Hornblower und die Witwe McCool
Hornblower and the widow McCool (1950)
Die Kanalflotte suchte endlich Schutz, da die heulenden Weststürme sich allmählich zu solcher Gewalt gesteigert hatten, daß Rümpfe, Segel und Tauwerk ihnen nicht mehr gewachsen waren. Neunzehn Linienschiffe und sieben Fregatten unter dem Admiral Lord Bridport, dessen Flagge auf der Victory wehte, hatten die Blockade von Brest unterbrochen, die nun schon seit sechs Jahren im Gange war. Jetzt rundeten sie Berry Head und ankerten in der geschützten Tor Bay. Ein Nichtseemann, dem der Sturm um die Ohren pfiff, hätte vielleicht das Recht gehabt, sich über den fragwürdigen Schutz zu wundern, den es hier gab, aber für die abgekämpften, müden Besatzungen, die sich so lange im Seegang der Biskaya abgequält hatten und nun endlich der Felsenküste der Bretagne den Rücken kehren durften, war diese gischtgepeitschte Reede ein Paradies. Man konnte sogar Boote nach Brixham und Torquay entsenden, die dann mit Post und Frischwasser zurückkehrten. An Bord der meisten Schiffe hatten Offiziere und Mannschaften beides seit drei Monaten entbehren müssen. Selbst an jenem kalten Wintertag war es eine reine Freude, den Mund zu öffnen und einen Schluck frischen, klaren Wassers durch die Kehle rinnen zu lassen, das so ganz anders schmeckte, als die stinkende grüne Brühe, die noch gestern unter Bewachung ausgegeben wurde.
Der jüngste Leutnant von HMS Renown ging in seinem warmen Peajackett an Deck auf und ab, während sein vor Anker liegendes Schiff schwerfällig in der Dünung rollte. Der schneidende Wind bewirkte, daß ihm die Augen tränten, dennoch hielt er unermüdlich Ausschau durch seinen Kieker, weil er als Signaloffizier dafür verantwortlich war, daß alle Nachrichten schnell abgelesen und weitergegeben wurden. Um diese Zeit war es ohnehin üblich, daß Meldungen über Kranke und Proviantbestand durchkamen und daß Kommandanten und Admirale der Unterhaltung pflogen. Einladungen zum Dinner waren hierhin und dorthin weiterzugeben, auch Neuigkeiten wurden auf diesem Wege verbreitet.
Jetzt beobachtete er ein kleines Boot, das von der französischen Prise kam, die gestern im Kanal gekapert worden war. Schwer arbeitend hielt das kleine Fahrzeug auf die Renown zu. Hart, der Steuermannsmaat der Renown war als Prisenkommandant an Bord geschickt worden und hatte die gefährliche Sturmfahrt wie durch ein Wunder heil überstanden.
Jetzt lag die Prise sicher inmitten der Flotte vor Anker, und Hart kam auf sein Schiff zurück, um irgendeine Meldung zu machen.
Das ging den Signaloffizier zunächst kaum etwas an. Hart machte nur einen aufgeregten Eindruck, als er an Bord kam, und eilte mit seiner Nachricht alsbald unter Deck, nachdem er sich so kurz wie möglich beim Wachhabenden Offizier an Bord gemeldet hatte. Aber schon nach wenigen Minuten mußte der Signal-Leutnant dann erleben, daß ihn zu dieser ungewohnten Stunde der Dienst geradezu überfiel.
Kapitän Sawjer selbst erschien an Deck. Hart folgte ihm, um die korrekte Übermittlung der Nachrichten zu beaufsichtigen.
»Mr. Hornblower!«
»Sir?«
»Setzen Sie bitte dieses Signal.«
Es war vom Kommandanten an den Admiral persönlich gerichtet. Der Anfang war einfach, denn es waren nur zwei Signalgruppen nötig, um das Signal › Renown an Flagge‹ zu geben. Dann folgten andere Fachausdrücke, die ebenfalls leicht wiedergegeben werden konnten, wie Prise, französische und Brigg, dann aber folgten Namen, die Buchstabe um Buchstabe signalisiert werden mußten. Das Ganze hieß: Die Prise ist das französische Staatsfahrzeug Brigg Esperance. An Bord befindet sich Barry McCool. »Mr. James«, brüllte Hornblower. Der Signalfähnrich stand direkt neben ihm, aber es war nun einmal der Brauch, daß man Fähnriche anschrie. Ein Leutnant ohne nennenswertes Dienstalter sah sich dazu besonders veranlaßt.
Hornblower nannte ihm die Flaggen, und gleich darauf stieg das Signal zur Rahnock empor. Die Flaggleinen schlugen hin und her, als der Sturm an den Flaggen riß. Kapitän Sawjer wartete an Deck auf die Antwort, offenbar handelte es sich um eine wichtige Angelegenheit. Hornblower las das Signal noch einmal durch, denn bisher hatte er es nur als eine alltägliche Nachricht betrachtet, die übermittelt werden sollte. Aber selbst als er es zum zweitenmal las, hätte er nicht sagen können, warum es so wichtig sein sollte. Zwei endlose Jahre, die erst vor drei Monaten zu Ende gegangen waren, hatte er in spanischer Kriegsgefangenschaft zugebracht, und darum war auch seine Kenntnis der neuesten Geschichte lückenhaft. Eben darum wußte er auch mit den Namen Barry McCool nichts anzufangen.
Dem Admiral aber schien dieser Name allerhand zu bedeuten, denn es war kaum genug Zeit vergangen, ihn unter Deck von der Meldung zu unterrichten, da stieg auch schon an der Rah der Victory eine Flagge empor. ›Flagge an Renown.‹ Hornblower las die Flaggen ab, sobald sie ausgerissen wurden, und hatte ihre Bedeutung sofort erfaßt: ›Ist McCool noch am Leben?‹
»Antwort: Ja«, sagte Kapitän Sawjer.
Kaum wehte das Ja, da flatterte auf der Victory schon das nächste Signal. ›Holen Sie ihn sofort an Bord. Kriegsgericht tritt zusammen.‹ Ein Kriegsgericht! Was mochte dieser McCool denn verbrochen haben? War er ein Deserteur? Aber die Verhaftung eines gewöhnlichen Deserteurs war doch keine Angelegenheit, mit der sich der Flottenchef persönlich zu befassen pflegte. Oder war er etwa ein Verräter? Verräter pflegte man auch nur ausnahmsweise an Bord abzuurteilen. Aber mochte dem sein wie immer, ein Wort des Kommandanten genügte, daß Hart wieder auf seine Prise zurückeilte, um seinen geheimnisvollen Gefangenen an Bord zu holen, während auf der Victory ein Signal um das andere hochging, um das Kriegsgericht auf die Renown einzuberufen.
Hornblower war vollauf damit beschäftigt, die Signale abzulesen, und fand darum kaum Zeit für einen neugierigen Blick, als Hart seinen Häftling und dessen Seekiste an Backbordseite an Deck heißen ließ. Der Gefangene war jung, groß und schlank gewachsen, seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt - darum mußte er aufgeheißt werden. Er trug keine Kopfbedeckung, sein langes rotes Haar wehte lose im Wind. Seine blaue Uniform mit den roten Aufschlägen war offenbar die der französischen Infanterie. Der Name, diese Uniform und die roten Haare zusammengenommen ließen Hornblower alsbald vermuten, was dem Mann drohte. Dieser McCool war ohne Zweifel ein Ire. Hornblower wußte, daß während seiner Gefangenschaft in Ferrol in Irland ein blutiger Aufstand ausgebrochen war. Iren, die damals entkommen waren, hatten sich scharenweise in Frankreich zum Militärdienst gemeldet. Sicher war McCool einer von diesen Überläufern, aber das erklärte noch längst nicht, warum ihn der Admiral persönlich vor Gericht stellte, statt ihn wie üblich der zivilen Gerichtsbarkeit zu übergeben.
Hornblower mußte noch eine Stunde warten, ehe er den Grund erfuhr. Er wurde erst darüber aufgeklärt, als um zwei Glasen, während der nächsten Wache, in der Messe das Dinner aufgetragen wurde.
»Morgen früh haben wir eine hübsche kleine Feier zu erwarten«, sagte Clive, der Schiffsarzt, und fuhr sich mit einer Geste an den Hals, die Hornblower widerlich fand.
»Ich hoffe, daß sich diese Hinrichtung heilsam auswirken wird«, sagte Roberts, der Zweite Offizier. Das untere Ende des Tisches, an dem er saß, war im Augenblick zum Kopf der Tafel avanciert, da Buckland, der Erste Offizier, durch die Vorbereitungen für das Kriegsgericht abgehalten war, an der Mahlzeit teilzunehmen.
»Warum soll dieser Mann denn nun eigentlich hier an Bord gehängt werden?« fragte Hornblower.
Roberts maß ihn mit einem verweisenden Blick. »Er ist ein Deserteur«, sagte er. »Aber Sie sind erst kurz an Bord und können es darum nicht wissen. Im Jahre 98 habe ich ihn selbst hier an Bord angemustert. Hart erkannte ihn auf den ersten Blick.«
»Und ich dachte, er sei ein Aufständischer gewesen.«
»Ja, das war er auch«, sagte Roberts. »1798 bot der Eintritt in das Heer oder in die Marine diesen Leuten die beste, ja wohl die einzige Möglichkeit, aus Irland herauszukommen.«
»Jetzt verstehe ich«, sagte Hornblower.
»Wir konnten in jenem Herbst an die hundert Mann bekommen«, sagte Leutnant Smith.
Und kein Mensch fragte danach, wes Geistes Kind diese Burschen waren, dachte Hornblower. Das Vaterland lag in einem Kampf auf Leben und Tod und hatte darum Seeleute so nötig wie ein Ertrinkender die Atemluft. Da war eben jeder menschliche Rohstoff gut genug, sie daraus zu schaffen.
»Unser McCool desertierte in einer finsteren Nacht, als wir in Flaute vor Penmarks lagen«, erklärte Roberts. »Er kroch durch eine Geschützpforte der untersten Batterie und nahm eine Gräting mit, die ihn im Wasser trug. Wir glaubten erst, er sei ertrunken, aber dann kam Nachricht aus Paris, daß er dort wieder seinem alten Geschäft nachging. Ja, er brüstete sich sogar damit, und dadurch erfuhren wir, daß er O'Shaughnessy war. Unter diesem Namen hatten wir ihn nämlich hier an Bord.«
»Wolfe Tone trug auch eine französische Uniform«, sagte Smith. »Dennoch hätte man ihn aufgehängt, wenn er sich nicht selbst vorher die Gurgel durchgeschnitten hätte.«
»Die fremde Uniform kann einen Deserteur nur zusätzlich belasten«, sagte Roberts.
Hornblower hatte jetzt eine Menge Stoff zum Nachdenken.
Da war vor allem diese widerliche Aussicht auf die Exekution, die morgen früh stattfinden sollte. Dann ging ihm die irische Frage durch den Kopf, für die es allem Anschein nach keine Lösung gab. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr schwand alle Klarheit. Dabei konnte es gar kein Problem geben, wenn man nur die nackten Tatsachen gelten ließ. Irland konnte im Augenblick nur zwischen zwei Großmächten wählen, denen es sich unterwarf: England oder Frankreich. In einer Welt, die sich im Kriegszustand befand, gab es keine andere Möglichkeit.
Es schien aber geradezu unglaublich, daß ein Volk im Ernst danach trachtete, sich von der englischen Herrschaft zu befreien - selbst wenn man die katholischen Querelen und das Übel der jenseits der Grenzen lebenden Grundbesitzer in Betracht zog - und sich statt dessen der Raubgier, der Grausamkeit und der Bestechlichkeit der französischen Republik auszuliefern. Darum war es im höchsten Grade unlogisch, wenn jemand sein Leben aufs Spiel setzte, um einen solchen Wandel herbeizuführen.
Aber Patriotismus, so stellte Hornblower in bedrückter Stimmung fest, hatte nun einmal mit Logik nichts zu tun, und gerade die nackten Tatsachen wurden darum von den Patrioten am wenigsten beachtet.
Aber auch an den englischen Methoden war eine Menge auszusetzen. Wolfe Tone und Fitzgerald waren in den Augen des irischen Volks zweifellos echte Märtyrer, und McCool war auf dem besten Wege, die gleichen Ehren zu erlangen. Es gab in der Tat kein wirksameres Mittel, einer Idee Adel und innere Kraft zu verleihen, als ein paar Märtyrer, die für sie den Tod auf sich nahmen.
Die Hinrichtung McCools konnte nur das Feuer nähren, das England unbedingt zu löschen suchte. Zwei Völker rangen hier miteinander, weil Vaterlandsliebe und Selbsterhaltungstrieb ihnen das ihrer Meinung nach geboten. Gerade wegen dieser edlen Beweggründe aber war ein befriedigendes Ende dieses Kampfes vorläufig nicht abzusehen.
Jetzt betrat Buckland, der Erste Offizier, die Messe. Er hatte den gleichen abwesenden Blick wie die meisten Ersten Offiziere, die schwer an ihrer Verantwortung zu tragen hatten.
Seine Augen glitten flüchtig über die versammelten Tischgäste hin, und die jungen Offiziere, die schon ahnten, daß nun diesem oder jenem eine unerfreuliche Aufgabe zugeteilt werden könnte, gaben sich alle Mühe, nicht aufzufallen. Aber Buckland griff sich - wie konnte es anders sein - den allerjüngsten Leutnant heraus. »Mr. Hornblower«, sagte er.
»Sir?« meldete sich Hornblower und gab sich alle Mühe, den Druck nicht zu verraten, der sich auf ihn nieder senkte.
»Ich übertrage Ihnen hiermit die Verantwortung für den Gefangenen.«
»Sir?« sagte Hornblower wieder, aber diesmal mit ganz anderer Betonung.
»Hart wird beim Kriegsgericht als Zeuge aussagen«, erklärte Buckland - es war von ihm ein großes Entgegenkommen, daß er sich überhaupt zu dieser Erklärung seiner Absicht herabließ.
»Der Wachtmeister ist ein Dummkopf, das wissen Sie selbst. Ich möchte aber, daß McCool in guter Verfassung zur Verhandlung kommt und daß er sich auch nachher nichts antut. Damit wiederhole ich wörtlich, was mir der Kommandant sagte.«
»Aye aye, Sir«, sagte Hornblower, da es sonst nichts darauf zu sagen gab. »McCool darf uns also keine Geschichten machen, wie seinerzeit Wolfe Tone«, sagte Smith.
Wolfe Tone hatte sich in der Nacht vor seiner Hinrichtung die Gurgel durchgeschnitten und war dann nach einer Woche gestorben. »Wenn Sie zu dieser Aufgabe etwas nötig haben, dann sagen Sie es mir«, sagte Buckland zu Hornblower. »Aye aye, Sir.«
»Vier Fallreep!« schrie plötzlich eine Stimme oben an Deck, und Buckland eilte sofort hinaus. Die Ankunft eines hohen Offiziers war das Zeichen, daß sich das Kriegsgericht zu versammeln begann.
Hornblower hatte sein Kinn auf die Brust sinken lassen. Die Welt war hart und erbarmungslos, und er selbst war ein Offizier im härtesten und erbarmungslosesten Dienst, den es in dieser Welt gab - in einem Dienst, in dem man ebensowenig sagen durfte ›ich kann nicht‹ wie ›ich wage es nicht‹ .
»Pech, mein lieber Horny«, sagte Smith überraschend freundlich, und auch die anderen Tischgenossen gaben murmelnd ihr Mitgefühl kund. »Es gibt nichts anderes, als zu gehorchen, junger Mann«, sagte Roberts ungerührt.
Hornblower erhob sich von seinem Stuhl. Er traute sich nicht, etwas zu sagen, darum verabschiedete er sich mit einer stummen Verbeugung von der Tischgesellschaft.
»Da ist er - es fehlt ihm nichts, Mr. Hornblower«, meldete ihm der Wachtmeister, als er in der Finsternis des unteren Zwischendecks angelangt war. Der Posten der Seesoldaten trat beiseite, der Wachtmeister hielt seine Läuferlaterne vor das Schlüsselloch in der Tür und schob den Schlüssel hinein. »Ich habe ihn in diese leere Last gesperrt, Sir«, fuhr der Wachtmeister fort. »Zwei meiner Unteroffiziere sind bei ihm.«
Als die Tür aufging, sah man, daß drinnen auch eine Läuferlaterne brannte. Die Luft in dem Raum war miserabel; McCool hockte auf einer Kiste, die beiden Unteroffiziere saßen an Deck und lehnten sich mit dem Rücken an die Schottwand.
Die Unteroffiziere erhoben sich, als sie des Offiziers ansichtig wurden, aber auch als sie standen war kaum Platz für zwei Mann mehr. Hornblower sah sich kritisch in der Zelle um, offenbar war es nicht möglich, aus diesem Raum zu fliehen, auch eine Gelegenheit zum Selbstmord schien es hier nicht zu geben. Zuletzt nahm er seine ganze Kraft zusammen und blickte McCool in die Augen. »Sie sind mir zur Bewachung übergeben worden«, sagte er. »Das freut mich sehr, Mr. - Mr. -« sagte McCool und erhob sich von seiner Kiste. »Hornblower.«
»Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Mr. Hornblower.« McCool sprach ein kultiviertes Englisch, nur eine Spur irischen Tonfalls verriet seine Herkunft. Er hatte seine roten Locken zu einem netten Schwänzchen geflochten, seine blauen Augen strahlten selbst in dem schwachen Kerzenlicht mit ungewöhnlicher Kraft. »Haben Sie irgendwelche Bedürfnisse?« fragte ihn Hornblower. »Gewiß, ich möchte gern etwas essen und trinken«, antwortete ihm McCool. »Seit die Esperance gekapert wurde, habe ich nichts mehr über die Lippen gebracht.« Das war gestern gewesen. Der Mann hatte also seit mehr als vierundzwanzig Stunden weder Nahrung noch Wasser bekommen.
»Ich werde dafür sorgen«, sagte Hornblower. »Haben Sie sonst noch Wünsche?«
»Eine Matratze, ein Kissen - irgendeine Unterlage, auf der ich sitzen kann«, sagte McCool. Dabei zeigte er auf seine Seekiste.
»Ich trage einen anständigen Namen, aber ich möchte nicht, daß er mir in die Haut gepreßt wird.«
Die Seekiste war ein wunderbares Stück aus Mahagoniholz.
Ihr Deckel war eine starke Holzplanke, deren Oberfläche so weit abgemeißelt war, daß sein Name B. I. McCool als Hochrelief herausragte.
»Gut, ich werde Ihnen auch eine Matratze kommen lassen«, sagte Hornblower.
An der Tür erschien ein Leutnant in Uniform.
»Ich heiße Payne und bin vom Stab des Admirals. Ich habe den Befehl, diesen Mann zu durchsuchen.«
»Tun Sie das«, sagte Hornblower. »Meine Erlaubnis haben Sie«, sagte McCool.
Der Wachtmeister und seine Unteroffiziere mußten die überfüllte Zelle verlassen, damit Payne seinen Auftrag erfüllen konnte. Hornblower stand in der Ecke und sah ihm zu. Payne arbeitete schnell und genau. McCool mußte sich nackt ausziehen, dann untersuchte Payne seine Kleidungsstücke mit aller Sorgfalt, einschließlich des Futters, der Nähte und der Knöpfe. Er knüllte die Sachen hier und dort zusammen und hielt dabei das Ohr an den Stoff, ob er versteckte Papiere knistern hörte. Dann kniete er vor der Seekiste nieder. Der Schlüssel stak im Schloß, so daß er den Deckel hochheben konnte. Uniformen, Hemden, Unterzeug, Handschuhe - jedes Stück wurde herausgenommen, geprüft und beiseite gelegt. Zwei kleine Kinderportraits nahm Payne besonders in Augenschein, konnte aber nichts Verdächtiges daran entdecken.
»Die Dinge, nach denen Sie suchen«, sagte McCool, »wurden alle über Bord geworfen, ehe das Prisenkommando die Esperance erreichte. Sie finden hier kein Material, das meine Landsleute verraten könnte, darum hätten Sie sich diese Arbeit ersparen können.«
»Sie können sich wieder anziehen«, sagte Payne kurz angebunden zu McCool. Er nickte Hornblower zu und eilte wieder davon. »Die Höflichkeit dieses Mannes ist geradezu überwältigend«, sagte McCool und knöpfte sich die Hose zu.
»Ich will jetzt sehen, daß Sie bekommen, was sie wünschten«, sagte Hornblower.
Er schärfte dem Wachtmeister und seinen Unteroffizieren noch größte Wachsamkeit ein, dann eilte er nach oben, um anzuordnen, daß McCool etwas zu essen bekam. Nach kurzer Zeit war er wieder zurück. McCool leerte gierig seinen Liter Wasser und bemühte sich, mit dem Hartbrot und dem Salzfleisch fertig zu werden.
»Ein Kunststück ohne Messer und Gabel«, bemerkte er. »Die gibt es nicht«, antwortete Hornblower ausdruckslos. »Ich verstehe.«
Es war seltsam, dazustehen und diesen Mann zu beobachten, der morgen sterben sollte und jetzt ziemlich hilflos an dem zähen Stück Fleisch herumnagte, das er mit beiden Händen an den Mund hielt.
Das Schott, an dem Hornblower lehnte, zitterte leicht und das Dröhnen eines Schusses drang gedämpft zu ihm herunter. Es war dies das Zeichen, daß das Kriegsgericht eröffnet wurde.
»Gehen wir jetzt?« fragte McCool. »Ja.«
»Dann kann ich also dieses köstliche Fleisch einfach liegen lassen, ohne gegen die guten Sitten zu verstoßen?«
Zwei Seesoldaten gingen voran, ihnen folgte McCool, dann kam Hornblower und endlich zum Abschluß die beiden Unteroffiziere. So kletterten sie hintereinander die Niedergänge zum Großdeck hinauf. »Diese Decks habe ich oft mit weniger Getue betreten«, sagte McCool und sah sich mit wachen Blicken um.
Hornblower gab sorgfältig acht, daß er nicht plötzlich ausbrach und über Bord sprang.
Das Kriegsgericht: Schimmernde Goldborten und kalte, seelenlose, aber zweckbestimmte Fragen. Währenddessen schwoite die Renown vor ihrem Anker, und das Balkenwerk des Schiffes übertrug das Vibrieren der Takelage im Sturm.
Identitätsnachweis, wieder barsche Fragen.
»Ich wüßte nichts zu sagen, was inmitten dieser Wahrzeichen der Tyrannei Gehör fände«, gab McCool auf eine Frage des Vorsitzenden zur Antwort. Es nahm nur fünf Minuten in Anspruch, einen Mann zum Tode zu verurteilen: »Das Gericht hat Sie, Barry Ignatius McCool, verurteilt, daß Sie am Halse aufgehängt werden sollen, bis Sie tot sind.«
Die Last, in die Hornblower McCool jetzt zurückbrachte, war nun die Todeszelle eines Verurteilten. Ein Fähnrich kam hinter ihnen hergeeilt und nahm vor Hornblower Haltung an, kaum daß sie angekommen waren. »Der Kommandant läßt bitten, Sir, er möchte Sie sprechen.«
»Gut«, sagte Hornblower, »ich komme.«
»Der Admiral ist bei ihm, Sir«, fügte der Fähnrich in einer Anwandlung von Vertraulichkeit hinzu.
Konteradmiral der Ehrenwerte Sir William Cornwallis hielt sich zusammen mit Payne und dem Kapitän Sawjer in der Kajüte des Kommandanten auf. Als ihm Hornblower vorgestellt worden war, kam er sofort zur Sache.
»Sie sind also der Offizier, der mit der Vollstreckung dieses Todesurteils beauftragt wurde, nicht wahr?« fragte er.
»Jawohl, Sir.«
»Dann hören Sie einmal gut zu, was ich Ihnen sage, junger Herr.«
Cornwallis war ein besonders beliebter Admiral. Er war streng, aber doch gütig, sein Mut und sein berufliches Können waren über jedes Lob erhaben.
Unter dem Spitznamen Billy Blue war er der Held unzähliger Anekdoten und Shanties. Aber ehe er jetzt für das was er sagen wollte geeignete Worte fand, verriet er eine Unschlüssigkeit, die nicht zu seiner sonstigen Wesensart passen wollte. Hornblower wartete bis er fortfuhr.
»Also hören Sie zu«, wiederholte Cornwallis, »der Mann hält mir keine Reden mehr, wenn er den Strick um den Hals hat.«
»Soll das unterbleiben, Sir?« fragte Hornblower.
»Ja«, fuhr Cornwallis fort. »Ein Viertel der Besatzung dieses Schiffes sind Iren. Lieber ginge ich mit einem offenen Licht in die Pulverkammer, als daß ich diesen McCool eine Ansprache an seine Landsleute halten ließe.«
»Ich verstehe, Sir«, sagte Hornblower.
Bei solchen Hinrichtungen gab es einen gespenstischen Brauch. Seit undenklichen Zeiten wurde dem verurteilten Mann gestattet, an die Zuschauer Abschiedsworte zu richten.
»Hängt den Kerl auf«, sagte Cornwallis, »dann sehen die Leute, was sie zu erwarten haben, wenn sie weglaufen. Aber wehe, wenn er den Mund auftut - der Bursche macht sie alle verrückt. Dann haben wir sechs Monate zu tun, bis sie wieder Vernunft annehmen.«
»Jawohl, Sir.«
»Also sehen Sie zu, wie Sie zurecht kommen, junger Herr.
Meinetwegen pumpen Sie ihn voll Rum. Aber denken Sie immer daran: Wenn Sie ihn reden lassen, dann geschieht das auf Ihre eigene Gefahr.«
»Aye aye, Sir.«
Payne folgte Hornblower, als er entlassen war und die Kajüte verließ.
»Stopfen Sie ihm den Mund doch mit Twist«, schlug er vor.
»Da seine Hände gefesselt sind, kann er ihn nicht herausholen.«
»Ja«, sagte Hornblower, dem es dabei kalt über den Rücken lief.
»Ich habe einen Priester für ihn gefunden«, fuhr Payne fort, »aber der Mann ist auch ein Ire. Wir können uns nicht darauf verlassen, daß er McCool sagt, er solle den Mund halten.«
»Ja«, sagte Hornblower wieder.
»Dieser McCool ist ein verdammt gerissener Bursche.
Natürlich hat er alles über Bord geworfen, ehe er uns in die Hände fiel.«
»Was hatte er eigentlich vor?« fragte Hornblower.
»Er wollte in Irland landen und neue Unruhe stiften. Ein Glück, daß wir ihn erwischten, ein Glück auch, daß wir ihn als Deserteur unter Anklage stellen konnten, weil uns dadurch rasches Handeln möglich war.«
»Ja«, sagte Hornblower.
»Verlassen Sie sich nicht darauf, den Mann betrunken zu machen«, sagte Payne, »wenn Ihnen Billy Blue das auch empfohlen hat. Ob betrunken oder nüchtern, diese Iren haben immer eine lose Zunge. Glauben Sie mir, ich habe Ihnen bestimmt einen guten Rat gegeben.«
»Ja«, sagte Hornblower abermals und gab sich Mühe zu verbergen, daß ihn wieder ein Schauder packte.
Als er dann die Zelle des Verurteilten aufsuchte, war ihm zumute, als hätte man ihn selbst verurteilt. McCool saß auf der Strohmatratze, die ihm Hornblower hatte zukommen lassen, und die beiden Wachtmeistersmaate hielten ihn immer noch unter Beobachtung.
»Sieh da, mein Henker«, sagte McCool mit einem Lächeln, das beinahe ungezwungen wirkte.
Hornblower machte keine langen Umschweife, weil er nicht wußte, wie er das Thema taktvoll anschneiden sollte. »Morgen - «, begann er.
»Ja, was ist morgen?«
»Morgen sollen Sie keine Rede halten.«
»Wie, es soll mir nicht erlaubt sein, von meinen Landsleuten Abschied zu nehmen?«
»Nein.«
»Sie berauben also einen Verurteilten des letzten Rechts, das ihm gestattet ist?«
»Ich habe den Befehl, es zu tun«, sagte Hornblower.
»Und darum wollen Sie es notfalls mit Gewalt durchsetzen, wie?«
»Ja.«
»Darf ich fragen wie?«
»Ich könnte Ihnen den Mund mit Twist stopfen«, sagte Hornblower brutal. McCool warf einen Blick auf sein blasses, angespanntes Gesicht. »Sie scheinen mir kein Henker aus Überzeugung zu sein«, sagte er. Dann schien ihn plötzlich eine neue Idee gefangen zunehmen: »Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen Ihre ganze Sorge ersparte?«
»Wie wollten Sie das machen?«
»Ich könnte Ihnen mein Wort geben, nichts zu sagen.«
Hornblower versuchte seine Zweifel zu verbergen, ob er einem Fanatiker Vertrauen schenken durfte, der schon den Tod vor sich sah. »Nein, nein, Sie brauchen sich nicht nur auf mein Wort zu verlassen«, sagte McCool mit bitterem Unterton. »Wenn Sie wollen, können wir eine Übereinkunft treffen. Sie brauchen Ihren Teil nicht zu erfüllen, wenn ich den meinen nicht schon vorher erfüllt habe.«
»Eine Übereinkunft? Wie stellen Sie sich das vor?«
»Erlauben Sie mir, an meine künftige Witwe einen Brief zu schreiben, und versprechen Sie mir, ihr den Brief und meine Seekiste zu übersenden - Sie sehen ja wohl, daß dieses schöne Stück auch das Gefühl anspricht. Ich verspreche Ihnen dafür, von dem Augenblick an, da ich diese Zelle verlasse, kein Wort mehr zu sprechen, bis - bis.« Selbst ein McCool begann da zu stammeln. »Ist Ihnen das nicht genug?«
»Nun ja«, sagte Hornblower zögernd.
»Wenn Sie wollen, können Sie den Brief gern lesen«, fügte McCool hinzu. »Sie haben ja selbst gesehen, wie der andere Herr meine Seekiste durchsuchte. Wenn Sie diese Sachen nach Dublin senden, können Sie doch sicher sein, daß sie nichts enthalten, was Sie mit Verrat bezeichnen würden.«
»Ich möchte den Brief lesen, ehe ich mich einverstanden erkläre«, sagte Hornblower.
Hier schien sich die Möglichkeit zu bieten, daß er auf billige Art einen schrecklichen Konflikt vermied. Wahrscheinlich machte es wenig Mühe, einen Küstensegler zu finden, der nach Dublin bestimmt war, ihm konnte er Brief und Seekiste für wenige Shilling anvertrauen. »Ich schicke Ihnen gleich Feder, Tinte und Papier«, sagte Hornblower. Es war jetzt auch an der Zeit, die anderen gräßlichen Vorbereitungen zu treffen. An der Backbord-Fockrah mußte ein Jolltau geschoren werden, wobei man besonders darauf achten mußte, daß das Ende leicht durch den Block lief. Dann mußte man dieses Ende beschweren und dort mit Kreide einen Kreis zeichnen, wo es auf der Laufbrücke aufstieß. Außerdem mußte man darauf achten, daß sich die Schlinge leicht zuzog. Mit Buckland war zu vereinbaren, daß er rechtzeitig zehn Mann zum Holen stellte. Hornblower erledigte das alles wie in einem bösen Traum.
Als er wieder in die Todeszelle gelangte, war McCool blaß und hellwach, aber er brachte es doch fertig, sich ein Lächeln abzunötigen. »Sie sehen, daß es mir nicht leicht fiel, die Muse für mich einzunehmen.« Zu seinen Füßen lagen ein paar Bogen Papier. Als Hornblower sie näher ansah, stellte er fest, daß sie allem Anschein nach mit Ansätzen zu einem Gedicht beschrieben waren; jedenfalls wimmelte es von Strichen und Änderungen.
»Hier haben Sie den Brief«, sagte McCool und übergab ihm einen anderen Bogen.
»Meine liebe Frau‹, begann das Schreiben. ›Es fällt mir sehr schwer, Dir, meiner Teuersten, Lebewohl zu sagen - ‹
Hornblower mußte sich mit aller Gewalt zwingen, den Brief zu Ende zu lesen. Ihm war, als müsse er durch einen Nebel schauen, um die Worte auszumachen. Aber es waren nur die Worte eines Mannes an seine geliebte Frau, die er nie wieder zu Gesicht bekommen sollte. Das zum mindesten war klar. Er zwang sich mit Gewalt, die Sätze eines liebenden Gatten zu lesen. Am Schluß hieß es noch:
›Ich füge Dir ein schlechtes Gedicht bei, das Dir in kommenden Jahren helfen soll, Dich meiner zu erinnern, meine Liebste. Und nun lebe wohl, bis wir uns im Himmel wiedersehen. Dein Mann, der Dir die Treue hält bis in den Tod, Barry Ignatius McCool.‹
Dann folgte das Gedicht.
Mächte des Himmels, steht mir bei im Tod!
Die Biene hebt sich hoch im morgendlichen Rot.
Ich dreh den Kopf ihr nach und folg ihr mit dem Blick.
O Stadt, du ohne Herz, du raubst mein letztes Glück.
Das Böse lauert dort, faß Mut und zwing es nieder
Das C ist wie die See, die steigt und senkt sich wieder.
Ein Rund und noch ein Rund, dreht suchend sie im
Kreise
Bis endlich Licht ihr zieht aus der gereimten Weise.
Die Flamme lodert auf, die Hölle hebt ihr Haupt,
bleibt betend nahe mir, dem man das Leben raubt.
Hornblower las die schwülstigen Verse und suchte vergebens zu erraten, was die geheimnisvollen Bilder zu bedeuten hatten.
Dabei sagte er sich, daß er selbst wohl kaum imstande gewesen wäre, auch nur eine einzige sinnvolle Zeile zu schreiben, wenn er gewußt hätte, daß er in wenigen Stunden sterben mußte.
»Die Adresse steht auf der Rückseite«, sagte McCool. Und Hornblower drehte den Bogen um.
Der Brief war an die Witwe McCool irgendwo in Dublin adressiert. »Wollen Sie mir mein Versprechen jetzt glauben?« fragte McCool. »Ja«, sagte Hornblower.
Dieser schauderhafte Handel wurde abgewickelt, als schon der junge Tag graute.
»Antreten zur Urteilsvollstreckung!«
Die Bootsmannsmaatenpfeifen zwitscherten, die Männer traten auf dem Großdeck an, mit der Front nach vorn. Die Seesoldaten waren ebenfalls in Linie angetreten. Hornblower sah eine Unzahl blasser Gesichter vor sich, als er McCool an Deck brachte. Beim Erscheinen des Verurteilten erhob sich allgemeines Gemurmel. Die Renown war umringt von vielen Booten voller Männer, die von allen Schiffen der Flotte entsandt worden waren, um Zeugen der Hinrichtung zu sein. Aber diese Leute waren ebenso bereit, die Renown zu stürmen, falls deren Besatzung aufsässig wurde. Da war der weiße Ring auf der Laufbrücke, und schon stand McCool in seiner Mitte. Ein Schuß zeigte an was geschah, man hörte Fußgetrappel, als die zehn Mann mit dem Jolltau längs Deck rannten. McCool hatte sein Versprechen gehalten, er war gestorben, ohne ein Wort zu sagen.
Seine Leiche hing an der Rah und pendelte hin und her, wenn das Schiff in der Dünung rollte, die um Berry Head in die Bucht hereindrang. Der Tote war dazu verurteilt, bis Dunkelwerden dort hängen zu bleiben. Hornblower, noch immer bleich und von Übelkeit gezeichnet, bemühte sich unterdessen bereits um einen Küstensegler, der von Brixham nach Dublin segeln wollte, um nun auch seinen Teil des Versprechens einzulösen. Aber das sollte ihm nicht gelingen, auch der Leichnam McCools blieb nicht so lange hangen, wie es die Bestimmung verlangte. Der Wind schoß plötzlich nach Norden aus, und alle Anzeichen sprachen dafür, daß er bald abflaute. Ein Weststurm hielt die französische Flotte im Hafen von Brest gefangen. Bei stürmischen nördlichen Winden konnte sie leicht entweichen, darum mußte die Kanalflotte schnellstens wieder ihren Posten beziehen. Auf dem Flaggschiff ging ein Signal nach dem ändern hoch.
»Mann Spill!« brüllten auf vierundzwanzig Schiffen die Bootsmannsmaate. »Alle Mann auf! Klar zum Segelsetzen!«
Mit doppelt gerefften Marssegeln ordneten sich die Schiffe der Kanalflotte zur Kiellinie und begannen ihren langen Törn kanalauswärts. Auf der Renown hieß es: »Mr. Hornblower, sehen Sie zu, daß der Tote schnellstens verschwindet.« Während die Mannschaften noch mühsam kurzstag hievten, wurde der Tote von der Rah heruntergefiert und in ein beschwertes Stück Segeltuch eingenäht. Erst als Berry Head passiert war, wurde der Leichnam ohne jede Feierlichkeit und ohne Gebet über Bord geworfen. McCool war als Verbrecher gestorben und mußte daher auch als Verbrecher begraben werden. Mit dichtgeholten Schoten stampften die schweren Linienschiffe zurück auf ihre Stationen inmitten der Riffe und Strömungen der bretonischen Küste. An Bord der Renown gab es zum mindesten einen Leutnant, der todunglücklich war, weil ihn schreckliche Erinnerungen verfolgten. In der winzigen Kammer, die Hornblower mit Smith teilen mußte, gab es einen Gegenstand, der ihn ständig an jenen schrecklichen Morgen erinnerte. Es war die Seekiste aus Mahagoni, auf deren Deckel in erhabenen Buchstaben der Name B. I. McCool stand, und in seiner Brieftasche lag jener letzte Brief mit den schwärmerisch irren Versen. Hornblower konnte der Witwe beides beim besten Willen nicht schicken, ehe die Renown wieder einen englischen Hafen anlief, und es verdroß ihn, daß er seinen Teil der Abmachung noch nicht erfüllt hatte. Der Anblick der Seekiste unter seiner Koje ging ihm schrecklich auf die Nerven, zumal auch Smith das ungefüge Ding in der kleinen Kammer nicht gerne sah.
Hornblower wurde die Erinnerung an McCool nicht los. Auf einem Linienschiff, das im langweiligen Blockadedienst ständig auf einem engen Raum umherzukreuzen hatte, gab es ja auch nicht die geringste Ablenkung, die ihm geholfen hätte, seine fixen Ideen loszuwerden. Inzwischen nahte der Frühling, das Wetter wurde schöner und milder. Als er eines Tages wieder seine Brieftasche öffnete und den Brief sah, der ihm förmlich entgegenstarrte, wurde er von neuem von jenem inneren Aufruhr ergriffen, der ihm doch so schrecklich war. Er wandte das Blatt um, aber in dem Halbdunkel der Kammer konnte er kaum die zärtlichen Abschiedsworte entziffern. Das seltsame Gedicht kannte er fast auswendig, es erschien ihm wie eine Gotteslästerung, wenn er versuchte, die Gedanken jenes tapferen Mannes zu ergründen, der diese rätselhaften Verse in seiner letzten Seelenangst niedergeschrieben hatte. ›Die Biene hebt sich hoch im morgendlichen Rot...‹ Was mochte in ihm vorgegangen sein, als ihm dieses seltsame Bild vor Augen stand? Oder: ›Ein Rund und noch ein Rund, dreht suchend sie im Kreise‹ , warum sollten die Mächte des Himmels so etwas tun?
Plötzlich kam Hornblower ein aufregender Einfall, der ihn immer mehr gefangen nahm. Dieser McCool hatte seinen liebevollen, zartfühlenden Brief ohne die kleinste Streichung oder Verbesserung zu Papier gebracht. Mit dem Gedicht war es ganz anders gewesen. Hornblower sah die vollgekritzelten und dann verworfenen Bogen noch deutlich vor sich. Diese Verse waren offenbar mit aller Sorgfalt und geistiger Sammlung formuliert worden. Ein irrer, von Sorgen verstörter Mensch mochte mit Fleiß und Ausdauer wohl ein so sinnloses Gedicht zusammenflicken, aber der wäre nie imstande gewesen, jenen wirklich schonen Brief zu schreiben... Ob das nicht gar...?
Hornblower setzte sich mit einem Ruck in seiner Koje auf. ›Ein Rund und noch ein Rund, dreht suchend sie im Kreise, bis endlich Licht ihr zieht aus der gereimten Weise.‹ Er sprach die Verse vor sich hin. Unmöglich, daß sie keine verborgene Bedeutung hatten. Aber wie fand er sie heraus? Stak etwa ein Code dahinter, zu dem man einen Schlüssel brauchte? Aber warum dann soviel Wesens um die Kiste? Warum hatte McCool solchen Wert darauf gelegt, daß diese Kiste mit ihrem belanglosen Inhalt nach Dublin kam? Da waren nur die beiden Kinderbilder, aber die hätte man doch leicht als Paket verschicken können. Gewiß, die Kiste mit ihren soliden Mahagoniplanken und dem herausgearbeiteten Namen war ein hübsches Möbelstück - mehr nicht. Plötzlich war für ihn alles voller Rätsel.
Mit dem Brief noch in der Hand stieg er aus der Koje und zog die Kiste heraus. B. I. McCool - er hieß Barry Ignatius McCool.
Payne hatte den Inhalt mit aller erdenklichen Sorgfalt untersucht. Hornblower schloß sie auf und warf einen Blick hinein, aber er entdeckte nichts, was Aufmerksamkeit verdient hätte. Dann klappte er den Deckel wieder zu und drehte den Schlüssel um. B. I. McCool. Da mußte irgendwo ein Geheimfach sein! Wie im Fieber riß Hornblower die Kiste wieder auf, warf den ganzen Inhalt heraus und untersuchte die Seitenwände und den Boden. Es bedurfte keiner langen Prüfung bis er überzeugt war, daß da drinnen höchstens ein mikroskopisch kleines Geheimfach Platz gefunden hätte. Der Deckel war dick und schwer, aber er sah darin keinen Anlaß zu Mißtrauen. Schließlich klappte er ihn wieder zu und fingerte noch eine Weile an den erhabenen Buchstaben herum.
Eben hatte er sich entschlossen, den Inhalt der Kiste wieder einzupacken, da kam ihm plötzlich ein neuer Gedanke. ›Die Biene hebt sich hoch.‹ Fiebernd vor Erregung griff Hornblower nach dem B auf dem Deckel und zog und drehte daran - ohne Erfolg. Aber es hieß ja ›die Biene hebt sich hoch‹ . Jetzt steckte er Daumen und Zeigefinger in die beiden Schlingen des B, griff fest zu und zog nach oben. Als er eben aufgeben wollte, gab der Buchstabe etwas nach und hob sich etwa einen halben Zoll über den Deckel. Hornblower machte die Kiste wieder auf, aber es hatte sich nichts geändert. Wie töricht von ihm, das war ja auch nicht gut möglich. ›Ich dreh den Kopf ihr nach.‹ Daumen und Zeigefinger auf das I erst rechts, dann links herum. Richtig, es drehte sich. Noch immer kein sichtbares Ergebnis. Hornblower warf wieder einen Blick auf das Gedicht: ›O Stadt, du ohne Herz, du raubst mein letztes Glück.‹ Damit war nichts anzufangen. ›Das Böse lauert dort‹ war auch nicht zu gebrauchen. Aber jetzt: ›Faß Mut und zwing es nieder.‹ Damit war offenbar der nächste Buchstabe, das M von McCool gemeint. Er legte die Hand darauf und drückte kräftig. Der Buchstabe senkte sich in den Deckel. Jetzt kam: ›Das C ist wie die See, die steigt und senkt sich wieder.‹ Unter kräftigem Druck schob sich das erste C nach oben, das zweite nach unten. ›Ein Rund und noch ein Rund dreht suchend sie im Kreise.‹ Richtig, das eine O drehte sich in einer Richtung, das zweite in der entgegengesetzten. Jetzt war nur noch das L übrig. Hornblower warf einen Blick auf das Gedicht.
Da stand es ja: ›Bis endlich Licht ihr zieht aus der gereimten Weise.‹ Die einfachste Sache der Welt. Er faßte das L von oben und zog. Der Buchstabe hob sich aus dem Deckel als ob er zugleich unten einen Riegel bewegte. Im selben Augenblick hörte man ein lautes Schnappen, sonst nichts. Hornblower griff sofort nach dem Deckel und hob ihn an. Aber jetzt klappte nur die obere Hälfte des Deckels auf, die untere blieb liegen. In dem schmalen Hohlraum zwischen den beiden Deckeln lagen eine Menge sauber verpackter Papiere.
Gleich das erste Paket war eine Überraschung. Als Hornblower an einer Ecke hineinblinzelte, sah er, daß es sich um ein dickes Bündel Fünfpfundnoten handelte, die zusammen bestimmt einen Riesenbetrag ergaben. Das zweite Paket enthielt eine ähnliche Summe. Es war also reichlich Geld vorhanden, um den Ausbruch eines neuen Aufstandes zu finanzieren. Das erste, was er im nächsten Paket entdeckte, war eine Liste von Namen.
Neben jedem stand eine kurze Auskunft über den Betreffenden.
Hornblower brauchte nicht lange zu lesen, um herauszufinden, daß dieses Paket die Auskünfte enthielt, die zum Anheizen eines neuen Aufstandes nötig waren. Das letzte Paket enthielt den druckreifen Entwurf eines Aufrufs, der mit der Anrede ›Iren!‹ begann.
Hornblower setzte sich wieder auf seine Koje und versuchte nachzudenken, während er mit dem Oberkörper den Bewegungen des Schiffes folgte. Das Geld hätte ihn für sein ganzes Leben zum reichen Mann gemacht. Er hatte Informationen in der Hand, die unzählige Iren an den Galgen brachten, wenn er sie der Regierung übergab. Ein plötzlicher Einfall veranlaßte ihn, alles wieder in der Kiste zu verstauen und den Deckel zu schließen. Für den Augenblick war es eine nette Zerstreuung, die geniale Mechanik dieses Geheimverschlusses zu studieren, vor allem, weil sie ihn von ernsteren Gedanken wirkungsvoll abhielt. Wenn nicht alle Verschlüsse der Reihe nach betätigt wurden, geschah gar nichts. Das I drehte sich nicht, wenn das B nicht vorher gezogen war. Es war höchst unwahrscheinlich, daß irgendein Neugieriger dieses B mit der erforderlichen Kraft herauszog. Man konnte kaum annehmen, daß jemand ohne jeden Hinweis herausfand, wie man den Deckel aufbrachte. Die Nähte im Holz waren so sauber gearbeitet, daß man sie kaum sah. Hornblower sagte sich, daß Payne der Leidtragende wäre, wenn er seine Entdeckung melden würde, denn der war ja mit der Durchsuchung McCools und seiner Sachen beauftragt gewesen. Die ganze Flotte würde über den armen Payne lachen, der damit zugleich verraten und geschlagen war.
Hornblower schob die Kiste wieder unter seine Koje. Er war jetzt gegen jede Überraschung durch Smith gesichert und konnte weiterversuchen, über seine Entdeckung nachzudenken. In McCools Brief hatte die volle Wahrheit gestanden, er war wirklich treu bis in den Tod gewesen. Sein letzter Gedanke hatte der Sache gegolten, für die er gestorben war. Wenn der Wind in der Tor Bay nur noch ein paar Stunden aus Westen gestanden hätte, dann hätte er die Kiste nach Dublin auf den Weg gebracht.
So aber war das ganze für ihn eine großartige Empfehlung, die ihm Lob und offizielle Beachtung einbringen mußte - Dinge, die jeder junge Leutnant dringend brauchte, dem kein Gönner zu einer baldigen Beförderung zum Kapitän verhalf. In Irland gab es dann reichlich neue Arbeit für den Henker. Hornblower erinnerte sich, wie McCool gestorben war, und dabei wurde ihm richtig übel. In Irland war es jetzt ruhig. Die Siege von St. Vincent, von Abukir und Camperdown hatten die Gefahr gebannt, die England gedroht hatte. Jetzt konnte England es sich leisten, großherzig zu sein. Und auch er selbst konnte sich das leisten. Was aber wurde aus dem Geld? Wenn Hornblower sich späterhin an dieses vergangene Ereignis erinnerte, kam er zynisch zu dem Ergebnis, daß er der Versuchung nur deshalb widerstanden hatte, weil Banknoten immer eine gewisse Gefahr bedeuteten. Sie tragen ja alle Nummern, darum ist ihr Weg leicht zu verfolgen. Bei den Noten in der Kiste mußte man außerdem damit rechnen, daß sie von der französischen Regierung gefälscht waren. Aber Hornblower legte seine wirklichen Beweggründe falsch aus. Wahrscheinlich diente ihm das zur Stärkung seines Selbstbewußtseins, weil diese wirklichen Beweggründe so wirr und ungreifbar waren, daß er sich ihrer schämte. Ihm ging es vor allem darum, McCool endlich zu vergessen. Er wollte den ganzen traurigen Fall als erledigt betrachten.
Viele Stunden wanderte er noch an Deck auf und ab, ehe seine Entscheidung reifte, und es gab auch Nächte, in denen er keinen Schlaf fand. Aber am Ende kam Hornblower dann doch zu einem Entschluß. Mit aller Sorgfalt traf er seine Vorbereitungen, und als die Zeit gekommen war, handelte er zielbewußt und entschlossen. Am Abend eines ruhigen Tages hatte er die Abendwache übernommen, Finsternis hatte sich über die Biscaya gesenkt, und die Renown glitt unter kleinen Segeln mit wenig Fahrt über das schwarze Wasser. Ihre Gefährten waren eben noch zu unterscheiden. Smith saß mit dem Zahlmeister und dem Arzt in der Messe beim Kartenspiel. Ein Wort Hornblowers sandte die beiden stumpfsinnigsten Männer der Wache unter Deck in seine Kammer, um die Seekiste heraufzuholen, die er schon im voraus sorgfältig mit Segeltuch umkleidet hatte. Sie war sehr schwer, da er in das Segeltuch zwei Vierundzwanzig-Pfünder-Kugeln mit eingenäht hatte. Die Männer ließen die Kiste auf seinen Befehl an den Speigatten stehen. Als es dann um vier Glasen für die Renown Zeit wurde zu wenden, gelang es ihm, das Ding mit einer gewaltigen Kraftanstrengung über Bord zu befördern. Der Aufschlag auf das Wasser wurde wegen des Wendemanövers nicht bemerkt.
Nun war da noch jener Brief. Er lag in Hornblowers Schreibmappe und nahm ihm die Ruhe, sooft er ihn erblickte.
Diese zärtlichen Worte, dieser liebevolle Abschied! Es war wirklich eine Schande, daß McCools Witwe nicht die Möglichkeit haben sollte, diesen Brief zu lesen und wie einen kostbaren Schatz zu bewahren. Später erst - als die Renown im Hamoaze lag, um für Westindien ausgerüstet zu werden, saß Hornblower eines Tages beim Dinner neben Payne. Es dauerte eine ganze Weile, bis er dem Gespräch die richtige Wendung geben konnte.
»Weil wir gerade davon sprechen«, sagte Hornblower dann wie beiläufig, »wissen Sie eigentlich, ob McCool verheiratet war?«
»Der verheiratet? Nein. Ehe er Paris verließ, war er in einen bekannten Skandal um die Tänzerin La Gitanita verwickelt. Von einer Frau - oder vielmehr einer Witwe kann keine Rede sein.«
»Sieh einer an«, sagte Hornblower mehr zu sich selbst. Der Brief war also nur eine literarische Stilübung gewesen, ebenso wie das Gedicht. Hornblower sagte sich, daß die Kiste und der Brief für die Witwe McCool in jenem Haus in Dublin von den übrigen Leuten, die dort wohnten, gebührend in Empfang genommen worden wären. Er ärgerte sich ein bißchen, daß er an diese nicht existente Witwe so viele Gedanken verschwendet hatte, aber jetzt konnte der Brief hinter der Kiste her über Bord fliegen. Und Payne sollte auf keinen Fall in der Flotte zur Zielscheibe des Gelächters werden.