehr genau einexerziert werden mußte, denn Klumpen glühenden Metalls wurden dabei inmitten von Pulverfässern herumgetragen. Für mehrere Abende gab dieses Artillerie-Handbuch eine sehr geeignete Bettlektüre ab, ich hatte noch nie zuvor die Möglichkeiten über die Handhabung der glühenden Kugeln studiert. Es kam da ein bemerkenswert fetter Brocken in Reichweite meiner Quallenfangarme.
Und noch etwas: Wenn ich je wieder etwas über Hornblower schreiben sollte - was sehr unwahrscheinlich war - und mich mit der Periode seines Lebens zu befassen hatte, die mit seiner Heirat endet, wäre es wünschenswert, ja nötig, von einem anderen Gesichtspunkt aus zu schreiben. Das verlangte mein Geschmack, mein künstlerisches Urteil, und zwar auf eine Weise, die sich eher befehlen als beschreiben läßt. Ich mußte irgend jemanden beim Spiel zeigen, der Hornblowers künftige Frau objektiver beobachtete, als man es von ihm selbst erwarten konnte. Überdies war es an der Zeit, auch Hornblower selbst einer objektiven Prüfung zu unterziehen. Wenn je, so war dies der rechte Augenblick dafür, denn noch war er ein junger Offizier, der seinem Vorgesetzten unterstellt war. Sobald mein Entschluß so weit gediehen war, wuchs natürlich der Wunsch in mir, dieses Buch zu schreiben, gerade weil es schwierige technische Probleme mit sich brachte, die mich besonders reizten. Der rechte Augenblick, es machte mir Freude, diesen Begriff in meine Gedankengänge einzulassen. Irgendwie tauchte zu dieser Zeit auch das Fragment einer anderen Romanidee wieder auf. Es handelte sich da um einen geisteskranken Kommandanten. Die jüngeren Offiziere eines Schiffes, und besonders eines Kriegsschiffes, befinden sich wirklich in einer furchtbar schwierigen Lage, wenn sie Grund haben zu glauben, ihr Kommandant sei nicht normal. Vor zwei Jahren, als ich über die Meuterer in ›Lord Hornblower‹ nachdachte, wurde mir dieses Problem sehr interessant. Nach den Kriegsartikeln war sogar jede Diskussion zwischen Männern über ihre Unzufriedenheit mit dem Dienst irgendwie Meuterei, Verbrechen, und wurde schrecklich bestraft. Die Lektüre dieses Artikels hatte eine ganze Gedankenkette in mir wachgerufen, die mich noch immer nicht in Ruhe ließ und viel beschäftigte. Da hatten wir es also, glühende Kugeln und Hornblower an der Schwelle zur Ehe, Beförderung und berufsmäßiges Kartenspiel, ein geisteskranker Kommandant und damit völlig neues Problem. Ein Dutzend verschiedene Stoffe (und zweifellos waren es noch mehr, von denen ich einige verwarf und nun vergessen habe) drängten sich mit den Ellbogen nach vorn, um mit ins Bild zu kommen. Zum Glück war es wie immer nur nötig, geduldig zu sein. Die Einzelheiten sonderten sich ganz von allein und brachten sich von selbst in die rechte Ordnung, und als dann jeder Morgen verriet, daß es weitergegangen war - der Vollendung dieses Prozesses entgegen -, gratulierte ich mir mit täglichem unverdientem Genus. Nur ganz am Ende mußte ich persönlich eingreifen und ein bißchen ehrliche Arbeit leisten, indem ich meine Theorien durch das Studium meiner Quellen zu bestätigen suchte, denn ich hatte zwischen zwei konkurrierenden Ansprüchen meine eigene, willkürliche Entscheidung zu treffen.
Dann war es endlich soweit. Der Verlauf der Ereignisse war mir klar - und das schon seit einigen Wochen -, da machte ich eine Reihe Entdeckungen über mich selbst. Die eine war, daß die ehrliche Abneigung, mich in die ermüdende Arbeit zu stürzen, die sich wie gewöhnlich auch diesmal wieder einstellte, fast aufgewogen wurde durch mein Verlangen, meine Theorien in die Praxis umzusetzen, meine Ideen in Worten zu Papier zu bringen. Schlimmer noch, ich zitierte mich vor den strengen Richter, der ich selber war, und fand mich eines bis dato noch nicht da gewesenen Deliktes schuldig, ich kostete diese Freuden tatsächlich schon im Vorgenuß aus, und wie ein Kind vor seinem Teller mit Essen bewahrte ich mir das Beste bis zuletzt auf - als ob die endgültige Niederschrift in irgendeiner Ansicht angenehme Aspekte haben konnte, geschweige denn das Beste wäre. Glücklicherweise hatte ich schon lange aufgehört, mich über irgendwelche Inkonsequenz, die ich offenbarte, noch zu wundern. Der richterliche Spruch war natürlich, daß ich mich sogleich an meinen Schreibblock zu setzen hatte, und, glaubt mir, es brauchte nur einen oder zwei Tage wirklicher Arbeit, und all diese seltsamen Neigungen waren zerstreut. Dazu kam, daß sehr bald, tatsächlich schon, nachdem ein winziger Teil der Arbeit vollbracht war, der alte Kobold sich wieder meldete, die Furcht, ich könnte sterben, ehe das Buch fertig wäre, und die letzten Entwicklungen blieben für immer im dunkeln. Das trieb mich mehr als jede andere Überlegung dazu, auch dieses Buch mit verzweifelter Hast zu schreiben. Ich brannte darauf, Hornblower in seinen widerborstigen Stimmungen zu zeigen wie er es ablehnte sich an seinen Erfolgen zu freuen, es ablehnte, vor seinen Vorgesetzten zu kriechen, wenn solches Kriechen offensichtlich erwartet wurde und sich als höchst einträglich erweisen konnte, und vor allem, wie er seinem törichten Temperament erlaubte, ihn in eine törichte Ehe zu ziehen - und all dies unter den erstaunten Augen seines Freundes Bush.
Ich glaube, es war wohl unvermeidlich, daß sich nun alles wiederholte, dieses Mal nach einer sehr viel kürzeren Zwischenpause nach achtzehn Monaten ungefähr - eine Zeit, die ich sehr abwechslungsreich verbrachte, teils mit einem längeren Besuch Westindiens, teils auch mit einem kleinen Geschichtslehrbuch, das ich für Kinder schrieb. Hierbei nun schlichen sich die Ideen wieder ein. Irgend jemand hatte mir sehr lebendig die Methoden geschildert, die die Perlentaucher von Ceylon früher anwandten Und noch etwas vielleicht brachte es das vorgeschrittene Alter mit sich, daß sich meine eigenen Erinnerungen an vergangene Erlebnisse nun häufiger und mit frischer Klarheit wieder einstellten. Einst hatte ich ein Motorboot quer durch ganz England und wieder zurück geführt, von London nach Elangollen, wobei ich die Kanäle benutzte, oft ertappte ich mich nun dabei, wie ich mir einzelne Geschehnisse gerade dieser Reise zurückrief. Bei einer anderen Gelegenheit war es mir aufgegeben, an einem stürmischen Tag ein kleines Boot durch London zu steuern, vom Pool aufwärts durch wilden Flußverkehr - diese Fahrt endete mit einer Havarie bei Vauxhall Bridge, als mir schon Sicherheit winkte.
Es war interessant, daß trotz der Tatsache, daß die Hornblower-Romane sich immer um Hornblower drehen (wieder eine Feststellung des Offensichtlichen), doch weitgehend die alte Methode überwog, bei der ich zuerst ausdachte, was geschehen solle, um dann erst die richtige Person auszusuchen, die die Tat vollbringen mußte. Es war Zufall (ist das wohl die ganze Wahrheit? Ich fürchte, ich bin nicht ganz aufrichtig, wenn ich auch versuche es zu sein), daß Hornblower sich als die richtige Person erwies. Die geschichtlichen Ereignisse sind das Skelett, um das man seine Erzählung gut zu drapieren vermag. Hornblower mußte befördert und zum Fregattenkapitän ernannt worden sein, und zwar etwa im Frühjahr 1805. Im Oktober 1805 fand die Schlacht bei Trafalgar statt, und im nächsten Januar die Prozession zu Nelsons Begräbnis von Greenwich und Whitehall, die Themse hinauf.
Über diese besondere Schaustellung gab es viele Berichte, und zahlreiche zeitgenössische Drucke gaben sie im Bilde wieder.
Aus eigener Erfahrung wußte ich, wie die Themse sich an schlechten Tagen benehmen konnte - es muß eine schrecklich schwierige Aufgabe gewesen sein, die Staatsbarkassen zu handhaben. Es kam mir die boshafte Idee, daß vielleicht die Barkaß, die Nelsons Sarg trug, mitten in der Prozession hätte sinken können. Was war natürlicher, als daß Hornblower als ein sehr junger Kapitän die Aufgabe übertragen bekam, diese Prozession zu organisieren? Es war ein ehrenvoller, hochverantwortlicher Auftrag - dazu bar jeden Ruhmes -, gewiß war dies eine Aufgabe, die dem Kapitän auferlegt wurde, der es am wenigsten verstand ihr zu entgehen. Hornblower mußte auf ein sehr kleines Schiff kommandiert sein - klein genug, um im Fluß zu Deptford ausgerüstet zu werden, so daß er zur Stelle und einsatzbereit war. Für welche Mission ausgerüstet? Wie wäre es mit diesen Perlentauchern? Und gleich war die Entwicklung in vollem Schwung Über welche Route war er nach London gekommen? Auf einem Kanal natürlich - irgendwo hier oder da hatte ich von dem Eildienst gelesen, der auf den Kanälen unterhalten wurde während ihrer kurzen Blütezeit, bevor die Eisenbahnen aufkamen Bestimmt begleitete ihn Maria. Aber hier lag der Keim zur Tragödie. Fünfzehn Jahre zuvor, wie es in ›Der Kapitän‹ zu lesen ist, aber zwei Jahre später vom augenblicklichen Hornblower aus gesehen, starben seine beiden Kinder an Pocken. Hier kamen Küken ins Nest, ich kann diesen Vergleich nicht vermeiden, trotz der Frivolität dieses Bildes, wenn man ihn auf die schreckliche Wahrheit anwendet. Die Kinder mußten geboren werden, sie mußten Hornblower ein kurzes Glück bringen, und sie mußten sterben. Glücklicherweise waren die Daten verwendbar. Hornblower heiratete im April 1803, und jetzt hatten wir Januar 1806. Gerade Zeit für zwei Schwangerschaften. Aber was war aus jenen Perlentauchern geworden? In ›Der Kapitän‹ war Hornblower im Besitz eines Ehrensäbels, der ihm vom Vaterländischen Fonds dafür verliehen worden war, daß er an Bord der Castilla gegangen war, es war nun wirklich Zeit, daß er an Bord der Castilla ging und sich dieses Ehrenschwert erwarb - Perlentaucher hin, Perlentaucher her. Und die Zeit flog nur so dahin, im Sommer 1808 sollte er schon das Kommando auf der Lydia im Golf von Fonseca innehaben. Da gab es noch viel zu tun, besonders da etwa um diese Zeit meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt wurde, daß es auf dem Kontinent üblich war, die Zahl 7 mit einem Querstrich zu versehen. Darauf mußte irgendwie geachtet werden. Wie war es außerdem dazu gekommen, daß Hornblower von seinem gegenwärtigen Schiff - Name zur Zeit noch unbekannt - auf die Lydia kam, und zwar auf eine Art und Weise, daß sich damit ein bitterer Zug seines Wesens erklärte?
Es war ein wunderbares Leben, sich zurückzulehnen und diese Knoten sich selbst entwirren zu lassen. Ich war damals auf dieser Fahrt durch Westindien, flog von Insel zu Insel, mietete mir jedes Mal ein Auto und fuhr durch bezaubernde Wälder und kahle Hügel hinauf bis in die innersten versteckten Winkel.
Diese Inseln bestanden leidenschaftlich darauf, zu zeigen, daß sie sich an keine normale internationale Vereinbarung zu halten gedachten, ein internationaler Führerschein galt bei ihnen gar nichts - ich mußte durch eine Reihe Fahrprüfungen gehen und ein Dutzend verschiedene Führerscheine erwerben -, ich glaube tatsächlich, die verhalfen jenen Perlentauchern endlich zum Leben. Der Aufbau ist eben ein komisches Geschäft.Dann ging es wieder heim zum vertrauten Arbeitstisch und der vertrauten Ermattung. Meine Methode der inneren Verwirklichung während des Schreibens hat ihre Nachteile, traurige Ereignisse nehmen mich dadurch härter mit. Ich mußte zwei Kinder töten.
Sie starben auf der letzten Seite des Manuskriptes und ließen Maria mit gebrochenem Herzen und Hornblower trostlos niedergeschlagen zurück. Ich kann mich noch heute erinnern, wie ich dasaß, als die letzten Worte geschrieben waren, nicht gerade mit gebrochenem Herzen, aber wirklich niedergeschlagen, und es tat mir ungeheuer leid, daß ich Hornblower das antun mußte.
Nun schien der Roman-Zyklus geschlossen zu sein Da ich leichtsinnig mit ›Kommandant Hornblower‹ Ende 1805 begonnen hatte, war noch eine Lücke von zweieinhalb Jahren vorhanden, wahrend der Hornblower vom Commander weiterbefördert worden war, aber sonst hatte ich seine Karriere durch die ganze Zeit der Französischen Kriege beschrieben, von der Kriegserklärung 1793 an bis Waterloo im Jahre 1815. Insoweit konnte ich meine Arbeit als abgeschlossen betrachten, und ich dachte (welcher Irrtum!), daß ich meine Seele nun wieder mein eigen nennen durfte. Endlich konnte ich an die anderen Arbeiten herangehen, die mir längst auf den Nägeln brannten. Aber kommt etwas Erfreuliches, gesellt sich gleich ein Übel dazu, es begann eine Periode des Albdrucks, als ich die Zeugenaussagen in den Nürnberger Prozessen las - ein gelegentliches Blättern in den unerschöpflichen Banden glich einem ersten Schritt in Treibsand.
Seit langem drängte es mich, einen Roman über die Marine der Vereinigten Staaten im Einsatz zu schreiben. Nun da Hornblower nicht mehr im Wege stand, beanspruchte dieser Stoff meine ganze Aufmerksamkeit - so wie das bei mir immer der Fall ist. Hier galt es, nüchtern Geschichte zu schreiben, und - wie ich schon früher, aber vielleicht nicht mit genügend Nachdruck, erwähnte - das Leben wollte gelebt sein.
Zwischendurch segelte ich einmal eine Jacht im Kanarischen Meer und geriet dabei noch einmal in den Bann Westindiens. In Mexico kam es einmal dazu, daß ich ungeschickterweise meinen Wagen eine kleine Böschung hinuntersteuerte und darum einige Tage in der von Erdbeben zerstörten Stadt Cohma - die man allerdings auch vor dem Erdbeben kaum eine Stadt hatte nennen können - bleiben mußte. (Das hätten beschwerliche Tage werden können, aber natürlich erwiesen sie sich als ganz anders). Es gab dies zu tun und das zu tun und jenes zu bedenken. Es hätte doch nun jeder annehmen müssen, daß Hornblower mich nun in Ruhe ließ, da ich so viel vorhatte, Schönes und weniger Schönes, aber dem war nicht so.
Vielleicht kann ich die Schuld daran den Briefschreibern zuschieben, die ihm keine Ruhe gönnten. Mindestens zwei- bis dreimal jede Woche kamen Briefe, die um weitere Nachrichten von ihm baten. Sicher hat das mit dazu beigetragen, daß er mir nicht aus dem Sinn kam - ohne diese Briefe hätte ich ihn wohl vergessen. Ich fühlte mich sogar veranlaßt, eine Ballade zuschreiben, in der ich ihn schmähte - die wichtigste Zeile war ›Magst in der Hölle schmor'n, Horatio‹ -, die nicht nur veröffentlicht, sondern auch noch bezahlt wurde. Seit ich mit zwanzig Jahren entdeckt hatte, daß (wenigstens für mich) Prosa die geeignetere Mitteilungsform sei, hatte ich kaum je mehr einen Vers geschrieben.
Es braucht wohl kaum noch gesagt zu werden, daß die Ideen sich wieder einzuschleichen begannen. Daß ich mir über Hornblower und seine Barbara Gedanken machte, gab mir die erste Anregung. Ich kam zu dem Schluß, daß Hornblower nach der furchtbaren Tragödie Marie de Graceys und seinem eigenen schrecklichen Erlebnis mit großer Erleichterung zu seiner Barbara zurückgekehrt sein mußte, die ohne Zweifel genug Verständnis und Gute aufbrachte, ihm einen freundlichen Willkomm zu bereiten. Ich konnte mir das gut vorstellen, ich sah die beiden stolzen Menschen vor mir, beide mit einer Scheu davor, ihre Persönlichkeiten miteinander zu verschmelzen. Aber sie empfanden doch die Möglichkeit dazu, und weil sie sich gegenseitig achteten, würden sie diese Scheu wohl auch überwinden können. Aber ein volles Glück sollte Hornblower nie kennenlernen, er gehörte zu der Sorte von Querköpfen, die dem Glück noch mißtraut, wenn es schon winkt. Barbara war schon einmal verheiratet gewesen, es sah Hornblower ähnlich, darüber nachzubrüten und Vorstellungen lebendig werden zu lassen, die seine Eifersucht erweckten, bis er Körper und Geist, Vergangenheit und Gegenwart durcheinander warf, und wenn auch nur, um sich damit neues Mißvergnügen zusammenzubrauen. Zweifellos, das sah ganz nach Hornblower aus! Zum Glück war wohl Barbara einsichtig genug, das richtig zu erkennen, und taktvoll und klug genug, die Verstimmung auf einem Mindestmaß zu halten.
Für den Anfang war das noch ein recht magerer Schößling, aber natürlich kamen andere hinzu. Hornblower würde sich verzehren, wenn man ihn nicht wieder zum Dienst rief. Im Frühjahr 1805 wurde er zum Commander ernannt, wie gewöhnlich kam mir der wunderbare Zufall hier zu Hilfe, denn das machte ihn rangälter als alle die Kapitäne, die bei der Flut der Beförderungen nach Trafalgar diesen Rang erreicht hatten.
Wahrscheinlich konnte er 1820 oder 1821 Flaggoffizier werden und bei seiner Qualifikation konnte er selbst in der verminderten Navy jener lauen Jahre mit einiger Sicherheit auf eine Verwendung hoffen. Es war ein interessantes Zusammentreffen, daß Napoleon gerade 1821 starb. Der Zerfall des spanischen Weltreiches war zu jener Zeit noch im Gange, auch das traf in interessanter Weise zeitlich zusammen, wenn man bedenkt, daß es der Anfang diese Erschütterung war, die Hornblower 1808 ins Leben gerufen hatte - oder, nach anderer Rechnung, 1936.
Zu der Zeit, als Hornblower zum Konteradmiral ernannt wurde, fanden in Mexico, in Mittel- und Südamerika viele Kämpfe statt - während die Royal Navy den Kontinent umfaßt hielt und die Vereinigten Staaten die Monroedoktrin verkündeten. Es kam noch die Unterdrückung des Sklavenhandels dazu - die Royal Navy hatte die zwangsweise Durchführung übernommen, und die spanischen und portugiesischen Kolonien bildeten den Hauptmarkt für diesen Handel. Da konnte kein Zweifel sein, wenn Hornblower eingesetzt wurde, so mußte es in Westindien sein. Wie war er nun wohl? In was für eine Art Mann war er hineingewachsen? Wie sehr er auch allen Auszeichnungen mißtraute, die er sich nicht selbst zuerkannte, seine Pairswürde und seine Flagge hatten gewiß dazu beigetragen, ihn etwas milder zu stimmen. Aber wenn er vielleicht auch etwas sanfter geworden war, verlor er doch seine alte Rastlosigkeit nicht, seinen Tatendrang, die Schnelligkeit seines Denkens. Die raschen Veränderungen im Schiffbau entgingen ihm natürlich nicht, er war Zeuge der Entwicklung der Klipper, sah die Anfänge der Dampfschiffahrt, und als freidenkender Mann konnte er der konservativen Haltung der Navy gegenüber solchen Neuerungen nicht beistimmen. Diese Betrachtungen enthielten sehr viel Anziehendes für mich, drunten in meinem Unterbewußtsein bemühten sich die Ideen, zur Reife zu kommen.
In Jamaica besteht bis auf den heutigen Tag ein kleines, noch unzugängliches Gebiet, Cockpit Country, das eine fremde Kultur aufweist und dessen unüberschreitbare Grenze kaum eine halbe Autostunde von den glitzernden Palästen Montegos entfernt liegt. Ich hatte selbst wiederholt an regennassen Abhängen von gefährlichen Wegen aus hinuntergeschaut. Das Cockpit-Land begann mich zu verfolgen.
Irgendwo - ich habe selbst vergessen, wo es war - stieß ich auf eine kuriose geschichtliche Begebenheit. Nach Waterloo hatte sich eine große Anzahl Leute aus Napoleons Alter Garde zu einer Vereinigung zusammengeschlossen, sie hatten ein Gebiet in Texas in Besitz genommen und versuchten es zu einer Zeit zu kolonisieren, als Texas noch ein Teil Mexicos war und Mexico selbst noch um seine Unabhängigkeit kämpfte. Was war ihnen wohl aller Wahrscheinlichkeit nach geschehen? Da war Raum genug für Mutmaßungen - und ich durfte nicht vergessen, daß Napoleons Tod etwa in diese Zeit fiel. Und natürlich kamen allerlei Hitzkopfe aus den verschiedensten Motiven daher und wollten an diesem Kampf um die Unabhängigkeit teilnehmen.
Ich konnte mir ein paar solche Kerle gut vorstellen, und ich konnte mir auch vorstellen wie sich Hornblower, offiziell wie persönlich, ihnen gegenüber verhalten mochte. Aber über all diesen Ablenkungen durfte ich die ursprüngliche Frage nach dem Verhältnis zwischen Hornblower und Barbara nicht aus dem Auge verlieren. Nun tritt in dieser Geschichte eine Frau auf, eine richtige Frau von Fleisch und Blut, nicht eine bloße Romanfigur wie Barbara und Marie und Maria. Von Fleisch und Blut, aber eine wirkliche Heilige - eine wahrhaft gute Frau, so gut, daß ich auch ohne ihre Erlaubnis wage, diese Geschichte von ihr zu erzählen, und doch hoffen darf, daß sie mir vergibt.
Eine Heilige mit einer entschuldbaren Schwäche, und das ist, daß sie der Anziehungskraft von Blumen einfach nicht widerstehen kann. Zur Frühlingszeit werden die Straßen in den kalifornischen Städten schon durch Hunderte, Tausende von blühenden Bäumen geschmückt. Wie konnte auch irgend jemand der Versuchung widerstehen, ein paar Zweige abzuschneiden, um sie in Vasen zu stellen? Wie kann irgend jemand da widerstehen? Doch fast jeder tut es, soviel ich weiß, ausgenommen meine kleine heilige Freundin. Natürlich ist das gesetzwidrig, und so habe ich mir meine eigene Fassung der Geschichte vom Wunder der heiligen Elisabeth von Ungarn zurechtgemacht. Meine Freundin ist mit ihrer Rosenschere und ihrem kleinen Korb unterwegs und macht schnippschnapp, schnippschnapp. Ein Polizist kommt angefahren. ›Was ist in diesem Korb?‹ fragt er ›Nur Lebensmittel‹ , antwortet meine arme kleine Heilige ›Zeigen Sie her‹ , sagt der Polizist Und sie öffnet ihren Korb, und natürlich ist er voller Lebensmittel.
Seltsam, wie sehr diese Geschichte mich verfolgte. Dann begann es wieder, das alte vertraute Aufrühren der Gefühle, das Wiedererkennen, das Wissen, daß da irgend etwas Form annahm. Und das geschah auch wirklich - und zwar kam alles auf einmal. Schon einmal war mir das passiert, und es wird auch wohl wieder geschehen. Ich verstehe nicht, warum es so ist, daß, wenn ich beim Aufbau einer Geschichte bin, die sich in Episoden aufteilt, alle Szenen auf einmal Gestalt annehmen, jedenfalls soweit meine Fassungskraft es nur eben erlaubt. An einem Tag sind all die Episoden noch chaotisch, formlos, und dann eines schönen Tages, gar nicht so viel später, haben sie alle Form gewonnen und ordnen sich selbst ein - das gleiche hatte ich auch schon beim ›Fähnrich Hornblower‹ und auch bei anderen Büchern erlebt.
Es ist wiederholt vorgekommen, daß Psychologen mich gebeten haben, ihnen den geheimen Mechanismus dieser Vorgänge zu enthüllen. Sie sprechen da von schöpferischen Prozessen, aber das trifft die Sache nicht. Das Endergebnis ist Schöpfung, wenn man ein so anspruchsvolles Wort einmal gelten lassen will, aber der Vorgang selbst ist in weitem Maße, ja fast ausschließlich, unwillkürlich. Legt ein Huhn ein Ei, weil es möchte oder weil es muß? Möglicherweise kann der Schriftsteller das, was sich da in ihm abspielt, unterstützen oder beschleunigen, indem er sich aufnahmefähig halt, indem er der wandernden Idee Gastrecht bei sich gewährt. Aber selbst daran kann ich nicht recht glauben, eher, meine ich, trifft das Gegenteil zu. Ganz gewiß ist ein Gefahrenpunkt vorhanden an dem feinen Übergang vom Empfangen zum Versuch, den Prozeß zu forcieren. Wenn man den Ideen Gewalt antut, ist das Ergebnis fast immer - oder sagen wir unabänderlich - abgedroschen oder unnatürlich oder kleinlich. Meist sind die Besprechungen eines Filmstoffes in Hollywood ein Versuch, durch Beratschlagen und Überlegen Ideen in eine Form zu zwingen.
Bisher bin ich immer davor zurückgeschreckt, mich tiefer mit dieser Frage zu befassen. Wenn die Psychologen anfingen, mich anzubohren, habe ich immer daran gedacht, wie leicht es ist, eine Uhr zu zerlegen, und wie schwer, sie wieder zum Gehen zu bringen. Es mag sein, daß meine Ideen mir kommen, weil etwas tief in mir verwurzelt ist, das nicht ganz in Ordnung sein mag und das die Analyse heilen könnte. Wenn dem so ist, wüßte ich kein besseres Beispiel dafür, daß ein Heilmittel schlimmer sein kann als die Krankheit.
Es liegt mir nicht das geringste daran, von etwas geheilt zu werden, das meinem Leben von der Knabenzeit an bis heute Inhalt und Interesse gegeben hat, und ich nehme kaum an, daß ich je so alt werde, daß ich zu der Überzeugung kommen könnte, ich hätte in Zukunft so wenig zu verlieren, daß ich mich der Analyse ruhig unterziehen kann, die enthüllen möchte, was den Strom der Erfindung in mir bewirkt.
Nur wenige Seiten zurück hatte sich ›Hornblower in Westindien‹ in meinem Kopfe vorbereitet. Von da zur Niederschrift war es nur ein Schritt - wie gewöhnlich der entscheidende Schritt zur Abfahrt auf der Rodelbahn. Die Szenen überstürzten sich förmlich. Interessiert es irgend jemand, daß meiner Meinung nach die Geschichte von Hornblower und der heiligen Elisabeth von Ungarn (die ihre Entstehung meiner kleinen blumenschneidenden Freundin verdankt) die beste Erzählung ist, die ich je geschrieben habe? Mag sein, daß meine Meinung immerhin von akademischem Interesse ist. Hier darf ich wohl einmal abweichen und erwähnen, daß ein Hollywood-Regisseur mich anrief, als ich mitten in dieser Geschichte war.
Ich will seinen Namen nicht nennen, es genügt, wenn ich hinzufüge, daß er griechischer Abstammung war. Er sagte, es seien Pläne zu einem Film über den Untergang des deutschen Schlachtschiffes Bismarck im Gange - ob ich wohl helfen könnte? Das wäre von jedem Gesichtspunkt aus ein verlockendes Angebot gewesen, wenn ich nicht gerade einen guten Anfang mit dem Buch gemacht hätte, damit aber war ich gegen jede Versuchung gefeit. Ich glaube, es kann niemand in der Welt weniger einer Bulldogge gleichen als ich - aber es gibt eine Ausnahme, habe ich einmal meine Zähne in eine Arbeit verbissen, kann mich nichts dazu bewegen, sie wieder loszulassen. Aber das ist weiter kein Grund, stolz zu sein, ebenso wenig wie die Bulldogge auf etwas stolz sein sollte, was ihr angeboren ist. Ich hatte also taube Ohren für Hollywoods Bitten - dieser Vergleich kommt der Wahrheit wirklich sehr nahe, denn ich hörte ihren Argumenten kaum zu, so hingenommen war ich von meiner Arbeit, die gerade so gut angelaufen war. Ich konnte nur sagen, daß ich für die nächsten zwei Monate nicht zur Verfügung stehe. Nein, ich hatte keinen Vertrag mit jemand anderem abgeschlossen. Ja, die Sache interessiere mich schon, aber ich konnte das, was ich jetzt vorhatte, nicht einfach abbrechen. Wenn sie dringend der Hilfe bedurften (und in Hollywood scheint alles immer so dringend zu sein), sollten sie sich lieber nach jemand anderem umsehen, Goodbye. Als ich den Hörer wieder auflegte, fiel mir die griechische Abstammung des Produzenten ein, mit dem ich gesprochen hatte, und die Geschichte von Archimedes kam mir in den Sinn. Er war einer der Führer bei der Verteidigung von Syrakus gegen die Römer gewesen, und als die Stadt erstürmt wurde, gab Marcellus, der römische Kommandant, Befehl, daß er lebend gefangengenommen werden solle. Archimedes aber war gerade in ein geometrisches Problem vertieft und gab nur eine ärgerliche Antwort, als ein römischer Soldat ihn unterbrach und fragte, wer er sei, und so tötete ihn der Soldat. Ich hatte anscheinend ebenso gehandelt.
Natürlich war die Sache nicht halb so eilig, wie Hollywood selbst gemeint hatte, und zweieinhalb Monate später nahm ich zum erstenmal an einer Besprechung teil, die schließlich zur Verfilmung des Untergangs der Bismarck führte. Als ich eintrat, umarmte mich der Produzent wie ein Bär (er war einem Bären wirklich recht ähnlich) und sagte (zu meinem höchsten Erstaunen und Vergnügen) ›Ich freue mich, Sie zu sehen, Archimedes‹ . Seitdem besteht für mich nicht nur eine Verbindung zwischen der heiligen Elisabeth von Ungarn und meiner heiligmäßigen Freundin und Hornblower, wie er Cambronne durch das Karibische Meer verfolgt, sondern auch mit der Bismarck und mit Archimedes. Auf solche Art zusammengewürfelte Ideenverbindungen rufen manchmal einen neuen Plan ins Leben. Aber keine der Figuren ist bisher in dieser Verbindung aufgetreten - wenn nicht eben jetzt und hier.
Eine Lücke in Hornblowers Leben zwischen dem Wiederaufleben des Krieges 1803 und 1805, als er auf dem Themse-Severn-Kanal wieder auftauchte, war noch offengeblieben. Es war wirklich erstaunlich, wie viele Leser an mich schrieben und darauf hinwiesen - aber, wie schon zuvor gesagt, kann ich die Schuld an dem, was daraus geworden ist, nicht diesen freundlichen Leuten aufpacken. Auch mich selbst beunruhigte diese Lücke, obwohl mir, als ich ›Kommandant Hornblower‹ zu schreiben begann, der Gedanke daran gar nicht gekommen war. Nun war ich, nicht eigentlich unwillig, dabei, auszuarbeiten, was in dieser Zwischenzeit geschehen sein mußte. Ich hatte Hornblower an der Schwelle der Ehe verlassen, als er eben zum Commander ernannt worden und einsatzbereit war, im wieder aufgeflammten Krieg Dienst zu tun. Bei seinem nächsten Auftreten war er Fregattenkapitän und Vater eines Kindes; ein zweites wurde schon bald erwartet. Bestimmte Punkte lagen also fest, ohne daß ich etwas dazu erfinden mußte.
Er hatte sich ausgezeichnet - aber damit war ohnehin zu rechnen, erstens weil Hornblower eben Hornblower war, und nebenher wollte ich ja auch eine Geschichte über ihn schreiben.
Er mußte auch einmal auf Urlaub zu Hause gewesen sein um dieses zweiten Kindes willen, und das war in der alten Navy durchaus nicht so selbstverständlich. Die Erklärung lag auf der Hand: Er mußte in der Flotte Verwendung gefunden haben, die zur Blockade von Brest eingesetzt war. Die beschädigten Schiffe dieses Geschwaders waren häufig in Heimathäfen, um wieder ausgebessert zu werden. Das Schiff, das ihm als Commander unterstand, mußte ein kleines leichtes Fahrzeug sein - ein Schiff von der Art, wie sie zur Beobachtung von Brest aus größtmöglicher Nähe verwandt wurden. Das gab reichlich Gelegenheit, sich auszuzeichnen, und auch reichlich Aussicht, Schaden zu erleiden, der eine Rückkehr in den Hafen nötig machte, wenn auch Cornwallis als Befehlshaber mit solcher Erlaubnis zur Rückkehr sehr kargte. So war der Aufbau in einem Schwung vollendet. Einen Punkt allerdings durfte ich nicht aus den Augen verlieren: Hornblower hatte im späteren Leben bemerkenswertes Pech mit Prisengeldern; sosehr er sich auch bei Brest auszeichnen sollte, er durfte keine Prisen einbringen.
Die Schiffe, gegen die er kämpfte, mußten entweder vernichtet werden oder entkommen. Wenn nicht... etwas kam mir da in den Sinn, das mich zu meinen Geschichtsbüchern eilen ließ. Da war es: Die Sache mit der gekaperten spanischen Schatzflotte trug sich im Herbst 1804 zu, gerade als Hornblower daran hätte teilnehmen können. Die ganze Royal Navy - mit Ausnahme derjenigen, die selbst beteiligt waren - krümmte sich vor Lachen darüber. Diese Sache paßte mir wieder einmal ganz ausgezeichnet, um Hornblowers Papierkarriere damit zu schmücken. Wenn nötig, kann ich mit Geschichtsfakten recht gewissenlos umgehen - mag sein, daß ich von der Geschichte mit der Schatzflotte Gebrauch gemacht hätte, auch wenn sie in Wirklichkeit 1801 oder 1807 geschehen wäre - aber so wie die Dinge lagen, wurde ich nicht einmal in Versuchung geführt. Der tatsächliche Lauf der Ereignisse paßte ohne jede Vergewaltigung genau in ›Hornblower auf der Hotspur‹ hinein - eine Nachahmung der Kunst durch die Natur, die Oscar Wildes Herz entzückt hätte.
Im Anschluß an dieses Thema möchte ich nebenbei noch etwas erwähnen, das ich zu erzählen vergaß, als ich mit dem ›Kommodore‹ beschäftigt war: Mit jenem Buch brachte ich eine mir wertvolle Freundschaft in Gefahr, ja, fast zerbrach sie daran: Das kam so: Ein hervorragender Historiker und mein langjähriger Freund schrieb mir, nachdem er den ›Kommodore‹ gelesen hatte: ›Ich wußte davon, daß britische Streitkräfte bei der Belagerung von Riga mitgefochten haben, aber es ist mir nie gelungen, mehr darüber ausfindig zu machen.
Welches waren Ihre Quellen?‹ Ich konnte als Antwort nur stammeln, daß ich keine Quellen hatte, daß ich einfach beschlossen hatte, Riga könne nicht belagert worden sein, ohne daß britische Kräfte zu Hilfe kamen, und daß Hornblower (wie gewöhnlich) mir eben zur Hand gewesen sei. Wer den Brief, den ich zur Antwort bekam, nicht gelesen hat, wird mir kaum glauben, was für einen herben Verweis jener Historiker mir verpaßte. Er tut noch heute weh, obwohl ich weiß, daß er unverdient war. Die sonst so freudige Arbeit am Aufbau des neuen Buches hatte diesmal ihre traurigen Seiten. Es ging um die arme Maria; da war sie in ihren Flitterwochen, begann eben das eheliche Leben und hatte Kinder. Ich wußte, welches Schicksal ihr und ihren Kindern bevorstand. Jetzt konnte ich doch sicher ein wenig Freude in ihr sonst so freudloses Dasein bringen? Fast keine.
Es war Krieg. Hornblower diente in der Kanal-Flotte; und Hornblower war Hornblower. Angesichts dieser Verquickung der Verhältnisse konnte ich nur sehr wenig für sie tun. Aber vor der Enttäuschung konnte ich sie wenigstens bewahren und ihr so auf eine negative Art helfen; aber ich konnte keinesfalls zulassen, daß Sentimentalität meine Geschichte verdarb. Wir wußten ja schon, in was für eine Art Mann Hornblower hineinwachsen sollte; wir wußten schon, wie diese Ehe sich entwickeln mußte. Es schien, als läge über dieser ganzen Angelegenheit eine calvinistische Vorbestimmung. Das Menetekel war schon an die Wand geschrieben. Maria war ein Schmetterling, der zwischen den Mühlrädern von Tatsache und Erfindung zermalmt und zerquetscht wurde - und konnte irgend jemand wohl weniger schmetterlinghaft sein als sie?
Noch etwas anderes habe ich bisher nicht erwähnt. Es ist ein Aberglaube von mir, daß es keine ruhige Minute mehr gibt, wenn der Entwurf fertig ist und ich mich der Niederschrift zuwende. Wahrscheinlich ist es so, daß ich während der glücklichen Zeit des Erfindens gegen die kleinen Unglücksfälle des täglichen Lebens nicht so empfindlich bin; wenn ich aber schreibe, bin ich leicht überempfindlich dagegen. Es kommt mir immer so vor, als ob im Augenblick, wo ich ›Seite 1‹ schreibe und mit der ehrlichen Arbeit beginne, eine Sache nach der anderen passiert, so daß es überhaupt keine untätige Minute mehr gibt. Während ich an ›Hornblower auf der Hotspur‹ schrieb, wurde das Zusammentreffen der Ereignisse geradezu unheimlich. Ich hatte erst ein paar Seiten geschrieben, als quer über die Straße, keine fünfzig Meter vom Fenster meines abgelegenen Arbeitszimmers entfernt, in dem gewöhnlich Grabesstille herrschte, eine andere Art von Aufbauarbeit begann. Alle Preßluftbohrer und Preßlufthämmer, alle Betonmischer, alle Marterwerkzeuge Kaliforniens kamen, um hier zu arbeiten. Der unaufhörliche Lärm war entsetzlich. Unter anderen Umständen wäre ich ausgezogen - aber wie konnte ich das jetzt?
Wenn es hoch kam, hätte ich fünfzig Nachschlagewerke mitnehmen können, aber nur in der Gewißheit, daß ich das einundfünfzigste brauchen würde, wenn ich plötzlich wissen mußte, welchen Umfang ein Oxhoft Schweinefleisch hatte und was es wog, oder wie groß die Reichweite einer französischen Feldhaubitze war. Es blieb mir nichts übrig als zu versuchen, mich meinen Schauungen hinzugeben und inmitten all des Höllenlärms weiterzuarbeiten. Mitten in diese geräuschvolle Periode hinein kam die Nachricht, daß ein Freund ernstlich erkrankt sei. Er war so krank, so einsam und so sehr mein Freund, daß ich nicht umhin konnte, mich um Ärzte und Krankenhaus zu kümmern. Die Tinte, mit der ich die diesbezüglichen Briefe geschrieben hatte, war kaum getrocknet, als ich meine Sekretärin verlor und eine neue suchen mußte. Das Wahrste, was Abraham Lincoln je gesagt hat, war seine Warnung, die Sekretärin zu wechseln, während man an einem Roman schreibt. Dann, als hätte sie genau den richtigen Moment abgepaßt, überfiel mich die Emkommensteuerbehörde mit einer besonderen Nachprüfung, bei der Einzelheiten über die Quellen meines Einkommens verlangt wurden, um die ich mich nie gekümmert hatte und die die neue Sekretärin unmöglich wissen konnte.
Tag für Tag mußte ich, noch ganz benommen, vom Schreibtisch aufstehen, wo ich Hornblower im Kampf mit französischen Fregatten zurückließ, und Fragen über Dinge beantworten, von denen ich noch weniger verstand als von Harmonielehre und Kontrapunkt (wie ich es früher in diesem Buch bekannt habe). Die Vorsehung, die über Schlafwandlern und Betrunkenen wacht, kam mir zu Hilfe, und ich kann mich stolz damit brüsten, daß ich einer der wenigen bin, die aus einer Sonderprüfung der Einkommensteuer mit dem Ergebnis hervorgegangen sind, daß die Steuer mir Geld schuldete und nicht ich ihr. Wäre ich nicht gerade so in ›Hornblower auf der Hotspur‹ vertieft gewesen, ich hätte den abschließenden Brief der Einkommensteuerbehörde rahmen lassen und an der Wand eines Arbeitszimmers aufgehängt - aber ich bin bis heute noch nicht dazu gekommen. Dies alles begab sich während der Sommermonate, und es ist doch bekanntlich so, daß auch gerade im Sommer die Besucher aufkreuzen - und bleiben möchten.
Nie ist mein Haus so voll von Gästen gewesen wie zu der Zeit, als ich an ›Hornblower auf der Hotspur‹ schrieb, eine neue Sekretärin einarbeitete und mit der Einkommensteuer und Krankenhäusern zu tun hatte. Überall schliefen Freunde. Eine Zeitlang schlief eine reizende junge Frau auf einem gemieteten Bett, das in meinem Arbeitsraum aufgeschlagen war, und sie schlief lange, wie junge Frauen es lieben, so daß ich sie jeden Morgen aus dem Bett werfen mußte, bevor ich mich niederlassen konnte, um mit Hornblower zum Angriff auf die spanische Flotte loszusegeln. Es schien nicht möglich, es so einzurichten, daß wir einmal weniger als sechs beim Mittagessen und acht an der Abendtafel waren - alles recht vergnügte Leute, außer mir. Mir lagen Hornblower und Maria im Sinn - manchmal vielleicht auch die Einkommensteuer -, ich magerte bei den fünfzig Festmählern jener lebhaften Zeit zum Skelett ab.
Ich hatte einen gewichtigen Grund, das Buch trotz aller Hindernisse fertig zu schreiben. Nicht nur hatte ich, wie gewöhnlich, einen Ablieferungstermin versprochen und war, auch wie gewöhnlich, in höchster Spannung, ja Panik, da es dem Ende zuging, sondern es stand mir auch eine Reise um die Welt bevor. Überall waren die Zimmer bestellt, die Schiffsplätze waren gebucht - und im ersten Frühjahr sollten drunten auf einem kleinen Fleck in Südportugal die Narzissen mit ihren Reifröckchen blühen - zehntausend Meilen weit weg -, und es lag mir daran, genau zum richtigen Zeitpunkt dorthin zu kommen, wenn die kleine Reifrocknarzisse (eine der Großtanten der kultivierten Narzisse) dem unvoreingenommenen Auge auch als ein elendes kleines Ding erscheint, kaum sechs Zentimeter hoch und nicht wert, daß man ihretwegen die Straße überquert, geschweige denn um die Welt reist.
›Hornblower auf der Hotspur‹ mußte einfach fertig werden, es überraschte mich nicht im geringsten, daß die volle Entfaltung der Geschichte mehr Worte erforderte, als ich zu Beginn gerechnet hatte. Zehn Tage hatte ich mir in Reserve gesichert, und neun davon gingen mit Hornblowers Beförderung zum Kapitän drauf. So kam es, daß ich am gleichen Tage, als die Kopien des Buches zur Post gebracht wurden, um nach Osten zu den Verlegern zu reisen, meine Fahrt nach Westen begann, über Neuseeland den Reifrocknarzissen entgegen. Nicht einmal für die übliche Enttäuschung blieb mir Zeit, und kaum dafür, daß mir die Erkenntnis kam, daß ich für immer Schluß gemacht hatte mit Hornblower.
Sechzehn Monate waren vergangen, seit ich das letzte Wort für ›Hornblower auf der Hotspur‹ geschrieben hatte. Freilich hatte Hornblower mich inzwischen von Zeit zu Zeit beunruhigt.
Man hätte doch meinen sollen, da ich nun alle Lücken seines tatenreichen Lebens ausgefüllt hatte, fände sich gar keine Gelegenheit mehr, sich noch Neues über ihn auszudenken. Und doch finde ich solche Möglichkeiten. Hier ein Beispiel, das ich niederschreibe, um zu zeigen, wie ein Stoff sich mir bietet, so daß es nur noch des Aufschreibens bedarf. Ich bin selber neugierig, wie die nächsten Abschnitte aussehen werden, wenn ich damit fertig bin (ich kann es mir kaum vorstellen), aber wenn ich je dazu überginge, vorher Notizen zu machen, würden sie diese bis jetzt noch unbestimmte Form annehmen.
Die Geschichte heißt ›The Point and the Edge‹ (Spitze und Schneide). Die Zeit ist 1819, und Hornblower ist ein älterer Kapitän auf Halbsold. Wie immer verlangt seine Ruhelosigkeit nach Betätigung, und seit geraumer Zeit hat er Fechtunterricht genommen. Durch diese Übung ist er nun sicher geworden in seiner Überzeugung, daß die Spitze, geschickt angewandt, jedes Mal Sieger bleiben wird über die Schneide. Die verschiedenen Nahkämpfe, die er erlebt hat, steigen in seiner Erinnerung wieder auf. England steckt tief in der Baisse der Nachkriegszeit.
Die Leute hungern, weil sie keine Arbeit finden, und das Verbrechen wuchert trotz der grausamen Gesetze, die bestimmen, daß ein Mensch wegen eines Diebstahls von fünf Schilling aufgehängt werden kann. Hornblower ist eingeladen, in Portsmouth auf dem Flaggschiff eines Freundes - sagen wir des Lord Exmouth - zu Abend zu speisen. Lord Exmouth hat das Glück, auch in der verminderten Navy, die England noch unterhält, Verwendung gefunden zu haben. Hornblower fährt mit Barbara hinunter und steigt im George ab. Am späten Nachmittag überprüft Barbara ihn noch einmal, sieht zu, daß seine Zivilkleidung gut in Ordnung ist, daß er auch seine goldene Uhr mit Kette trägt und den Spazierstock aus Ebenholz mit dem Goldknopf nicht vergißt. Sie begleitet ihn an die Tür, um dann als pflichtgetreues Weib einen langweiligen Abend allein zu verbringen.
Exmouth und Hornblower haben natürlich einen sehr unterhaltsamen Abend, besprechen die Lage des Vaterlandes und Angelegenheiten der Navy; Exmouth reibt sich fröhlich die Hände und erzählt Hornblower von der umwälzend neuen Methode der Rekrutierung, die jetzt angewandt wird: Keine flammenden Anschläge mehr, keine Preßkommandos - hungernde Seeleute stehen Schlange und warten auf eine Gelegenheit, sich für die Royal Navy einzuschreiben. Die Kommandanten haben die Auswahl. Das Dinner ist vorbei, Hornblower macht sich in modischer Kleidung, mit Goldknopf am Spazierstock und allem Drum und Dran auf den Heimweg zum George. An einer dunklen Ecke springt ihn ein Mann an. Er ist barfuß, Hemd und Hose sind zerschlissen, er hat Hunger. Er hat einen vom Baum gebrochenen Knüppel in der Hand - sein ganzes Hab und Gut, sein einziges Kapital. Er bedroht Hornblower mit seinem Stock und verlangt sein Geld. Dieser Strolch riskiert tatsächlich sein Leben, riskiert, gehängt zu werden für eine Mahlzeit. Hornblowers Freigebigkeit kommt gar nicht dazu, sich geltend zu machen. Gegen Gewalt reagiert er heftig, und ohne zu denken fällt er gegen den Kerl aus und stößt mit seinem Stock kräftig zu. Die Spitze schlägt die Schneide - der Stich trifft den Räuber an der Wange, so daß er halb betäubt zurücktaumelt, für den Augenblick kampfunfähig gemacht. Hornblower schlägt ihm über das Handgelenk, so daß er den Knüppel fallen läßt und Hornblower auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert ist. Hornblower könnte nun nach der Wache rufen, den Mann gefangen nehmen und dem sicheren Tode zuführen lassen, aber natürlich bringt er das nicht über sich. Statt dessen treibt er ihn vor sich her, zurück zu Exmouth' Schiff. ›Mylord, wollen Sie mir bitte noch einen Gefallen tun?
Würden Sie wohl so freundlich sein und diesen Mann für Ihre Besatzung einschreiben?‹ Da haben Sie die Geschichte. Fünf Tage methodische Arbeit am Schreibtisch und sie wäre fertig zum Druck. Mit dem üblichen Schauer der Erregung hat sie sich in dieser Form dargeboten, ungesucht, und nur zu dieser Periode in Hornblowers Leben passend, zu keiner anderen - sie müßte nur noch geschrieben werden. In genau der gleichen Art nehmen auch lange Romane ihre Form an und richten sich nach der Zeit, in der sie spielen. So ist es in meinem Leben immer und immer wieder gewesen, vielleicht Hunderte von Malen, und noch immer weiß ich nicht, wie und warum das so vor sich geht. Die Anpassung an den benötigten Zeitabschnitt läßt sich aber vielleicht doch erklären, denn es geht ja nicht anders, als daß die Ideen in ihn hineingeschleust werden.
Es ist eine seltsame Sache, mit dieser Begabung geboren zu sein. Wie die Clowns in den Pausen der Zirkusschau verdiene ich mein Brot mit meinem Hinfallen, aber doch wohl mit weit größerer Bequemlichkeit, nehme ich an. Und - dieser Schluß ist nicht zu umgehen - ich habe meine Erfindungsgabe ausgeschlachtet wie Barnum und Bailey ihren General Tom Thumb ausgebeutet haben. Immerhin kann ich eine Entschuldigung dafür anführen - dieselbe Verteidigung, wie sie täglich in Kriminalprozessen vorgebracht wird: unwiderstehlichen Drang zur Tat. Habe ich eine Idee einmal in Form gebracht, dann ist es mir wirklich fast unmöglich, dem Trieb zu widerstehen, sie zu Papier zu bringen; und steht sie einmal auf dem Papier, ist es ebenso unmöglich, mir zu versagen, sie der Öffentlichkeit zu übergeben.
Das war, ehrlich gesagt, auch noch ein Grund, warum ich in den vorangehenden Abschnitten ›The Point and the Edge‹ schrieb. Dieser Idee sind noch andere unterlagert - Ideen kommen in Gruppen - das habe ich wohl schon erwähnt. Es könnte noch zu einem weiteren Buch kommen - aber was ich da eben geschrieben habe, mag das verhindern und bewirken, daß es nun ungeschrieben bleibt - mag sein. Ich möchte nun lieber einmal andere Bücher schreiben, Bücher, die für mich selbst mehr Abenteuer und mehr Schwierigkeit bedeuten würden.
Dieses Buch (hier kommt wieder eine komische Reaktion) wäre mir zu leicht.
So sind also vielleicht die Zeilen, die ich eben jetzt schreibe, die letzten, die ich je über Hornblower schreiben werde. Ich habe versucht, alle anderen Hornblower-Bücher zu erklären, also muß ich auch versuchen, dieses hier zu erklären. Es begann mit der Idee der Karten, einige Jahre lang habe ich diese Idee mit mir herumgetragen. Sie bedeutete eine recht große Versuchung für mich. Ich wollte nämlich ausfindig machen, ob die Hornblower-Romane einer eingehenden Prüfung sowohl der geographischen wie der historischen Tatsachen standhalten können. Um meine Neugierde zu befriedigen, war ich sogar bereit, die Unannehmlichkeit auf mich zu nehmen, die Romane wieder hervorzuholen und die alten Arbeiten Seite für Seite durchzugehen. Dabei mußte ich mir Schlachtpläne und den Kurs der Schiffe ausdenken. Von da war es dann nur noch ein Schritt, in der Erinnerung die Umstände wieder heraufzubeschwören, die mich veranlaßten, die Bücher zu schreiben. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, daß es meist glückliche Erinnerungen waren, und der Entschluß, sie aufzuschreiben, reifte, um dieses Glück noch einmal zu kosten. Nur ein einziges Mal wollte ich ein Buch schreiben, das keines Planes, keiner Konstruktion bedurfte.
Einmal wäre für die Niederschrift keine innere Schau nötig - es sollte sich hier nur um einen Bericht von Tatsachen handeln.
Das erwies sich als unwahr, auch während ich an diesem Buche schrieb, mußte ich mich auf die Bühne begeben und die phantastischen Possen des jungen Mannes beobachten, der ich damals war, genauso, wie ich einst Hornblower bei seinen Auftritten beobachtet hatte. Ich kann nicht sagen, daß das gut für mich war, aber gewiß war es auf eine merkwürdige Weise angenehm. Und für dieses Wohlbehagen muß ich meinen Freunden Dank sagen, nicht denen, die mich im täglichen Leben umgeben, sondern den zahlreichen unbekannten Freunden, die mir während der verflossenen sechsundzwanzig Jahre mit Hornblower geboren sind - seit ich von ihm zu erzählen begann.
Und ich schreibe das Wort ›Freunde‹ in aller Aufrichtigkeit, nicht nur als eine bequeme Formel, so wie ein Politiker auf dem Rednerpult es anwenden mag oder ein Schauspieler nach dem letzten Vorhang. Es ist ein bemerkenswertes, ein außerordentlich erfreuliches Gefühl, einmal mit tröstlicher Sicherheit zu wissen, daß meine Arbeit mir Freundschaft, selbst so etwas wie Zuneigung von Menschen eingebracht hat, denen ich nie begegnet bin und nie begegnen werde. Ich danke ihnen, und ihnen widme ich diese Worte Wir können die stehende Redensart entbehren Plaudite et valete.
Und so hat auch dieses Buch sein Ende gefunden, in fünf Minuten werde ich meinen Füllfederhalter wieder zuschrauben und mich vom Stuhl erheben, um mich auszurecken Wie immer bin ich gerade zur rechten Zeit fertig geworden, denn heute in einer Woche möchte ich schon mit dem Auto durchs Atlas-Gebirge fahren Und wenn eine Erklärung dafür nötig ist, warum ein älterer Herr mit nicht zu stabiler Gesundheit so etwas unternimmt, muß ich darauf hinweisen daß wir heute den zweiten März haben und die wilden Blumen in den Atlasbergen sehr bald blühen weiden Noch eine letzte Zeile möchte ich schreiben. Es hat mich immer ein wenig verwundert, warum andere Schriftsteller ihre Bücher in dieser Weise schließen - ich habe das bisher nie getan -, aber ich finde, daß ich einen luftigen Grund dafür habe, dieses Buch handelt vom Bücherschreiben, und das ist meine allerletzte Feststellung einer Tatsache.
Berkeley, Californien, 12. Januar – 2. März 1963 Goodbye
Nachschrift, 5. März 1964
Das Datum, das ich auf die vorige Seite schrieb, hat immerhin einen Zweck es sagt mir, daß ich vor einem Jahr und drei Tagen meinte, ich hätte dieses Buch beendet, es wäre nun wirklich fertig. Die Illustrationen haben während dieses Jahres einige Verzögerungen verursacht, so daß dieses Buch anstatt im Herbst 1961 herauszukommen (wie ich erwartet hatte), uns vielleicht noch die Überraschung bereitet, im Herbst 1964 zu erscheinen.
Diese Verspätung ermöglicht mir - oder zwingt mich -, diese Nachschrift noch hinzuzufügen, die wie die meisten Nachschriften eine radikale Veränderung des Standpunktes aufzeigt. Da der Drucker schon wartet, muß ich diese Zeilen schreiben, ehe ich meiner selbst ganz sicher bin, wollte ich aber warten, bis mir auf die eine oder andere Weise diese Sicherheit gekommen ist, so könnte das bedeuten, daß es mir nicht mehr glücken würde sie noch in dieses Buch hineinzuquetschen Ich habe nämlich das ungemütliche Gefühl, daß die ganze Geschichte von neuem beginnt, wieder ein Beweis dafür, wie diese Dinge zustande kommen. Hornblower ist wieder unterwegs Als ich ›Hornblower auf der Hotspur‹ beendete, hatte Hornblower Kapitänsrang erreicht, und das war zu Beginn des Jahres 1800; Dieses Datum hatte ich gewählt weil es mir so paßte. Ich wollte den Schwierigkeiten entgehen, ihn in die Schlacht von Trafalgar zu verwickeln. Im nächsten Buch - »Kommandant Hornblower‹- tritt er im Dezember 1803 plötzlich im Themse-Severn-Kanal auf, und der Verlauf der Zeit machte es angenehm unnötig, zu erklären, wie in aller Welt er dahin gekommen war und was er in der Zwischenzeit getan hatte. Ich wußte es nicht, und ich wollte es auch gar nicht wissen, wie ich schon eben sagte. Ich schrieb diese abschließenden Zeilen, die nun auf der vorigen Seite stehen, und fuhr ab in die Atlasberge (nebenbei: die wilden Blumen waren überaus lieblich) in dem glücklichen Bewußtsein, daß Hornblower nun fertig, abgetan, begraben sei. Nun haben sich während des vergangenen Jahres die Ideen wieder gerührt.
Gefälschte Befehle haben den Anfang gemacht. Die Möglichkeit gefälschter Befehle ging mir im Kopf herum - militärische Befehle oder Befehle der See- oder Luftstreitkräfte, auf dem richtigen Papier, in korrekter Form und mit einer überzeugend gut gefälschten Unterschrift. Ich vermutete, daß diese Grundidee sich wohl in gewohnter Weise entfalten und ausbreiten würde, daß sie zur Ahnmuschel einer Muschelfamilie werden könne.
Sie schien mir ein geeigneter Anfang für einen modernen Roman zu sein. In meiner Einfalt habe ich mir während der ersten glücklichen Wochen der Freiheit nicht einen Augenblick vorgestellt, daß sie die Entwicklung nehmen könnte, an die jeder, der dieses Buch bis hierher gelesen hat, wahrscheinlich sofort gedacht hat. Ich war von meinem Besuch in Marokko zurückgekehrt, und es war mein Wunsch und meine Absicht, mein Leben nun so harmlos wie möglich zu leben. So etwa im Herbst 1963 war es, daß die ersten bösen Ahnungen mich überfielen, als die Muscheln begannen, unheilvolle Gestalt anzunehmen, oder als ich (um ein anderes und ebenso abgegriffenes Bild zu benutzen) eine Schranktür öffnete und ein Skelett im Schrank fand - ich sah es deutlich, obwohl ich die Türe schleunigst wieder zuknallte. Es war ein einzigartiges Zusammentreffen, und ich stelle hiermit fest, daß es ein Zusammentreffen war, obwohl ich sicher bin, daß die Psychologen (und die Psychiater) mitleidig die Köpfe schütteln werden ob meines Selbstbetruges. Nur über etwa sieben oder acht Monate in Hornblowers Leben, über die zweite Hälfte des Jahres 1805, war noch nicht berichtet worden, und ich beschäftigte mich mit der Möglichkeit gefälschter Befehle. Da lag der Hase im Pfeffer: gefälschte Befehle konnten in der Schlacht von Trafalgar eine lebenswichtige Rolle spielen, besonders bei der Eröffnung der Schlacht - und hier war der unbeschäftigte Hornblower. Bestand nicht eine gewisse Notwendigkeit, zu erzählen, was Hornblower während dieser entscheidenden Monate, als Britanniens Schicksal sich zur See entschied, getan hatte? Hier war eine Aufgabe, die direkt auf ihn zugeschnitten schien, wenn ich auch einmal gedacht hatte, diese Sache könnte sich 1916 oder 1940 in Scapa Flow oder 1953 im Pentagon zutragen. Wenn man die Napoleonischen Kriege in Betracht zog, so paßte die Idee genau in das Jahr 1805 und in keine andere Zeit hinein; und zu keiner anderen Zeit war Hornblower verfügbar, um mit hineinverwickelt zu werden, und es gab niemand, der für diese Sache geeigneter sein könnte als Hornblower. Der skeptischste Psychiater, der zynischste Leser muß doch zugeben, daß hier eine beträchtliche Zahl von Gegebenheiten auf erstaunliche Art zusammentrafen.
Im vorigen Herbst beim Rasieren - oder überflogen meine Augen gerade die Bücherreihen meiner Bibliothek? - wurde ich plötzlich gewahr, daß dicht mit Muscheln besetzte Balken an die Oberfläche kamen, mich mit einer Schaustellung ihres Nachwuchses zu höhnen. Da packte mich die Furcht, ja, ein so starker Widerwille, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. All dieses gesunde Wachstum, das normalerweise helle Freude in mir erweckt hätte, wurde nun zu einer Quelle der Bitternis, denn jede neue Muschel war ein aus Hornblowers Sarg herausgezogener Nagel. Er war tatsächlich schon wieder ganz heraus aus seinem Sarge; das Skelett im Schrank war das seine, und solange es da verweilte, widerstand sein Geist jedem Versuch einer Austreibung, bis er aufs neue anständig begraben sei. Jede Szene, die sich hinzufand, machte es nur deutlicher, daß es einfach notwendig war, Hornblower einzubeziehen. Die ganze Handlung konnte sich nur um Hornblower herum entfalten, und nur im Jahre 1805 konnte sie spielen. Der Neujahrstag 1964 fand mich in Maui, und dort - so entfernt von der Schlacht bei Trafalgar in Raum und Zeit und Atmosphäre wie nur denkbar - geschah es, daß ich den Widerstand und die Arbeit, die ich mir vorgenommen hatte, aufgeben mußte, um den Dingen ihren Lauf zu lassen. Und das ist seitdem in der gewohnten Form geschehen. Jetzt bin ich bei der Stufe angelangt, wo ich zuweilen meine Nachschlagwerke zu Rate ziehen muß, um die Tatsachen nachzuprüfen, damit ich entscheiden kann, ob eine neue Wendung der Handlung technisch auch wirklich durchführbar ist. Bevor ich heute morgen meine Tagesarbeit begann (den zweiten Arbeitstag an diesem Essay), wälzte ich die Seiten verschiedener Konversationslexika und nahm mir dann Boswells ›Das Leben Johnsons‹ heraus, um mein geringes Wissen über den Rev. Dr.
Dodd zu erweitern und zu erneuern, der im Jahre 1777 wegen einer Fälschung gehängt worden war. Was Dodd damals getan hatte, steht in gewisser Weise in Beziehung zu dem, was Hornblower unter Umständen 1805 tun sollte, und was ich vielleicht 1964 zu tun haben möchte.
In diesem Augenblick, da ich dies niederschreibe und den neuen Absatz beginne, bin ich gerade nach einer Runde durch das Zimmer an meinem Schreibtisch zurückgekehrt, und die Tatsache, daß ich wirklich herumging statt nur aufzustehen, ist ein Zeichen für die Lebhaftigkeit meiner augenblicklichen Empfindungen. Die Zukunft hängt in der Schwebe; ein weiterer Roman ist in den Bereich der Möglichkeit gerückt. Aber das ist noch nicht alles. Ich muß diesen Essay heute noch fertig schreiben, um ihn diesem Buch beizufügen - denn nicht nur der Drucker wartet, sondern auch die griechischen Inseln warten.
Falls mir die gegenwärtige und die künftige Arbeit noch irgendwie Raum lassen für einen vernünftigen Gedanken, will ich meine sofortige Abreise ins östliche Mittelmeer vorbereiten.
Griechenlands Mohnblumen drangen sich in meine geistige Schau, und der Sirenengesang, den Odysseus hörte, stiehlt sich in mein inneres Ohr. Aber was werde ich von dem einen wirklich sehen, was vom anderen wirklich hören? Ich bin ja tief entrückt in meine Gedankenwelt Immer neue Glieder werden sich für die Kette anbieten, und ich weiß aus langjähriger Erfahrung, daß eine Zeit kommen wird, wo ich die Auswahl zu treffen habe, wo ich, zögernd, ein Glied der Kette um eines anderen willen verwerfen muß, und die Glieder, die bewahrt und sicher schienen, am Maßstab historischer Ereignisse aufs neue geprüft werden müssen. Was kümmert mich ›Die Straße der Ritte‹ wenn es für mich wesentlich ist, sofort zu wissen, wie viel Linienschiffe Hornblower nach Westindien begleiteten?
Dies alles klingt so, als ob ich den Roman nun schreiben würde, aber das ist natürlich ganz ungewiß. Auch früher schon haben sich Stoffe und Themen angeboten, die ich am Ende verwarf, wenn mir der Roman schließlich doch nicht des Schreibens wert oder geschmacklos oder zu schwach schien.
Das kann auch dieses Mal leicht wieder geschehen, auch dieses Kapitel darüber hätte ich nicht geschrieben, wenn es sich nicht um ein ›jetzt oder nie‹ gehandelt hätte.
Und wenn ich den Roman schreibe? Und angenommen, ich lebe so lange daß ich ihn vollenden kann? (Dieser alte Zweifel gehört zu den Dingen die mit dem Alter stärker werden). Dann werde ich bald nach der ersten Juliwoche, wenn ich wieder zu Hause bin, wieder hier an meinem Schreibtisch sitzen, wie jetzt, mit der gleichen Feder in meiner Hand und dieser selben Block vor mir, und ich werde die Zahl 1 oben auf die Seite schreiben und mich wieder auf die Bobbahn stürzen, den täglichen Stunden der inneren Schau und den Monaten der Erschöpfung entgegen. Dann werd ich vielleicht - welch seltsamer Gedanke - voll Neid auf die angenehmeren Stunden zurückschauen, die ich bei dieser fortlaufenden Übung verbracht habe. Und vielleicht werde ich dann irgendwann im Oktober meinen Füllfederhalter wieder zuschrauben, mich steif vom Schreibtisch erheben und zaudernd ins Leben zurückkehren. Bis dahin - vielleicht -. Das letzte Wort, das ich am Ende des letzten Kapitels schrieb, war ›goodbye‹ Nun habe ich es wieder und mit gleich starkem Gefühl geschrieben.