Hornblowers Plan

Hornblower during the crisis (1967)

1. Kapitel

Hornblower hatte schon erwartet, daß es klopfen würde, denn er hatte durch sein Kajütenfenster genug gesehen, um zu erraten, was draußen vor sich ging.

»Wasserleichter kommt längsseit«, meldete Bush mit dem Hut in der Hand. »Danke, Mr. Bush.« Hornblower war innerlich aus dem Gleichgewicht und darum etwas gereizter Stimmung.

Jedenfalls war er nicht geneigt, Bush das Leben leichter zu machen.

»Der neue Kommandant ist an Bord, Sir.« Bush war sich über Hornblowers schlechte Stimmung völlig im klaren, aber er besaß nicht genug geistige Wendigkeit, um damit fertig zu werden.

»Danke, Mr. Bush.« Es war einfach grausam, einen armen Teufel geflissentlich hochzunehmen, der sich so gut wie gar nicht wehren konnte. Hornblower gab sich Rechenschaft, daß sein Verhalten ihm selbst keine Freude machte und Bush nur in Verlegenheit brachte. Er nahm sich vor, der Unterhaltung wenigstens etwas von ihrer dienstlichen Steifheit zu nehmen.

»Nun, Mr. Bush, haben Sie jetzt vielleicht ein paar Minuten für mich übrig?« sagte er. »Nach Ihrer eifrigen Tätigkeit während der letzten zwei Tage ist das vielleicht eine Abwechslung für Sie.«

Das war weder anständig noch freundlich. Bush verriet ihm durch seinen Ausdruck deutlich genug, was in ihm vorging. »Ich hatte meine Pflicht zu tun, Sir«, murmelte er.

»Natürlich, Sie mußten ja die Hotspur für den neuen Kommandanten tiptop in Schuß bringen.«

»Ja - jawohl, Sir.«

»Natürlich, ich habe ja hier nichts mehr zu sagen und zähle daher nicht mehr mit.«

»Aber Sir!«

Obwohl Hornblower nichts ferner lag, konnte er doch nicht umhin zu lächeln, als er Bushs unglückliche Miene sah.

»Ich freue mich, Ihnen anzusehen, Mr. Bush, daß Sie doch nur ein Mensch sind wie andere auch. Zuweilen habe ich ernstlich daran gezweifelt. Ich hätte mir keinen besseren Ersten Offizier denken können.« Bush brauchte ein paar Sekunden, um mit dieser unerwarteten Anerkennung fertig zu werden.

»Ich danke Ihnen sehr für dieses Urteil, Sir. Das ist mehr als ich mir erwarten durfte. Aber schließlich war doch alles Ihr eigenes Werk.« Jetzt drohte die Gefahr, daß sie im nächsten Augenblick auf den schlüpfrigen Pfad der Gefühlsduselei gerieten. Das durfte nicht sein, er hätte es nicht ertragen.

»Zeit, daß ich an Deck gehe«, sagte Hornblower, »das beste ist, wir verabschieden uns gleich hier, Mr. Bush. Ich wünsche Ihnen unter Ihrem neuen Kommandanten Glück und Erfolg.«

Er gab der Stimmung des Augenblicks so weit nach, daß er Bush die Hand reichte, die dieser dankbar ergriff. Es war ein Glück, daß er vor Rührung nur ein: »Leben Sie wohl, Sir« über die Lippen brachte. Hornblower eilte im Geschwindschritt durch die Kajütentür hinaus, und Bush folgte ihm auf dem Fuße.

Als der Wasserleichter jetzt längsseit der Hotspur anlegte, gab es sofort eine Menge Ablenkung. Wohl war die Bordwand des Leichters von vorn bis achtern mit aufgerollten alten Segeln und mit Sandsäcken als Fendern geschützt, dennoch war es auch in dem geschützten Winkel dieser kleinen Bucht eine knifflige Aufgabe, eine Leinenverbindung zwischen beiden Schiffen herzustellen und sie zusammenzuholen. Von dem Wasserleichter wurde unter lautem Geklapper eine Stelling herübergeschoben, um die Lücke zwischen den beiden Decks zu überbrücken; dann machte sich ein stämmiger Mann in großer Uniform als erster daran, diesen unsicheren Steg zu überqueren.

Er war sehr groß, mindestens einen Meter neunzig, und schwer gebaut. Anscheinend stand er in mittleren Jahren, womöglich schon darüber, das verriet sein grauer Haarschopf, als er jetzt seinen Hut lüftete. Die Bootsmannsmaate pfiffen laut Seite, und die beiden Trommler des Schiffs schlugen dazu einen nicht ganz sauberen Wirbel. »Willkommen an Bord, Sir«, sagte Hornblower.

Der neue Kommandant zog ein Papier aus der Tasche, faltete es auseinander und begann zu lesen. Ein Ruf Bushs bewirkte, daß jedermann an Deck die Mütze zog, so daß der Akt mit der gebotenen Feierlichkeit ablief. »Der nachfolgende Befehl wurde von uns, William Cornwallis, Vizeadmiral der roten Flagge, Ritter des ehrwürdigsten Bathordens und Befehlshaber Seiner Majestät Schiffe und Fahrzeuge der Kanalflotte, an James Percival Meadows Esquire -«

»Ja glaubt ihr denn, ich habe den ganzen Tag Zeit?« ertönte da eine Stentorstimme vom Deck des Leichters. »Wer nimmt hier denn endlich die Schläuche wahr? Herr Leutnant, schicken Sie mir doch Leute für die Pumpen!«

Der Ruf kam, durchaus berechtigterweise, von dem massigen Kapitän des Leichters. Bush winkte ihm wütend zu, den Mund zu halten, bis das Zeremoniell beendet war.

Aber den dicken Kapitän focht das nicht an. »Für euer Affentheater ist noch Zeit genug, wenn ihr das Wasser an Bord habt. In einer Stunde schlägt der Wind um.« Kapitän Meadows zog die Stirn in Falten und unterbrach seine Lesung, aber trotz seiner Statur war er außerstande, den Kapitän des Leichters zum Schweigen zu bringen. Also gab er den Rest seines Befehls schreiend in einem Tempo zum besten, das eher einem Galopp als einem Trab zu vergleichen war. Als er die Lesung beendet hatte und damit rechtmäßig als Kommandant HMS Hotspur eingesetzt war, faltete er die Urkunde sichtlich erleichtert wieder zusammen. »Mützen auf«, kommandierte Bush.

»Sir, ich übernehme hiermit das Kommando«, sagte Meadows zu Hornblower.

»Ich bedaure das üble Benehmen des Mannes auf dem Wasserleichter, Sir«, meinte Hornblower zu Meadows.

»Jetzt brauche ich endlich ein paar kräftige Burschen«, sagte der dicke Kapitän, ohne jemand bestimmten anzureden. Darauf zuckte Meadows gleichmütig die breiten Schultern.

In aller Hast stellte Hornblower vor: »Mein Erster Offizier - Verzeihung, Ihr Erster Offizier, Mr. Bush.«

»Lassen Sie sich nicht stören, Mr. Bush«, sagte Meadows, und Bush machte sich sofort voll Eifer an die Aufgabe, das Frischwasser aus dem Leichter an Bord zu pumpen.

»Was ist denn das für ein Kerl«, fragte Hornblower und zeigte mit dem Daumen auf den Kapitän des Wasserleichters.

»Der war die letzten zwei Tage mein Hauskreuz«, gab ihm Meadows zur Antwort. »Jeder Satz, den er sagte, war mit schmutzigen Schimpfworten gespickt, die ich Ihnen nicht zu wiederholen brauche. Der Mann ist nicht nur Kapitän, sondern mit siebenunddreißig von vierundsechzig Anteilen Miteigner des Fahrzeugs. Er steht unter Vertrag mit dem Marineamt. Er und seine Leute sind den Preßkommandos entzogen, weil sie alle Schutzbriefe haben. Er sagt, was ihm einfällt, er tut, was ihm beliebt. Ich sage Ihnen, ich würde alles Prisengeld der nächsten fünf Jahre darangeben, wenn ich den Kerl nur zehn Minuten an der Gräting haben könnte.«

»Ach«, sagte Hornblower. »Und ich muß jetzt bei ihm als Passagier einsteigen.«

»Hoffentlich kommen Sie besser mit ihm zu Rande als ich.«

»Achtung, Sirs!« Ein Matrose des Wasserfahrzeugs kam schweren Schrittes über die Stelling und zog einen leinenen Schlauch hinter sich her. Dicht hinter ihm folgte ein Mann mit Papieren. Im nächsten Augenblick herrschte überall lebhaftes Treiben.

»Ich möchte Ihnen jetzt gern die Schiffspapiere übergeben, Sir. Darum wollte ich Sie bitten, mitzukommen - die Papiere liegen in Ihrer Kajüte bereit, wenn Sie Zeit haben, sich mit ihnen zu befassen.« Seine Seekiste und sein Seesack standen einsam und verlassen auf den nackten Decksplanken der Kajüte und zeugten in herzbewegender Weise von seiner bevorstehenden Abfahrt. Es war jetzt nur noch eine Angelegenheit weniger Minuten, den Kommandowechsel durchzuführen. »Darf ich mir von Mr. Bush einen Mann erbitten, der mir mein Gepäck von Bord bringt?« fragte Hornblower Meadows.

Jetzt war er niemand mehr, nicht einmal ein Passagier, seine Rolle an Bord war ausgespielt. Das kam ihm noch deutlicher zum Bewußtsein, als er an Deck zurückkehrte und sich nach seinen Offizieren umsah, um ihnen Lebewohl zu sagen. Sie waren alle mit den Aufgaben des Augenblicks befaßt und hatten für ihn kaum eine Sekunde Zeit. Darum kam es nur zu einem hastigen und oberflächlichen Händeschütteln. Als das überstanden war, wandte er sich seltsam erleichtert der Stelling zu.

Aber dieses Gefühl der Erleichterung war nur von sehr kurzer Dauer. Die Hotspur rollte sogar vor Anker in der Dünung, die um die Landspitze herum in die Bucht hereinkurvte. Aber die Hotspur und der Wasserleichter rollten in entgegengesetztem Rhythmus, ihre Aufbauten neigten sich also zuerst gegeneinander und dann auseinander. So kam es, daß die Stelling, die beide Schiffe verband, mehreren deutlich unterschiedenen Bewegungen unterworfen war. Sie schwang einmal senkrecht wie eine Wippe und zweitens auch horizontal wie eine Kompaßnadel. Zugleich hob und senkte sie sich auch als Ganzes. Bei weitem die übelste Bewegung, die ihm sofort auffiel, als er sich daranmachte, die Stelling zu betreten, bestand darin, daß sie sich ruckartig vor und zurückschob, wenn die Schiffe gegeneinander oder auseinander krängten. Dann war der von der Planke überbrückte Zwischenraum einmal nur zwei Meter, dann wieder volle fünf Meter breit. Für einen barfüßigen Matrosen war es ein Kinderspiel, diese Stelling zu überschreiten, Hornblower sah dem Unterfangen nicht ohne Besorgnis entgegen. Die Planke war immerhin nur einen halben Meter breit und hatte nicht einmal ein Strecktau, an dem man sich festhalten konnte. Er wußte überdies genau, daß ihn der dicke Kapitän des Wasserfahrzeugs beobachtete; daher nahm er sich vor, sich kein Zögern anmerken zu lassen, nachdem er sich einmal entschlossen hatte hinüberzugehen. Bis zu diesem Augenblick verfolgte er die Bewegungen der Stelling auf das genaueste aus dem Augenwinkel und erweckte dabei den Anschein, als sei seine ganze Aufmerksamkeit durch die Vorgänge an Bord beider Schiffe voll in Anspruch genommen.

Dann - plötzlich - stürmte er los. Im nächsten Augenblick hatte er beide Füße auf der Planke, dann kam ein schrecklicher Augenblick, als er trotz aller Eile überhaupt nicht voranzukommen schien. Endlich gelangte er ans Ende der Stelling und erreichte mit einem letzten großen Schritt das vergleichsweise stabile Deck des Wasserleichters, wo er dankbar aufatmete.

Dem dicken Kapitän fiel es nicht ein, ihn an Bord seines Schiffes willkommen zu heißen. Zwei Matrosen setzten Hornblowers Sachen an Deck, er selbst aber sah sich durch das Verhalten des Mannes genötigt, selbst den ersten Schritt zur Bekanntschaft mit ihm zu unternehmen. »Sind Sie der Kapitän dieses Schiffes, Sir?« fragte er. »Kapitän Baddlestone, Kapitän des Leichters Princess

»Ich bin Kapitän Hornblower und soll an Bord Ihres Schiffes nach England fahren«, sagte Hornblower. Er wählte absichtlich diese Ausdrucksweise, weil er sich über Baddlestones großspuriges Getue ärgerte. »Haben Sie denn einen Berechtigungsschein?«

Diese Frage und die Art, in der sie an ihn gerichtet wurde, stellte Hornblowers Selbstbeherrschung auf eine harte Probe.

Jetzt war das Maß voll, weitere Unverschämtheiten ließ er sich nicht mehr gefallen. »Ja«, erklärte er.

Baddlestone hatte ein großes, rundes, rotes, fast purpurnes Gesicht. Aus diesem Gesicht, unter zwei buschigen schwarzen Brauen hervor, begegneten ein Paar überraschend helle blaue Augen Hornblowers hochmütigem Blick. Hornblower war entschlossen, keinen Zoll zu weichen, und wollte dem Frontangriff dieser blauen Augen bis auf weiteres standhalten, aber er mußte erfahren, daß seine Flanke säuberlich umgangen wurde. »Kajütverpflegung kostet am Tag eine Guinee. Sie können aber auch einen Pauschalpreis von drei Guinee bezahlen«, verkündigte ihm Baddlestone. Er war überrascht zu hören, daß er für die Verpflegung an Bord überhaupt zu zahlen hatte, und war sich sehr wohl bewußt, daß diese Überraschung in seiner Miene zum Ausdruck kam. Aber mit Worten wollte er sie nicht verraten. Ja, er wollte sich nicht einmal dazu herablassen, die Fragen zu stellen, die er schon auf der Zunge hatte. Baddlestone hatte ohne Zweifel das Recht auf seiner Seite.

Der Chartervertrag mit dem Marineamt verpflichtete ihn wahrscheinlich, reisenden Offizieren auf seinem Schiff Unterkunft zu gewähren.

Aber von Vereinbarungen über ihre Verpflegung war darin vermutlich nicht die Rede. Hornblower überlegte in aller Eile.

»Also drei Guinee«, sagte er so hochmütig, wie er nur konnte, und mit dem Gehaben eines Mannes, dem der Unterschied zwischen einer und drei Guinee überhaupt nichts ausmacht. Erst als er diese Worte gesprochen hatte, kam er zu der Erkenntnis, daß der Wind wahrscheinlich wieder nach Osten zurückdrehte und daß sich daraus eine lange Rückreise ergeben mußte.

Während dieses Gesprächs hatte die eine Pumpe höchst unregelmäßig gearbeitet, und jetzt hörte plötzlich auch die zweite zu arbeiten auf. Nach dem monotonen Geräusch der Pumpen wirkte die plötzliche Stille überraschend. Jetzt hörte man Bush von der Hotspur herüberrufen:

»Das sind nur neunzehn Tonnen«, rief er, »wir können noch zwei mehr unterbringen.«

»Die werden Sie nicht bekommen«, schrie Baddlestone.

»Unsere Tanks sind leer.«

Es war ein seltsames Gefühl für Hornblower, daß ihn diese ganze Geschichte nichts mehr anging. Er war ja jetzt frei von jeder Verantwortung. Dennoch rechnete er sich wie automatisch aus, daß die Hotspur jetzt Frischwasser für vierzig Tage an Bord hatte. Es war nun Meadows' Aufgabe, mit diesem Vorrat hauszuhalten. Und wenn der Wind wirklich nach Osten drehte, dann war es Aufgabe der Hotspur, die Mündung des Goulet so dicht unter Land zu sperren, wie es irgend möglich war. Auch diese Aufgabe oblag jetzt Meadows, ihn ging sie nichts mehr an, jetzt nicht und in aller Zukunft nicht.

Die Matrosen, die an den Pumpen gearbeitet hatten, liefen jetzt eilig über die Stelling zurück auf die Hotspur, die zwei Männer der Princess, die die Schläuche bedient hatten, kamen mit diesen wieder auf ihr Schiff zurück. Als letzter erschien der Steuermann der Princess mit seinen Papieren. »Klar zum Loswerfen!« schrie Baddlestone. »Klar heißt Klüverschot.«

Baddlestone ging selbst ans Ruder und manövrierte seinen Leichter sehr geschickt frei von der Hotspur. Dann steuerte er sein Schiff weiter, während seine sechs Männer unter Aufsicht des Steuermanns darangingen, die Fender, die an der Bordwand hingen, binnenbords zu holen und zu verstauen. Sekunden später war der Abstand zwischen den beiden Schiffen schon so groß, daß man ihn mit der Stimme nicht mehr überbrücken konnte.

Hornblower warf einen Blick über das sonnenglitzernde Wasser zurück nach seinem alten Schiff. Meadows hatte offenbar alle Mann pfeifen lassen, um der Besatzung seine Antrittsrede zu halten; für den Leichter oder gar für ihn, Hornblower, der hier einsam an Deck stand, hatte bestimmt keiner mehr einen Blick übrig. Die Bande der Kameradschaft, ja des gegenseitigen Vertrauens waren in der Navy viel stärker als anderswo, aber diese Bande konnten plötzlich, mit einem Wort zerrissen werden. Es war mehr als wahrscheinlich, daß er Bush nie mehr in seinem Leben begegnete.

2. Kapitel

Das Leben an Bord des Wasserleichters Princess war alles andere als angenehm. Das Schiff hatte seine ganze Ladung Trinkwasser abgegeben, und es war so gut wie nichts vorhanden, das verlorene Gewicht zu ersetzen. Die leeren Fässer durften ja auf keinen Fall durch das Seewasser verunreinigt werden, dazu waren sie viel zu wertvoll. So gab es denn nur ein paar Säcke Sand, die zwischen die leeren Fässer geklemmt wurden, um dem Leichter doch noch etwas Stabilität zu geben.

Man hatte diese Schwierigkeit schon beim Entwurf des Fahrzeugs berücksichtigt, sein schüsselähnlicher Rumpf war so breit, daß Kentern kaum in Frage kam, auch wenn der Laderaum leer war, aber dafür hatte es alle anderen schlechten Eigenschaften, die man sich nur denken konnte. Alle seine Bewegungen waren unwahrscheinlich heftig und für jeden Neuling an Bord völlig ungewohnt. Es konnte kaum besser Luv halten als ein Floß und trieb so haltlos nach Lee, daß für die Fahrt nach Plymouth das Schlimmste zu befürchten war, solange der Wind den geringsten östlichen Einschlag zeigte. So kam es, daß Hornblower auf diesem Schiff beträchtliche Härten in Kauf nehmen mußte. Als Folge der neuen Bewegungen unter seinen Füßen war er zwei Tage lang in Gefahr, regelrecht seekrank zu werden. Da er schon mehrere Wochen ohne Unterbrechung in See gewesen war, kam das Übelsein nicht richtig zum Ausbruch.

Er sagte sich zwar, daß das wohl nicht so unerfreulich gewesen wäre wie sein augenblicklicher Zustand, zugleich aber wußte er im Innersten seines Herzens, daß das nicht stimmte. Er bekam eine Hängematte in einer winzigen Kammer zugewiesen, die nur vier Quadratmeter Bodenfläche besaß und einen Meter fünfzig hoch war. Diese Kammer wenigstens hatte er für sich allein und konnte sich sogar ein klein wenig damit trösten, daß sich in dem kleinen Raum Haken für nicht weniger als acht Hängematten befanden, die in zwei Reihen zu je vieren übereinander angebracht waren. Er hatte schon seit langem nicht mehr in einer Hängematte geschlafen, darum wollte sich sein Rückgrat nicht gleich in die nötige Biegung fügen. Eben dieses Rückgrat übermittelte ihm dabei ununterbrochen die ausgefallenen Stampf- und Schlingerbewegungen des Leichters. So kam es, daß ihm in diesem Elend die Erinnerung an seine Koje auf der Hotspur wie ein sehnsuchtsvoller Traum von unerhörtem Luxus vor Augen stand.

Der Wind stand weiterhin aus Nordosten, er brachte klaren Himmel und Sonnenschein, aber Hornblower hatte nicht viel davon, es sei denn die Genugtuung, daß er Baddlestones Kajütkost nun bestimmt länger als drei Tage genießen durfte.

Ein recht zweifelhaftes Vergnügen. Er hatte nur den Wunsch, so schnell wie irgend möglich nach England, nach London und nach Whitehall zu gelangen, um sich dort eine Kommandantenstelle zu sichern, ehe sich irgendein Ereignis dabei störend auswirken konnte. Verdrossen beobachtete er, wie die Princess immer weiter nach Lee sackte, schneller sogar als die schwerfälligen Linienschiffe, die vor Ouessant versammelt lagen. Hier an Bord gab es nichts zu lesen und nichts zu tun, ja es fand sich sogar nirgends ein Winkel, wo er dieses Nichtstun wenigstens hätte genießen können.

Er hatte es satt, in der Hängematte zu liegen, darum kam er an Deck. Baddlestone hob eben mit Schwung den Kieker ans Auge und starrte nach Luv.

»Da kommen sie!« sagte er so mitteilsam, wie man es sonst nicht von ihm gewohnt war.

So herablassend wie möglich reichte er Hornblower das Glas.

Für einen Kapitän gab es, wie Hornblower sehr wohl wußte, kaum eine großzügigere Geste, als sich auch nur für einen Augenblick von einem Glas zu trennen, wenn etwas Interessantes in Sicht war. Hier kam nun eine richtige Flotte auf sie zu, weit mehr als ein bloßes Geschwader. Vier Fregatten jagten einander unter vollen Segeln, um die Spitze zu gewinnen.

Hinter ihnen folgten zwei Kolonnen Linienschiffe, sieben in der einen, sechs in der anderen Kiellinie. Sie setzten eben ihre Leesegel, während sie in genauen Abständen näher kamen. Mit dem Wind recht von achtern und unter Vollzeug kam die Flotte auf die Princess zugebraust. Es war ein grandioser Anblick. Die Kommandowimpel flatterten voraus und die Admiralsflaggen taten es ihnen gleich, es war, als ginge es ihnen nicht schnell genug. Jeder der steilen Steven schob eine schäumende Bugwelle vor sich her, die sich rhythmisch hob und senkte, während das Schiff über das blaue Wasser glitt. Hier zeigte sich Englands Seemacht in all ihrer Herrlichkeit. Die zweite Fregatte von rechts kam dicht an dem wild arbeitenden Wasserleichter vorüber. »Das ist die Diamond, 32 Geschütze«, sagte Baddlestone, der inzwischen auf irgendeine Art wieder in den Besitz seines Kiekers gelangt war. Hornblower starrte neidisch und sehnsüchtig hinüber, als sie in Kanonenschußweite vorüberbrauste. Jetzt enterten die Männer drüben im Fockmast auf, das Vorbramsegel wurde in der kurzen Zeitspanne geborgen und wieder gesetzt, während die Diamond an ihnen vorüberkam.

Dieses Schiff war wirklich in bester Form - Hornblower hatte am Stand seiner Segel nicht das geringste auszusetzen. Der Steuermann des Leichters hatte im letzten Augenblick eine schmutzige rote Handelsflagge gesetzt, gerade noch rechtzeitig, um sie grüßend zu dippen. Zur Erwiderung wurde drüben die blaue Flagge gedippt. Jetzt kam die Steuerbordkolonne der Linienschiffe heran. Ein mächtiger Dreidecker lag an der Spitze und ragte mit seinen Decksaufbauten hoch über die See. Seine drei karierten Reihen Geschützpforten boten sich immer deutlicher dem Blick, als er näher kam, eine blaue Vizeadmiralsflagge wehte im Vortopp.

» Prince of Wales, 98 Geschütze, Vizeadmiral Sir Robert Calder, Baronet«, sagte Baddlestone. »Bei diesem Haufen sind noch zwei Admirale mehr.« Die Flaggen senkten sich zum Gruß, und schon kam der nächste heran, sein Bug setzte vor dem Wind ein, daß die Gischt flog, wieder wurde gedippt, und so ging es weiter, bis die sieben Schiffe vorüber waren. »Guter Wind nach Finisterre«, sagte Baddlestone. »Ja, es sieht so aus, als wäre das ihr Ziel«, meinte Hornblower. Offenbar wußte Baddlestone über Flottenbewegungen ebensoviel wie er selbst, wahrscheinlich sogar mehr. Vor noch nicht einer Woche war der Mann ja in Plymouth gewesen, hatte dort englische Zeitungen gelesen und den ganzen Wirtshausklatsch gehört. Hornblower selbst hatte ja auch erst kürzlich auf der Shetland allerlei erzählen hören, dem Schiff mit dem Verpflegungsnachschub, das erst ein paar Tage vor der Princess längsseit der Hotspur gelegen hatte. Die Tatsache, daß Baddlestone ohne weiteres Finisterre als Calders Ziel bezeichnete und nicht die Straße von Gibraltar oder Westindien, war fast ein überzeugender Beweis, wie gut der Mann im Bilde war.

Hornblower stellte ihn mit seiner nächsten Frage auf die Probe: »Meinen Sie, daß er dann bis zur Meerenge weiterläuft?«

Baddlestone maß ihn mit einem Blick, der fast mitleidig zu nennen war. Dann erwiderte er herablassend: »Nein, diese Flotte segelt nur bis Finisterre.«

»Aber warum denn?«

Baddlestone konnte offenbar kaum begreifen, daß Hornblower wirklich noch nicht wußte, worüber schon in der ganzen Flotte und in der Werft von jedermann gesprochen wurde. »Es ist wegen Villainnoove«, sagte er.

Damit meinte er Villeneuve, den französischen Admiral und Befehlshaber der Flotte, die erst vor einigen Wochen aus dem Mittelmeer ausgebrochen und über den Atlantik nach Westindien geflohen war. »Was ist denn mit ihm?« fragte Hornblower.

»Er kommt zurück und steuert Brest an. Boney meint doch, daß er die französische Flotte herausholen soll. Dann ist der Kanal dran. Boneys Armee wartet schon in Boulogne, und er meint, er könne seine nächste Portion Frösche schon im Schloß Windsor verzehren.«

»Wo ist denn Nelson?« fragte Hornblower.

»Der ist Villainnoove hart auf den Fersen. Wenn er ihn nicht erwischt, dann fängt ihn Calder. Boney muß also noch eine ganze Weile warten, bis er im Kanal französische Segel zu sehen bekommt.«

»Woher wissen Sie denn das alles?«

»Als ich in Plymouth auf guten Wind warten mußte, lief gerade eine Sloop von Nelson ein. Eine halbe Stunde später wußte schon die ganze Stadt Bescheid. Ist doch klar, nicht?«

Das war die wichtigste und allerneueste Kunde, die man sich denken konnte. Und dabei war sie offenbar schon allgemein bekannt. Bonaparte hatte in Boulogne eine viertel Million ausgebildeter und voll ausgerüsteter Soldaten bereit. Trotz der Tausende flachbodiger Fahrzeuge, die er in die französischen Kanalhäfen zusammengeholt hatte, mochte es schwierig sein, dieses Heer über den Kanal zu schaffen, aber mit der Unterstützung von zwanzig oder dreißig, ja womöglich sogar vierzig französischen und spanischen Linienschiffen, die diese Transporte deckten, konnte er schon auf Erfolg hoffen. Es mochte also wirklich sein, daß Bonaparte binnen Monatsfrist seine Frösche im Schloß Windsor verspeiste. Das Schicksal der ganzen Welt, die Zukunft der Zivilisation hing also jetzt davon ab, wie es den britischen Flottenverbänden gelang, ihre Operationen aufeinander abzustimmen. Wenn man in der vergangenen Woche in Plymouth schon so viel wußte, dann war das heute bestimmt auch in Bonapartes Hauptquartier in allen Einzelheiten bekannt. Genaue Kenntnis der britischen Bewegungen und Absichten war ja für die Franzosen von wesentlicher Bedeutung, wenn sie ihren Plan verwirklichen wollten, dessen wichtigste Voraussetzung war, daß sie jeden Zusammenstoß mit feindlichen Seestreitkräften vermieden.

Baddlestone beobachtete Hornblower voll Neugier. Offenbar hatte ihm sein Ausdruck einiges von dem verraten, was ihn jetzt bewegte. »Warum machen Sie sich Sorgen?« sagte Baddlestone.

»Dabei ist noch nie etwas gutes herausgekommen.«

Jetzt war es an Hornblower, den scharfen Blick des dicken Kapitäns zu erwidern.

Bis zu diesem Gespräch hatten die beiden kaum zwanzig Worte gewechselt, während sie seit zwei langen Tagen auf besseren Wind warteten. Baddlestone tat sich offenbar etwas darauf zugute, Seeoffizieren gegenüber eine harte, unzugängliche Haltung zu zeigen. Vielleicht hatte sich diese Einstellung gerade dadurch gemildert, daß Hornblower seinerseits nichts unternahm, ein vertraulicheres Verhältnis herzustellen. »Sorgen?« sagte Hornblower wegwerfend.

»Warum sollte ich mir denn Sorgen machen? Wenn die Zeit kommt, werden wir mit Boney schon abrechnen.«

Baddlestone schien bereits zu bedauern, daß er sich zu einer solchen Äußerung hatte hinreißen lassen. Wie es jeder Kapitän tun sollte, wenn er sich an Deck aufhielt, hatte er wiederholt einen prüfenden Blick nach dem Liek des Großsegels geworfen.

Jetzt kehrte er Hornblower den Rücken und ging auf den Rudergänger los.

»Paß besser auf, verdammter Hornochse!« brüllte er den Mann an. »Du sollst voll und bei halten. Oder willst du vielleicht, daß wir in Spanien auf Dreck laufen? Ein leerer Wasserleichter und am Ruder ein Zuckerbäcker mit Affenpranken - da lernt der Kompaß tanzen.«

Während dieser Schimpfkanonade zog sich Hornblower zurück. Außer den Sorgen, von denen Baddlestone gesprochen hatte, gingen ihm noch ganz andere Dinge durch den Kopf.

Offenbar stand jetzt eine Krisis des Seekrieges bevor. Dabei kam es bestimmt zu Seeschlachten - und er hatte kein Schiff.

Man hatte ihm nur eines versprochen, man hatte ihm zugesagt, er werde zum Fregattenkapitän ernannt, sobald er sich bei der Admiralität melde, um an die Einlösung dieser Zusage zu erinnern. Zwei Jahre lang hatte er bei der Blockade von Brest Härten und Gefahren, endlose Langeweile und Mühen aller Art auf sich genommen. Und jetzt, ausgerechnet in dem Augenblick, da das Kriegsgeschehen seinen Höhepunkt erreichte, sah er sich ohne Kommando. Es konnte nur zu leicht sein, daß er jetzt schon zwischen zwei Stühlen saß. Die Entscheidungsschlacht war vielleicht bereits geschlagen, die Krisis überwunden, wenn er endlich wieder dazu kam, zur See zu fahren. Vielleicht gelang es Calder schon in dieser Woche, Villeneuve abzufangen, vielleicht versuchte Bonaparte schon im Lauf der nächsten vierzehn Tage, den Kanal zu überqueren. Da war es besser, man war nur Commander, aber mit Schiff, als Kapitän ohne Schiff, als Kapitän, der noch nicht einmal im Marine-Verordnungsblatt gestanden hatte. Das alles reichte hin, um einen Menschen rasend zu machen. Zu allem Überfluß wehte der Wind schon seit zwei Tagen stetig aus Nordost, und er saß darum gefangen auf diesem verfluchten Leichter, während Meadows auf der Hotspur jede Gelegenheit hatte, sich hervorzutun. Nach zehn Jahren See-Erfahrung sollte Hornblower immerhin zu der Einsicht gekommen sein (und dessen war er sich auch wohl bewußt), daß es keinen Sinn hatte, sich wegen widriger Winde so zu grämen, daß man Fieber bekam, wegen dieser Winde, die man nie beherrschte, die man nie voraussagen konnte. Er war mit ihnen groß geworden, sie hatten sein ganzes Leben mitgestaltet, darum hätte er wissen müssen, wie man sich zu ihnen stellen mußte.

Dennoch regte er sich jetzt so auf, daß er Fieber bekam.

3. Kapitel

Hornblower lag immer noch in seiner Hängematte, obwohl der Tag längst angebrochen war und die Sonne schon am Himmel stand. Er hatte sich von einer Seite zur anderen gewälzt, ohne dabei ganz wach zu werden - das war eine Kunst, die er erst wieder neu lernen mußte, seitdem er wieder in einer Hängematte schlief. Jetzt war er fest entschlossen, zu bleiben wo er war und so lange wie möglich im Halbschlaf vor sich hinzudösen. Auf diese Art waren die Tage nicht so unerträglich lang und der im Halbschlaf gehemmte Verstand konnte nicht die ganze Zeit gespannt in den Problemen wühlen. Der gestrige Tag war schlimm gewesen. Bei Dunkelwerden war der Wind umgesprungen, so daß sie kanaleinwärts steuern konnten. Aber dieses Glück hatte nur so lange vorgehalten, bis die Princess wieder mitten im Blockadeverband angelangt war, dann hatte der Wind wieder in die alte Richtung zurückgedreht. Es war zum Verrücktwerden! Jetzt entstand an Deck über seinem Kopf Lärm und geschäftiges Hin und Her. Offenbar war ein Boot längsseit gekommen. Was konnte das schon groß sein, knurrte er vor sich hin, als er sich jetzt anschickte, die Hängematte zu verlassen. Bestimmt ging ihn diese Sache nicht das mindeste an, und außerdem handelte es sich wahrscheinlich nur um irgendeinen bürokratischen Stumpfsinn. Aber der Vorgang an Deck reichte dennoch aus, ihn gegen seine ursprüngliche Absicht aus der Hängematte zu locken. Er hatte die Füße eben an Deck gesetzt, saß aber noch in der Mulde der Hängematte, als der Fähnrich hereinkam. Hornblower sah den Jungen aus trüben Augen an, seine makellose weiße Kniehose und die Schnallenschuhe verrieten ihm, daß er irgendein verwöhntes Bürschchen von einem Flaggschiff vor sich hatte. Der Fähnrich hielt ihm einen Brief entgegen. Da war Hornblower augenblicklich hellwach. Er riß die Oblate durch, mit der das Schreiben versiegelt war.

›Sie werden hiermit ersucht und angewiesen, auf eigene Gefahr als Zeuge vor einem Kriegsgericht auszusagen, das am 20 Mai 1805 um 9 Uhr vormittags in der Kajüte Seiner Majestät Schiff Hibernia zusammentreten wird. Angeklagt sind der Kapitän James Percival Meadows sowie die Offiziere und Mannschaften der früheren Korvette Hotspur, wegen des Verlustes besagten Schiffes durch Strandung in der Nacht zum 18 Mai 1805.

Henry Bowden, R A Chef des Stabes.

P. S. Sie werden mit einem Boot abgeholt.‹

Das war aufregend, ja bestürzend. Hornblower starrte unentwegt auf das Schreiben und las es immer wieder von Anfang bis zum Ende durch. Endlich besann er sich auf die Gegenwart des Fähnrichs, die von ihm verlangte, so zu tun, als ob ihn nichts erschüttern konnte.

»Es ist gut, ich danke Ihnen«, sagte er kurz angebunden.

Kaum hatte ihm der Fähnrich daraufhin den Rücken gekehrt, da sprang er auf, um seine Seekiste zu öffnen. Gleichzeitig überlegte er krampfhaft, wie er seine schäbige und zerknitterte Galauniform wieder einigermaßen ansehnlich machen konnte.

Seiner Majestät frühere Korvette. Das konnte nur bedeuten, daß die Hotspur total verlorengegangen war. Aber Meadows lebte noch, was wiederum hieß, daß keine oder nur geringe Verluste zu beklagen waren. Sicher hatte Meadows die Hotspur unverzüglich auf Strand gesetzt. Das war in einem solchen Fall immer die einfachste Lösung. Jedenfalls behaupteten das immer jene, die noch nie gezwungen gewesen waren, sich dazu zu entschließen. Um sich zu rasieren, mußte er seine Seekiste unter das Deckslicht ziehen und sich darauf stellen, so daß sein Kopf über Deckshöhe war und er seinen Spiegel an Deck stellen konnte. Er war nicht groß genug, um ohne die Kiste auszukommen Dabei ging ihm durch den Kopf, wie leicht es Meadows hier an seiner Stelle hatte. Er wäre groß genug gewesen, um über das Süll des Deckslichts hinwegschauen zu können, ohne seiner Größe künstlich ein Stück hinzuzufügen.

Jetzt kam Baddlestone herzu und versorgte Hornblower aus freien Stücken mit den allerneuesten Nachrichten, während dieser mühsam das Gleichgewicht hielt, weil er sich noch nicht genügend an die Bocksprünge der Princess gewohnt hatte. Es fiel ihm vor allem schwer, mit der Linken die Gesichtshaut glatt zuziehen, während er mit der Rechten das Messer handhabte.

»Die Hotspur ist ja nun auf den Pierres Noires verlorengegangen«, sagte Baddlestone.

»Ja sie ist gestrandet«, sagte Hornblower, »ich wußte nur nicht, wo.«

»Nennen Sie das gestrandet, wenn ein Schiff auf dem Grund der See liegt? Sie ist bei fallender Tide auf einen Felsen aufgelaufen. Bekam natürlich ein Leck und lief voll. Bei der nächsten Flut kam sie frei und sackte ab.« Es war immer wieder erstaunlich, wie diese Hilfsschiffe zu ihren Nachrichten kamen.

»Sind dabei Menschen umgekommen?« fragte Hornblower »Nicht daß ich wüßte«, sagte Baddlestone.

Er hätte es sicher gehört, wenn Offiziere ertrunken wären. Sie waren also alle in Sicherheit, Bush eingeschlossen. Hornblower konnte seine Aufmerksamkeit endlich wieder dem Rasieren zuwenden, zumal jetzt die schwierige Stelle um den linken Mundwinkel an der Reihe war. »Und Sie, heißt es, sollen als Zeuge vernommen werden?« fragte Baddlestone »Ja.« Hornblower hatte durchaus keine Lust, Baddlestones Vorrat an Klatsch zu bereichern.

»Wenn der Wind nach Westen krimpt, segle ich ohne Sie ab.

Ihre Seekiste setze ich dann in Plymouth an Land.«

»Sie sind außerordentlich gütig«, entfuhr es Hornblower.

Aber dann gebot er sich sofort Einhalt. Es kam ja nichts dabei heraus, wenn er sich mit diesem einfachen Mann aus dem Volke anlegte, vor allem aber gab es auch noch andere Erwägungen, die ihn bestimmten, mit dem Mann den Frieden zu wahren.

Endlich war er fertig. Er trocknete sein Gesicht ab und wischte die Klinge des Rasiermessers sauber. Dann sah er Baddlestone fest in die Augen.

»Diese Antwort hätten mir nicht viele Männer gegeben«, sagte Baddlestone.

»Nicht viele Männer haben ihr Frühstück so nötig wie ich in diesem Augenblick«, gab ihm Hornblower zur Antwort.

Um 8 Uhr war das Boot längsseit, und Hornblower stieg ein.

Er trug die einzelne Epaulette auf der linken Schulter zum Zeichen, daß seine Beförderung zum Kapitän noch nicht bestätigt war. Der Säbel an seiner Seite war ein billiges Stück mit Messinggriff, einen besseren hatte er nicht vorzuzeigen. Als er dann aber das Seefallreep der Hibernia erstieg, wurde er mit dem ihm gebührenden Zeremoniell empfangen. Vor ihm waren zwei Kapitäne in glitzernden Uniformen und mit Epauletten auf beiden Schultern an Bord gekommen, die diesem Kriegsgericht offenbar als Richter angehören sollten. Auf der Leeseite des Achterdecks entdeckte er Meadows und Bush, die dort in ernstem Gespräch auf- und abgingen. Aber der Fähnrich, der ihm als Führer zugeteilt war, geleitete ihn von den beiden weg.

Das war ein Beweis dafür - wenn es noch eines solchen bedurfte -, daß er auf Antrag des Gerichts als sachverständiger Zeuge geladen war und darum von den Angeklagten ferngehalten werden mußte, damit jede Möglichkeit der Verdunkelung oder der Einflußnahme vermieden wurde. Fünfundzwanzig Minuten nach dem Kanonenschuß, der die Eröffnung der Verhandlung anzeigte, wurde Hornblower in die große Kajüte gerufen, wo sieben Kapitäne in goldglänzenden Uniformen an einem Tisch unter den Heckfenstern saßen. Ihnen gegenüber saßen Meadows und Bush, Prowse, der Navigationsoffizier und Wise, der Bootsmann. Es war widerwärtig, qualvoll, um nicht zu sagen trostlos, die Besorgnis sehen zu müssen, die in diesen Gesichtern geschrieben stand »Kapitän Hornblower, das Gericht mochte einige Fragen an Sie richten«, sagte der Mann in der Mitte der offenbar den Vorsitz führte, »danach können die Angeklagten von Ihnen wünschen, daß Sie Ihre Ausführungen näher begründen.«

»Jawohl, Sir«, sagte Hornblower.

»Dem Gericht ist bekannt, daß Sie das Kommando über die Korvette Hotspur am Vormittag des 17. übergeben haben.«

»Das ist richtig, Sir.«

»War das Schiff in gutem Zustand?«

»Sein Zustand war annehmbar.« Er hatte hier die Wahrheit zu sagen.

»Was verstehen Sie unter annehmbar? Gut oder schlecht?«

»Gut, Sir.«

»War die Deviationstabelle Ihres Kompasses Ihrer Überzeugung nach in Ordnung?«

»Gewiß, Sir.« Bei allen nautischen Maßnahmen hatte er immer auf größte Sorgfalt und Genauigkeit Wert gelegt.

»Sie haben wohl gehört, daß Seiner Majestät Schiff Hotspur bei fallender Tide auf den Pierres Noires aufgelaufen ist. Haben Sie dazu etwas zu bemerken, Kapitän Hornblower?«

Hornblower knirschte mit den Zähnen.

»So etwas kann sehr leicht geschehen, Sir.«

»Vielleicht haben Sie die Güte, uns diese Behauptung näher zu begründen.« Dazu gab es natürlich eine Menge zu sagen, aber er mußte dabei jedes Wort auf die Waagschale legen. Er durfte hier vor dem Gerichtshof auf keinen Fall den Eindruck eines törichten Schwätzers machen. Zu betonen waren vor allem die navigatorischen Schwierigkeiten, die dieses Gewässer bot, andererseits mußte er dennoch vermeiden allzu sehr zu betonen, daß er selbst diese Schwierigkeiten so lange Zeit gemeistert hatte. Er mußte und wollte für die Angeklagten alles tun, was in seiner Macht stand aber es galt dabei immer die Grenzen zu wahren, die ihm nach Lage der Dinge gesetzt waren. Einige Tatsachen gab es allerdings, die er ohne weiteres vorbringen konnte, weil ein Blick in das Logbuch der Hotspur genügte sie zu bestätigen. Darum sprach er von dem stetigen westlichen Wind der zuvor tagelang geweht hatte und der an jenem Nachmittag in östliche Richtung umgesprungen war und erheblich aufgefrischt hatte. Unter solchen Bedingungen steigerte sich der Ebbstrom oft überraschend zu ungewöhnlicher Stärke. Dabei konnte es leicht geschehen, daß innerhalb der Felsen ein sturer mitläufiger Wirbel entstand, der alle Berechnungen über den Haufen warf. Die Strömung konnte sich dabei innerhalb einer Kabellänge plötzlich umkehren. Von den Pierres Noires ab erstreckte sich ein langgezogenes Riff nach Südosten, auf dem - abgesehen von der äußeren Spitze - Brecher nur bei Spring-Niedrigwasser zu sehen waren. Das Lot gab von diesem Riff keinerlei warnende Kunde. Ein Schiff, das dicht vor dem Goulet stationiert war, konnte hier sehr leicht durch den Wind in eine Falle geraten.

»Ich danke Ihnen, Kapitän Hornblower«, sagte der Vorsitzende, als Hornblower zu Ende war. Dann wandte er seinen Blick zu den Angeklagten »Haben Sie zu dem Vorgebrachten noch Fragen?«

Aus dem Verhalten des Vorsitzenden konnte man schließen, daß er weitere Fragen für überflüssig hielt, aber Meadows erhob sich von seinem Platz. Er machte einen ausgezehrten Eindruck.

Dazu trug vielleicht die geliehene Uniform bei, die er trug, aber seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, seine Wangen waren eingesunken und über die linke lief in kurzen Abständen immer wieder ein befremdliches Zucken hin.

»Kapitän Hornblower« fragte er, »nicht wahr, der Wind stand frisch aus Nordosten?«

»Ja.«

»Das waren die besten Bedingungen für einen Ausbruch der Franzosen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Welcher Standort war der Hotspur bei dieser Wetterlage zugewiesen?«

»Sie sollte so dicht wie möglich vor dem Goulet stehen.« Das war ein wesentlicher Punkt. Es war gut, daß er auf diese Art besonders hervorgehoben wurde.

»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän«, sagte Meadows und nahm wieder Platz. Hornblower bat den Vorsitzenden mit stumm fragendem Blick um die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen.

Aber Meadows' Frage gab Anlaß zu einer weiteren.

»Wollen Sie die Güte haben, dem Gericht zu sagen, wie lange Sie die Hotspur im Blockadedienst geführt haben?«

»Etwas über zwei Jahre, Sir.« Das war die einzige Antwort, die er auf diese Frage geben konnte.

»Und welchen Bruchteil dieser Zeit haben Sie dabei dicht vor dem Goulet gelegen? Eine ungefähre Schätzung genügt uns, Herr Kapitän.«

»Etwa die Hälfte der Zeit - vielleicht war es auch nur ein Drittel.«

»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän.« Diese letzte Feststellung war geeignet, den Vorteil zu entwerten, den sich Meadows eben gesichert hatte. »Sie können sich jetzt zurückziehen, Kapitän Hornblower.«

Hornblower konnte jetzt noch einen Blick auf Bush und die anderen werfen. Aber dieser Blick mußte völlig gleichgültig und unbeteiligt wirken. Es durfte jetzt nicht geschehen, daß er etwa durch eine Sympathiekundgebung dem Gericht gegenüber seine Unbefangenheit in Frage stellte. Also machte er seine Verbeugung und ging.

4. Kapitel

Noch war keine halbe Stunde vergangen, seit Hornblower zur Princess zurückgekehrt war, da wußte Baddlestone bereits die letzten Neuigkeiten.

Sie machten die Runde von einem Schiff der Flotte zum anderen, das hier seine Zeit mit Warten auf günstigen Wind verbrachte.

»Schuldig«, sagte Baddlestone zu Hornblower.

In diesem Augenblick hatte Hornblower den Anschein äußeren Gleichmuts besonders nötig gehabt und fand es doch so schwierig wie kaum je zuvor, ihn zu wahren.

»Wie lautete das Urteil?« fragte er. Die Spannung gab seiner Stimme einen rauhen Klang, den man sehr wohl als Gleichgültigkeit deuten konnte.

»Verweis«, sagte Baddlestone, und Hornblower fühlte, wie ihn Erleichterung warm durchströmte.

»Welcher Art Verweis?«

»Einfacher Verweis.«

Also nicht einmal ein strenger Verweis. Nach einem ›Schuldig‹ war dies das mildeste Urteil, das ein Kriegsgericht verhangen konnte, es sei denn, die Richter ließen es bei einer bloßen Ermahnung bewenden. Aber jetzt, da die Hotspur verloren war, mußte jeder Offizier und Deckoffizier dieses Schiffes um Wiederverwendung einkommen, und dabei hatte natürlich die hohe Führung ein Wort mitzureden. Wenn die Herren dort nicht gerade nachtragend waren, hatten die Männer - Meadows ausgenommen – wenig zu befürchten. Erst in diesem Augenblick kam Baddlestone mit einer weiteren Kunde heraus, die Hornblower einige Sorge erspart hatte, wäre er gleich davon unterrichtet worden.

»Den Ersten Offizier und den Navigationsoffizier haben sie freigesprochen«, sagte er. Hornblower preßte die Lippen zusammen, er war entschlossen, seine Gefühle nicht zu verraten.

Baddlestone hatte das Glas am Auge, und Hornblower folgte seinem Blick. Die Pinnaß eines Schiffes kam unter ihren zwei Luggersegeln vor dem Wind auf sie zu. Hornblower war sich sofort darüber klar, daß das Boot zu einem Linienschiff gehören mußte. Obwohl er es nur von ferne sah, glaubte er zu erkennen, daß es besonders groß war und darum wahrscheinlich von einem Dreidecker stammte.

»Ich gehe jede Wette ein«, sagte Baddlestone, ohne den Kieker vom Auge zu nehmen, »daß wir Gesellschaft bekommen.« Hornblower zuckten die Finger vor Gier, nach dem Glas zu greifen.»Ja, es sieht ganz so aus«, sagte Baddlestone und hielt den Kieker eisern fest. Wahrscheinlich merkte er gar nicht, wie grausam das war. Dann wandte er sich um und erteilte mit lauter Stimme Befehle. An Steuerbord sollten Fender ausgebracht werden, und der Leichter sollte etwas abfallen, um Lee zu machen. Jetzt war das Glas schon überflüssig.

Hornblower konnte mit bloßem Auge Bush erkennen, der barhäuptig in der Achterplicht saß, und dann auch den neben ihm sitzenden Meadows. Auf der Ducht vor ihnen saßen die Deckoffiziere der Hotspur, und vor ihnen war ein Durcheinander von Gestalten, die er nicht unterscheiden konnte.

Die Pinnaß drehte in den Wind und kam sauber längsseit. »Boot ahoi!« rief ihr Baddlestone entgegen.

»Gruppe mit Berechtigungsscheinen für eine Reise nach England«, hörte man Bush antworten. »Wir kommen an Bord.«

Baddlestone kollerte ein paar Sekunden, weil er ›mit ihrer Erlaubnis‹ vermißte, aber die Pinnaß machte inzwischen fest.

Jetzt merkte man erst, wie stark der Leichter rollte, im Vergleich dazu konnte man die Pinnaß wirklich als stabil bezeichnen.

Nach einer kurzen Weile turnte Meadows über die Reling, und bald darauf erschien hinter ihm auch Bush. Hornblower eilte nach vorn, um sie zu begrüßen. Nach dem Untergang der Hotspur sollten ihre Offiziere offenbar nach England zurückkehren, um dort neue Kommandos zu bekommen, während die übrige Besatzung wahrscheinlich auf die anderen Schiffe des Geschwaders verteilt worden war. Hornblower mußte sich überwinden, als es ihm jetzt oblag, Meadows zu begrüßen.

»Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Kapitän Meadows«, sagte er. »Und Sie auch, Mr. Bush.«

Bush dankte ihm mit einem gezwungenen Lächeln, Meadows brachte nicht einmal dieses auf, er stand noch im Schatten des Verweises, der ihm eben erteilt worden war. Baddlestone beobachtete diese Begegnung mit so viel zynischem Vergnügen, wie sein rotes, aufgeschwemmtes Gesicht zum Ausdruck bringen konnte.

»Vielleicht haben die Herren die Güte, mir ihre Scheine vorzuzeigen«, sagte er nach einer Weile.

Bush steckte die Hand in die Brusttasche und brachte ein ganzes Bündel Papiere zum Vorschein.

»Bitte zählen Sie, es sind vierzehn«, gab er zur Antwort.

»Und diese Scheine hier betreffen Matrosen, für die trage ich keine Verantwortung.«

»Das wird ein ziemliches Gedränge geben«, sagte Baddlestone »Kajütessen kostet eine Guinee im Tag oder drei Guinees pauschal für die Überfahrt.« Meadows beteiligte sich mit keinem Wort an dem Gespräch, seine Reaktion war nur eine unmißverständliche Geste. Mit finsterer Miene sah er sich um und beobachtete, was hinter ihm vorging. Inzwischen waren auch die Deckoffiziere an Bord gekommen, Prowse, der Steuermann, Cargill und die anderen Maate, Huffell, der Zahlmeister, dann der Bootsmann, der Segelmacher, der Zimmermann, der Küfer und der Koch. Ihnen folgte eine Anzahl Matrosen, einer von ihnen - vielleicht der Bootsteuerer Meadows' - bemühte sich, einem anderen an Bord zu helfen, dessen Hilfsbedürftigkeit offenbar wurde, als sich herausstellte, daß er seine Hand verloren hatte. Wahrscheinlich war das bei einem der zahlreichen Bordunfälle geschehen, die die Besatzungen der Blockadeflotte dezimierten. Ihm folgten noch einige weitere Leute, die den Grund ihrer Rückkehr nach England nicht so offen zur Schau trugen. Die meisten waren wohl so arg mitgenommen, daß sie auf ihre Entlassung rechnen durften. Ein paar andere waren anscheinend wider das Gesetz zum Dienst gepreßt worden und hatten das Glück, zu Hause Freunde von Einfluß zu besitzen, die ihnen wieder die Freiheit verschafften. Im ganzen hatte sich ein ansehnlicher Haufen Männer an Bord des Leichters eingefunden. Sie drängten sich nun an Deck, wahrend die Pinnaß ablegte und mit hart angeholten Luggersegeln die lange Kreuzfahrt zum Flaggschiff antrat.

Baddlestone folgte Meadows' Blick und sah sich gleichfalls all die Menschen an, die sich vor den beiden drängten. Mit einer ausholenden Handbewegung schien ihm Meadows dartun zu wollen, was sich da begab. Hornblower mußte bei seinem Anblick unwillkürlich an jenen legendären Kommandanten eines Kriegsschiffs denken, den man fragte, wer ihn zu seiner Handlungsweise ermächtigt habe. Daraufhin habe jener Mann nur auf seine Geschütze gezeigt und gesagt, diese da. »Den Bedingungen Ihres Vertrages entsprechend haben Sie Mannschaften für einen Satz von Sixpence pro Tag zu verpflegen«, sagte Meadows trocken. »Auf dieser Reise werden Sie die Offiziere zu dem gleichen Satz beköstigen. Mehr ist Ihr Essen auch nicht wert.«

»Das ist ja übelste Seeräuberei!« rief Baddlestone ganz entsetzt. »Nennen Sie es wie Sie wollen«, gab ihm Meadows ruhig zur Antwort. Baddlestone trat unwillkürlich ein paar Schritte zurück und sah sich um, aber auch der Himmel oder die See konnten ihn nicht trösten und das nächste Schiff war mehrere Kabellängen entfernt. Meadows machte nach wie vor den Eindruck eines freudlosen, einsamen Mannes. Wie immer der Text des Verweises lauten mochte, den ihm das Gericht erteilt hatte, offenbar lag er ihm jetzt noch wie eine Zentnerlast auf der Seele. Da er der Überzeugung war, daß er in der Navy ohnedies nichts mehr zu erwarten hatte, konnte es ihm auch gleichgültig sein, wenn ihn dieser Baddlestone womöglich wegen Meuterei anzeigte. Seine Offiziere waren durch ihn, ihren Vorgesetzten, gedeckt. Als die Hotspur unterging, verloren sie alles was sie besaßen, außerdem wußten sie, daß ihnen nach Recht und Gesetz von jenem Augenblick an nur noch der Bezug von Halbsold zustand. Wenn man ihnen Widerstand entgegensetzte, konnten sie gefährlich werden zumal ihnen die Mannschaften bestimmt ohne Zögern gehorchten. Die Besatzung der Princess bestand außer Baddlestone nur aus einem Steuermann, einem Koch, vier Matrosen und einem Schiffsjungen. Sie war also weit unterlegen und hätte auf jeden Fall den kürzeren gezogen, wenn keine Möglichkeit bestand, eine vorgesetzte Stelle anzurufen. Darüber war sich Baddlestone natürlich im klaren. Dennoch blieb er bei seiner herausfordernden Redeweise.

»Wir sprechen uns im Hafen wieder, Kapitän Meadows«, sagte er. »Kapitän Hornblower wird zum gleichen Satz verpflegt«, sagte Meadows seelenruhig.

»Ich habe schon drei Guinee bezahlt«, warf Hornblower ein.

»Um so besser. Das macht - 126 Sixpence, die schon bezahlt sind. Stimmt meine Rechnung, Mr. Baddlestone?«

5. Kapitel

Auf der Princess herrschte jetzt eine unerträgliche Enge. Wo Hornblowers Hängemattenplatz gewesen war, hingen jetzt weitere sieben Hängematten, so daß jeder der insgesamt acht Offiziere kaum über so viel Platz verfügte, wie er in einem Sarg gefunden hätte. Wenn sie alle in ihrer Kammer schliefen, bildeten sie zusammen beinahe eine feste Masse. Aber so fest ist diese Masse eben doch nicht, denn wenn die Princess im Seegang stampfte und schlingerte, dann hatte jeder einzelne doch noch genügend Spielraum, daß er alle paar Sekunden gegen seinen Nachbar oder gegen eine Seeschottwand stieß. Es war zum Verrücktwerden.

Hornblower hatte seinen Platz in der unteren Reihe (den hatte er vernünftigerweise gewählt, um die schlechte Luft zu meiden, die oben, dicht unter den Decksbalken, herrschte). Er hatte Meadows über sich, ein Schott an der einen und Bush an der anderen Seite. Zuweilen drückte ihn das Gewicht der drei Körper zur Linken mit Gewalt gegen das Schott, dann wieder flog er nach der anderen Seite und boxte Bush in die Rippen.

Manchmal hob sich ihm das Deck von unten entgegen, dann wieder schien es, als senkte sich der massige Meadows auf ihn herab, um ihn zu erdrücken. Meadows war ein paar Zoll größer als die ganze Kammer lang war und mußte sich daher in der Hängematte richtig zusammenkrümmen. Hornblowers ruheloser Geist schloß aus all den heftigen Bewegungen, wie sehr die Princess arbeitete. Wenn sie rollte, dann bewirkte das, daß sich die Kammer richtig verzog. Dann nahm ihre Höhe jedes Mal um einen oder zwei Zoll ab, was ihm durch das Knacken und Krachen auf allen Seiten bestätigt wurde. Lange vor Mitternacht kroch er unter allerlei Schwierigkeiten aus seiner Hängematte und schlüpfte aus der Kammer, um eine Stelle zu suchen, wo ihm reinere Luft um die Hemdzipfel wehte. Nach dieser ersten Nacht gebot die Vernunft, eine andere Lösung zu suchen. Sie bestand darin, daß fortan alle Passagiere, ob Offiziere oder Matrosen, Wache um Wache schlafen sollten. Das hieß, daß sie vier Stunden in der Hängematte lagen und vier Stunden in geschützten Winkeln an Deck zubrachten. Auf diese Lebensweise waren sie ohnedies alle eingeschworen, und ihr Rhythmus dehnte sich zwangsläufig auf Kochen und Essen und jede andere Art Beschäftigung aus. Aber auch so war die Princess kein glückliches Schiff. Die Passagiere gerieten sich schon beim kleinsten Anlaß in die Haare, und an viel größerem Ärger kam man nur um Haaresbreite vorbei, als die Fachleute, von denen es auf dem Leichter wimmelte, dies oder jenes an Baddlestones Schiffsführung auszusetzen hatten. Die stetigen Sommerbrisen wehten nach wie vor aus nördlichen bis östlichen Richtungen, und die Männer, die seit Monaten oder Jahren weder Heimat noch Familie gesehen hatten, waren einfach empört zu sehen, wie dieses Schiff nach Lee abtrieb. Diese Winde brachten strahlendes, sonniges Wetter, sie bescherten England wahrscheinlich eine ausgezeichnete Ernte, aber auf der Princess verursachten sie nichts als Ärger und Gereiztheit. Es gab erregte Auseinandersetzungen zwischen denen, die die Meinung vertraten, daß Baddlestone nach Westen in den Atlantik hinauslaufen sollte, weil er dort noch am ehesten besseren Wind antreffen würde, und der anderen, geduldigeren Partei, die es für das beste hielt, wenn er weiterkreuzte, wo er sich gerade befand. Beide Parteien waren sich indes darüber einig, daß es am Trimm der Segel, an der Bedienung des Ruders, an den gesteuerten Kursen, an dem Bug, den der Kapitän zum Beidrehen wählte, allerhand auszusetzen gab, was er anders und besser hätte machen können.

Eines Tages, um die Mittagszeit, wagte sich die Hoffnung wieder zaghaft hervor. Zuvor hatte es wieder einmal bittere Enttäuschungen gegeben, und trotz aller vorangegangenen Streitgespräche wußte kaum einer noch ein Wort zu sagen, als jetzt, nach dieser langen Periode flauer östlicher Luftbewegung, eine etwas kräftigere Brise einsetzte, die sogar einen südlichen Einschlag besaß. Sie frischte denn auch auf und drehte weiter, so daß die Schoten angeholt werden konnten. Baddlestone schrie seine Männer an, und aus dem lahmen Geschlingere der Princess wurde im Handumdrehen ein hoppelndes Gleiten über die Seen, bei dem man unwillkürlich an ein Wagenpferd dachte, das sich im Trab über nasse Furchen hinquälen mußte.

»Welchen Kurs, meinen Sie, steuern wir jetzt?« fragte Hornblower. »Nordost, Sir«, schätzte Bush, aber Prowse schüttelte den Kopf, weil ihm sein angeborener Pessimismus keine andere Wahl ließ. »Nordost zu Ost, Sir«, sagte er.

»Naja«, meinte Hornblower. »Etwas nach Norden führt uns dieser Schlag allemal.«

Ein solcher Kurs brachte sie natürlich Plymouth nicht näher, aber sie hatten wenigstens bessere Aussicht, draußen vor der Kanalmündung auf Westwind zu stoßen.

»Mein Gott, wie der Schlitten abtreibt«, sagte Prowse mit düsterer Miene. Sein Blick wanderte von den Segeln bis zu dem kaum bemerkbaren Kielwasser.

»Wir wollen das beste hoffen«, sagte Hornblower, »schauen Sie sich einmal diese Wolkenballen an, die sich dort türmen. So etwas haben wir seit Tagen nicht gesehen.«

»Hoffnung ist allzu billig, Sir«, sagte Prowse mit finsterer Miene. Hornblowers Blick wanderte zu Meadows, der am Fuß des Großmastes stand. Bedrückt wie immer fand er keinen Kontakt zu all den Menschen um ihn her. Aber auch er konnte nicht umhin, den Stand der Segel, den Rudergänger und das Kielwasser zu studieren, bis er Hornblowers Blick auf sich ruhen fühlte. Da wanderten zwar seine Augen zu ihm und seinen Gefährten, aber es war fraglich, ob er sie überhaupt sah.

»Ich gäbe etwas darum, zu wissen, was das Glas macht«, sagte Bush, »es sieht fast so aus, als ob es fiele.«

»Das würde mich nicht wundern«, sagte Hornblower.

Er wußte noch so genau, wie er einst in einem heulenden Sturm raumschots nach der Tor Bay gelaufen war. Maria war zu der Zeit in Plymouth und ihr zweites Kind war schon unterwegs.

Prowse räusperte sich. Es widerstrebte ihm, zu sprechen, weil er etwas Angenehmes mitzuteilen hatte. »Der Wind scheint weiter zu räumen, Sir«, brachte er endlich heraus.

»Mir ist, als frischte er auch etwas auf«, sagte Hornblower, »vielleicht kommt es jetzt doch zu einem Umschlag «

In diesen Breiten und um diese Jahreszeit kam es leicht zu schwerem Wetter, wenn der Wind ausschoß statt zu krimpen, wenn er also von Nordost auf Süd drehte, wenn er dabei auffrischte, wie das eben ohne Zweifel der Fall war, und wenn sich wie eben jetzt dunkle Wolkenmassen am Himmel türmten.

Der Steuermann schrieb eben etwas an die Tafel. »Welchen Kurs steuern wir jetzt, Mister«, fragte Hornblower. »Nord einhalb Ost.«

»Na ja«, sagte Bush, »noch einen oder zwei Striche weiter, dann haben wir es geschafft.«

»Aber wir müssen gut frei von Ouessant halten«, sagte Prowse. Auf dem jetzt anliegenden Kurs kamen sie Plymouth zum mindesten näher. Viel hatte das nicht zu sagen, aber es war immerhin ein tröstlicher Gedanke. Die Sicht wurde allmählich schlechter, damit rückte der Horizont näher an sie heran. Man sah nur noch wenige Segel, alle in östlicher Richtung, denn kein Schiff hatte so viel Abtrift wie die Princess. Es zeugte für die unermeßliche Weite des Ozeans, daß man hier so wenige Schiffe sah, obwohl sich die gewaltige Kanalflotte ganz in der Nähe befand. Plötzlich setzte der Wind wesentlich stärker ein und legte die Princess nach Lee über, so daß die Menschen und alle beweglichen Dinge nach Lee purzelten, bis der Rudergänger das Schiff einen Strich abfallen ließ. »Der Kahn steuert wie ein Rollwagen«, bemerkte Bush. »Wie eine hölzerne Balje«, sagte Hornblower. »Querschiffs und längsschiffs ist bei diesem Schlitten alles dasselbe.«

Je mehr der Wind ausschoß desto besser war es für sie.

Endlich war der Augenblick gekommen, da Bush sich mit der geballten Rechten in die geöffnete Linke schlug.

»Jetzt liegen wir schon einen Strich höher als auf dem abgesetzten Kurs!« rief er ganz begeistert.

Das war in der Tat eine ganz große Sache. Es hieß, daß sie nicht mehr den im Augenblick jeweils bestmöglichen Kurs zu steuern brauchten, der ihnen sowohl Verlust wie Gewinn bringen konnte. Fortan konnten sie geradewegs auf Plymouth zuhalten, sofern Baddlestones Rechnung auch nur annähernd stimmte. War seine Navigation richtig, dann war die Abtrift fortan kein Verlust mehr, sondern sogar ein Gewinn, denn die Princess hatte den Wind jetzt etwas achterlicher als querein, und dabei lief sie ganz bestimmt ihre beste Fahrt, wenn man die Form ihres Rumpfes in Betracht zog. Die neue Lage brachte es weiter mit sich, daß sie sich um die Nähe der französischen Küste keine Sorge mehr zu machen brauchten. Die Kanalmündung war bald erreicht, dann hatten sie nach allen Richtungen freiere Bahn. Aber die Hauptsache - das konnte man nicht oft genug wiederholen - war eben doch, daß sie jetzt anliegen konnten. Für Männer, die so lange vor der bedruckenden Wahl gestanden hatten, entweder beizuliegen oder mit dichten Schoten hart am Wind zu segeln, war das ein phantastischer, an ein Wunder grenzender Wandel der Dinge.

Irgendwo in der Nähe erhob jemand seine Stimme. Was Hornblower jetzt hörte, war kein Rufen und kein Streiten, es war Gesang, ein richtiges Lied, unverständliche, sinnlose Betätigung eines Mannes, der einfach seine Freude daran hatte. ›Von Ouessant nach Scilly Sand's gut hundert Meilen.‹ Das stimmte genau und Hornblower fragte sich, ob es wohl durch ihre augenblickliche Lage begründet war, daß man plötzlich so viel Lärm darum machte. Er zwang sich zu stoischer Geduld, als nun auch noch andere einfielen. ›Lebt wohl und Adieu ihr spanischen Mädchen.‹ Ja, es war sehr deutlich zu merken, daß das Wetter auf der Princess nicht nur wirklich sondern auch im übertragenen Sinne umgeschlagen war. Mit dem Fallen des Barometers hatte sich die Stimmung allgemein gehoben. Man lächelte wieder, man hörte wieder lautes Lachen. Als der Wind dann noch ein paar weitere Striche räumte, konnte man allmählich damit rechnen, daß die Princess am Abend des folgendes Tages Plymouth erreichte. Wie wenn sie jetzt von dieser allgemeinen Erwartung angesteckt worden wäre, begann sie nun richtig über die Wogen zu hüpfen. Bei ihrer Schwerfälligkeit wirkte das geradezu liederlich, man dachte unwillkürlich an eine dicke alte Frau, die trunken ihre Beine zeigt, weil sie unbedingt tanzen will. Meadows allein nahm an der allgemeinen frohen Erwartung nicht teil. Er war einsam und unglücklich, sogar die beiden Offiziere, die ihm auf der Hotspur im Dienstalter am nächsten standen - der Erste Offizier und der Steuermann -, plauderten jetzt angeregt mit Hornblower, statt ihm Gesellschaft zu leisten. Als sich Hornblower eben zu ihm begeben wollte, ging eine Regenbö auf die Princess nieder und stiftete an Deck einige Verwirrung. Die empfindlicheren unter den Passagieren rannten eilig nach vorn oder achtern, um Deckung zu suchen.

»Morgen sind wir in Plymouth, Sir«, sagte Hornblower im Gesprächston, als er an Meadows' Seite getreten war. »Ohne Zweifel, Sir«, sagte Meadows.

»Mir scheint, wir haben allerlei Wind zu erwarten«, sagte Hornblower mit einem prüfenden Blick auf den Regenhimmel.

Er wußte, daß seine Äußerungen übertrieben wirkten, wenn er sich locker zu unterhalten suchte, aber daran war leider nichts zu ändern. »Mag sein«, sagte Meadows.

»Wahrscheinlich werden wir darum die Tor Bay aufsuchen müssen«, gab Hornblower zu bedenken.

»Ja, wahrscheinlich«, stimmte ihm Meadows bei - obwohl man seine steinerne Gleichgültigkeit doch wohl kaum als Zustimmung betrachten konnte.

Hornblower wollte sich noch immer nicht geschlagen geben.

Er versuchte standhaft weiter, mit dem Mann ins Gespräch zu kommen. Dabei tat er sich etwas - nein eine ganze Menge - auf seine edle Gesinnung zugute, daß er hier stand und bis auf die Haut naß wurde, nur um einem anderen in seinem Kummer beizustehen. Er fühlte sich etwas erleichtert, als die Regenbö endlich in Lee der Princess abzog, aber die Erlösung war erst vollkommen, als einer der Matrosen auf dem Vorschiff laut ausrief: »Segel in Sicht! In Luv, zwei Strich voraus.«

Meadows fand wenigstens so weit aus seiner Apathie heraus, daß er mit Hornblower in der gemeldeten Richtung nach vorne Ausschau hielt. Da es in diesem Augenblick plötzlich aufklarte, war das Schiff, als es in Sicht kam, eben noch mit dem Rumpf unter der Kimm und nicht weiter als fünf bis sechs Seemeilen entfernt. Man konnte es jetzt schon deutlich ausmachen. Es lag mit Backbordhalsen hoch am Wind an Steuerbord voraus der Princess und steuerte einen Kurs, der spätestens binnen einer Stunde den Kurs der Princess in nächster Nähe kreuzen mußte.

»Eine Brigg«, bemerkte Hornblower wieder nur der Unterhaltung wegen, weil ja auch Meadows das sehen mußte.

Aber er verstummte, als er allmählich auch noch andere Einzelheiten bemerkte, die jetzt immer deutlicher zu erkennen waren.

Er stellte fest, daß die Vor- und Großstenge genau die gleiche Höhe hatten, da war ferner der charakteristische weiße Schimmer des Segeltuchs. Auch der Abstand der Masten gab ihm zu denken. Das alles sprach eine deutliche, gefährliche Sprache. Hornblower fühlte, wie sich Meadows' Hand wie ein eiserner Ring um seinen Arm legte.

»Ein Franzose«, sagte er und ließ eine ganze Kette wüster Flüche folgen. »Sieht ganz so aus«, sagte Hornblower.

Die Länge der Rahen ließ fast mit Sicherheit darauf schließen, daß sie ein Kriegsschiff vor sich hatten, aber dieses Schiff konnte ebenso gut ein britisches sein - eine der unzähligen Prisen, die den Franzosen abgenommen worden waren und die man erst vor kurzem in die Navy übernommen hatte, so daß noch nicht viel daran geändert worden war. »Der Bursche ist mir nicht geheuer«, sagte Meadows.

»Wo ist denn Baddlestone?« rief Hornblower und wandte sich, um einen Blick achteraus zu werfen.

Als er Baddlestone sah, der eben an Deck gekommen war und seinen Kieker auf die Brigg gerichtet hielt, riß er sich von Meadows' Griff los. Dann stürmten sie beide zusammen auf den Kapitän zu.

»Halsen, verdammt noch mal!« schrie Meadows, aber in der gleichen Sekunde hatte Baddlestone schon begonnen, seine Befehle über Deck zu schreien. Ein paar Sekunden gab es ein wildes und gefährliches Durcheinander, als die Passagiere versuchten, mit Hand anzulegen. Aber es erwies sich bald, daß auch sie alle geübte Seeleute waren. Die Schoten wurden gegen den starken Wind eingeholt, dann wurde das Ruder gelegt. Die Princess vollführte ein sauberes Halsemanöver, die großen Luggersegel knallten einen Augenblick wie Donner, dann wurden die Schoten etwas gefiert, und schon lag sie auf dem anderen Bug am Wind. Als sie einen kurzen Augenblick über den Kamm einer See hinwegglitt, sah Hornblower, der die Brigg nicht aus den Augen ließ, wie auch sie im Seegang hochstieg und dabei gleichzeitig überholte. Eine halbe Sekunde lang - mehr hatte er nicht nötig - entdeckte er da eine Reihe Geschützpforten, das letzte und abschließende Beweisstück, daß diese Brigg wirklich ein Kriegsschiff war. Jetzt lagen die Princess und die Brigg beide über den gleichen Bug am Wind, die Brigg peilte vom Leichter aus gesehen Steuerbord achteraus.

Trotz des Vorteils, den die Schratsegel der Princess beim Kreuzen boten, konnte ein scharfes Auge sehen, daß sie nicht ganz so hoch am Wind lag wie die Brigg. Sie hatte außerdem viel mehr Abtrift als die Brigg und war vor allem viel langsamer. Die Brigg konnte sie darum mit Leichtigkeit überholen und ausluven. Hornblower konnte sich ausrechnen, daß es nur eine Frage von Stunden war, bis die Princess von dem klaffenden Rachen des Gegners verschlungen wurde. Wenn der Wind inzwischen noch weiter ausschoß, dann kam das Ende nur entsprechend eher.

»Hol die Vorschot!« befahl Meadows, aber ehe ihm die Männer noch gehorchen konnten, denen sein Befehl gegolten hatte, hielt sie ein Ruf Baddlestones zurück.

»Stop! Hier wird nicht geholt!« Dann nahm er Meadows aufs Korn: »Ich bin der Kapitän dieses Schiffes, mischen Sie sich nicht in meine Angelegenheiten!«

Der dicke Handelsschiffskapitän stützte die Hände in die Hüften und begegnete dem Blick des Kommandeurs mit gebieterischem Ausdruck. Meadows wandte sich an Hornblower: »Müssen wir uns das gefallen lassen?« fragte er.

»Ja«, gab ihm Hornblower zur Antwort.

Das entsprach der Rechtslage. Sie waren zwar Soldaten und Seeoffiziere, aber hier an Bord waren sie nur Passagiere und daher der Befehlsgewalt des Kapitäns unterworfen. Selbst wenn es zu einem Kampf kommen sollte, blieb diese Bestimmung in Kraft. Auf Grund der Kriegsgesetze hatte auch ein Handelsschiff das Recht, sich zu verteidigen, und in einem solchen Fall behielt sein Kapitän die Führung, ob er nun über Stag ging oder einen Kurs absetzte oder andere Pflichten der Schiffsführung erfüllte.

»Da soll doch gleich...«, sagte Meadows.

Hornblower hätte wohl nicht so scharf und entschieden geantwortet, wäre seine Wißbegier nicht auf eine besondere Erscheinung gestoßen. Eben bevor Meadows seinen Befehl gab, hatte Hornblower gespannt beobachtet, wie sich die etwas verschiedene Stellung der beiden großen Luggersegel auswirkte.

Ihre Schoten waren nämlich nicht gleich dicht angeholt, aber der Unterschied war so gering, daß ihn ein unerfahrenes Auge überhaupt nicht wahrnahm. Eine systematische Anwendung der komplizierten - und unglaublich interessanten - Gesetze der Mechanik erwies deutlich, daß die Segel richtig standen. Das eine Segel sollte den Wind nämlich um ein Weniges auf das andere zulenken, und das war bei der augenblicklichen Segelstellung der Fall. Hornblower hatte sich mit diesem höchst interessanten Problem schon als Fähnrich vertraut gemacht, als er die Pinnaß eines Linienschiffs zu segeln hatte. Meadows hatte diese Dinge entweder vergessen, oder er hatte sich nie mit ihnen befaßt. Sein Eingreifen hätte der Geschwindigkeit einigen Abbruch getan. Immerhin konnte man von Baddlestone erwarten, daß er wußte, wie er aus seinem Schiff, das er schon so lange führte, das Beste herausholte, und wie man mit einer Luggerbesegelung umging, mit der er von Jugend auf verwachsen war. »Da ist die Flagge«, sagte jetzt Baddlestone.

»Natürlich ein Franzmann.«

»Das ist wohl eine der neuen schnellen Briggs, die sie jetzt bauen«, sagte Hornblower. »Sie können es mit zweien der unseren aufnehmen.«

»Wollen Sie sie angreifen?« fragte Meadows.

»Ich laufe weg, solange ich kann«, gab ihm Baddlestone zur Antwort. Das war ganz offensichtlich das einzige, was er tun konnte. »Noch zwei Stunden bis es dunkel wird - nein, fast noch drei«, sagte Hornblower, »vielleicht können wir in einer Regenbö entwischen.«

»Wenn er uns einholt...«, sagte Baddlestone und ließ den Satz unbeendet. Die französischen Geschütze konnten den Leichter aus naher Entfernung in Stücke schießen, das Blutbad, das dabei an Bord des kleinen, von Menschen überfüllten Fahrzeugs entstehen mußte, ließ die Männer schon im voraus erschauern.

Alle drei starrten sie wieder auf die Brigg, die nun schon sichtlich näher gekommen war. Und doch...

»Es wird dunkel, ehe sie in Schußweite kommt«, sagte Hornblower, »einige Aussicht haben wir also immer noch.«

»Sie ist bescheiden genug«, sagte Meadows. »O Gott...«

»Meinen Sie, ich möchte in einem französischen Gefängnis verrotten?« platzte Baddlestone heraus. »Dieser Leichter ist mein ganzes Hab und Gut. Meine Frau und meine Kinder müßten ja verhungern.« Stand seiner Maria nicht ebenso Schlimmes bevor? Sie hatte ein Kind, das zweite war unterwegs.

Und - und was wurde aus der versprochenen Beförderung? Kein Mensch würde einen Finger rühren, wenn er erst vergessen in einem französischen Gefängnis saß.

Meadows erging sich in Verwünschungen und Flüchen, seinem Mund entströmte eine ununterbrochene Flut gemeiner Lästerungen und übelsten Schmutzes.

»Wir sind immerhin dreißig Mann«, sagte Hornblower. »Die Franzosen werden nicht annehmen, daß hier mehr als ein halbes Dutzend Männer an Bord sind -«

»Weiß Gott, dann könnten ja wir entern«, rief Meadows, und sein Gefluche hatte plötzlich ein Ende.

Wie, lag das wirklich im Bereich der Möglichkeit? Konnte es ihnen gelingen, längsseit zu gehen? Das würde kein französischer Kommandant zulassen, wenn er bei Verstand war.

Er würde bei diesem starken Wind niemals riskieren, daß sein kostbares Schiff Schaden nahm. Er brauchte nur im letzten Augenblick Ruder zu legen, daß es in den Wind aufdrehte, und schon schor die Princess vorbei. Außerdem würde der bloße Versuch, so etwas zu tun, einer Warnung gleichkommen - Kommandant und Besatzung des französischen Schiffes mußten daraus schließen, daß ihnen nichts Gutes bevorstand. Die Brigg hatte mindestens neunzig Mann Besatzung, wahrscheinlich sogar mehr. Gegen diese Zahl hatten dreißig Mann so gut wie gar keine Aussicht auf Erfolg, es sei denn durch einen Schlag, der den Gegner vollkommen überraschte. Hornblowers lebhafte Vorstellungsgabe zeigte ihm, was der Princess bevorstand, wenn sie das unwahrscheinliche Glück hätte, doch bei der Brigg längsseit zu kommen. Er sah sie im Geist dort genauso wild rollen wie es auch sonst ihre Art war, darum war es völlig ausgeschlossen, den Gegner überraschend zu entern. Die dreißig Männer gelangten höchstens zu zweien und dreien auf das andere Schiff hinüber und hatten darum gar keine Aussicht auf irgendwelchen Erfolg. Nur echte, vollständige Überraschung bot ihnen eine schwache Chance, die Oberhand zu gewinnen.

Solche Überlegungen jagten einander, während Hornblowers Blick von einem zum anderen wanderte. Er sah wie die Hoffnung und Erregung des ersten Augenblicks allmählich wieder in Zweifel und Besorgnis übergingen. Dabei kam ihm plötzlich ein Gedanke, der sofortiges Handeln verlangte. Darum wandte er sich jetzt den Männern zu, die überall an Deck in Gruppen herumhockten, und rief so laut und durchdringend wie er konnte: »Macht alle sofort, daß ihr aus Sicht kommt. Ich möchte nicht, daß sich noch ein Mensch an Deck sehen läßt.

Los, unter Deck mit euch!« Als er sich wieder umwandte, wirkten Baddlestone und Meadows plötzlich wie versteinert.

»Ich dachte, wir sollten unsere Karten nicht auflegen, ehe sie ausgespielt werden«, sagte er. »Von der Brigg aus kann man mit einem Glas sehr bald sehen, daß unser Schiff mit Menschen vollgepackt ist. Es dürfte besser sein, wenn die drüben nichts davon wissen.«

»Ich bin hier an Bord der älteste Offizier«, herrschte ihn Meadows an, »wenn hier jemand Befehle gibt, dann bin ich es.«

»Sir...«, begann Hornblower.

»Ich bin seit Mai 1800 Commander«, sagte Meadows. »Sie haben noch nicht einmal in der Gazette gestanden, haben Ihren Namen selbst noch nicht gelesen.«

Das war wichtig, das sprach entscheidend für Meadows Standpunkt. Er selbst war erst seit dem Mai 1803 Commander.

Bis es mit seinem versprochenen Kapitänspatent ernst wurde, mußte er Meadows Befehlen gehorchen. Das war natürlich eine Art Zurücksetzung. Seine höflichen Versuche, mit Meadows ins Gespräch zu kommen, waren in dessen Augen offenbar nur unterwürfiges Buhlen um Gunst gewesen, während sie doch von ihm als tröstliches Entgegenkommen gedacht waren. Er ärgerte sich über sich selbst, daß er das nicht eher bedacht hatte. Aber dieser Ärger wog nichts im Vergleich mit der Wut, die ihn bei der Feststellung überkam, daß er jetzt unversehens wieder der jüngere war, der nur noch Vorschläge machen, aber keine Befehle geben durfte - und das, obwohl er schon seit vollen zwei Jahren ein praktisch unabhängiges Kommando innegehabt hatte.

Es war eine bittere Pille, die er da zu schlucken bekam. Als ihm dieser bildhafte Vergleich eben eingefallen war, ertappte er sich dabei, daß er wirklich krampfhaft schlucken mußte, um seine Selbstbeherrschung zu wahren. Dieses überraschende Zusammentreffen lenkte ihn wenigstens so weit ab, daß er die zornige Antwort unterließ, die ihm schon auf der Zunge lag. Sie waren jetzt alle drei so gereizt, daß sie im nächsten Augenblick in die Luft gehen konnten. Dabei waren Streitigkeiten zwischen ihnen in dieser Lage das beste Mittel, sie schnell in ein französisches Gefängnis zu bringen.

»Gewiß, Sir«, sagte Hornblower und fuhr dann fort - weil man am besten gründlich tat, was man ohnehin tun mußte -, »ich habe gedankenlos gehandelt und bitte Sie sehr um Entschuldigung.«

»Schon gut«, sagte Meadows immer noch etwas verärgert. Es war nicht schwer, das Gesprächsthema zu wechseln - Hornblower warf nur einen Blick auf die Brigg, und die beiden anderen drehten sich sofort um und folgten seinem Beispiel.

»Verdammt, sie kommt uns immer noch auf!« sagte Baddlestone. »Auch Luv gewinnt sie ständig.« Ja, sie war offenbar nähergekommen, aber die Peilung stand. Die Jagd endete bestimmt damit, daß die Brigg ohne weitere Kursänderung der Princess dicht auf den Leib rückte. Das schlimmste war, daß jeder Fluchtversuch der Princess die Jagd nur verkürzen konnte. »Wir haben noch keine Flagge gesetzt«, sagte Meadows. »Noch nicht«, gab ihm Baddlestone zur Antwort.

Hornblower suchte seinen Blick zu erhaschen und starrte ihn durchdringend an. Er hielt es nicht für angebracht, etwas zu sagen, er konnte sich nicht einmal dazu entschließen, auch nur ein wenig den Kopf zu schütteln. Aber irgendwie - vielleicht durch Telepathie - verstand Baddlestone auch so, was er sagen wollte.

»Die Flagge brauchen wir noch nicht zu setzen«, fuhr Baddlestone fort, »auf diese Art haben wir länger die Hände frei.«

Es empfahl sich wirklich nicht, irgend etwas zu tun, was den Franzosen Klarheit über sie verschaffte. Man konnte nicht annehmen, daß sie die Princess für etwas anderes hielten als einen Flottentender - aber in einem Bericht oder etwa in einem Logbuch sahen die Dinge oft genug anders aus. Wenn der Franzose zum Beispiel keine Lust mehr hatte, die Jagd fortzusetzen oder irgendwie davon abgelenkt wurde, dann war es gut, wenn man ihm Gelegenheit bot, sich zu rechtfertigen.

Dann konnte er etwa sagen, er hätte die Princess für ein dänisches oder ein Bremer Schiff gehalten. Bis die Flagge gesetzt und wieder niedergeholt war, stand der Princess jede Möglichkeit offen, die sich etwa bieten mochte. »Es wird bald dunkel«, sagte Hornblower.

»Bis dahin haben sie uns eingeholt«, knurrte Meadows, und schon strömten ihm wilde Flüche über die Lippen. »Wie Ratten haben sie uns in die Enge getrieben.«

Das war ein guter Vergleich. Sie waren wirklich in die Enge getrieben, die unsichtbare Mauer des Windes wirkte wie ein Gefängnis. Der einzige Fluchtweg führte auf die Brigg zu, und die Brigg kam auf dieser Linie erbarmungslos näher. Wenn die Princess eine Ratte war, dann war die Brigg ein Mann, der mit einer Keule bewaffnet herbeigeeilt kam. In die Enge getrieben sein, das hieß, daß es selbst im Dunkeln keinen Raum gab, um zu entkommen, keine Möglichkeit, noch unter den Geschützen der Brigg ein gewagtes Ausweichmanöver zu riskieren. Aber wie eine Ratte konnte sie immer noch mit dem Mut der Verzweiflung auf ihren Angreifer losgehen. »Ich wünschte zu Gott«, sagte Meadows, »wir wären gleich auf die Burschen losgegangen, als wir sie in Sicht bekamen. Aber mein verfluchter Säbel und meine Pistolen liegen ja auf dem Grund der See - was haben Sie denn für Waffen an Bord?«

Baddlestone zählte ihm den kümmerlichen Inhalt der Waffenkiste auf. Auch ein Wasserleichter hatte Entermesser und Pistolen an Bord, damit er sich gegen feindliche Ruderboote zur Wehr setzen konnte, die von der französischen Küste aus vorstießen, um bei Flaute unbewaffnete Handelsschiffe als Prisen zu schnappen.

»Wir könnten noch einiges dazugewinnen«, unterbrach ihn Hornblower. »Sie müssen ja ein Boot mit einer Prisenbesatzung herüberschicken - und im Dunkeln...«

»Bei Gott, Sie haben Recht!« schrie Meadows; dann wandte er sich an Baddlestone: »Setzen Sie keine Flagge, die haben uns noch lange nicht! Im Gegenteil, wir kapern sie.«

»Wir könnten es versuchen«, sagte Baddlestone. »Und bei Gott, ich bin der älteste Seeoffizier!« sagte Meadows. Ein Mann, der wie er unter der Wolke nach England zurückkehrte, war fast automatisch rehabilitiert, wenn er eine Prise mit nach Hause brachte. Vielleicht kam Meadows auf diese Art sogar noch vor Hornblower auf die Liste der Kapitäne.

»Kommen Sie«, sagte Meadows, »wir wollen gleich die Leute einteilen.« Damit ließen sie sich auf das wildeste, kühnste Unternehmen ein, das man sich vorstellen konnte, aber sie waren eben verzweifelt. Auch Hornblower wurde von dieser Verzweiflung angesteckt, obwohl er sich während all der geschäftigen Vorbereitungen sagte, daß er hier Untergebener war, dem keine andere Wahl blieb als zu gehorchen. Er ging nicht so weit, sich zu gestehen, daß die anderen ja nur den Plan verwirklichen wollten, der in seinem Kopf entstanden war und nach dem auch er als Kommandant verfahren wäre, ob er nun gefährlich war oder nicht.

6. Kapitel

Die Princess lag beigedreht in der nächtlichen Dunkelheit.

Allein die Tatsache, daß sie beigedreht hatte, konnte von einem Gegner - nicht aber von einem rechtlich denkenden Menschen - als die Bereitschaft aufgefaßt werden, sich zu ergeben. An ihrem Vorstag flackerte eine Laterne, die ganz klein getrimmt war, so daß man von der Brigg aus nicht sehen konnte, was sich auf der Princess weiter achtern begab. Aber die winzige Flamme war in der dunklen Nacht doch von der Brigg aus gut zu erkennen, denn diese lag ja nur eine bis eineinhalb Kabellängen weiter in Lee. Dort zeigten vier helle Laternen am Fockmast und am Großmast nicht nur deutlich an wie sie lag, sondern sie spendeten auch die nötige Helle zum Aussetzen ihres Bootes.

»Sie kommen«, zischte Meadows, der hinter der Reling kauerte. »Denken Sie dran: nur kalten Stahl.«

Bei dem herrschenden kräftigen Wind fielen wirre Geräusche drüben auf der Brigg nicht weiter auf, aber einen Schuß hörte man in Lee ganz deutlich. Jetzt sahen die zusammengekauerten Männer, wie sich in der allgemeinen Dunkelheit ein schwarzer Kern immer deutlicher abhob, dann hörte man das Geknarre der Riemen in den Dollen, und kurz darauf drangen französische Worte herüber. Hornblower wartete schon und warf ihnen eine Leine zu, als sie mit dem Bootshaken Halt suchten.

»Montez«, sagte er und mußte sich Mühe geben, daß seine Stimme nicht vor Aufregung heiser klang. Er hatte auf dem Leichter das einzige weiße Gesicht, die anderen hatten sich alle schwarz angemalt. Die Princess arbeitete in der aufgewühlten See so lebhaft wie immer. Darum dauerte es noch Sekunden, ehe der erste Franzose, mit Entermesser und Pistole am Koppel, über die Reling kam, ein Fähnrich mit dem Auftrag, die Prise in Besitz zu nehmen. Hornblower hörte den dumpfen Aufschlag, als er niedergemacht wurde. Er war beiseite geschafft, ehe noch der nächste an Bord gelangte. Diesem ging es wie dem ersten, dem dritten, vierten und fünften widerfuhr genau das gleiche.

Für Männer, die wußten, daß ihnen nur die erbarmungslose Vernichtung des Gegners helfen konnte, war das alles schauerlich, ja abstoßend einfach.

Von seinem Posten aus sah Hornblower den letzten Mann auf die Princess herübersteigen, dann machten sich die Bootsgäste bereit, das Gepäck der Prisenbesatzung nachzureichen. »Jetzt!« rief Hornblower mit scharfer Stimme.

Meadows und die ihm zugeteilte Gruppe hockten schon in Bereitschaft hinter der Reling. Jetzt warfen sie sich wie ein Sturzbach fallender Leiber in das Boot hinunter. Nur ein Riemen klapperte laut. Hornblower konnte hören, wie Belegnägel Menschenschädel trafen. Man hörte nur einen einzigen bestürzten lauten Aufschrei, dann war Stille. Hornblower konnte nicht hören, wie die Körper der Toten oder Bewußtlosen über Bord geworfen wurden, aber er wußte, daß dies eben geschah.

»Wir haben Waffen für sieben Mann«, hörte man Meadows sagen. »Los jetzt, die Pinnaßbesatzung. Hornblower, besetzen Sie Ihr Boot und legen Sie ab.«

Zwei Stunden hatten sie Zeit gehabt, den Angriff zu organisieren, jeder einzelne kannte die Rolle, die er zu spielen hatte. Hornblower rannte achteraus, eine Gruppe fast unsichtbarer schwarzgesichtiger Gestalten tauchte rechts und links von ihm auf. Ihr Aussehen erinnerte ihn daran, auch selbst seine Hände in den Farbeimer zu tauchen, der da stand, und sich in aller Hast Stirn und Wangen zu beschmieren, ehe das Unternehmen seinen Fortgang nahm. Das Boot des Leichters hing an seiner Vorleine hinter dem Heck. Sie holten es heran und kletterten hinein.

»Loswerfen!« befahl Hornblower, dann wurde mit dem Backbordriemen kräftig abgesetzt. »Riemen bei!« Mit der Pinne in der Hand starrte Hornblower unter dem Heck der Princess hervor in die nächtliche Dunkelheit. Es hatte recht lange gedauert, bis die Pinnaß der französischen Brigg besetzt war.

Endlich sah Hornblower über einen Wellenkamm hinweg, wie sie sich gegen die Laterne der Brigg schattenhaft abhob. Er mußte also noch ein bißchen warten, denn wenn die Besatzung der Brigg zwei Boote zurückkommen sah, da sie doch nur eines entsandt hatte, genügte das wahrscheinlich, die Franzosen zu alarmieren. Es war bestimmt nicht gut, daß die französische Bootsbesatzung vom ersten bis zum letzten Mann über Bord geworfen worden war, ob der Krieg das nun erforderte oder nicht, denn die Franzosen konnten nun einfach behaupten, sie seien ermordet worden. Wenn der Angriff jetzt erfolglos blieb, dann hatten Überlebende an Deck der Brigg bestimmt nicht mit Gnade zu rechnen. Jetzt schon war sich Hornblower darüber klar, daß ihm der schwerste Kampf seines Lebens bevorstand.

Hier gab es nur Sieg oder Tod, ein Mittelding war nicht möglich.

Jetzt sah er, daß sich die Pinnaß der Brigg näherte, im Licht der Laternen war sie klar zu erkennen.

»Backbordruder an!« Das Boot schwenkte herum, als die Riemen griffen. »Ruder an überall!«

Jetzt nahm das Boot Fahrt auf, und die Pinne in Hornblowers Hand begann zu wirken. Er nahm Kurs auf die Brigg; es war nicht nötig, den Männern an den Riemen zu sagen, daß sie alle Kraft einsetzen sollten, wußten sie doch alle, was auf dem Spiel stand. Hornblower hatte einmal in der englischen Geschichte von einem sächsischen Oberkönig gelesen, der von acht Unterkönigen den Fluß Dee entlang gepullt worden war. Ihm ging es heute ganz ähnlich, denn die meisten Riemen in seinem Boot waren von Offizieren besetzt: Bush führte den Steuerbordbugriemen, der Bootsmann Wise, der Arzt Wallis und zwei, drei Steuermannsmaate saßen ebenfalls an den Riemen.

Der Steuermann, der Zahlmeister und der Stückmeister hatten ebenfalls auf den Duchten Platz gefunden. Wo noch Raum war, saßen da und dort einige Matrosen. Das Boot war vollgepackt mit Menschen und lag tief im Wasser, aber man konnte eben auf keinen kampffähigen Mann verzichten.

Schwerfällig schlingernd bewegte sich das überladene Fahrzeug über das schwarze Wasser, die Lichter der Brigg kamen von Minute zu Minute näher. Noch hörte man an Bord des Schiffes keinen Laut, keine Störung der Ruhe - man wartete auf die Rückkehr des entsandten Bootes, und kein Mensch schöpfte Verdacht, ehe es längsseit lag. Man konnte natürlich nicht sicher sein, daß es Meadows gelang, friedlich längsseit zu gehen und dann mit allen Mann gleichzeitig das Deck zu stürmen, so daß sich die Franzosen urplötzlich einer Schar von zwanzig unbändigen Feinden gegenübersahen, während sie doch nur ein halbes Dutzend Freunde erwartet hatten.

Da, nun ging es los! Der Knall einer Pistole drang gegen den Wind herüber. Nach der getroffenen Vereinbarung sollte die Meadowsbesatzung von ihren Pistolen Gebrauch machen, sobald sie an Deck gelangte, um die überraschten Franzosen zu erschrecken und in panische Angst zu versetzen. Zwanzig Mann, die plötzlich an Deck erschienen und mit ihren Pistolen um sich schossen, waren bestimmt in der Lage, diese Wirkung zu erzielen. »Auf Riemen! Bug!« Das Boot schor unter den Fockrüsten bei der Brigg längsseit. Damit lag es schräg gegenüber der Stelle, von der Lärm und Geschrei herübertönten, weil dort Meadows geentert war. Ein Dutzend Männer, darunter Hornblower selbst, griffen sofort nach den Wanten. Es war ein wahres Wunder, daß das Boot nicht kenterte, denn selbst ältere Deckoffiziere konnten noch so gedankenlos und draufgängerisch sein wie die jüngsten Matrosen, wenn es einmal wirklich ums Ganze ging. »Los, packt sie, wo ihr sie kriegen könnt!« rief Hornblower. Was sollten hier formelle Kommandos. Diese Männer brauchten keine Führung. Das Boot kam hoch, als die Schar mit den schwarzen Gesichtern in die Rüsten sprang. Hornblower erreichte das Deck nicht als erster, aber doch als fünfter oder sechster. Sie fanden keinen Widerstand, wenn auch viele Männer auf dem schwacherleuchteten Deck umherrannten. Da war ein Niedergang. In diesem Augenblick tauchte aus ihm eine Gestalt mit weißem Gesicht auf. Der Mann war eben halbwegs an Deck gelangt, da traf ihn die Axt eines Mannes mit schwarzem Gesicht, und der Franzose stürzte den Niedergang wieder hinunter.

Jetzt rannte so ein Kerl Hornblower an und stieß ihn beiseite, daß er beinahe hingefallen wäre. Dennoch drohte ihm in diesem Augenblick keine Gefahr, denn der eilige Franzose wollte nur unter Deck und warf sich förmlich den Niedergang hinunter.

Ihm auf dem Fuße folgte noch ein Dutzend anderer, von panischer Angst gejagter Gestalten, eine verschreckte Herde, die von zwei Schwarzgesichtern mit geschwungenen Entermessern verfolgt wurde. Als die Gesellschaft in der Tiefe verschwunden war, beugte sich Hornblower über den Niedergang und schoß mit der Pistole in die Menschenmasse am Fuß der Treppe.

Wahrscheinlich war dies die wirkungsvollste Verwendung des einzigen Schusses, der ihm zur Verfügung stand, denn damit hielt er am besten die anderen Franzosen vom Niedergang fern, die jetzt wahrscheinlich versuchten heraufzukommen.

»Schließen Sie sofort diesen Niedergang«, rief Hornblower, »Wise, verschalken Sie ihn. Die Steuermannsmaate helfen Wise.

Die anderen folgen mir.«

Mit gezogenem Säbel eilte er nach achtern. Ein paar verstörte Gestalten kamen auf sie zugestürzt. Sie hatten weiße Gesichter, also wurden sie niedergemacht. Für Gefühle war jetzt keine Zeit.

Hornblower dachte im letzten Augenblick daran, ein lautes Geschrei anzustimmen. Wenn es achtern echte Gegenwehr gab, dann verlor sie bestimmt an Entschlossenheit, sobald lautes Kampfgeschrei das Nahen des Gegners verriet. Jetzt tat sich plötzlich ein helles Rechteck auf, darin sah er eine weiße Gestalt in weißem Hemd, weißer Kniehose und mit weißem Gesicht, die eben heraustrat. Das war bestimmt der französische Kommandant, der aus seiner Kajüte kam. Kaum war er draußen, da trat ihm eine riesige Gestalt mit gezücktem Entermesser entgegen. Hornblower sah, wie der französische Kommandant mit gestrecktem Arm und gebeugtem Knie einen klassischen Ausfall machte und wie das Entermesser blitzend niedersauste.

Dann stürzten beide Gestalten an Deck und verschwanden so aus seinem Gesichtsfeld.

Die Schlacht, wenn man sie so nennen konnte, war fast vorüber. Den völlig überraschten, unbewaffneten Franzosen blieb nichts anderes übrig, als ihr nacktes Leben zu retten. Aber jede Gestalt mit einem weißen Gesicht wurde erbarmungslos rund um das Deck gejagt und fiel schließlich den Männern zum Opfer, die vor Blutdurst und Aufregung halb von Sinnen waren.

Nur eine einzige Gruppe, die an Deck kriechend um Erbarmen flehte, blieb von diesem Schicksal verschont. Auch von diesen Leuten wurden noch einige umgebracht, aber dann war der Blutdurst gesättigt, und die Überlebenden wurden in einer Ecke an der Heckreling zusammengetrieben. Hornblower vermutete, daß einige Franzosen Zuflucht in der Takelage gesucht hatten und sich dort versteckt hielten, aber mit denen wurden sie später fertig.

Er sah sich an Deck um, wo die in den Wanten schwingenden Laternen ein unheimliches Dämmerlicht schufen. Dazu kam immer wieder der Lichtschein aus der Kajütentür, die mit dem Rollen des Schiffes auf- und zuschwang. Das Deck selbst, auf dem allenthalben die Leichen Erschlagener umherlagen, bot einen schauerlichen Anblick. Wie, erwachte dort nicht ein Toter wieder zum Leben? Sein Körper wollte sich offenbar erheben, aber so wie kein lebender Mensch je versuchen würde auf die Beine zu kommen. In dieser gespenstischen Nacht war offenbar alles möglich. Nein, doch nicht! Der Mann war tot, er wurde von unten her hochgestoßen. Offenbar war er auf das achtere Luk gefallen, und die Leute unter Deck versuchten jetzt, ihn aus dem Wege zu räumen. Während Hornblower noch hinsah, rollte der Tote vom Luk herunter und schlug an Deck auf. Im gleichen Augenblick wurde der Lukendeckel von zwei Händen weiter hochgestoßen Da sprang Hornblower mit geschwungenem Säbel zu, die beiden Hände verschwanden, und zugleich schrie ein Mann unter Deck gequält auf. Hornblower legte sofort den Verschlußbügel über das Luk, fand den Bolzen und steckte ihn vor. So konnte hier fürs erste nichts mehr passieren. Als er sich aufrichtete, stand eine andere Gestalt vor ihm, die das Luk genauso sichern wollte, wie er es eben getan hatte.

Unwillkürlich faßte er den Säbel fester, weil er nicht darauf gefaßt war, daß ihn ein schwarzes Gesicht aus nächster Nähe anstarrte.

»Wir haben's geschafft«, hörte Hornblower Baddlestone sagen und erkannte ihn jetzt auch an seiner Gestalt.

»Wo ist Meadows?« krächzte Hornblower. Sein Hals war von der Spannung ganz ausgetrocknet.

»Der ist hinüber«, antwortete ihm Baddlestone mit einer entsprechenden Armbewegung.

Wie zur Antwort flog die Kajütentür wieder einmal auf, so daß der Lichtschein das Achterdeck erhellte, und Hornblower fiel wieder ein, was er gesehen hatte. Auf der anderen Seite des Luks lagen zwei Tote, der eine war offenbar Meadows. Er lag halb auf der Seite, seine Arme und Beine waren nach beiden Seiten abgespreizt. Aus seiner Brust ragte der Griff eines Degens und aus dem Rücken stand die Klinge zwei Fuß heraus, was seine ungewöhnliche Lage erklärte. Die Zähne leuchteten weiß in seinem schwarzen Gesicht, offenbar hatte sie Meadows in der Raserei seines Angriffs entblößt. Im flackernden Licht der Laternen sah es aus, als ob er in sinnloser Wut noch immer sein Gesicht verzerrte. Hinter ihm lag der französische Kommandant in weißem Hemd und weißer Kniehose - beides nur noch zum kleineren Teil weiß. Wo früher sein Gesicht gewesen war, sah man jetzt nur noch eine grauenhafte blutige Masse. An Deck lag das Entermesser, das Meadows mit einem letzten Ausbruch seiner gewaltigen Kraft hatte niedersausen lassen, als der Degen des Franzosen bereits sein Herz durchbohrte. Jahre zuvor hatte der emigrierte französische Edelmann, der Hornblower Fechtunterricht gab, vom coup des deux veuves gesprochen, jenem gleichzeitigen Angriff, der gleich zwei Frauen auf einmal zu Witwen machte. Was er hier sah, war ein Beispiel dafür.

»Haben Sie Befehle, Sir?« Mit dieser Frage rief ihn Bush in die Wirklichkeit zurück.

»Fragen Sie Kapitän Baddlestone«, gab ihm Hornblower zur Antwort. Etwas Förmlichkeit konnte dazu beitragen, ihn von dem Albdruck zu befreien, der immer schwerer auf ihm lastete.

Aber im gleichen Augenblick wurde er nachdrücklich daran erinnert, daß es immer noch auf blitzschnelles Handeln ankam.

Neben ihm krachte es unter Deck, und ein scharrendes Geräusch unter ihm, das er durch seine Stiefel hindurch spürte, verriet ihm, daß die Franzosen wieder am Luk zugange waren. Von vorn her drangen ähnliche Geräusche nach achtern, dazu hörte er eine Stimme rufen: »Hier Kapitän, Sir, sie wollen den Lukendeckel einschlagen!«

»Als wir enterten, war die ganze Freiwache unter Deck«, sagte Baddlestone.

Daraus erklärte sich natürlich der verhältnismäßig leicht errungene Sieg - dreißig Bewaffnete gegen fünfzig waffenlose und völlig überraschte Gegner. Aber es hieß auch, daß fünfzig Mann - nein mehr, wenn man die Funktionäre einrechnete, jetzt unter Deck waren und sich nicht ohne weiteres ergeben wollten.

»Gehn Sie nach vorn, Bush, und sehen Sie zu, was sich dort machen läßt«, sagte Hornblower - erst als Bush verschwunden war, fiel ihm ein, daß er das unerläßliche ›Mister‹ vergessen hatte. Er mußte wirklich mit seinen Nerven am Ende sein.

»Es kann nicht so schwer sein, die Gesellschaft unter Deck zu halten«, sagte Baddlestone.

Natürlich konnte es den Leuten dort unten kaum gelingen, sich durch einen genügend beobachteten Niedergang oder ein Luk den Weg an Deck zu erzwingen, auch wenn sie Kappen und Deckel in Stücke schlugen, wie das wahrscheinlich grade eben geschah. Wenn aber Luk und Niedergang und dazu noch die Gefangenen achtern an der Heckreling ausgiebig bewacht werden sollten und wenn gleichzeitig Besatzungen sowohl für die Brigg als auch für die Princess bereitgestellt werden sollten, dann hieß das, daß jeder einzelne seine ganze Kraft und Ausdauer einsetzen mußte. Das Flackerlicht der Laternen spielte ihnen seltsame Streiche. So schien es eben, als ob sich das unbesetzte Ruder eigenmächtig drehte. Hornblower eilte rasch hinzu. Es drehte sich nicht so leicht, wie man es auf einem beigedrehten Schiff erwarten konnte, aber dann ließ es sich plötzlich ohne jeden Widerstand drehen.

»Sie haben unter Deck die Ruderreeps gekappt«, berichtete er Baddlestone. In diesem Augenblick krachte von unten der Hieb eines Schmiedehammers gegen das Deck, so daß sie vor Schreck hochsprangen. Hornblower fühlte, daß ihm von dem Schlag eine ganze Weile die Füße kribbelten. »Herrgott, was war das -?« fragte er.

Ehe er noch eine Erklärung fand, krachte es abermals von unten fürchterlich gegen das Deck. Als er dann angespannt nach unten starrte, entdeckte er wenige Zoll von seinem rechten Fuß einen winzigen Lichtschimmer. Dort befand sich im Deck ein kleines gezacktes Loch.

»Nichts als weg von hier«, sagte er zu Baddlestone und zog sich an die Speigatten zurück. »Die schießen da unten mit Musketen.« Eine Musketenkugel von einer Unze (28 Gramm) Gewicht, die aus einem Zoll Entfernung gegen das Deck abgefeuert wurde, entwickelte eine Kraft von zwanzig Schmiedehämmern. Wenn sie die einen Zoll starke Decksplanke durchschlagen hatte, blieb ihr immer noch genügend Kraft und Geschwindigkeit, um ein Bein zu zersplittern oder einen Menschen zu töten.

»Wahrscheinlich haben sie vermutet, daß einer am Ruder steht«, sagte Baddlestone.

Vom Vorschiff her hörte man Krachen und Splittern, ein Zeichen, daß die Franzosen dort die Kappe des Niedergangs zerstörten. Jetzt begann am Achterluk ein ganz ähnliches Geräusch. Es nahm sich aus, als hätten sie unter Deck eine Axt gefunden und machten nun ausgiebig davon Gebrauch.

»Mir scheint, es wird nicht ganz einfach sein, das Schiff nach Hause zu bringen«, sagte Baddlestone. Das Weiße seiner Augen verriet, daß er Hornblower dabei einen fragenden Blick zuwarf.

»Ja, wenn sie sich nicht ergeben, wird das ein schwieriges Geschäft«, sagte Hornblower.

Wenn das Deck eines Schiffes im ersten Ansturm genommen wurde, dann waren die Überlebenden unter Deck oft so entmutigt, daß sie jeden Widerstand aufgaben. Entschlossen sie sich jedoch, dem Sieger trotz allem Widerstand zu leisten, dann wurde die Lage für diesen schwierig, insbesondere dann, wenn, wie hier, bei weitem mehr Menschen unter Deck waren als an Deck, und zumal wenn diese Eingeschlossenen offenbar von einem mutigen und tatkräftigen Mann geführt wurden.

Hornblower hatte sich schon mehrmals eine solche Lage ausgemalt, aber selbst seine Phantasie hatte sich nicht zu der Vorstellung verstiegen, daß man Musketenkugeln durch das Deck nach oben feuern könnte.

»Wenn wir die Brigg in Fahrt bekommen«, sagte er, »dann gibt es noch eine weitere Schwierigkeit, das sind die Notsteuertaljen.«

»Die soll der Teufel holen«, sagte Baddlestone.

Wenn das Ruder eines Schiffes aus irgendeinem Grund ausfiel, dann konnte man es dennoch durch geschickte Handhabung der Segel einigermaßen auf Kurs halten. Aber unter Deck befanden sich eben jene Notsteuertaljen. Wenn ein halbes Dutzend kräftiger Männer daran holte, dann konnten sie das Ruderblatt drehen. Damit waren sie nicht nur imstande, alle Bemühungen der Männer an Deck zu vereiteln, sondern sogar das Schiff ernstlich zu gefährden, indem sie es plötzlich in den Wind drehen ließen. »Ich glaube, wir müssen weg«, sagte Hornblower. Er ärgerte sich wütend, daß ihn seine Einsicht zwang, diesen Vorschlag zu machen. Baddlestone reagierte denn auch mit einer Flut von Verwünschungen, die dem toten Meadows angestanden hätten.

»Sie haben natürlich recht«, sagte er, als er mit dem Fluchen zu Ende war, »zehntausend Pfund sind damit für jeden von uns im Eimer. Wir wollen die Brigg verbrennen. Ehe wir abziehen, zünden wir sie an.«

»Nein, das geht nicht!« Er schleuderte dem Mann seine Antwort entgegen, ehe er noch Zeit fand nachzudenken.

Feuer auf einem hölzernen Schiff war der tödlichste aller Feinde. Wenn sie die Brigg brennend verließen, dann reichten keine Bemühungen der Franzosen aus, die Flammen zu löschen.

Fünfzig - sechzig - siebzig Männer kamen in den Flammen um, wenn sie es nicht vorzogen, über Bord zu springen um zu ertrinken. Das konnte er nicht auf sich nehmen - er brachte es nicht über sich, dazu kalten Blutes die Hand zu reichen. Schon begann sich eine andere, bessere Möglichkeit in seiner Vorstellung abzuzeichnen. »Wir können die Brigg als Wrack zurücklassen«, sagte er. »Dazu kappen wir alle Brassen, wir kappen die Fallen, wir kappen meinetwegen auch das Vorstag.

Das dauert gerade fünf Minuten, und sie brauchen bestimmt den ganzen Tag, bis sie wieder Segel setzen können.« Vielleicht gewann er Baddlestone dadurch so schnell für seinen Plan, daß er den Dämon der Zerstörung beschworen hatte. »Los!« sagte der. »Schicken wir sie gleich alle an die Arbeit.« Dazu brauchten sie nicht viel zu organisieren. Von den Männern, die ihnen unterstanden, waren viele Deckoffiziere, Leute, die nach ein paar Worten der Erklärung wußten, worauf es ankam. Es waren dann noch reichlich genug Leute übrig, um das Luk und den Niedergang zu bewachen, (dessen verschlossene Kappe durch die Axthiebe von unten immer mehr in Trümmer ging), als die Zerstörungsgruppe abgeteilt war und ans Werk ging.

Während diese Männer an Deck ein wüstes Durcheinander entfesselten, besann sich Hornblower auf eine der wichtigsten Verrichtungen, die einem Offizier an Bord eines gekaperten Schiffes oblag. Sein Verstand schien sprunghaft zu arbeiten, klare Einsichten leuchteten plötzlich wie Blitze in dem dunklen Gewölk der Bedrückung auf, die er nicht abschütteln konnte. Er rannte spornstreichs in die Kajüte des Kommandanten. Wie erwartet stand da der Schreibtisch. Er hätte sich sagen könne, daß das Möbel verschlossen war. Als er das jetzt feststellte, holte er schnell eine Handspake vom nächsten Geschütz. Mit Hilfe ihrer kräftigen Hebelwirkung brauchte er kaum eine Minute, um den Schreibtisch aufzubrechen. Drinnen fanden sich Schiffspapiere, das Briefbuch, die Reinschrift des Logbuchs und was sonst noch dazu gehörte. Als er alles zusammenpacken wollte, entdeckte er etwas Ungewöhnliches - ein flaches, rechteckiges, schweres Etwas, offenbar eine Bleiplatte, die mit geteertem Garn umwickelt war. So sah es auf den ersten Blick aus. Erst bei näherer Untersuchung stellte sich heraus, daß es sich um zwei Bleiplatten handelte, die genau aufeinander paßten und zwischen denen sich Papiere befanden. Diese Papiere waren ohne Zweifel besonders wichtig. Wahrscheinlich waren es Depeschen, wenn nicht, dann konnte es sich auch um Änderungen und Ergänzungen für das Signalbuch handeln. Die Bleiplatten sprachen ihre eigene, stumme Sprache. Sie sollten samt dem zwischen ihnen verwahrten Inhalt über Bord fliegen, wenn das Schiff in Gefahr kam, gekapert zu werden. Meadows Hieb mit dem Entermesser hatte diese Absicht vereitelt.

Ein entsetzlicher Krach draußen an Deck verriet ihm, daß man schon damit begonnen hatte, die Brigg seeuntüchtig zu machen.

Er sah sich in der Kajüte um, riß ein Leintuch aus der Koje und warf alle Schiffspapiere hinein. Dann drehte er das Laken rasch zu einem Beutel zusammen, warf ihn über die Schulter und eilte hinaus.

Der Krach vorhin war dadurch entstanden, daß die Großrah von oben gekommen war, weil man ihr Takel gekappt hatte.

Jetzt lag sie in einem Gewirr von Tauwerk quer über Deck, und man konnte deutlich sehen, daß sie durch den Sturz von oben in der Mitte gesprungen - besser gesagt halb durchgebrochen war.

Fünf Minuten Arbeit einer Gruppe von Männern, die genau wußten, was ihre Aufgabe war, hatte die Brigg in ein Wrack verwandelt.

Vorne wachten Baddlestone und seine Männer über dem Niedergang, dessen Kappe sich immer mehr in ihre Teile auflöste, da sie die Franzosen von unten her wie wild und ohne Pause mit Äxten und Brechstangen bearbeiteten. Eine aufgesplitterte Öffnung gab Zeugnis, daß sie nicht ohne Erfolg waren.

»Wir haben unsere ganze Munition da hinuntergeschossen«, sagte Baddlestone, »wenn wir abhauen, dann geht es für uns ums Ganze.« Ein Knall und Blitz von unter Deck verliehen seinen Worten Nachdruck. Eine Musketenkugel flog pfeifend zwischen ihm und Hornblower durch die Luft.

»Ich wollte, wir hätten -«, begann Baddlestone und hielt dann plötzlich inne. Genau das gleiche war Hornblower in diesem Augenblick eingefallen.

Als es dunkel wurde, hatte die Brigg die Princess durch einen Schuß vor den Bug angehalten und die Princess war daraufhin beigedreht, um damit ihre Bereitschaft zur Übergabe kundzugeben. Das Geschütz, mit dem jener Schuß gefeuert worden war, mußte aller Wahrscheinlichkeit nach auch jetzt noch feuerbereit sein. Baddlestone rannte zu der einen Batterie, Hornblower zu der anderen.

»Hier ist noch eine Kartusche!« schrie Baddlestone. »Los, Jenkins, Sansome greift mit zu!«

Hornblower suchte unter den Geschossen an der Reling und fand schließlich, was er wollte.

»Mit einer Kartätsche schaffen wir's am besten«, sagte er, als er sie der hart arbeitenden Gruppe hinüberbrachte.

Baddlestone und seine Männer arbeiteten wie die Wilden mit Handspaten, um die Kanone herumzuschwenken, so daß sie auf den Niedergang zeigte.

Das war alles andere als einfach. Die Rollen der Lafette knirschten und quietschten, als sie quer über Deck geschoben wurden. Baddlestone nahm die Pulverladung in ihrem Sergebeutel aus dem Transportbehälter, der neben dem Geschütz bereitstand. Sie setzten die Ladung an, dann schoben sie von der Mündung her die Kartätsche ins Rohr, einen runden Blechzylinder, der hundertfünfzig Kugeln enthielt. Gurney, der Stückmeister, durchbohrte die Serge des Kartuschbeutels durch das Zündloch mit dem Pricker und streute feinstes Zündpulver aus dem Pulverhorn hinein. Dann begann er, einen Keil unter das Bodenstück zu treiben, so daß es sich hob und die Mündung mit tödlicher Drohung in den Niedergang hinunterzeigte.

Baddlestone sah sich mit seinem kohlschwarzen Gesicht nach allen Seiten um.

»Alle Mann in die Boote!« befahl er.

»Ich bleibe wohl am besten noch bei Ihnen«, sagte Hornblower. »Nein, gehen Sie mit Ihrer Besatzung ins Boot!« antwortete Baddlestone. Das war natürlich richtig, denn ihr Unternehmen war ja ein Rückzugsgefecht und dabei sollte die deckende Mannschaft immer so schwach an der Zahl sein, wie es sich ermöglichen ließ. Also brachte Hornblower seine Besatzung wieder zum Boot der Princess, die Mehrzahl der Männer Baddlestones ging in das Boot der Brigg. Einen Augenblick blieb Hornblower noch auf Zehenspitzen stehen und hielt sich trotz des Seegangs mit einer Hand an den Fockrüsten fest, während sich die andere um das kostbare Bündel mit den Papieren krampfte. Er stand gerade hoch genug, daß er alles übersehen konnte: das schwankende Deck mit den überall verstreuten Leichen und dem unglaublichen Wirrwarr, der durch die Zerstörung der Takelage entstanden war. Aber in den Wanten brannten immer noch die beiden Laternen, und das Licht aus der Kajüte kam und ging nach wie vor mit dem Schwingen der offenen Tür. Gurney hatte offenbar einen zweiten Keil unter das Bodenstück der Kanone getrieben, so daß sie nun steil in den Niedergang hinunterzeigte. Er und Baddlestone standen klar, dann riß er die Abzugsleine. Ein ohrenbetäubender Knall, ein blendender Blitz und eine dicke Qualmwolke waren die Folgen. Von da wo er stand, hörte Hornblower deutlich das entsetzte Geschrei der Männer unter Deck. Dann kamen die Engländer über Deck an die Reling gerannt, Baddlestone und Gurney, die Wächter am Luk und am Niedergang, die Wachen bei den Gefangenen. Hornblower sah, wie sie alle über die Reling ins Boot stiegen. Baddlestone konnte sich nicht enthalten, sich umzudrehen und die Franzosen zu verwünschen, ehe er in seinem Boot verschwand.

Hornblower ließ endlich die Rüsten los und nahm in der Achterplicht seines Bootes Platz. »Absetzen!« befahl er.

Das winzige tanzende Pünktchen da drüben zeigte ihm, wo die Princess beigedreht lag. Noch fünf Minuten, dann waren sie wieder unterwegs, niemand stellte ihnen mehr nach, und auch der Wind erlaubte jetzt, Plymouth anzuliegen.

7. Kapitel

Hornblower schrieb die letzten Zeilen seines Briefes, las ihn dann, angefangen von der Anrede: ›Meine liebe Frau‹ bis zum Ende: ›Dein Dich liebender Horatio Hornblower‹ rasch noch einmal durch und steckte ihn zusammengefaltet in die Tasche.

Dann ging er an Deck. Dort wurde eben der letzte Festmacher um den letzten Poller gelegt, dann lag die Princess sicher am Kai des Nachschubhafens von Plymouth.

Wie immer, so hatte auch diesmal das Wiedersehen mit England etwas seltsam Unwirkliches an sich, es war fast, als hätte man einen lebhaften Traum. Alles, die Menschen, die Schuppen, die Häuser hoben sich unnatürlich scharf von ihrer Umgebung ab, die Stimmen klangen hier ganz anders, da sie vom Land widerhallten, der Wind war himmelweit verschieden vom Wind draußen auf See. Die Passagiere der Princess gingen bereits an Land, eine Menge Neugieriger hatte sich auf der Pier angesammelt. Die Rückkehr eines Wasserleichters von der Kanalflotte war an sich schon interessant genug, weil er vielleicht Nachrichten mitbrachte, aber ein Wasserleichter, der ein französisches Kriegsschiff, eine Brigg, gekapert und sogar kurz in Besitz gehabt hatte, das war eine richtige Sensation.

Hornblower mußte sich von Baddlestone verabschieden und dafür sorgen, daß seine Seekiste und sein Seesack an Land gebracht wurden. Außerdem aber gab es noch etwas anderes zu besprechen.

»Ich habe hier die Papiere des französischen Schiffes«, sagte Hornblower und zeigte dem Kapitän das Bündel. »Was soll denn ich damit?« fragte ihn Baddlestone.

»Sie haben die Pflicht, sie der zuständigen Behörde zu übergeben«, sagte Hornblower. »Ich bin sogar überzeugt, daß Ihnen diese Pflicht von Gesetzes wegen obliegt. Jedenfalls muß ich mich als Offizier des Königs darum kümmern, daß es geschieht.«

Baddlestone war seltsam zurückhaltend. Er schien ebenso wie Hornblower darauf bedacht, sich nicht offen auszusprechen.

»Warum tun Sie es denn nicht selbst?« fragte er schließlich, nachdem er Hornblower eine ganze Weile durchdringend angeschaut hatte. »Das Schiff war eine Prise, Sie sind der Kapitän, der sie gekapert hat.« Baddlestone gab seiner Geringschätzung für Prisen zum Ausdruck, die nur noch aus wertlosen Papieren bestanden.

Als er mit Schimpfen und Fluchen zu Ende war, meinte er:

»Liefern Sie den Papierkram doch selber ab. Für Sie hat er vielleicht einigen Wert.«

»Das kann schon sein«, stimmte ihm Hornblower bei.

Baddlestones anfängliche Zurückhaltung verwandelte sich jetzt in unverhohlene Neugier. Er maß Hornblower mit einem forschenden Blick, als ob er neben den offenkundigen Beweggründen noch einen versteckten zu entdecken suchte, der ihn zu seinem Verhalten bestimmte. »Sie waren es doch, der daran dachte, das Zeug mitzunehmen«, sagte er, »und jetzt wollen Sie es mir einfach geben?«

»Das ist doch klar. Sie sind der Kapitän.«

Baddlestone schüttelte langsam den Kopf, als hätte er es aufgegeben, die Lösung eines Problems zu finden. Hornblower sollte nie dahinterkommen, worin dieses Problem bestanden hatte.

Als er dann an Land ging, überkam ihn wieder einmal das seltsame Gefühl, nach langer Zeit wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Zwei Gruppen von Passagieren, die auf der Pier standen - die eine bestand aus Offizieren und Unteroffizieren, die andere aus den Mannschaften - verstummten, als er auf sie zutrat. Er mußte sich jetzt in aller Form von ihnen verabschieden, waren doch erst dreißig Stunden vergangen, seit sie im Verein mit ihm die Entermesser schwingend das Deck der französischen Brigg erkämpft hatten.

Zwischen ihnen allen bestand jetzt eine Waffenbrüderschaft - etwas, das sie scharf von den ahnungslosen Zivilisten trennte und zu einer besonderen Kaste stempelte.

Aber das erste, was er hier an Land zu besorgen hatte, war doch der Brief. Sein Blick fiel auf einen mageren, barfüßigen Jungen, der sich hinter den versammelten Männern herumtrieb.

»Komm einmal her, Kleiner«, rief ihm Hornblower zu. »Willst du dir einen Shilling verdienen?«

»Ja, das möchte ich schon.« Seine Antwort im vertrauten Dialekt der Heimat war von einem verlegenen Grinsen begleitet.

»Kennst du Driver's Alley?«

»Ja, Sir.«

»Hier hast du Sixpence und einen Brief. Damit läufst du jetzt los und bringst den Brief zu Mrs. Hornblower, kannst du dir den Namen merken? Wiederhole mir einmal wie sie heißt. Ja, ausgezeichnet. Wenn du ihr den Brief gibst, bekommst du von ihr die zweiten Sixpence. So, und jetzt lauf los.«

Nun der Abschied:

»Den meisten von Ihnen, meine Herren, habe ich erst vor wenigen Tagen Lebewohl gesagt, und jetzt schlägt die Stunde des Abschieds zum zweitenmal. In dieser kurzen Zeit hat sich eine ganze Menge ereignet.«

»Das kann man wohl sagen, Sir!« Diese begeisterte Zustimmung kam von Bush, der unter allen Anwesenden der einzige aktive Seeoffizier war.

»Jetzt sage ich Ihnen also abermals Lebewohl. Schon das erstemal sagte ich, daß ich hoffte, wir würden einander irgendwo wiedersehen, und jetzt gebe ich dieser Hoffnung nochmals Ausdruck. Und heute wie damals sage ich Ihnen wieder von Herzen Dank. Sie wissen ja alle, daß ich es sowohl mit der Hoffnung wie mit meinem Dank ehrlich meine.«

»So wie die Dinge liegen«, sagte Bush, »haben wir von Rechts wegen Ihnen zu danken.« Mit diesen Worten übertönte er das unverständliche Gemurmel der anderen.

»Lebt wohl, ihr Männer«, sagte Hornblower dann zu der anderen Gruppe, »lebt wohl, und viel Glück für die Zukunft.«

»Leben Sie wohl und viel Glück, Sir.«

Damit wandte er sich zum Gehen. Alsbald gelang es ihm, einen Werftarbeiter zu finden, der ihm seine Sachen mit einem Karren befördern wollte. Auf diesem Karren hatte auch das zum Bündel zusammengedrehte Leintuch Platz, das er bis dahin in der Hand getragen hatte. Sein Inhalt war vielleicht unendlich wichtig und wertvoll, aber als Kapitän war er dennoch seinem Auftreten einiges schuldig. Dieses Auftreten war seiner Meinung nach schon dadurch genug gefährdet, daß er es außerordentlich schwierig fand, zu gehen, wie es sich für einen Landbewohner gehörte. Es wollte ihm nämlich scheinen, als schwankten die Kopfsteine, über die er gehen mußte, auf und nieder. Darum schien es ihm, daß er einher schwankte wie eine gewöhnliche Teerjacke. Wenn er auch dagegen anging, so gut er konnte so war er doch nicht imstande, ganz davon loszukommen, da sich ja die feste Erde ständig unter seinen Füßen zu bewegen schien. Wie zu erwarten war, hatte der Werftarbeiter keine Ahnung, wo der Admiral zu finden war, der das Amt des Hafenkommandanten innehatte. Er wußte nicht einmal, wie er hieß, darum mußte Hornblower unterwegs einen Beamten anhalten, um ihn um Auskunft zu bitten. »Zum Hafenkommandanten wollen Sie?« Der fette Bursche wiederholte Hornblowers Frage von oben herab. Der Fragesteller machte in der Tat einen heruntergekommenen und wenig standesgemäßen Eindruck. Seine Haare waren lang und zerzaust, seine Uniform war voller Falten, kurz, er sah eben aus, wie es nach vierzehn Tagen drangvoller Enge auf einem Wasserleichter zu erwarten war. Nur die eine, wenn auch schäbige Epaulette auf seiner linken Schulter gab Auskunft über seinen Rang, und als der Beamte sie endlich bemerkte, ergänzte er seine Worte durch ein geflüstertes ›Sir‹ .

»Ja, ich will zum Hafenkommandanten.«

»Er hat sein Büro in dem Steingebäude dort drüben.«

»Besten Dank. Wissen Sie auch wie er heißt?«

»Ja, sein Name ist Foster. Konteradmiral Harry Foster.«

»Danke.«

Das war bestimmt der ›Dreadnought-Foster‹ . Er war einer der Kapitäne gewesen, die Hornblower vor Jahren in Gibraltar im Leutnantsexamen geprüft hatten. An jenem Abend hatten die Spanier ihre Brander in den Hafen geschickt.

Der Seesoldat am äußeren Tor präsentierte vor der Epaulette, aber er war nicht so stur, daß er das seltsame Bündel unbeachtet gelassen hätte, das Hornblower dem Werftarbeiter abnahm.

Seine Augen drehten sich danach, obwohl der Hals in unbeweglich starrer Haltung verblieb. Hornblower nahm seinen schäbigen Hut ab, um den Gruß zu erwidern, und durchschritt den Eingang. Auch der Flaggleutnant, der ihn als erster empfing, nahm von dem Bündel Notiz, aber seine Spannung wich, als ihm Hornblower erklärte, daß er die Schiffspapiere einer Prise überbringe. »Stammen sie etwa von der Guèpe, Sir?« fragte der Leutnant. »Ja«, antwortete Hornblower überrascht. »Der Admiral wird Sie sofort empfangen, Sir.«

Erst gestern hatte Hornblower das Logbuch der Brigg auf dem Leichter nachgelesen und dabei den Namen der Prise entdeckt.

Obwohl die Princess erst vor einer Stunde mit Land in Berührung gekommen war, hatte ihr Erlebnis offenbar schon seinen Weg bis zu den Amtsräumen des Admirals gefunden.

Zum mindesten ersparte ihm das etwas Zeit - Maria wartete bestimmt schon am Werfttor auf ihn.

Dreadnought-Foster sah noch genauso aus, wie ihn Hornblower in Erinnerung hatte. Er war ein dunkelhaariger Mann mit einem hämischen Zug um den Mund.

Glücklicherweise schien er sich nicht an den aufgeregten Fähnrich zu erinnern, dessen Prüfung an jenem Abend in Gibraltar so plötzlich unterbrochen worden war. Wie sein Flaggleutnant hatte auch er schon von der Kaperung der Brigg gehört - ein neues Beispiel für das Tempo, in dem aller Klatsch um sich zu greifen pflegt - und begriff als Seemann und Offizier sofort, was ihm Hornblower noch an Einzelheiten zu berichten hatte.

»Und das hier sind also die Papiere?« fragte er, als Hornblower in seinem Bericht so weit gediehen war. »Jawohl, Sir.«

Foster streckte seine große Hand danach aus.

»In der Aufregung hätte wohl nicht jeder daran gedacht, sie an sich zu nehmen«, sagte er, als er begann, sie durchzusehen.

Logbuch, Tagebuch, Mannschaftsliste, Munitionsbestand, Proviantbestand. Natürlich hatte er die in Blei gehüllte Depesche zu allererst gesehen, aber er legte sie beiseite, um sich zuletzt damit zu befassen. »Was haben wir denn hier?« Er buchstabierte an der Adresse.

»Was heißt das: S.E.«

»Son Excellence - Seine Excellenz, Sir.«

»Also an Seine Excellenz den Generalkapitän der - was heißt denn das?«

»Der Inseln über dem Wind, Sir.«

»Das hätte ich erraten können, denn es heißt ja weiter: Martinique«, meinte Foster. »Aber Französisch war nie meine starke Seite. Und jetzt -« Er spielte mit dem Federmesser auf seinem Schreibtisch und faßte das geteerte Garn ins Auge, das die Bleiplatten zusammenhielt. Schließlich legte er das Messer zögernd beiseite und sah Hornblower ins Auge. »Davon möchte ich lieber die Finger lassen«, sagte er. »Der erste Blick darauf sollte Ihren Lordschaften vorbehalten bleiben.« Hornblower hatte schon den gleichen Gedanken gehabt, aber er hatte ihn lieber für sich behalten. Foster maß ihn mit einem forschenden Blick. »Sie haben doch sicher die Absicht, nach London zu fahren, nicht wahr Kapitän?« sagte er. »Jawohl, Sir.«

»Das dachte ich mir. Sie wollen doch bestimmt ein Schiff.«

»Jawohl, Sir. Admiral Cornwallis hat mich vor einem Monat zur Beförderung vorgeschlagen.«

»Ausgezeichnet - und damit -«, Foster tippte mit dem Finger auf die Bleiplatten, »damit sparen Sie Zeit und Geld.

Flaggleutnant!«

»Sir!« Der Flaggleutnant stand sofort in militärischer Haltung im Zimmer.

»Kapitän Hornblower braucht eine Postkutsche.«

»Aye aye, Sir.«

»Der Wagen soll sofort ans Tor kommen.«

»Aye aye, Sir.«

»Stellen Sie ihm einen Dienstreiseausweis nach London aus.«

»Aye aye, Sir.«

Dann wandte sich Foster wieder Hornblower zu und verzog sein Gesicht zu einem belustigten Grinsen, als er dessen offenkundige Bestürzung sah. Hornblower war ausnahmsweise einmal nicht auf der Hut gewesen, sondern hatte verraten, wie ihm zumute war.

»Ihre Reise kostet den König Georg - Gott segne ihn - sage und schreibe siebzehn Guinees«, sagte Foster. »Sind Sie ihm für dieses Geschenk nicht dankbar?«

Hornblower hatte sich wieder in der Gewalt, es gelang ihm sogar, den Ärger zu verbergen, den er über seine Unbeherrschtheit von eben empfand.

»Selbstverständlich, Sir«, sagte er in ruhigem Ton und mit ganz ausdruckslosem Gesicht.

»Jeden Tag - zuweilen sogar zehnmal am Tage«, sagte Fester, »kommen Offiziere, ja, manchmal sogar Admirale zu mir herein und möchten Dienstreiseausweise nach London haben. Sie sollten einmal hören, was die für Begründungen vorbringen!

Und Sie läßt das völlig kalt?«

»Ich bin selbstverständlich hoch erfreut, Sir«, sagte Hornblower darauf, »und weiß Ihnen aufrichtig Dank.«

Maria stand jetzt natürlich schon am Tor und wartete. Aber er war einfach zu stolz, dem hämisch grinsenden Foster noch einmal eine Schwäche zu zeigen. Ein Offizier Seiner Majestät hatte eben seine Pflicht zu tun. Außerdem war es noch keine drei Monate her, seit er Maria zuletzt gesehen hatte. Es gab immerhin Offiziere, die schon seit Kriegsausbruch, also seit über zwei Jahren von ihren Frauen getrennt waren.

»Sie brauchen mir nicht zu danken«, sagte Foster, »mich hat nur das Ding da veranlaßt, Sie nach London zu schicken.«

»Jawohl, Sir.«

›Das Ding da‹ war natürlich die Depesche, auf die er nun wieder mit dem Finger tippte.

»Ich nehme an, daß es Ihren Lordschaften die siebzehn Guinees wert ist. Ihrer schönen Augen willen lasse ich Sie nicht nach London reisen.«

»Das ist mir klar, Sir.«

»Halt, noch eins: es wird richtig sein, daß ich Ihnen ein paar Zeilen an Marsden mitgebe. Damit kommen Sie schneller durch die Sperre.«

»Danke, Sir.«

Während Foster den Brief niederschrieb, gab sich Hornblower Rechenschaft, daß die beiden letzten Äußerungen des Admirals nicht gerade taktvoll zu nennen waren, wenn man sie miteinander in Beziehung brachte. Nüchtern betrachtet besagten sie, daß er mit seinem persönlichen Auftreten nicht viel Staat machen konnte. Marsden war Sekretär bei den Lords der Admiralität, und die Annahme, daß Hornblower einen Brief an ihn brauchte, um überhaupt eingelassen zu werden, kam, wenn auch unausgesprochen, einem abschätzigen Urteil über seine äußere Erscheinung gleich. »Die Kutsche wird gleich am Tor sein, Sir«, meldete der Flaggleutnant. »Danke.« Foster bestreute den Brief mit Sand und schüttete den überschüssigen Sand in die Streubuchse zurück. Dann faltete er den Bogen zusammen, adressierte ihn und bestreute ihn abermals mit Sand, den er wieder zurückschüttete. »Bitte siegeln Sie das.«

Während sich der Flaggleutnant mit Kerze und Siegelwachs zu schaffen machte, faltete Foster die Hände und richtete den Blick wieder auf Hornblower.

»Bei jedem Pferdewechsel wird man mit allen Mitteln versuchen, Neues von Ihnen zu erfahren«, sagte er. »Ganz England kennt jetzt nur zwei Fragen:

›Was macht Nelson?‹ und ›Ist Boney schon über den Kanal gekommen?‹ Sie reden über Villainnoove und Calder genauso wie vorher über Tom Cribb und Jem Belcher.«

»Leider habe ich von den beiden Herren noch nie etwas gehört.« (Tom Cribb und Jem Belcher kämpften damals um die Schwergewichtsmeisterschaft von England.) »Das macht nichts.«

»Ich bin fertig, Sir«, sagte der Flaggleutnant und gab Hornblower den versiegelten Brief. Dieser drehte ihn verlegen eine Sekunde in der Hand und steckte ihn dann in die Tasche - für einen Brief an den Sekretär der Admiralität schien ihm diese Behandlung fast anmaßend. »Leben Sie wohl, Kapitän Hornblower«, sagte Foster, »ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise.«

Als sie zum Tor unterwegs waren, sagte der Flaggleutnant:

»Ich habe Ihr Gepäck in der Kutsche verstauen lassen, Sir.«

»Besten Dank«, sagte Hornblower.

Draußen vor dem Tor sah man die übliche kleine Versammlung von Arbeitern, die sich um Anstellung bewarben, von wartenden Frauen und von neugierigen Müßiggängern. Ihre Aufmerksamkeit wurde im Augenblick durch die Postkutsche in Anspruch genommen, die vor dem Tor wartete und deren Kutscher die Pferde an den Köpfen festhielt. »Leben Sie wohl, Sir, und eine angenehme Reise«, sagte der Flaggleutnant und übergab Hornblower das Bündel mit den Papieren. Dieser hörte jetzt von draußen eine wohlbekannte Stimme: »Horry! Horry!«

Maria stand mit Kapotthut und Schal vor dem Gittertor und hatte den kleinen Horatio in den Armen. »Da steht meine Frau mit meinem Jungen«, sagte Hornblower unvermittelt. »Also auf Wiedersehen.« Er ging durch das Tor hinaus und hielt im nächsten Augenblick Maria und den Jungen zugleich in seinen Armen.

»Horry, Liebster, du mein einziger Schatz«, sagte Maria, »bist du endlich wieder da! Schau dir deinen Sohn an, wie er heranwächst. Den ganzen Tag rennt er herum. Komm Liebling, zeig deinem Vater, daß du lächeln kannst."

Für einen flüchtigen Augenblick huschte in der Tat ein Lächeln über das Gesicht des kleinen Horatio, doch dann verbarg er sein Gesicht gleich wieder an Marias Busen.

»Er sieht gut aus«, sagte Hornblower, »und wie geht es dir, Liebste?« Er trat einen Schritt zurück, um sie zu betrachten. Von ihrer Schwangerschaft war zur Zeit nichts zu bemerken, man konnte höchstens sagen, daß ihr Ausdruck etwas davon verriet.

»Wenn ich dich sehe, Liebster, durchströmt mich neues Leben«, sagte Maria. Es war schmerzlich für ihn, sich sagen zu müssen, daß ihre Worte der Wahrheit so nahe kamen. Viel grausamer aber war, was er ihr nun gleich eröffnen mußte - daß dieses Wiedersehen zugleich ein neuer Abschied war.

Wie es so ihre Art war, hatte Maria bereits ihre Rechte ausgestreckt, um an seinem Rock herumzuzupfen; den kleinen Horatio trug sie dabei auf dem linken Arm.

»Deine Uniform sieht recht schäbig aus, mein lieber Horry«, sagte sie. »Dein Rock ist ja schrecklich zerknittert, höchste Zeit, daß ich mich mit einem Bügeleisen darüber hermache.«

»Ach, Liebling -«, begann Hornblower.

Dies wäre der richtige Augenblick gewesen, Maria zu sagen, was ihr bevorstand, aber sie kam ihm zuvor.

»Ich weiß schon«, sagte sie schnell, »ich habe gesehen, wie sie deine Seekiste und deinen Sack in der Kutsche verstauten.

Du willst also wieder weg?«

»Ja, leider muß es sein.«

»Nach London?«

»Ja.«

»Und für mich, für uns hast du keinen Augenblick übrig?«

»Leider nein, meine Liebe.«

Maria war sehr tapfer, sie legte den Kopf in den Nacken und sah ihm fest in die Augen. Nur ein winziges Zucken ihrer Lippen verriet, was sie innerlich auszustehen hatte.

»Und wenn du diese Reise hinter dir hast, was dann, Liebling?« fragte sie. Auch ihre Sprache verriet etwas von ihrer inneren Spannung. »Ich hoffe, daß ich ein Schiff bekomme und Kommandant werde. Das mußt du dir immer vor Augen halten, Liebste.«

»Ja.« Mit diesem einzigen Wort verriet sie, daß sie sich schweren Herzens in ihr Schicksal fand.

Vielleicht war es ein Glück, daß Maria in diesem Augenblick etwas entdeckte, das sie ihren Kummer vergessen ließ - Hornblower war allerdings geneigt anzunehmen, daß die tapfere Maria diese Ablenkung geradezu suchte. Sie hob die Hand zu seiner Wange und betastete seinen Kieferknochen unter dem linken Ohr.

»Was ist denn das?« fragte sie. »Das sieht doch aus wie Farbe, wie schwarze Farbe. Du hast dich offenbar wenig gepflegt, mein Lieber.«

»Ja, wahrscheinlich ist das die Farbe«, gab Hornblower zu. Er hatte der fast automatischen Abwehr einer Liebkosung im Beisein Fremder widerstanden, ehe er endlich merkte, was Maria an ihm entdeckt hatte. Jetzt überkam ihn die Erinnerung an das letzte Abenteuer wie eine Sturmflut. Vorgestern nacht erst war er, gefolgt von einer Schar brüllender Berserker mit geschwärzten Gesichtern, über das Deck der Guèpe gestürmt. Er hatte gehört, wie die Klinge eines Entermessers knirschend einen Knochen spaltete, er hatte gehört, wie die Geschlagenen jämmerlich um Erbarmen schrien, er hatte gesehen, wie eine neunpfündige Kartätsche in ein Zwischendeck hinunter abgefeuert wurde, in dem sich die Menschen drängten. Das war erst vorgestern nacht gewesen, und jetzt stand hier im Schein der heimatlichen Sonne inmitten einer Schar von Neugierigen seine Maria mit dem kleinen Sohn vor ihm, diese schlichte, unschuldige und unwissende Frau. Ja, es war wirklich nur ein Schritt von jener Welt in diese, aber dieser Schritt war unendlich weit und führte über einen bodenlosen Abgrund. »Horry, Liebling, was ist?« fragte Maria endlich und holte ihn damit in die Wirklichkeit zurück.

Sie sah ihn ganz besorgt an und studierte seine Züge. Was sie sah, schien sie richtig zu erschrecken. Offenbar hatte er finster dreingesehen, ja sogar wütend geknurrt; sein Gehabe hatte eben alles verraten, was er in diesen kurzen Augenblicken zum zweitenmal erlebte. Es war höchste Zeit, daß er wieder lächelte.

»Es war alles andere als einfach, sich auf der Princess zu säubern«, sagte er. Es war auch wirklich ein Kunststück gewesen, das Gesicht vor einem Spiegel mit Terpentin zu behandeln, während der Wasserleichter mit Backstagsbrise wild über die Seen hüpfte.

»Du mußt dich gründlich waschen, sobald du Gelegenheit hast«, sagte Maria. Dabei rieb sie mit ihrem Taschentuch unentwegt an seinem Kieferknochen. »Ich bringe das Zeug nicht weg«, sagte sie schließlich. »Dann laß es doch, Liebling.«

Er gab sich Rechenschaft, daß sein anfängliches starres Grinsen allmählich wieder zu einem natürlichen und freundlichen Lächeln geworden war und daß Maria dadurch ihre innere Ruhe wiedergefunden hatte. Das war der richtige Augenblick, sich von ihr loszureißen. »Und nun leb wohl, mein Liebling«, sagte er freundlich. »Alles Gute, Liebster.«

Seit sie verheiratet war, hatte sie schon ein halbes Dutzend Mal Abschied von ihm nehmen müssen. Dabei hatte sie alles gelernt, was es dabei zu lernen gab. Sie wußte, daß ihr unbegreiflicher Mann selbst unter vier Augen nichts von Gefühlsausbrüchen wissen wollte, und natürlich erst recht nicht, wenn Dritte zugegen waren. Sie hatte auch gelernt, daß er sich zuweilen in sich selbst zurückzog, und daß sie ihm dies nicht übel nehmen durfte, zumal er es hinterher zu bedauern pflegte.

Vor allem aber war ihr eines in Fleisch und Blut übergegangen: daß sie überhaupt nicht zählte, wenn es um seine Dienstpflicht ging. Sie wußte genau, daß nur schreckliches Leid entstanden wäre, wenn sie sich mit ihrem Kind gegen diese Einstellung zur Wehr gesetzt hätte. Das durfte sie schon deshalb nicht wagen, weil es für ihn ebenso schlimm, wenn nicht schlimmer gewesen wäre als für sie selbst. Der wartende Wagen stand nur wenige Schritte entfernt. Hornblower stellte fest, daß seine Seekiste und der Zeugsack unter dem Sitz verstaut waren, auf den er nun sein kostbares Bündel legte. Dann trat er noch einmal zu seiner Frau und seinem Sohn.

»Leb wohl, mein Junge«, sagte er. Wieder wurde er durch ein Lächeln belohnt, das der Kleine dann gleich wieder vor ihm versteckte. »Leb wohl, Liebling. Ich werde dir natürlich schreiben.«

Sie bot ihm den Mund zu einem Kuß, aber sie hütete sich davor, sich in seine Arme zu werfen. Sie achtete auch darauf, den Kuß sofort zu beenden, als sie fühlte, daß Hornblower aufbrechen wollte. Er kletterte in die Kutsche und setzte sich nieder. Dabei fühlte er sich plötzlich seltsam allein und verlassen. Der Postillion stieg auf seinen Bock und blickte über die Schulter nach hinten.

»Nach London«, sagte Hornblower.

Die Pferde zogen an, die kleine Schar der Zuschauer schrie etwas, das wie Hurra klang. Dann klapperten die Hufe über das Kopfsteinpflaster, die Kutsche nahm die nächste Ecke, und damit war Maria schon aus seinem Gesichtsfeld entschwunden.

8. Kapitel

»Dieses Zimmer nehme ich«, sagte Hornblower zu der Pensionswirtin. Über ihre Schulter rief die Frau nach unten:

»Los, Harry, bring die Sachen herauf.« Dann hörte er die schweren Schritte des schwachsinnigen Sohnes auf der läuferlosen Holztreppe, als der Junge seine Seekiste heraufwuchtete. In dem Zimmer gab es ein Bett, einen Stuhl, einen Waschtisch und an der Wand einen Spiegel, das war alles, was ein Mann brauchte. Es war die billige Unterkunft, die ihm der letzte Postillion empfohlen hatte. In der schmutzigen Nebenstraße hatte es einige Aufregung gegeben, als die Extrapost von der Westminster Bridge Road eingeschwenkt war und vor dem Haus haltgemacht hatte. In Straßen wie dieser waren ja Extrapost-Chaisen alles andere als alltäglich. Durch das schmale Fenster hörte man immer noch das Geschrei der Kinder, die der ungewohnte Anblick des Fahrzeugs angelockt hatte.

»Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte die Wirtin. »Ich möchte heißes Wasser haben«, antwortete Hornblower. Die Wirtin faßte diesen Mann schärfer ins Auge, der ausgerechnet um neun Uhr morgens heißes Wasser begehrte. »Ist in Ordnung«, sagte sie schließlich, »das sollen Sie haben.«

Hornblower sah sich in dem Zimmer um. In seinem übermüdeten Zustand meinte er, das Zimmer müsse sich von selbst um ihn drehen, wenn er sich auch nur einen Augenblick gehen ließ. Endlich ließ er sich auf den Stuhl sinken. Sein Rücken schmerzte ihn, als wäre er mit einem Prügel wundgeschlagen worden. Es wäre viel schöner gewesen, den müden Leib auf dem Bett auszustrecken, aber das wagte er noch nicht zu tun. Nur die Stiefel zog er von den Füßen. Als er sich dann mühsam auch noch von seinem Rock befreit hatte, konnte er sich nicht verhehlen, daß er richtig stank. »Hier ist das Wasser«, sagte die Wirtin, als sie wieder erschien. »Danke vielmals.«

Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, erhob sich Hornblower müde von seinem Stuhl und warf auch seine übrigen Sachen ab. Das war ein Genuß, er war ja seit drei Tagen nicht aus den Kleidern gekommen; außerdem war es hier im Zimmer glühend heiß, da die Junisonne seit dem frühen Morgen auf das Hausdach herunterbrannte. Stumpf vor Müdigkeit mußte er öfter als einmal innehalten, um nachzudenken, was er als nächstes zu tun hatte, während er reine Wäsche aus seinem Gepäck hervorsuchte und den Beutel mit seinem Wasch- und Rasierzeug entrollte. Sein Gesicht im Spiegel war verstaubt und voller Stoppeln, so daß er sich nach einem kurzen Blick angewidert wegdrehte.

Es war eine schreckliche und gar nicht so einfache Aufgabe, sich in dem kleinen Waschbecken vom Kopf bis zu den Füßen zu reinigen, aber irgendwie wirkte es doch erfrischend. Jedes Kleidungsstück, das er getragen hatte, war mit Staub durchsetzt, dem kein noch so dichtes Gewebe standgehalten hätte. Staub war sogar in seine Seekiste eingedrungen und wirbelte dort auf, als er seine Kleidungsstücke herausnahm. Die letzten Tropfen des heißen Wassers dienten ihm schließlich dazu, sich zu rasieren. Dadurch besserte sich sein Aussehen ganz entschieden, obwohl das Gesicht, das ihm jetzt aus dem Spiegel entgegenblickte, immer noch angestrengt und so bleich aussah, daß man seine natürliche Bräune für Schminke halten konnte.

Dabei kam ihm der Gedanke, seinen linken Kinnbacken genauer ins Auge zu fassen. Die Zeit und die eben vollendete Rasur hatten den Farbfleck zum Verschwinden gebracht, der Maria aufgefallen war. Nun zog er saubere Wäsche an - die Sachen waren alle etwas feucht, wie immer, wenn er von See kam, und blieben auch feucht, bis er sie in Frischwasser waschen lassen konnte. Endlich war auch das geschafft, und damit war die Stunde um, die er sich zum Waschen und Umziehen genehmigt hatte. Er griff nach dem Bündel mit den Papieren und stieg mit steifen Beinen die Treppe hinunter.

Noch immer war er ganz benommen vor Müdigkeit. Während der letzten Stunden der langen Fahrt war er wiederholt im Sitzen eingenickt, obwohl der Wagen auf der ausgefahrenen Straße immer wieder gefährlich schwankte. Solche Reisen mit Eilpost nahmen sich zwar romantisch aus, aber sie waren eben doch unerhört anstrengend. Bei jedem Pferdewechsel gönnte man sich bestenfalls eine halbe Stunde, zehn Minuten, um zu essen, und zwanzig, um mit dem Kopf auf den Armen am Tisch zu ruhen.

Das Leben eines Seeoffiziers war eben doch tausendmal angenehmer als dieses Hundedasein, das so ein Kurier in Kauf zu nehmen hatte. Auf der Brücke zahlte er seinen halben Penny Zoll. Unter gewöhnlichen Umständen hätte ihn der Verkehr auf dem Strom brennend interessiert, heute hatte er keinen Blick dafür übrig, sondern schlug sofort den Weg nach Whitehall ein und erreichte denn auch bald die Admiralität. Dreadnought-Foster hatte das richtige Gespür gehabt, als er ihm den Brief mitgab. Der Pförtner musterte ihn und sein Bündel mit offenkundigem Argwohn, als er sich an ihn wandte - er hatte ja nicht nur Sonderlinge und Verrückte fernzuhalten, sondern auch viele Seeoffiziere, die sich bei Ihren Lordschaften hartnäckig um ein Kommando bemühen wollten. »Ich habe ein Schreiben von Admiral Foster für Mr. Marsden«, sagte Hornblower und wunderte sich, wie ihm der Pförtner daraufhin plötzlich freundlich entgegenkam.

»Wollen Sie die Güte haben, den Zweck Ihres Kommens kurz auf diesem Formular zu vermerken, Sir?« bat ihn der Mann.

Hornblower schrieb: ›Ich bringe ein Schreiben von Konteradmiral Harry Foster‹ , darunter setzte er seine Unterschrift und die Adresse seiner Pension. »Bitte folgen Sie mir«, sagte der Pförtner dann. Wahrscheinlich - nein ganz bestimmt - hatte der Kommandierende Admiral in Plymouth unmittelbaren Zutritt zum Sekretär Ihrer Lordschaften, gleichgültig ob er persönlich erschien oder einen Beauftragten schickte.

Der Pförtner führte Hornblower in ein Wartezimmer und eilte dann mit dem Brief und dem Formular sofort weiter. In dem Wartezimmer saßen eine Anzahl Offiziere, deren Gehaben teils erwartungsvolle Spannung, teils Ungeduld und teils Resignation verriet. Hornblower begrüßte sie mit einem förmlichen ›Guten Morgen‹ und setzte sich dann in eine Ecke. Sein Stuhl war aus Holz und tat seinem gequälten Sitzfleisch weh, aber er hatte eine hohe Rückenlehne mit Backen, an die man bequem den Kopf lehnen konnte.... Irgendwelche Franzosen hatten die Princess im Dunkel der Nacht überraschend geentert. Jetzt tobten sie mit geschwungenen Entermessern auf dem kleinen Schiff umher.

An Bord herrschte überall wilder Aufruhr, Hornblower versuchte verzweifelt, sich aus seiner Hängematte zu befreien, um an dem Kampf auf Leben und Tod teilzunehmen. Irgendwer rief: Wachen Sie auf, Sir! Gerade das wollte er ja, aber es gelang ihm nicht. Endlich bemerkte er, daß diese Worte in sein Ohr gerufen wurden und daß ihn jemand an der Schulter rüttelte. Erst blinzelte er noch ein paar Mal, dann schlug er endgültig die Augen auf und war wieder ganz da. »Mr. Marsden möchte Sie jetzt gleich empfangen, Sir«, sagte der fremde Mann, der ihn geweckt hatte.

»Besten Dank«, gab ihm Hornblower zur Antwort, nahm sein Bündel auf und erhob sich mit steifen Gliedern von seinem Stuhl.

»Sie waren fest eingeschlafen, Sir«, sagte die Ordonnanz.

»Kommen Sie bitte mit, Sir, ich führe Sie.«

Hornblower wußte nicht, ob die Wartenden noch die gleichen waren wie bei seiner Ankunft, jedenfalls verfolgten sie ihn mit Blicken, aus denen Neid und offene Feindseligkeit sprachen, als er das Zimmer verließ. Mr. Marsden war ein hochgewachsener, unglaublich elegant gekleideter Mann. Er trug sich altmodisch - seine Haare waren am Hinterkopf zusammengebunden -, aber doch elegant, weil dieser Stil genau zu ihm paßte. Hornblower wußte, daß Marsden einen schon fast legendären Ruf besaß.

Ganz England kannte seinen Namen, da alle Depeschen an ihn gerichtet waren (Ich habe die Ehre, Sir, Ihnen folgendes zur Kenntnis zu bringen, damit Sie Ihre Lordschaften davon unterrichten können...) und in dieser Form in den Zeitungen standen. Die Ersten Lords der Admiralität kamen und gingen - wie zum Beispiel Lord Barham eben gekommen und Lord Melville eben gegangen war, mit den Seelords und den Admiralen war es das gleiche, nur Mr. Marsden war und blieb der Erste Sekretär. Auf seinen Schultern ruhte die ganze Verwaltungsarbeit, die diese größte Flotte der Welt laufend erforderte. Natürlich stand ihm dazu ein Stab von nicht weniger als vierzig Amtsgehilfen zur Seite - so wenigstens hatte man Hornblower unterrichtet -, und der erste dieser Assistenten, Mr. Barrow, war sogar fast so bekannt wie er selbst. Aber wie dem auch sein mochte, Mr. Marsden galt in den Augen ganz Englands als der Mann, der allein diesen Kampf auf Tod und Leben gegen Frankreich und Bonaparte vom Anfang bis zum Ende durchfocht.

Sein Dienstzimmer war elegant und geschmackvoll ausgestaltet, durch die Fenster blickte man auf den Paradeplatz des Gardekavallerieregiments hinaus. Stil und Einrichtung dieses Raumes paßten genau zu Mr. Marsden, der bei Hornblowers Eintritt hinter einem ovalen Tisch saß. Neben ihm stand ein älterer Beamter, dessen verschlissener Rock und ausgewaschenes Hemd verrieten, daß er keinen hohen Rang besaß. Während Hornblower sein Bündel auf den Tisch legte, wurden nur ein paar kurze Grußworte gewechselt.

»Schauen Sie sich das einmal an, Dorsey«, sagte Marsden über die Schulter hinweg zu dem Beamten, dann fragte er Hornblower: »Wie sind diese Papiere in Ihre Hände gelangt?«

Hornblower berichtete kurz von dem Überfall auf die Guèpe.

Mr. Marsden blickte ihn mit seinen grauen Augen unverwandt an, während er sprach. »Der französische Kommandant ist dabei gefallen, sagen Sie?«

»Jawohl.«

Es war nicht nötig, des langen und breiten zu erzählen, wie Meadows dem Franzosen mit seinem Entermesser den Kopf zerschmettert hatte. »Das läßt vermuten, daß die Papiere echt sind«, entschied Marsden nach kurzer Überlegung. Hornblower war darüber im ersten Augenblick verdutzt, dann aber fand er alsbald heraus, was Marsden meinte. Er wollte sagen, daß hier keine Kriegslist in Frage kam und daß man ihm diese Papiere auch nicht mit Absicht in die Hände gespielt hatte.

»Ich bin überzeugt, daß die Papiere echt sind, Sir«, sagte er und hob noch einmal hervor, wie ahnungslos die französische Fregatte gewesen war, als sie von der Princess überfallen wurde und daß sie diesen Überfall offenbar keinen Augenblick erwartet hatte.

»Ja«, stimmte ihm Marsden zu. Sein Benehmen war stets ebenso kühl und förmlich wie seine Art zu reden. »Hierzu muß man allerdings wissen, daß Bonaparte jedes Menschenopfer bringen würde, wenn es ihm dadurch gelingen könnte, uns irrezuführen. Aber wie Sie eben sagten: in Ihrem Fall war es offenbar nicht möglich vorauszusehen, was kam. Was haben Sie gefunden, Dorsey?«

»Nichts von Bedeutung, Sir, dieses eine Stück ausgenommen.« Das war natürlich die bleiumhüllte Depesche.

Dorsey sah sich genau das Garn an, das die Bleiplatten zusammenhielt.

»Das haben sie nicht in Paris gemacht«, sagte er, »das ist an Bord zusammengezurrt worden. Auch die Adresse hier hat wahrscheinlich der Kommandant geschrieben. Verzeihung, Sir, darf ich?«

Dorsey beugte sich vor und holte ein Federmesser aus der Schale, die vor Marsden stand. Damit durchschnitt er das Garn, so daß die Bleiplatten auseinander fielen. »Sieh da!« rief er dann aus.

Zwischen den Platten lag ein großer, an drei Stellen dick versiegelter Leinenumschlag. Dorsey sah sich diese Siegel ganz genau an, dann blickte er über den Tisch und faßte Hornblower ins Auge.

»Sir«, sagte er, »Sie haben uns hier ein wertvolles Stück gebracht. Es ist sehr wertvoll, möchte ich sagen, denn es ist das erste seiner Art, das uns in die Hände fiel.«

Er gab Marsden den Umschlag und tippte mit dem Finger auf die Siegel. »Das sind die Siegel von Bonapartes neugegründetem Kaiserreich, Sir«, sagte er. »drei saubere Exemplare.« Hornblower wußte, daß Bonaparte sich erst vor wenigen Monaten selbst zum Kaiser der Franzosen erhoben hatte und daß damit aus der von Konsuln regierten Republik ein Kaiserreich geworden war. Als ihm Marsden erlaubte, sich die Siegel näher anzuschauen, erkannte er sogleich den kaiserlichen Adler mit dem Blitzstrahl. Für seinen Geschmack allerdings sah der Vogel nicht so majestätisch aus wie es möglich gewesen wäre, denn die Federn, die seine Beine umhüllten, glichen wirklich einer seltsamen, etwas komischen Hose.

»Ich möchte diesen Umschlag vorsichtig öffnen«, sagte Dorsey. »Schön, tun Sie das. Fürs erste brauche ich Sie nicht mehr.« In diesem Augenblick stand es auf Messers Schneide, wie sich Hornblowers Schicksal weiter gestalten würde.

Seltsamerweise sagte ihm das eine dunkle Ahnung, als er Marsdens kalten Blick auf sich gerichtet sah, der ihm zu sagen schien, daß er nun gleich entlassen würde.

Späterhin - ja schon nach wenigen Monaten - konnte Hornblower hinter dem Geschehen dieses Augenblicks die geheimnisvolle Kraft ahnen, die sein Schicksal in die Bahn lenkte, die es für ihn ausersehen hatte. In einer einzigen Minute wurden dabei die Weichen gestellt. Rückblickend erinnerte er sich in diesem Zusammenhang an Musketenkugeln, die ihn nur um etwa einen Fuß breit gefehlt hatten. Schon eine mikroskopisch kleine Verschiebung der Ziellinie durch den Schützen hätte ihn das Leben gekostet und seiner Laufbahn ein Ende gebracht. Ähnlich war es auch in diesem Augenblick.

Hätte die telegraphische Übermittlung nur ein paar kurze Sekunden mehr Zeit erfordert, hätte der Überbringer eine einzige Minute länger gebraucht, dann wäre Hornblowers Leben in anderer Richtung verlaufen. So aber wurde die Tür am anderen Ende des Zimmers plötzlich aufgerissen, und ein eleganter Herr kam mit großen Schritten herein. Er war offensichtlich einige Jahre jünger als Marsden und unauffällig, aber nach der neuesten Mode gekleidet. Sein leicht gestärkter Kragen reichte ihm bis an die Ohren, eine weißschwarz abgesetzte Weste lenkte die Aufmerksamkeit unaufdringlich auf seine schlanke Taille. Marsden warf einen ärgerlichen Blick auf den unangemeldeten Eindringling, aber er beherrschte sich sofort, als er sah, wen er vor sich hatte, und vor allem als er des Papiers ansichtig wurde, das der andere in der Hand schwenkte.

»Villeneuve ist in Ferrol«, verkündete der Ankömmling, »eben wurde es telegrafisch gemeldet. Calder hatte ihn vor Finisterre zum Kampf gestellt, aber er ist ihm zuletzt entkommen.«

Marsden griff nach der Depesche und las sie sorgfältig durch.

»Das muß Seine Lordschaft sofort erfahren«, sagte er ganz ruhig und erhob sich gelassen von seinem Stuhl. Selbst jetzt war ihm keine Eile anzumerken »Mr. Barrow, dies ist Kapitän Hornblower, lassen Sie sich von ihm sagen, was er unlängst erbeutet hat.«

Marsden verschwand durch die kaum sichtbare Tür in seinem Rücken und überbrachte seinem Chef diese Nachricht von unendlicher Bedeutung und Tragweite. Villeneuve hatte mehr als zwanzig französische und spanische Linienschiffe unter sich, die Bonaparte decken konnten, wenn er mit seinem Heer den Kanal überschritt. Drei Wochen lang, seit ihm Nelson bis nach Westindien gefolgt war, hatte man nichts mehr von ihm gehört.

Calder war vor Kap Finisterre stationiert worden, um ihn abzufangen und vernichtend zu schlagen, aber das war ihm offenbar mißlungen.

»Was haben Sie denn erbeutet, Herr Kapitän?« fragte Barrow.

Diese einfache Frage brach wie ein Pistolenschuß in Hornblowers Denkprozeß ein. »Es ist nur eine Depesche von Bonaparte, Sir«, sagte er. Trotz seiner Verwirrung benutzte er mit Bedacht die Anrede ›Sir‹ , denn Barrow war immerhin Zweiter Sekretär der Admiralität, und sein Name war fast so bekannt wie der Marsdens.

»Aber diese Depesche könnte doch von allergrößter Bedeutung sein. Was steht denn darin?«

»Sie wird eben erst geöffnet, Sir. Mr. Dorsey hat sie übernommen.«

»Das hätte ich mir eigentlich denken können. Während der vierzig Jahre, die Dorsey in diesem Amt sitzt, hat er großes Geschick in der Behandlung gekaperter Dokumente erworben.

Das ist ja auch sein eigentliches Ressort.«

»Ich habe das vermutet, Sir.«

Einen Augenblick schwiegen beide. Hornblower nahm allen Mut zusammen, weil er die Frage stellen wollte, die ihm nachgerade keine Ruhe mehr ließ.

»Was steht denn in der Depesche, Sir? Was war mit Villeneuve? Dürfen Sie mir das sagen, Sir?«

»Sie können es ruhig wissen«, sagte Barrow. »Wir müssen ohnehin eine Gazette herausbringen, sobald es sich machen läßt.

Calder stieß vor Finisterre auf Villeneuve und bekämpfte ihn fast zwei Tage lang. Das Wetter war dick, darin konnte ihm Villeneuve zuletzt entschlüpfen.«

»Hat er keine Prisen gemacht, Sir?«

»Doch, er scheint ein paar Spanier gekapert zu haben.« Zwei volle Tage hatte die Schlacht der beiden Flotten gedauert, deren jede mehr als zwanzig Schiffe zählte. Und was war dabei herausgekommen? So gut wie nichts. Wenn dieses klägliche Ergebnis bekannt wurde, dann kochte ganz England bestimmt vor Wut. Aber abgesehen davon drohte dem Lande jetzt unter Umständen wirklich eine ernste Gefahr. Die Franzosen waren wohl auch diesmal wieder ihrer Ausweichtaktik treu geblieben.

Offenbar hatten sie sich, gedeckt vom unermüdlichen Feuer der eigenen Breitseiten, immer weiter nach Lee verzogen. Die Briten versuchten natürlich schnell wieder heranzuschließen und hatten den Preis dafür zu bezahlen.

»So ist es also Villeneuve am Ende gelungen, nach Ferrol durchzubrechen, nicht wahr, Sir?«

»Ja.«

»Das ist ein Hafen, den man schwer überwachen kann«, bemerkte Hornblower.

»Kennen Sie denn Ferrol?« fragte ihn Barrow in scharfem Ton. »Ziemlich gut, Sir.«

»Wie kommt das?«

»Im Jahr 97 war ich als Kriegsgefangener dort, Sir.«

»Sind Sie entkommen?«

»Nein, Sir, ich wurde entlassen.«

»Im Austausch?«

»Nein, Sir.«

»Warum denn sonst?«

»Ich half, Menschen aus einem Wrack zu retten.«

»Aha. Sie wissen also, wie es in Ferrol aussieht.«

»Wie gesagt, Sir, ich weiß ganz gut über diesen Hafen Bescheid.«

»Das ist interessant, Sie sagten eben, der Hafen sei schwer zu überwachen. Warum meinen Sie das?«

Hier in diesem friedlichen Büro in London konnte man in der Tat genauso viel Überraschendes erleben wie an Deck einer Fregatte in See. Wenn hier auch keine weiße Bö urplötzlich aus einer unerwarteten Richtung hereinbrach und kein Gegner überraschend an der Kimm auftauchte, so wurde man doch unerwartet von der Frage eines Vorgesetzten überfallen, die eine sofortige Antwort erforderte. Warum war es so schwer, Ferrol zu blockieren? Sein Gegenüber war ein Zivilist, ein Landbewohner, der dringend wissen wollte, was ihn zu seiner Auffassung bestimmte. Zum erstenmal seit einem Jahrhundert war der Erste Lord ein Seemann, ein Admiral. Ihm gegenüber konnte sich der Zweite Sekretär eine Feder an den Hut stecken, wenn er ihm zeigte, daß er mit den Verhältnissen in Ferrol vertraut war. Hornblower sah sich also gezwungen, die vage Erkenntnis in Worte zu fassen, die sich für ihn aus der Sicht des Seemanns ergab. Er mußte schnell und konzentriert nachdenken, um eine klare Darstellung geben zu können. »Vor allem spielen die Entfernungen eine entscheidende Rolle«, begann er. »Brest zu blockieren ist ungleich viel leichter.«

Der Hauptstützpunkt sei in beiden Fällen Plymouth. Aber Plymouth sei von Brest nur hundertfünfzig Seemeilen, von Ferrol dagegen etwa sechshundert Seemeilen entfernt.

Verbindung und Nachschub böten also, wie Hornblower ausführte, fast die vierfachen Schwierigkeiten.

»In einer Westwindperiode wirkt sich die große Entfernung noch viel nachteiliger aus«, fügte er hinzu.

»Bitte fahren Sie fort«, sagte Barrow.

»Aber es gibt andere Faktoren, die noch schwerer ins Gewicht fallen als die große Entfernung, Sir«, sagte Hornblower.

Allmählich fiel es ihm leichter, fortzufahren. Eine Flotte, die Ferrol blockierte, fand in Lee keinen befreundeten Hafen als Zuflucht. Ein Verband, der Brest blockierte, hatte bei Weststurm immer die Möglichkeit, lenzend die Tor-Bay zu erreichen - die ganze Seestrategie der letzten fünfzig Jahre hatte sich auf dieses geographische Faktum gestützt. Eine Flotte, die Cadiz blockierte, konnte sich notfalls immer auf die freundliche Neutralität Portugals verlassen und hatte Lissabon an einer, Gibraltar an der anderen Flanke. Als Nelson Toulon überwachte, hatte er Ankerplätze an der Küste Sardiniens benutzt. Aber vor Ferrol war das alles anders. Wenn dort ein Weststurm ausbrach, würde eine Blockadeflotte in den Sack der Biskaya hineingetrieben, deren Küsten nicht nur dem Feinde gehörten, sondern obendrein steil und unwirtlich waren, ganz abgesehen vom häufigen Nebel und Regen. Villeneuve in Ferrol zu überwachen würde dem Bewacher, vor allem im Winter, unerträgliche Mühsal bereiten, zumal die Benutzung der verschiedenen Ausfahrten von Ferrol erheblich leichter und einfacher war als die des einzigen Fahrwassers, das von Brest nach See zuführte. Auch die größte Flotte, die man sich denken konnte, wäre durchaus in der Lage, in einer einzigen Tide aus Ferrol auszulaufen, in Brest dagegen hatte kein größerer französischer Verband dieses Kunststück je fertiggebracht.

Dabei fiel ihm wieder ein, was er in Ferrol alles gesehen hatte: die Einrichtungen, die es dort gab, um eine Flotte schnellstens mit Wasser und Proviant zu versorgen, und der weite Raum, der den Schiffen zum Ankern zur Verfügung stand, er erinnerte sich auch an die Winde, die das Auslaufen begünstigten, und an andere, die es unmöglich machten. Ja, er kannte auch die Möglichkeiten, die es für ein Blockadeschiff gab, heimlich mit Land Verbindung aufzunehmen - was ihm später auch vor Brest gelungen war -, und er kannte sogar die Schliche, die dazu dienten, den blockierten Verband genau unter Beobachtung zu halten.

»Sie scheinen Ihre Zeit in Ferrol ja gut genutzt zu haben, Herr Kapitän«, sagte Barrow.

Hornblower hätte darauf am liebsten die Achseln gezuckt, aber er vermied es im letzten Augenblick, sich durch dieses unenglische Gehaben eine Blöße zu geben. Die Erinnerung an jene Zeit des Unglücks und der Verzweiflung überkam ihn plötzlich mit so unwiderstehlicher Gewalt, daß er rückschauend das ganze Elend von damals aufs neue durchlebte. Als er wieder in die Gegenwart zurückfand, sah er Barrows Augen nach wie vor voll Neugier auf sich gerichtet und gab sich beschämt darüber Rechenschaft, daß er diesem Mann unfreiwillig Einblick in seine Gefühle gewährt hatte.

»Zum mindesten habe ich dort ein bißchen Spanisch gelernt«, sagte er. Er wollte damit eigentlich einen leichteren Ton in die Unterhaltung bringen, aber Barrow ließ nicht von dem Ernst ab, mit dem er das Gespräch begonnen hatte.

»Wahrscheinlich hätten sich nicht viele Offiziere diese Mühe gemacht«, bemerkte er.

Hornblower scheute wie ein bockendes Pferd, als er diese Anspielung auf seine Person vernahm.

In aller Hast sagte er: »In bezug auf Ferrol ist noch eine weitere Besonderheit zu berichten.«

»Und das wäre?«

»Die Stadt und ihre Hafenanlagen liegen am fernen Ende langer, schwieriger Straßen, die über Bergpässe führen. Es macht wenig Unterschied, ob man den Weg über Betanzos oder Villalba wählt. Dort eine blockierte Flotte zu versorgen, sie auf dem Landweg mit Hunderten von Tonnen Proviant und anderem Nachschub zu beliefern, dürfte mehr sein, als die Spanier leisten können.«

»Wissen Sie denn etwas über diese Straßen?«

»Ja, als Gefangener bin ich auf ihnen marschiert.«

»Nun ja, Boney ist jetzt Kaiser, und die Dons sind seine untertänigsten Sklaven. Wenn einer imstande ist, ihnen ihre Pflichten einzuhämmern, dann gibt es nur einen, und das ist Boney.«

»Sehr wahrscheinlich, Sir.« Das war eine politische Frage, die mit der Marine nichts zu tun hatte. Es wäre anmaßend von ihm gewesen, sich darüber länger auszulassen.

»Jetzt sind wir also glücklich wieder so weit«, sagte Barrow halb zu sich selbst, »wie wir seit 1795 immer gewesen sind: wir warten, daß der Gegner herauskommt und kämpft. Und nach Ihrer Meinung, Herr Kapitän, ist also unsere Ausgangslage dabei noch ungünstiger als bisher.«

»Das ist nur meine persönliche Ansicht«, beeilte sich Hornblower darauf zu bemerken.

Das waren Probleme für Admirale, für junge Offiziere war es nicht zuträglich, wenn sie sich darein verwickeln ließen.

»Wenn nur Calder Villeneuve entscheidend geschlagen hätte!« fuhr Barrow in seiner Betrachtung fort. »Dann wären wir unsere halben Sorgen los.« Darauf war ihm Hornblower irgendeine Antwort schuldig. Darum suchte er schnell nach unverbindlichen Worten, um vor allem den Eindruck zu vermeiden, daß er als junger Offizier es wagte, an einem Admiral Kritik zu üben.

»Damit dürften Sie recht haben, Sir«, sagte er. Er wußte, daß ganz England vor Wut kochen würde, sobald die Nachricht von der Schlacht bei Kap Finisterre veröffentlicht wurde. Bei Camperdown, bei Abukir und vor Kopenhagen waren die Gegner vernichtend geschlagen worden. Die Masse der Bevölkerung würde sich nie mit diesem bloßen Geplänkel zufriedengeben, zumal Bonapartes Armee schon klar zur Verschiffung an der Kanalküste stand und das Schicksal Britanniens wie nie zuvor davon abhing, daß seine Flotten erfolgreich geführt wurden. Es war durchaus möglich, daß Calder das Schicksal des Admirals Byng drohte. Er konnte wie Byng beschuldigt werden, daß er nicht das Äußerste unternommen hatte, den Gegner zu vernichten. Nur zu leicht konnte es angesichts der Lage schon in nächster Zukunft zu einer politischen Erhebung kommen. Damit kam man gleich zur nächsten Überlegung: ein politischer Umsturz fegte natürlich das Kabinett einschließlich des Ersten Lords und vielleicht sogar des Sekretariats von seinen Sesseln. Darum konnte es sein, daß der Mann, mit dem er eben sprach, sich schon in einem Monat nach einem neuen Posten umsehen mußte, und das mit diesem Makel auf seinem Namen. Für Hornblower ergab sich daraus eine heikle Situation, und er wünschte sich sehnlichst das Ende dieser Unterhaltung herbei. Vor allem hatte er entsetzlichen Hunger und war sterbensmüde. Als endlich die Tür aufging und Dorsey eintrat, blickte er ihm erleichtert entgegen. Dorsey blieb stehen, als er Barrow erblickte.

»Der Sekretär ist bei Seiner Lordschaft«, erklärte dieser.

»Was haben Sie Neues, Mr. Dorsey?«

»Ich habe die Depesche geöffnet, die Kapitän Hornblower erbeutet hat, Sir. Sie ist, ja sie ist für uns wirklich von Bedeutung.« Dorsey ließ seinen Blick zu Hornblower und wieder zu Barrow wandern. »Ich meine, Kapitän Hornblower hat das Recht, das Ergebnis seiner Bemühungen zu erfahren«, sagte Barrow. Darauf trat Dorsey aller Bedenken ledig herzu und breitete auf dem Tisch aus, was er mitgebracht hatte.

Zunächst war da ein halbes Dutzend weiße Wachsscheiben auf einem Tablett.

»Ich habe die Siegel abgedrückt«, erklärte Dorsey, »von jedem zwei Negative. Der Siegelschneider in Cheapside kann danach Siegel schneiden, die selbst Bonaparte nicht von echten unterscheiden könnte. Die Originale habe ich auch ohne größere Schäden abheben können - mit dem erhitzten Messer, Sie wissen doch, Sir.«

»Ausgezeichnet«, sagte Barrow, nachdem er das Ergebnis der Arbeit genau in Augenschein genommen hatte. »Das sind also die Siegel des neuen Reiches?«

»Ja, das sind sie, Sir. Aber die Depesche hier, das ist die größte Prise.

Schauen Sie sich das an! Und das da, Sir!«

Mit seinem knorrigen Zeigefinger tippte er ganz aufgeregt auf das Papier.

Am Fuß des Bogens, der mit sorgfältig geschriebenen Sätzen bedeckt war, sah man eine krause Unterschrift, die offenbar von sorgloser Hand geschrieben war. Sie war von einer Menge kleiner Tintenspritzer umgeben, die eine widerspenstige Feder verrieten. Richtig zu lesen war dieses Geschreibsel nicht, Hornblower gelang es nur, die ersten drei Buchstaben zu entziffern: ›Nap-‹ der Rest bestand nur aus Zacken und Schlingen. »Es ist die erste Unterschrift dieser Art, die wir in Besitz, bekommen haben, Sir«, erklärte Dorsey.

»Wollen Sie damit sagen, er hätte vorher immer ›N.

Bonaparte‹ unterschrieben?« fragte Hornblower.

»Nur Bonaparte«, sagte Dorsey, »wir haben hundert, nein tausend solcher Unterschriften, aber keine einzige wie diese hier.«

»Na ja, mit der Ausdrucksweise eines Kaisers hat er sich offenbar noch nicht ganz angefreundet«, sagte Barrow, während er den Brief prüfend überflog. »Wenigstens vorläufig. Er nennt sich nach wie vor ›ich‹ und nicht ›wir.‹ Sehen Sie: da - und da.«

»Damit haben Sie sicher recht, Sir«, sagte Dorsey. »Von Französisch habe ich nicht viel Ahnung, aber das hier ist mir doch aufgefallen, Sir.« Er meinte den Briefkopf. Da stand ›Palais des Tuileries‹ und ›Cabinet Imperial‹ .

»Ist das neu?« fragte Barrow.

»Gewiß, Sir. Bis jetzt bezeichnete er die Tuilerien nicht als Palais und das Kabinett hieß Kabinett des Ersten Konsuls.«

»Ich möchte zu gerne wissen, was in dem Brief steht«, unterbrach Hornblower die beiden. Bis jetzt hatte ihre Aufmerksamkeit ja nur den technischen Einzelheiten des Schriftstücks gegolten. Sie hatten sich verhalten wie Leute, die ein Buch nur nach seinem Einband beurteilen, ohne seinem Inhalt Beachtung zu schenken. Er nahm Dorsey den Brief aus der Hand und begann zu lesen.

»Können Sie denn Französisch, Sir?« fragte ihn Barrow. »Ja«, sagte Hornblower etwas kurz angebunden, weil er sich auf die Lektüre konzentrierte - hatte er doch noch nie im Leben den Brief eines Kaisers gelesen.

›An Herrn General Lauriston‹ , so begann das Schreiben. Der erste Absatz nahm Bezug auf die Weisungen, die bereits vom Marineministerium und vom Kriegsministerium ergangen waren. Der zweite Abschnitt handelte vom Dienstalter des Generals Lauriston im Vergleich mit der Seniorität seiner verschiedenen Untergebenen. Erst im dritten Abschnitt wurde die Sprache pathetisch:

›Hissen Sie meine Flagge über jenen wunderbaren Ländern.

Wenn Sie von den Briten angegriffen werden, wenn die Dinge einmal nicht so laufen wie Sie möchten, dann rufen Sie sich drei Grundsätze ins Gedächtnis: Erstens nicht abwarten, sondern handeln, zweitens die eigenen Kräfte zusammenfassen und drittens eisern entschlossen sein, ruhmvoll zu sterben. Dies sind die großen Prinzipien der Kriegsführung, die mir bei allen meinen Unternehmungen Erfolg bescherten. Der Tod ist nichts, aber als Geschlagener ruhmlos zu leben bedeutet, jeden Tag aufs neue zu sterben. Sorgen Sie sich nicht um Ihre Angehörigen, sondern denken Sie nur an die Schar meiner Landeskinder, die Sie mir zurückgewinnen sollen.‹

»Das Ganze liest sich wie der Rat eines Verzweifelten, Sir«, sagte Hornblower. »Es heißt doch, daß Lauriston bis zum letzten Mann kämpfen soll.«

»Ja, und von Verstärkungen, die ihm zu Hilfe kommen könnten, ist keine Rede«, stimmte ihm Barrow zu. »Eher kommt es umgekehrt. Schlimm für den Mann!«

Wenn Bonaparte die Truppen in Westindien verstärken wollte, dann müßte er dabei wenigstens einen Teil der französischen Flotte mit einsetzen. »Boney braucht vor allem einen Sieg hier in Europa«, meinte Hornblower. »Ja, das stimmt.«

Hornblower sah, daß Barrow dabei genauso schmerzlich lächelte wie er selbst. Ein Sieg, den Bonaparte hier in den heimischen Gewässern errang, hatte zur Folge, daß er gleich darauf England eroberte. Damit fielen von selbst Westindien und Ostindien, Kanada und die südafrikanische Kapprovinz vom Mutterland ab. Das Empire löste sich auf, das Schicksal der Menschen in aller Welt nahm einen anderen Lauf.

»Aber dieses Papier hier -«, sagte Barrow und schwenkte den Brief, »könnte dabei eine Rolle spielen.«

Hornblower wußte schon, wie bedeutsam auch negative Nachrichten sein konnten, und nickte zustimmend. In diesem Augenblick kam Marsden mit einer Hand voll Papieren in das Zimmer zurück.

»Sieh da, Dorsey«, sagte er. »Dies hier ist für Seine Majestät in Windsor. Bitte sehen Sie zu, daß der Kurier in einer Viertelstunde abgeht. Das da ist für den Telegrafen nach Plymouth - und das auch. Dies geht nach Portsmouth. Bitte lassen Sie die Briefe sofort kopieren.«

Es war interessant, Marsden bei der Arbeit zu beobachten, seiner Stimme merkte man keine Spur von Erregung an, die Sätze folgten einander ohne Pause, aber ruhig und ohne überstürzte Eile. Jedes Wort wurde deutlich artikuliert und zeugte von unerschütterlichem Gleichmut. Die Papiere, die Marsden in den Händen hielt, waren vielleicht - nein, ganz bestimmt von lebenswichtiger Bedeutung, aber Marsden gab sich, als hätte er bei irgendeiner gleichgültigen Veranstaltung unbeschriebene Blätter zu verteilen. Als er seinen Blick jetzt zu Barrow wandern ließ, übersah er Hornblower völlig, so daß dieser nicht einmal Gelegenheit fand, sich zu verabschieden.

»Haben Sie sonst noch Nachrichten, Mr. Barrow?«

»Nein, Mr. Marsden.«

»Vor morgen früh acht Uhr werden wir von Plymouth keine Bestätigung haben«, bemerkte Marsden mit einem Blick auf die Uhr. Bei klarem Wetter und Tageslicht konnte der optische Telegraf eine Nachricht von Plymouth nach London in fünfzehn Minuten übermitteln. - Hornblower hatte während seiner Fahrt einige dieser riesigen Semaphorengerüste gesehen. Im vorigen Jahr war er einmal außerhalb von Brest gelandet und hatte selbst einen solchen Apparat niedergebrannt. Eine geschriebene Nachricht, die durch eine Stafette berittener Kuriere befördert wurde (von denen einige sogar die Nacht durch weiterritten), brauchte für die gleiche Reise dreiundzwanzig Stunden. Er selbst hatte auf Rädern mit seiner Postkutsche vierzig Stunden gebraucht. Jetzt war ihm, als wären es nicht Stunden, sondern ebenso viele Wochen gewesen. »Kapitän Hornblowers erbeutete Depesche ist für uns interessant, Mr. Marsden«, sagte Barrow.

Seine Stimme klang dabei genauso unbeteiligt wie die Mr. Marsdens, und Hornblower wußte nicht zu entscheiden, ob er ihn nur nachahmte oder ob er sich über ihn lustig machte.

Marsden brauchte nur Sekunden, um die Depesche zu lesen und ihre wichtigen Punkte zu erfassen.

»Jetzt sind wir also imstande, ein Schreiben seiner kaiserlich, königlichen Majestät, des Kaisers Napoleon, täuschend nachzuahmen«, bemerkte Marsden. Und das Lächeln, mit dem er diese Worte begleitete, war genauso gefühllos, wie der Ton, in dem sie gesprochen wurden. Plötzlich sah sich Hornblower von seltsamer Erregung gepackt, die wahrscheinlich Marsdens letzte Äußerung ausgelöst hatte. Sein armer Kopf war von Hunger und Müdigkeit ganz benommen - da sah er sich plötzlich in eine unwirkliche Welt versetzt, und das Verhalten der beiden kaltblütigen Männer, die hier mit ihm berieten, machte sie nur noch unwirklicher. Sein Gehirn begann fieberhaft zu arbeiten. Wilde, trunkene Ideen nahmen immer festere Formen an - und doch waren diese Ideen nicht absurder als die Welt, in der er sich im Augenblick befand, diese Welt, in der ein Wort ganze Flotten in Bewegung setzte und in der man die Depeschen eines Kaisers bewitzeln konnte. Er verwarf seine Ideen sogleich als närrische Torheit, aber während er das noch tat, gestalteten sie sich ohne sein Zutun weiter aus und rundeten sich immer mehr zu einer phantastischen Schau. Marsden blickte ihn an, nein, seine kalten Augen schienen ihn förmlich zu durchbohren.

»Möglicherweise haben Sie Ihrem König und Ihrem Vaterland einen großen Dienst erwiesen«, sagte er. War das ein Lob? Vielleicht, aber Marsden gab sich dabei nicht viel anders als ein Richter, der einen Verbrecher aburteilt.

»Ich hoffe, daß mir dies gelungen ist, Sir«, gab ihm Hornblower zur Antwort.

»Jetzt sagen Sie mir einmal, warum Sie diese Hoffnung hegen.« Eine bestürzende Frage! Bestürzend vor allem deshalb, weil die Antwort doch auf der Hand lag.

»Weil ich ein Offizier des Königs bin, Sir«, sagte Hornblower. »Nicht etwa deshalb, weil Sie eine Belohnung erwarten?«

»Daran habe ich überhaupt nicht gedacht, Sir«, gab Hornblower zur Antwort. »Das Ganze war ja reiner Zufall.«

Dieses Wortgeplänkel ging ihm allmählich auf die Nerven - Marsden hatte vielleicht seinen Spaß daran. Unterhaltungen solcher Art waren ihm wohl zur Gewohnheit geworden, weil er seit Jahren die Aufgabe hatte, die Hoffnungen unzähliger ehrgeiziger Offiziere abzukühlen, wenn sie sich eine Beförderung oder ein Bordkommando wünschten. »Nur schade, daß der Inhalt des Schreibens nicht von überragender Bedeutung ist«, sagte er. »Es sagt uns nur, daß Boney nicht die Absicht hat, Verstärkungen nach Martinique zu schicken.«

»Aber wenn man das Schreiben als Vorlage benutzte -«, entfuhr es Hornblower. Ärgerlich über sich selbst hielt er inne.

Seine wirren Gedanken nahmen sich ganz bestimmt noch unsinniger aus, wenn er sie in Worte faßte. »Was meinen Sie damit - als Vorlage?« fragte Marsden neugierig. »Sagen Sie uns doch, was Sie im Sinn haben«, meinte Barrow. »Ich möchte Ihre kostbare Zeit nicht damit in Anspruch nehmen, meine Herren«, stammelte Hornblower. Er stand am Rande eines Abgrunds und versuchte vergeblich, sich zurückzuziehen.

»Sie haben uns eine Andeutung gegeben, Herr Kapitän«, sagte Barrow, »bitte lassen Sie es nicht dabei bewenden.«

Jetzt blieb ihm keine andere Wahl mehr, er konnte nicht länger schweigen. »Ich meine, wir könnten Villeneuve einen Befehl Boneys schicken, er solle sofort aus Ferrol auslaufen, koste es was es wolle. Natürlich müßte dieser Befehl eine glaubhafte Begründung enthalten, sagen wir, daß Decres aus Brest entkommen sei und ihn an einem Treffpunkt vor Kap Clear erwarte. Das wäre für Villeneuve Anlaß, sofort auszulaufen - notfalls die Ankertrossen zu slippen oder zu kappen. England braucht jetzt vor allem eine Entscheidungsschlacht mit Villeneuve - so könnte man sie herbeiführen.« Jetzt war es heraus. Zwei Paar Augen starrten ihn unverwandt an. »Ja, das wäre eine ideale Lösung«, sagte Marsden. »Nur schade, daß sie sich nicht verwirklichen läßt. Ja, wenn man Villeneuve so einen Befehl zustellen könnte!«

Dem Sekretär der Admiralität gingen wahrscheinlich tagtäglich die absurdesten Vorschläge zu, wie die französische Flotte zu vernichten sei.

»Boney wird oft genug von Paris aus Befehle senden«, fuhr Hornblower fort. Aufgeben kam für ihn nicht mehr in Frage.

»Wie oft übermitteln Sie zum Beispiel Ihren Verbandschefs Befehle aus diesem Amt, Sir? Zum Beispiel an Admiral Cornwallis? Einmal jede Woche? Oder noch öfter?«

»Einmal die Woche mindestens«, gab Marsden zu. »Nun, ich nehme an, Boney dürfte sich noch öfter äußern.«

»Sehr wahrscheinlich«, stimmte ihm Barrow bei.

»Und seine Befehle kommen natürlich auf dem Landweg zu Villeneuve. Der spanischen Post wird er sie unter keinen Umständen anvertrauen. Ein Offizier - ein französischer Offizier, einer der kaiserlichen Adjutanten, wird mit so einem Befehl von der französischen Grenze durch Spanien nach Ferrol reiten.«

»Ja, und?« sagte Marsden. Er war zum mindesten soweit interessiert, daß seine einsilbige Antwort wie eine Frage klang.

»Kapitän Hornblower war wahrend der letzten zwei Jahre ständig damit befaßt, sich um Nachrichten von der französischen Küste zu bemühen«, unterbrach Barrow. »Sein Name erscheint immer wieder in Cornwallis' Berichten.«

»Das weiß ich, Mr. Barrow«, sagte Marsden, anscheinend etwas gereizt über die Unterbrechung.

»Der Befehl wird gefälscht«, sagte Hornblower, der jetzt nicht mehr locker ließ. »Eine kleine Gruppe wird an einer verlassenen Stelle der Biskaya an Land gesetzt, die Männer geben sich als französische oder spanische Beamte aus, bewegen sich auf der Hauptstraße langsam in Richtung auf die französische Grenze.

Ihnen wird eine Folge von Kurieren entgegenkommen, die Villeneuve Befehle überbringen. Einen von diesen müssen sie ergreifen und notfalls töten. Wenn sie Glück haben, ist es vielleicht sogar möglich, den gefälschten Befehl gegen den auszutauschen, den der Kurier befördert. Sonst muß eben einer der Gruppe umkehren und als französischer Offizier verkleidet Villeneuve das gefälschte Papier überbringen.« Das war der ganze Plan. Er hörte sich phantastisch an, aber es konnte immerhin sein, daß er gelang, wenn die Aussicht auch nur bescheiden war. Zum mindesten konnte man ihm nicht nachweisen, daß sein Vorschlag Unsinn war.

»Sie sagten doch, Sie hätten diese spanischen Straßen gesehen, nicht wahr?« fragte Barrow.

»Ja, ich habe einen Eindruck davon gewonnen, Sir.«

Als sich Hornblower nach seiner Antwort wieder Marsden zuwandte, sah er, daß ihn dieser immer noch unverwandt anstarrte.

»Haben Sie uns noch mehr zu sagen, Herr Kapitän? Das möchte ich bestimmt annehmen.«

Vielleicht war das ironisch gemeint, vielleicht wollte ihn der Sekretär dazu verleiten, sich immer weiter in seine Phantastereien zu verrennen. Aber es gab in der Tat noch manches zu sagen, was er bis jetzt nicht erwähnt hatte, weil es eigentlich selbstverständlich war. Sein müdes Gehirn wurde auch damit noch fertig, wenn man ihm einen Augenblick Zeit ließ, seine Gedanken zu ordnen.

»Dies ist eine Gelegenheit zu handeln, meine Herren. Was England gegenwärtig dringender braucht als alles andere, ist ein entscheidender Seesieg. Können wir den Wert eines solchen Sieges für unser Land ermessen? Können wir es wirklich?

Dieser Sieg würde alle Pläne Boneys über den Haufen werfen, er würde den Druck der Blockade unendlich viel leichter machen. Was wäre uns eine solche Aussicht wert?«

»Millionen und aber Millionen«, sagte Barrow.

»Und was setzen wir aufs Spiel? Zwei oder drei Agenten.

Wenn ihnen der Auftrag mißlingt, ist das unser ganzer Verlust.

Ein Penny-Einsatz im Lotto. Ein unermeßlicher Gewinn gegen einen Verlust, der kaum ins Gewicht fällt.«

»Sie sind erstaunlich redegewandt, Herr Kapitän«, sagte Marsden, immer noch im gleichen unbeteiligten Ton.

»Es war durchaus nicht meine Absicht, als Redner zu glänzen, Sir«, sagte Hornblower und gab sich fast bestürzt darüber Rechenschaft, daß diese einfache Feststellung wirklich stimmte.

Er hatte sich in der Tat hinreißen lassen, so unbesonnen daherzureden, wie einer jener albernen Schwadroneure, denen Marsdens ganze Verachtung galt. Ärgerlich erhob er sich von seinem Stuhl und bekam sich gerade noch in die Gewalt, ehe ihn der Ärger noch unüberlegter machte. Steife Förmlichkeit stand ihm jetzt bestimmt besser zu Gesicht, weil sie den beiden Herren den Gedanken nahe legte, seine ausführlichen Reden von eben seien nur höfliche aber belanglose Konversation gewesen. Wenn er einen Rest Selbstachtung bewahren wollte, dann mußte er jetzt außerdem von sich aus und ohne Verzug um seine Entlassung bitten. »Ich habe Ihre kostbare Zeit über Gebühr in Anspruch genommen, meine Herren«, sagte er.

Trotz seiner Müdigkeit geriet er plötzlich in eine ausgesprochen gehobene Stimmung, als er sich Rechenschaft gab, daß er hier als erster und einziger darum ersuchte, vom Ersten und Zweiten Sekretär des Marineamts entlassen zu werden, während die jungen Offiziere sonst gleich zu Dutzenden geduldig Stunden und Tage warteten, bis sie endlich vorgelassen wurden. Aber Marsden wandte sich eben an Barrow.

»Wie heißt eigentlich jener Südamerikaner, der gegenwärtig alle Vorzimmer unsicher macht? Man begegnet ihm überall, vorige Woche war er sogar mit Camberwell bei White zum Dinner.«

»Sie meinen den Mann, der eine Revolution entfesseln möchte, Sir? Ich selbst habe ihn auch schon ein paarmal getroffen. Ich glaube er heißt Miranda oder Mirandola, jedenfalls so ähnlich.«

»Richtig! Miranda ist sein Name. Ich hoffe, daß wir seiner habhaft werden, wenn wir ihn brauchen.«

»Das ist eine Kleinigkeit, Sir.«

»Gut, dann brauchen wir noch jenen Claudius, der im Gefängnis von Newgate sitzt. Soviel ich weiß, waren Sie mit ihm bekannt, Mr. Barrow.«

»Claudius, Sir? Ja, dem bin ich ebenso begegnet, wie alle anderen.«

»Ich hörte, daß noch im Laufe dieser Woche gegen ihn verhandelt wird.«

»Das stimmt, Sir. Nächsten Montag wird er wohl gehenkt - aber warum interessieren Sie sich denn für diesen Verbrecher, Mr. Marsden?« Irgendwie war es belustigend, zu beobachten, daß einer der beiden, wenn es auch nur der Zweite Sekretär war, offenbar vor einem Rätsel stand. Zumal er im Augenblick nicht einmal eine befriedigende Auskunft erhielt. »Wir haben also keine Zeit zu verlieren.« Jetzt wandte sich Marsden an Hornblower, der in gezwungener Haltung dabeistand und sich sagen mußte, daß infolge dieser Verzögerung sein geplanter Abgang einiges von seiner dramatischen Note eingebüßt hatte.

»Der Pförtner hat doch Ihre Adresse, nicht wahr, Herr Kapitän?«

»Jawohl.«

»Ich werde sehr bald nach Ihnen schicken.«

»Aye aye, Sir.«

Hornblower war schon draußen, als ihm einfiel, daß er eben einem Zivilisten mit diesem ausgesprochenen Seemannsausdruck geantwortet hatte. Aber das peinliche Gefühl darüber hielt nicht vor, weil er ja mit seinem müden Gehirn so viel anderes zu bedenken hatte. Er mußte jetzt unbedingt essen, und dann brauchte er vor allem dringend Schlaf. Der unbekannte Miranda und der geheimnisvolle Claudius im Newgate-Gefängnis interessierten ihn kaum. Zunächst wollte er sich richtig vollschlagen und dann schlafen - schlafen - schlafen.

Aber er durfte auch nicht vergessen, seiner Maria zu schreiben.

9. Kapitel

Als Hornblower aufwachte, war er in Schweiß gebadet, die Sonne brannte durch das Fenster herein und seine kleine Dachkammer glich einem Ofen. Fest hatte er unter seiner Bettdecke geschlafen, aber schließlich hatte ihn die Hitze doch geweckt. Er warf die Decke ab, das brachte ihm einige Erleichterung. Dann begann er vorsichtig seine Glieder zu recken, denn allem Anschein nach hatte er die ganze Zeit geschlafen, ohne seine Lage zu ändern, also buchstäblich wie ein Holzklotz. Da und dort fühlte er immer noch Schmerzen, sie halfen ihm, sich darauf zu besinnen, wo er sich befand, und wie es kam, daß er jetzt hier war. Sein gewohntes Sprüchlein, das ihm zum Einschlafen half, hatte erst nach einer längeren Weile gewirkt. Inzwischen stand die Sonne schon hoch am Himmel, er mußte also zehn oder gar zwölf Stunden geschlafen haben.

Welcher Wochentag war denn heute? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, mußte er sich die jüngste Vergangenheit ins Gedächtnis rufen. Den ganzen Sonntag war er mit der Postkutsche unterwegs gewesen - er hatte ja die Kirchenglocken läuten hören und in Salisbury hatten sich die Kirchgänger um seine Kutsche gedrängt. Also war er am Montagmorgen in London angelangt - gestern also, kaum zu glauben, und heute war also Dienstag. Plymouth hatte er am Samstagnachmittag verlassen und dabei von Maria Abschied genommen. Angenehm ausgeruht, wie er war, fühlte er, wie neue Spannkraft in ihm wuchs, wie jeder Muskel kampfbereit bebte, so wie es gewesen war, als sie von der Guèpe zurückkehrten - das war in den ersten Morgenstunden des Freitags gewesen, als die Princess von dem nicht mehr manövrierfähigen Franzosen abhielt. Am Donnerstag abend also hatte er das Deck der Guèpe geentert, um zu siegen oder zu sterben, wobei der Tod wohl eher zu erwarten war als der Sieg. Ja, am Donnerstag abend war das gewesen, und heute war erst Dienstag morgen! Er gab sich Mühe, diese unerfreulichen Erinnerungen zu verscheuchen und sich wieder zu entspannen. Nur ein seltsamer Einfall nahm ihm plötzlich wieder die Ruhe. Er hatte in der Admiralität das Leintuch des französischen Kapitäns zurückgelassen, mit dem er die Schiffspapiere gebündelt hatte. Wahrscheinlich hatte es irgendein armer Angestellter der Admiralität gestern Abend mit nach Hause genommen, weil er es gut brauchen konnte. Er hatte wirklich keinen Anlaß, sich darüber aufzuregen, es sei denn, er dachte dabei an den französischen Kapitän mit seinem grausig zerschmetterten Kopf.

Er lauschte auf den Straßenlärm und auf das Geratter der Wagenräder und wurde durch diese Ablenkung allmählich ruhiger, bis er aufs neue in köstlichen, erholsamen Halbschlaf sank. Erst nach langer Zeit hörte er schlaftrunken von der Straße herauf das Geklapper von Pferdehufen, aber kein Räderrollen dabei. Als das Geklapper unter seinem Fenster aufhörte, stand er in aller Eile auf, weil er erriet, was das zu bedeuten hatte. Er stand noch im Hemd neben seinem Bett, da hörte er Schritte auf der Treppe und gleich drauf klopfte es an der Tür. »Wer ist da?«

»Ein Bote der Admiralität.«

Hornblower schob den Türriegel zurück. Da stand der Bote im blauen Rock mit ledernen Reithosen und hohen Stiefeln, unter dem Arm trug er einen Filzhut mit schwarzer Kokarde.

Hinter ihm zeigte sich das neugierige Gesicht des schwachsinnigen Wirtssohns.

»Kapitän Hornblower?«

»Der bin ich.«

Jeder Kommandant eines Kriegsschiffs war es gewohnt, im Hemd Nachrichten oder Meldungen entgegenzunehmen.

Hornblower unterschrieb den Empfangsschein mit dem angebotenen Bleistift und öffnete das Schreiben:

Der Sekretär der Herren Lordkommissare der Admiralität wäre Herrn Kapitän Hornblower besonders verbunden, wenn er sich heute, Dienstag vormittag elf Uhr, in der Admiralität einfinden würde.

»Wie viel Uhr haben wir denn jetzt?« fragte Hornblower. »Kurz nach acht Uhr, Sir.«

»Danke.« Hornblower konnte noch eine Frage an den Boten nicht unterdrücken: »Schickt denn die Admiralität alle ihre Schreiben zu Pferde?«

»Nur dann, wenn mehr als eine Meile zurückzulegen ist.« Der Bote deutete damit ganz vorsichtig an, was er von Seeoffizieren hielt, die sich auf der unvornehmen Seite der Themse einquartierten. »Danke. Das wäre alles.«

Eine Antwort war nicht erforderlich. Wenn der Sekretär seine besondere Verbundenheit zum Ausdruck brachte, durfte er auf jeden Fall mit einer Zusage rechnen. Hornblower ging daran, sich zu rasieren und anzuziehen. Trotz des Fahrpreises von eineinhalb Pence ließ er sich von der Fähre über die Themse setzen, weil er erst noch zur Post wollte, um seinen Brief an Maria aufzugeben. Doch das war nur ein Vorwand, denn er gestand sich alsbald belustigt ein, daß es ihn einfach reizte, nach drei Tagen an Land wieder ein Schiff unter den Füßen zu haben.

»Dieser Calder hat es richtig fertiggebracht, daß ihm die Franzosen durch die Lappen gingen«, sagte der Fährmann, während er lässig an seinen Riemen zog. »Was sagen denn Sie dazu, Herr Kapitän?«

»Nur Geduld«, meinte Hornblower voll Nachsicht. »In ein paar Tagen wissen wir mehr darüber.«

»Er hatte sie ja schon gefaßt, dann ließ er sie wieder los.

Einem Nelson wäre so etwas nicht passiert.«

»Kein Mensch kann sagen, was Nelson an Calders Stelle getan hätte.«

»Boney steht schon vor unserer Tür - und Villounnoove ist ungehindert in See. Dieser Calder! Er sollte sich schämen. Ich habe damals gehört, wie Admiral Byng erschossen wurde. Mit Calder sollten sie jetzt ebenfalls kurzen Prozeß machen.«

Für Hornblower waren das die ersten Anzeichen des allgemeinen Volkszorns, den die Nachricht von der Schlacht bei Kap Finisterre entfachte. Auch der Wirt des Gasthofs zum Sarazenenkopf, in dem Hornblower zum Frühstück einkehrte, bestürmte ihn mit Fragen, und die beiden Kellnerinnen hörten gespannt zu, bis die Wirtin sie an die Arbeit schickte.

»Bitte lassen Sie mich einen Blick in die Zeitung werfen«, sagte Hornblower.

»Eine Zeitung, Sir? Gewiß, sofort, Sir.«

Alsbald hatte er seine Zeitung in Händen. Obenan, auf dem Ehrenplatz der Titelseite stand: Extrablatt der Gazette. Aber der großspurige Titel schien kaum am Platze, denn der Inhalt dieses Extrablattes bestand aus ganzen acht Zeilen. Er stellte nur eine Zusammenfassung der ersten telegrafischen Depesche dar; der ausführliche Bericht Calders wurde durch Kurierstafetten mit Ablösung nach je zehn Meilen schnellstens nach London befördert und konnte frühestens zur Stunde in der Admiralität eintreffen. Wichtig war jetzt vor allem der Kommentar des Chefredakteurs. Hier, in der Morning Post wurde die gleiche Ansicht vertreten, die auch der Fährmann und der Gastwirt geäußert hatten. Calder war in See geschickt worden, um Villeneuve abzufangen, und dank der guten Planung der Admiralität war die Begegnung wirklich zustande gekommen.

Aber Calder hatte seine Hauptaufgabe nicht gelöst, die darin bestanden hatte, den Verband Villeneuves zu vernichten, nachdem ihm die Admiralität zu der Begegnung mit ihm verholfen hatte.

Villeneuve war von Westindien gekommen und dabei Nelson entgangen, der ihm bis hinüber gefolgt war. Er hatte alle Schranken durchbrochen, mit denen ihm England den Weg zu verlegen strebte. Jetzt hatte er glücklich Ferrol erreicht, wo er seine Kranken ausschiffen und Frischwasser übernehmen konnte. Dann war er bereit, seine Gefechtskraft von neuem einzusetzen und den Kanal zu bedrohen. So gesehen war Villeneuves Operation ohne Zweifel als französischer Erfolg zu bezeichnen, und Hornblower war sich sofort darüber klar, daß Bonaparte ihn zu einem glanzvollen Sieg aufwerten würde.

»Wie sehen Sie denn die Lage, Sir?« fragte ihn der Wirt.

»Werfen Sie rasch einen Blick zur Tür hinaus und sagen Sie mir, ob Boney nicht schon angerückt kommt.«

Für die Verfassung des Wirts war es bezeichnend, daß er ernstlich Anstalten traf, zur Tür zu eilen, ehe er Hornblower durchschaute. »Sie belieben zu scherzen, Sir.«

Sarkasmus war in der Tat das einzige Mittel, solchen dummen Ängsten zu begegnen. Diese Äußerungen unwissender Zivilisten über Seestrategie und Seetaktik erinnerten Hornblower immer ein wenig an die Debatten der Bürger über das Wesen der Dreifaltigkeit in Gibbons Geschichte vom Niedergang und Fall Roms. Und doch hatte das Verlangen einer sachunkundigen Masse die Vollstreckung des Todesurteils gegen Admiral Byng erzwungen. Es war in der Tat leicht möglich, daß jetzt Calder ernstlich um sein Leben fürchten mußte.

»Der schlimmste Streich, den sich Boney heute geleistet hat, ist der, daß er mir mein Frühstück vorenthielt.«

»Ach ja, Sir, natürlich, Sie werden sofort bedient, Sir.« Als der Wirt jetzt wegeilte, entdeckte Hornblower auf der Titelseite der Morning Post einen anderen Namen, den er erst gestern gehört hatte. Da stand ein Artikel, der von Dr. Claudius handelte. Als Hornblower ihn las, fiel ihm ein, warum ihm dieser Name so vertraut geklungen hatte, als er ihn von Marsden nennen hörte. Von diesem Mann war in der Presse schon früher die Rede gewesen, Hornblower wußte von ihm aus alten Blättern, die ihm während der Blockade von Brest in die Hände gefallen waren. Dieser Claudius war ein Geistlicher, ein richtiger Doktor der Theologie, jetzt aber die Zentralfigur des größten Gesellschafts- und Finanzskandals der englischen Geschichte. Er hatte in der Londoner Gesellschaft eine Rolle gespielt, weil er auf diese Art zu einem Bistum gelangen wollte.

Dabei war er wohl weithin bekannt geworden, aber sein Ziel hatte er nicht erreicht. Er war verzweifelt über diesen Fehlschlag und warf sich dem Verbrechen in die Arme. Bald schon hatte er eine weitverbreitete Organisation aufgebaut, die sich auf Wechselfälschung spezialisierte. Die Fälschungen waren so vollkommen und wurden von ihm mit so viel Gerissenheit auf den Markt gebracht, daß er lange Zeit unentdeckt blieb.

Der weltweite Handel Englands wurde großenteils mit Wechseln finanziert. Claudius nutzte die langen Zeiträume zwischen der Ausstellung eines Wechsels und seiner Präsentierung, um seine Fälschungen in den Strom dieser Papiere einfließen zu lassen. Nur ein Irrtum eines seiner Mitarbeiter hatte ihn schließlich entlarvt. Immer noch liefen Wechsel ein, die in Beirut oder in Madras gezogen waren und deren vollendete Fälschung es sogar den Opfern selbst schwer machte, ihnen die Honorierung zu verweigern. Die ganze Finanzwelt war durch diesen Gaunerstreich bis in die Grundfesten erschüttert, und, nach dem Artikel zu urteilen, sah es in der obersten Gesellschaftsschicht ganz ähnlich aus, da sie es immerhin gewesen war, die den Mann in ihre Reihen aufgenommen hatte. Jetzt saß Claudius in dem Gefängnis von Newgate und das Gerichtsverfahren gegen ihn stand unmittelbar bevor. Hatte es etwas zu bedeuten, daß sich Marsden jetzt für diesen Kerl interessierte? Hornblower konnte nicht recht daran glauben. Plötzlich entdeckte er zu seiner größten Überraschung in einem anderen Artikel seinen eigenen Namen. Er war nur mit dem Wort Plymouth überschrieben und enthielt Nachrichten über das Ein- und Auslaufen von Schiffen. Am Schluß hieß es darin: ›Kapitän Horatio Hornblower, bisher Kommandant der Korvette Hotspur, landete heute morgen mit dem Wasserleichter Princess und begab sich sofort per Post nach London.‹ Es war lächerlich anzunehmen, daß eine solche Notiz den Geschmack des Schinkens mit Spinat und Spiegelei verbesserte, aber man konnte nicht leugnen, daß es sich in der Tat so verhielt.

Außerdem hob die Nachricht seine Stimmung, und er begab sich in bester Laune nach Whitehall. Marsden fand sich offenbar bereit, mit ihm über seine Beförderung zum Kapitän zu sprechen und ihm ein Schiff zu verschaffen - je eher diese wichtige Angelegenheit ihre Erledigung fand, desto besser. Jetzt, da Cornwallis seine Flagge niedergeholt hatte, besaß er keinen hochgestellten Gönner mehr, und Cornwallis' Empfehlung konnte allzu leicht in den Akten verschimmeln oder sogar übergangen werden, um irgendeinem Günstling freie Bahn zu schaffen.

Jetzt, am hellichten Tage, nach einer ausgiebigen Nachtruhe und einem nahrhaften Frühstück konnte er kaum mehr annehmen, daß Marsden seinen tollen Plan, einen gefälschten Befehl an Villeneuve zu schicken, weiterverfolgen könnte. Und doch war es nicht so ganz unvorstellbar - auch sein Plan schien ihm auf einmal nicht mehr so unsinnig. Die Fälschung des Befehls mußte natürlich ausgezeichnet sein, vor allem mußte sie mit aller List und unbemerkt unterschoben werden. Da Ferrol auch für den schnellsten Kurier mindestens zehn Tagesetappen von Paris entfernt war, hatte Villeneuve keine Möglichkeit, eine Bestätigung des Befehls einzuholen. Außerdem überstieg es alle landläufigen Vorstellungen, daß die britische Regierung sich zu einer solchen Handlungsweise herbeilassen könnte. Das ließ es um so eher möglich erscheinen, daß sie mit ihrer List Erfolg hatten. Da war die Admiralität. Heute konnte er dem Pförtner selbstsicher sagen: »Ich bin zu Mr. Marsden bestellt«, und damit den bitteren Neid einiger Bittsteller erregen, die vorgelassen werden wollten. Auch auf das Formular, das über den Zweck seines Besuches Auskunft geben sollte, konnte er kurz das Wort: ›Bestellt‹ schreiben. Er brauchte keine zehn Minuten im Wartezimmer zu sitzen, schon drei Minuten, nachdem die Uhr elf geschlagen hatte, wurde er in Marsdens Amtszimmer geholt.

Dort waren auch Barrow und Dorsey zugegen. Bei ihrem Anblick mußte sich Hornblower sagen, daß das ›Unvorstellbare‹ sehr wohl zur Tagesordnung dieser Zusammenkunft gehören konnte.

Er fand es immerhin bemerkenswert, daß der Erste Sekretär sogar Zeit für ein paar freundliche Bemerkungen fand, ehe er zur Sache kam. »Ich kann Ihnen die schmeichelhafte Mitteilung machen, daß Seine Lordschaft über Ferrol ziemlich der gleichen Meinung ist wie Sie.«

»Ich fühle mich dadurch in der Tat sehr geschmeichelt, Sir.«

Lord Barham war nicht nur Erster Lord der Admiralität, sondern hatte viele Jahre hindurch das Amt eines Inspekteurs der Marine innegehabt. Davor hatte er eine Flotte geführt. Offenbar war er der Mann, der Calder so geschickt geleitet hatte, daß er Villeneuve den Weg verlegte.

»Seine Lordschaft waren überrascht und besonders erfreut, daß Mr. Barrow so genaue Auskunft über die Verhältnisse in Ferrol geben konnte«, fuhr Marsden fort. »Allerdings konnte sich Mr. Barrow nicht entschließen, ihm zu sagen, daß er sich soeben mit Ihnen darüber unterhalten hatte.«

»Dafür habe ich volles Verständnis«, sagte Hornblower. Dann aber riß er sich zusammen. Es kostete ihn allerhand Überwindung, sein Anliegen vorzubringen. »Könnte man Seine Lordschaft bei dieser Gelegenheit nicht an Admiral Cornwallis'

Empfehlung erinnern, mich zum Fregattenkapitän zu befördern?«

Jetzt war es heraus. Aber die beiden Sekretäre ließen durch keinen Mucks erkennen, daß sie überhaupt zugehört hatten.

»Wir haben jetzt Wichtigeres zu erledigen«, sagte Marsden.

»Draußen wartet ein Mann. Dorsey, bitte bringen Sie den Geistlichen herein.« Dorsey ging durch das Zimmer und öffnete die Tür. Im nächsten Augenblick kam ein kleiner vierkant gebauter Mann hereingewatschelt. Ehe die Tür wieder zufiel, sah Hornblower draußen einen Seesoldaten in Uniform stehen.

Der kleine Mann trug einen Talar und die Perücke eines Geistlichen, aber zu dieser Kleidung wollten die einen halben Zoll langen Stoppeln auf seinen unrasierten Wangen schlecht passen. Erst ein zweiter Blick verriet, daß der Mann Handschellen trug, die mit einer Kette um seinen Leib befestigt waren.

»Dies ist der Reverend Dr. Claudius«, sagte Marsden. »Er ist eben von Newgate eingetroffen. Der Staatssekretär des Innern hat uns liebenswürdigerweise seine Dienste zur Verfügung gestellt - wenigstens für begrenzte Zeit.«

Claudius musterte alle Anwesenden der Reihe nach. Sein wechselnder Gesichtsausdruck wäre für einen Psychologen gewiß von Interesse gewesen. Der Blick seiner schwarzen Augen wirkte kühn, aber zugleich listig und verschlagen. Aus seinen fetten Zügen sprach Angst, zugleich aber auch trotziges Aufbegehren, daneben aber fiel besonders auf, daß er auch jetzt, im Schatten des Todes, seine Neugier nicht unterdrücken konnte. Marsden kam gleich zur Sache.

»Claudius«, sagte er, »Sie sind hierher gebracht worden, um eine Fälschung herzustellen, sofern Sie dazu in der Lage sind.«

Ein kurzes Aufleuchten des fetten Gesichts verriet, daß er begriffen hatte, aber dann versank er gleich wieder in eine so unbewegliche Starre, daß ihm Hornblower darob seine Bewunderung nicht versagen konnte. »Sowohl die einfachste Höflichkeit wie der allgemeine Brauch«, sagte Claudius, »sollten Ihnen nahelegen, mich mit meinem Doktortitel anzureden. Man hat mich noch nicht meines Standes enthoben, ich bin also nach wie vor Doktor der Theologie.«

»Lassen Sie doch den Unsinn, Claudius«, sagte Marsden.

»Nun ja, von kleinen Leuten darf man eben keine Höflichkeit erwarten.« Claudius hatte eine häßliche, rauhe und kratzende Stimme, die vielleicht an seinem Mißerfolg bei der Bewerbung um einen Bischofsstuhl schuld war. Hier aber hatte er gleich bei der ersten Begegnung die Offensive ergriffen - die jener Brief Bonapartes empfahl, den Dorsey in der Hand hielt und in dem es hieß, selbst ein unterlegenes Kontingent sollte einen unerwarteten, kräftigen Gegenangriff führen. Hier aber, in der Admiralität, stieß er dabei auf einen Meister der Taktik.

»Also gut, Herr Doktor«, sagte Marsden. »Die Würde eines Doktors der Theologie verlangt unsere ganze Hochachtung. Mr. Dorsey, bitte übergeben Sie dem Doktor das Schriftstück mit den verbindlichen Empfehlungen Ihrer Lordschaft und der Admiralität und fragen Sie ihn, ob er sich auf Grund seiner großen Erfahrungen in solchen Dingen in der Lage sieht, etwas Ähnliches herzustellen.«

Claudius nahm den Brief in seine gefesselten Hände und studierte ihn mit gerunzelten Brauen.

»Französischen Ursprungs. Das ist klar. Das verrät nicht nur die Sprache, sondern vor allem die übliche Handschrift der französischen Sekretäre. Als noch Friede war, gingen mir eine Menge solcher Schriftstücke durch die Hände.«

»Was sagen Sie zu der Unterschrift?«

»Interessant, diese Arbeit. Sie ist allem Anschein nach mit einer Truthahnfeder geschrieben. Ich müßte mindestens eine Stunde lang üben, ehe ich sie richtig nachmachen kann. Dann die Siegel...«

»Ich habe Abdrücke davon gemacht«, sagte Dorsey.

»Das ist mir nicht entgangen. Aber sie wurden auch mit bemerkenswertem Geschick vom Papier abgelöst. Ich muß Sie zu Ihrer Leistung in dieser schwierigen Kunst beglückwünschen.

Und jetzt -«

Claudius hob den Blick von dem Schreiben und ließ ihn forschend über die Zuhörer schweifen.

»Meine Herren«, sagte er dann, »zu diesem Brief gibt es noch eine Menge zu sagen. Aber ehe ich fortfahre, möchte ich doch einige Sicherheit haben, daß meine Dienste nicht ungelohnt bleiben.«

»Sie haben doch schon Ihre Entlohnung«, sagte Marsden, »Ihre Gerichtsverhandlung wurde um eine Woche verschoben.«

»Eine ganze Woche? Und ich habe in meinen Predigten immer betont, wie schnell die Zeit von einem Sonntag zum nächsten verrinnt. Nein, meine Herren, mir geht es um mein Leben. Ich habe eine unbeschreibliche Abneigung gegen das Aufgehängt werden. Bitte fassen Sie das nicht als Scherz auf.«

Die Szene war voll dramatischer Spannung. Hornblower studierte die Mienen der anwesenden vier Männer - in Marsdens Gesicht entdeckte er leise Spuren zynischer Belustigung, Barrow war augenscheinlich sprachlos über diese plötzliche Forderung, Dorsey zeigte die unbeteiligte Haltung des Untergebenen und Claudius ließ seinen Blick vorsichtig von einem zum anderen wandern. Bei seinem Anblick dachte man unwillkürlich an einen verurteilten Verbrecher in der Arena Roms, der schon die Löwen langsam näherkommen sieht.

Barrow brach als erster das Schweigen und sagte zu Marsden:

»Soll ich nicht die Wache hereinrufen, Sir? Wir haben ihn ja nicht nötig.«

Die Spannung wurde immer größer.

»Ja, rufen Sie die Wache!« sagte Claudius. Er hob die gefesselten Hände, daß die Kette klirrte. »Bringen Sie mich doch weg und hängen Sie mich gleich morgen! Ob morgen oder erst in einer Woche - wenn mir dieses Ende schon bevorsteht, dann je eher desto besser. Ihr Herren werdet wohl nie am eigenen Leib erfahren, wie wesentlich das für unsereinen ist.

Meine Nächstenliebe läßt mich hoffen, daß Ihnen Lagen wie die meine erspart bleiben. Aber was ich sagte, bleibt darum doch wahr. Sehen Sie also zu, daß ich morgen gehenkt werde.«

Es war schwer zu sagen, ob Claudius jetzt nicht alles auf eine Karte setzte: die zugesagte Verlängerung seines Lebens um eine Woche, so viel wert sie ihm auch sein mochte, gegen die bloße Möglichkeit einer Begnadigung. Aber wie dem auch war, Hornblower konnte dem häßlichen kleinen Mann eine mit Schuldgefühl vermischte Bewunderung nicht versagen. Einsam und ohne Hilfe war er zu seinem letzten Kampf angetreten und hatte es dennoch von sich gewiesen, um Gnade zu bitten - womit er übrigens bei Marsden wohl am wenigsten Gehör gefunden hätte. Jetzt nahm Marsden das Wort.

Er sagte nur: »Sie werden nicht gehenkt.«

Seit Claudius im Zimmer war, hatte sich der Himmel immer mehr verdüstert. Die wenigen Tage sonnigen Sommerwetters waren vorüber, im Themsetal ballten sich wieder einmal die unvermeidlichen Gewitterwolken. Auf Marsdens Worte folgte das leise Grollen des ersten Donners. Hornblower dachte unwillkürlich an den Donner in der Ilias, der den von Zeus geleisteten Eid bekräftigte.

Claudius bedachte Marsden mit einem durchdringenden Blick. »Dann sind wir ja einig, und ich werde Ihnen nun meine Erfahrung in ihrem vollen Umfang verfügbar machen.«

Hornblower bewunderte den Mann aufs neue. Der fette kleine Bursche hatte sich mit den simplen vier Worten Marsdens zufrieden gegeben und auf jedes förmliche Versprechen verzichtet. Als Gentleman hatte er das Wort eines anderen Gentleman ohne weiteres angenommen. Vielleicht hatte ihn der grollende Donner in seinem Vertrauen bestärkt.

»Ausgezeichnet«, sagte Marsden, und Claudius begann darauf sofort mit seinen sachlichen Ausführungen. Er verriet im Anfang nur durch ein Räuspern und etwas zögerndes Sprechen, welche Aufregung er eben durchgemacht hatte.

»Ich möchte zu allererst betonen«, begann er, »daß man bei solchen Unternehmungen leicht über das Ziel hinausschießt. Es ist ganz und gar ausgeschlossen, ein langes handschriftliches Dokument zu fälschen, das von einem anderen herrührt, und damit den Empfänger zu täuschen. Ich nehme an, daß es sich in Ihrem Falle um einen Brief und nicht nur um ein paar Worte handelt. Dann ist es besser, eine genaue Nachahmung gar nicht erst zu versuchen. Andererseits könnte mangelnde Sorgfalt allzu leicht zum Verhängnis führen. Diese Schriftart hier wird, wie ich schon sagte, allgemein von französischen Sekretären geschrieben, ich nehme an, daß sie von jeher in den Schulen der Jesuiten gelehrt wurde. Wir haben doch eine Menge französischer Flüchtlinge hier im Lande. Sehen Sie zu, daß Ihnen einer von denen einen Brief schreibt.«

»Das wäre bestimmt das beste, Sir«, sagte Dorsey zu Marsden. »Noch eins«, fuhr Claudius fort, »lassen Sie den französischen Text durch einen Franzosen abfassen. Sie, meine Herren, mögen sich etwas darauf zugute tun, daß Sie ein gutes, grammatikalisch einwandfreies Französisch schreiben können.

Und doch wird jeder Franzose, der ihre Arbeit liest, sofort wissen, daß sie nicht von einem Franzosen stammt. Ich gehe noch weiter, meine Herren: geben Sie einem Franzosen einen englischen Satz und beauftragen Sie ihn, diesen Satz ins Französische zu übersetzen, so wird ein Franzose, der ihn liest, immer noch merken, daß da etwas nicht stimmt. Sie müssen Ihren französischen Text also ab initio durch einen Franzosen verfassen lassen und sich damit begnügen, ihm nur in großen Zügen zu sagen, was er zu schreiben hat.«

Hornblower bemerkte, wie Marsden zustimmend nickte.

Offenbar war er von dem Gehörten beeindruckt, wenn er es auch nicht merken lassen wollte. »Und nun, meine Herren«, fuhr Claudius fort, »kommen wir zu Einzelheiten mehr technischer Art. Ich nehme an, daß Sie Ihren gefälschten Brief an einen See-oder Armeeoffizier senden wollen. In diesem Fall sind Ihre Aussichten auf Erfolg erheblich besser. Handelsherren, seelenlose Bankiers, dickschädelige Kaufleute, die etwas zu verlieren haben, das ihnen wichtiger ist als das Leben anderer Menschen, nehmen alle Dokumente ganz genau in Augenschein, die ihnen zu Händen kommen. Aber auch im Stabe eines Generals kann es diesen oder jenen kleinen Mann geben, der sich wichtig macht, weil er auffallen möchte. Darum muß alles vollkommen sein. Die Unterschrift macht mir nicht viel zu schaffen, ich kann sie so wiedergeben, daß sie vom Original nicht zu unterscheiden ist. Diese Tinte ist in der Kanzlei bestimmt zu haben, es wird nur nötig sein, genaue Vergleiche anzustellen. Für den gedruckten Briefkopf brauchen Sie eigens gegossene Typen, die diesen hier genau entsprechen. Ich nehme an, ihre Beschaffung wird für Sie einfacher sein, als sie für mich gewesen ist.«

»Ja«, entfuhr es Marsden ganz gegen seine Absicht.

»Nun das Papier - « fuhr Claudius fort und prüfte den Bogen mit seinen dicken und doch offenbar feinfühligen Fingern. »Ich muß Ihnen ja auch sagen, wo Sie sich nach dieser Qualität umtun können. Möchten Sie die Güte haben, Sir, mir diesen Bogen hier vor das Licht zu heben. Die Kette behindert meine Bewegungen in höchst lästiger Weise. Danke, Sir. Ja, es ist, wie ich dachte. Ich kenne dieses Papier. Gott sei Dank fehlt das Wasserzeichen, darum ist es wohl nicht nötig, das Papier eigens herstellen zu lassen. Sie wundern sich wohl, meine Herren, warum ich solchen Wert auf genaue Nachahmung des Originals lege, aber Sie werden es ohne weiteres verstehen, wenn Sie nur ein wenig Ihre Phantasie bemühen. Ein einzelnes Dokument erregt meist keinen Verdacht, aber Sie müssen immer bedenken, daß in einem Büro ganze Stöße von Schriftstücken zusammenkommen. Sagen wir, es seien sechs Schreiben eingegangen, und dann folgte als siebtes ein gefälschtes. Was geschieht? Der Empfänger legt sie so zusammen, wie es die Routine seines Büros erfordert. Wenn sich nun eines dieser Schreiben merklich von all den anderen unterscheidet - mag dieser Unterschied auch noch so geringfügig sein - dann lenkt es dadurch sofort die Aufmerksamkeit aller Beteiligten auf sich.

Hinc illae lacrimae. Und wenn gar noch sein Inhalt etwas ungewöhnlich ist - was man unter anderen Umständen vielleicht in Kauf genommen hätte, dann ist alles verloren, und man ruft nach der Polizei. Et ego in arcadia vixi, meine Herren.«

»Das war sehr instruktiv«, sagte Marsden. Hornblower kannte ihn jetzt genau genug, um zu wissen, daß diese paar Worte einer langen Lobrede gleichkamen.

»Meine Herren, ich komme in meiner Predigt zum Schluß«, sagte Claudius. »Sogar auf der Kanzel spürte ich deutlich, wie das nahende Ende die ganze Gemeinde aufatmen ließ, darum möchte ich mich jetzt kurz fassen: Die Art der Auslieferung des gefälschten Dokuments muß genau den sonstigen Gepflogenheiten entsprechen. Um es noch einmal zu sagen: Es gilt vor allem, mit größter Sorgfalt darauf zu achten, daß das gefälschte Dokument unter allen anderen keine besondere Aufmerksamkeit erregt.« Als Claudius das Zimmer betreten hatte, war er unter seinen Bartstoppeln schon blaß gewesen, jetzt, am Ende seiner Vorlesung, hatte sein Gesicht vollends alle Farbe verloren.

»Ob mir die Herren wohl erlauben, daß ich mich einen Augenblick setze?« sagte er. »Ich habe leider nicht mehr die Kraft, deren ich mich einst rühmen konnte.«

»Führen Sie ihn hinaus, Dorsey«, sagte Marsden. »Geben Sie ihm ein Glas Wein. Ich nehme an, daß er auch hungrig ist.«

Wahrscheinlich gewann Claudius bei dem Gedanken an Essen etwas von seiner alten Selbstsicherheit wieder.

»Wie wäre es mit einem Beefsteak, meine Herren?« fragte er.

»Darf ich wirklich auf ein Beefsteak hoffen? Während der vergangenen Woche haben sinnlose Träume von einem Beefsteak meine schrecklichen Vorstellungen vom Tod durch den Strang nur noch verschlimmert.«

»Sorgen Sie dafür, daß er ein Beefsteak bekommt, Dorsey«, sagte Marsden.

Claudius, schon im Begriff zu gehen, wandte sich noch einmal um. Er war etwas unsicher auf den Beinen, aber um seinen Mund spielte ein Lächeln, das hinter den dichten Bartstoppeln gerade noch zu erkennen war. »Zum Dank dafür können Sie damit rechnen, meine Herren, daß ich mein Bestes geben werde, um sowohl König und Vaterland, als auch meinem eigenen Wohl von Nutzen zu sein.«

Als Dorsey und Claudius gegangen waren, wandte sich Marsden sogleich wieder an Hornblower. Trotz der Mittagsstunde war es im Zimmer fast dunkel, da die Gewitterwolken unheimlich drohend am Himmel standen.

Plötzlich tauchte ein Blitz alles in helles Licht, ihm folgte unmittelbar ein Donnerschlag wie ein gewaltiger Kanonenschuß, der unvermittelt loskrachte und ohne Widerhall verklang.

Marsden nahm von diesem Naturschauspiel überhaupt keine Notiz. Er sagte: »Seine Lordschaft hat sich bereits prinzipiell damit einverstanden erklärt, daß dieser Täuschungsversuch unternommen wird. Ich habe heute morgen mit ihm darüber gesprochen. Mr. Barrow gedenkt wohl französische Emigranten mit der Formulierung und schriftlichen Ausfertigung der Depeschen zu beauftragen.«

»Das ist in der Tat meine Absicht«, sagte Barrow.

»Dennoch wird es nötig sein, die Ausdrucksweise der Leute zu überprüfen, Sir«, meinte Hornblower.

»Das versteht sich von selbst«, stimmte ihm Barrow zu. »Der Befehl darf vor allem keine Aufträge einschließen, die von vornherein als nicht erfüllbar gelten müßten.« Jetzt schaltete sich Marsden ein.

»Sie glauben doch auch, daß Ihre Großmutter einmal gelernt hat, wie man Eier aussaugt, nicht wahr, Herr Kapitän?« Seine Frage klang so trocken wie immer. Er wollte Hornblower mit diesem Vergleich daran erinnern, daß die Sekretäre eine jahrelange Erfahrung in der Abfassung von Befehlen besaßen.

Hornblower war so klug, diese Zurechtweisung mit einem Lächeln zu quittieren.

»Ich hatte leider nicht bedacht, welche Erfahrung sie darin besaß«, sagte er. »Verzeihen Sie, meine Herren, mir ging es eben nur um den Erfolg des Plans.«

Die Gewalt des Unwetters war jetzt offenbar gebrochen. Ein kühlerer Luftzug stahl sich ins Zimmer, mit ihm drang das Rauschen des wolkenbruchartigen Regens herein, der draußen niederging. Durch das Fenster sah man nur noch die stürzenden Wassermassen, sonst nichts.

»Wir können uns darauf verlassen«, sagte Marsden, »daß Mr. Barrow, Dorsey und Claudius alle Einzelheiten der Aufgabe genau und gewissenhaft erledigen werden. Als nächste wichtige Frage wäre zu erörtern, wie wir den Befehl an Land bringen.«

»Das dürfte der einfachste Teil dieser ganzen Unternehmung sein, Sir«, meinte Hornblower. »Von der französischen Grenze bis Ferrol erstreckt sich die Küste der Biskaya in einer Länge von etwa dreihundert Seemeilen. Sie ist zerklüftet und sehr dünn besiedelt. Zwischen den Felsen gibt es eine Unzahl kleiner, geschützter Buchten. Für die auf See allgegenwärtige Royal Navy sollte es ein leichtes sein, einige Männer dort ungesehen an Land zu setzen.«

»Es freut mich ungemein, daß Sie so darüber denken, Herr Kapitän«, sagte Marsden.

Es folgte eine dramatische, oder besser gesagt melodramatische Pause. Hornblowers Blick wanderte von Marsden zu Barrow und wieder zurück. Um seine Ruhe war es vollends geschehen, als er die Blicke sah, die die beiden miteinander tauschten.

»Was haben Sie denn im Sinn, meine Herren?« fragte er schließlich. »Liegt es nicht auf der Hand, Herr Kapitän, daß Sie der richtige Mann sind, diese Aufgabe zu übernehmen?«

So sagte Marsden trocken wie immer. Barrow kam ihm zu Hilfe. »Sie kennen Ferrol, Herr Kapitän, Sie waren schon in Spanien und sprechen sogar etwas Spanisch. Klar, daß Sie das Kommando übernehmen sollten.« Das war für Marsden das Stichwort:

»Natürlich. Zumal Sie zur Zeit kein anderes Kommando haben.« Es lag auf der Hand, was diese Bemerkung zu bedeuten hatte. »Das soll doch nicht heißen, meine Herren - «, begann Hornblower. In der Aufregung suchte er vergebens, seinen Protest in Worte zu fassen. »Nein«, fuhr Marsden fort, »das ist keine Pflicht, deren Erfüllung man Ihnen befehlen könnte.

Darüber sind auch wir uns im klaren. Es handelt sich hier um eine rein freiwillige Leistung Ihrerseits.«

Wenn man sich verkleidet in Feindesland begab, mußte man gewärtigen, daß man in Unehren hingerichtet wurde. Jedem, der gefaßt wurde, drohte der Galgen, der Strick des Henkers - nein, in Spanien war es der eiserne Kragen der Garotte, da wurde man erdrosselt. Verrenkungen und Krämpfe gingen diesem Ende voraus. Keine Wehrmacht der Welt konnte ihren Offizieren befehlen, dieses Risiko auf sich zu nehmen.

»Ich bin überzeugt, daß wir uns auf jenen Spanier Miranda verlassen können«, sagte Barrow. »Und wenn auch noch ein Franzose mitmachen soll - wir legen Wert darauf, zu erfahren, wie Sie darüber denken, Herr Kapitän -, dann wüßte ich mindestens drei, die uns schon andere wichtige Dienste geleistet haben.«

Es war unvorstellbar, daß sich diese beiden Sekretäre dazu hergeben sollten, ihn um sein ›Ja‹ zu bitten, da sie doch allgemein als Männer von Eisen galten. Und doch schien es, als wären sie im Augenblick einer solchen Selbstentäußerung näher denn je in ihrem ganzen Dasein. Die Navy konnte einem Mann befehlen, die höchste, steilste Bordwand eines Linienschiffs zu erklettern und dabei wohlgezieltem Musketenfeuer zu trotzen, die Navy betrachtete es als selbstverständlich, daß jeder dem Tod tapfer ins Auge sah, auch wenn die Kartätschen Breitseite um Breitseite blutige Ernte hielten. Die Navy konnte einen Mann in der dunkelsten Sturmnacht in den Topp schicken, um ein paar Meter Segeltuch zu bergen, und sie konnte ihn hängen oder erschießen oder totpeitschen lassen, wenn er nicht sofort gehorchte. Aber die Navy konnte keinem ihrer Angehörigen befehlen, seine Hinrichtung durch die Garotte zu riskieren, auch dann nicht, wenn die Freiheit der Nation auf dem Spiel stand.

Der Gedanke an diese Freiheit - und die Erinnerung, wie dringend England ihres Schutzes bedurfte - nahm Hornblower völlig gefangen und überschattete jede andersgeartete Überlegung. In der ruhigen Atmosphäre dieses Zimmers hatte er erst gestern die Notwendigkeit eines Seesiegs herausgestellt und die geringen Kosten dagegengehalten, die sein Vorschlag schlimmstenfalls erfordern würde. Jetzt sah es so aus, als ob zu diesen Kosten sein eigenes Leben gehören könnte. Und - und - von wem konnte er annehmen, daß er immer einen klaren Kopf behielt? Wer war seines Wissens in der Lage, notfalls neu zu planen und den Erfordernissen des Augenblicks gerecht zu werden? Und schon tauchten in seiner Phantasie Verbesserungen, Verfeinerungen des ursprünglichen rohen Planes auf, die sein persönliches Eingreifen verlangten. Er mußte mitmachen. In einem Augenblick der Hellsicht fühlte er, daß er nie mehr glücklich sein könnte, wenn er jetzt den Dienst verweigerte. Er mußte ja sagen. »Kapitän Hornblower«, sagte Marsden, »wir haben Admiral Cornwallis' Empfehlung nicht vergessen, daß Sie zum Fregattenkapitän befördert werden sollten.«

Diese Äußerung fügte sich so schlecht in Hornblowers augenblicklichen Gedankengang, sie war so ohne jede Beziehung zu dem, was er hatte sagen wollen, daß er völlig außerstande war, es auszusprechen. Barrow suchte Marsdens Blick und sagte dann ergänzend:

»Wir brauchen darum kein Schiff für Sie zu finden«, sagte er.

»Sie könnten ein Kommando bei der Seemiliz bekommen, das mit dem Rang eines Fregattenkapitäns ausgestattet ist. Dann könnten wir Sie zur Sonderverwendung überschreiben.«

Damit war das Gespräch unversehens in eine neue, ganz andere Richtung gelenkt worden. Es drehte sich jetzt um genau das Problem, das Hornblower auf dem Weg hierher gründlich gewälzt hatte - seine Beförderung zum Kapitän. Wenn er jetzt Fregattenkapitän wurde, dann kam er auf die Liste der Kapitäne.

Dann war er endlich die Zwischenstufe des Commanders los, der sich jahraus jahrein ärgern mußte, weil es der Brauch wollte, daß er mit dem Titel Kapitän angeredet wurde, obwohl er keiner war. Jetzt hatte er endlich erreicht, daß er den Rang bekam, den sich jeder Seeoffizier bis zum letzten Schiffsjungen erträumte.

Wenn man einmal auf der Liste der Kapitäne stand, dann konnte einem nur noch ein Kriegsgericht oder der Tod den weiteren Aufstieg zum Admiral verlegen. Er aber hatte während der letzten Stunde ganz vergessen, an seine Beförderung zu denken, er hatte vor allem seinen Entschluß vergessen, darauf zu dringen. Weniger verwunderlich war es, daß er nicht an die Seemiliz gedacht hatte. Das war eine freiwillige Marinereserve, bestehend aus Fährleuten, Besatzungen von Binnenschiffen und Fischern, die zum aktiven Dienst eingezogen werden konnten, wenn England ein Invasionsversuch drohte. Zur Erfassung und zur Grundausbildung dieser Männer war England in Bezirke eingeteilt, deren jeder einem Kapitän oder Fregattenkapitän unterstand. »Nun, Herr Kapitän?« fragte Marsden. »Ja«, sagte Hornblower, »ich bin bereit.«

Er sah, wie die beiden Sekretäre wieder Blicke wechselten.

Sie waren wohl erleichtert und mit ihrem Erfolg zufrieden, vielleicht beglückwünschten sie einander mit diesen Blicken.

Oder freuten sie sich etwa nur, daß sie mit ihrer Bestechung Erfolg gehabt hatten? Er war schon im Begriff, entrüstet in Abrede zu stellen, daß ihn die angebotene Beförderung irgendwie hätte beeinflussen können, aber er schloß den Mund wieder, als ihm das Wort jenes Philosophen einfiel: geredet zu haben hätte ihn schon oft gereut, geschwiegen zu haben noch nie. Er hatte vorhin ganz von ungefähr ein paar Sekunden geschwiegen, das hatte ihm die Beförderung zum Fregattenkapitän eingebracht. Wenn er jetzt nur ein paar Sekunden redete, mochte er diese Beförderung allzu leicht wieder gefährden. Außerdem wußte er, daß diese beiden Zyniker solchen Protesten keinen Augenblick Glauben schenkten. Wenn es schien, als hätte er durch sein Verhalten diese Beförderung quasi eingehandelt, so hatte er den beiden dadurch vielleicht sogar Achtung abgenötigt. Fiel es ihm aber ein, jetzt nachträglich jede Beeinflussung von sich zu weisen, dann stempelte er sich in ihren Augen nur zu einem scheinheiligen Heuchler.

»Dann sorge ich jetzt am besten gleich dafür, daß Sie Miranda kennen lernen«, sagte Marsden. »Außerdem wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie sich einen genauen und ausführlichen Plan für das Unternehmen zurechtlegten und mir mitteilen könnten, damit ich Seine Lordschaft informieren kann.«

»Jawohl, Sir.«

»Aber nur mündlich, bitte. Was mit diesem Plan zusammenhängt, darf auf keinen Fall zu Papier gebracht werden. Ausgenommen Ihr eventueller Abschlußbericht nach geglückter Durchführung des Unternehmens.«

»Ich verstehe, Sir.«

Hatte Marsdens Ausdruck auch nur ein weniges von der gewohnten Härte verloren? Sein letzter Satz war ohne Zweifel scherzhaft gemeint, und das fiel bei diesem Mann völlig aus dem Rahmen. Da ging Hornblower plötzlich ein Licht auf.

Zusätzlich zu seiner Alltagsarbeit hatte der Sekretär eine Verantwortung zu tragen, die ihn unter Umständen bestimmt schwer bedrückte. Weil die ständig wechselnden Ersten Lords und Seelords nicht für die nötige Kontinuität sorgen konnten, waren ihm alle zwielichtigen Aufgaben anvertraut, zu denen etwa das Sammeln von Nachrichten über den Feind gehörte.

Aber auch das Ausstreuen falscher Nachrichten fiel in seinen Pflichtenkreis, kurzum alles, was man mit dem häßlichen Wort Spionage zu bezeichnen pflegt. Hornblower konnte sich jetzt vorstellen, wie schwierig es sein mußte, verläßliche Agenten ausfindig zu machen, von denen man mit Sicherheit sagen konnte, daß sie keine Doppelrolle spielten. Marsden fühlte sich in diesem Augenblick offenbar so beglückt und erleichtert, daß er nicht mehr damit hinter dem Berge hielt.

»Ich werde gleich dafür sorgen, daß Ihre Beförderung in der Gazette bekannt gegeben wird«, sagte Barrow, der nie eine Einzelheit außer acht ließ, »dann können Sie sich noch vor Ende der Woche darin lesen.«

»Besten Dank, Sir.«

Als Hornblower wieder auf die Straße trat, regnete es nur noch wenig, aber es sah ganz so aus, als wollte es nicht so bald aufhören. Er hatte keinen Mantel, nicht einmal einen Umhang, aber das machte ihm nichts, er war so glücklich, daß ihn der Regen nicht stören konnte. Jetzt mußte er gehen, gehen und nochmals gehen. Die Tropfen auf seinem Gesicht waren angenehm, außerdem sagte er sich, daß das weiche Regenwasser bestimmt das gräßliche Seesalz lösen würde, von dem alle seine Sachen durchsetzt waren.

Dieser Gedanke vermochte ihn aber nur einen Augenblick von den anderen Überlegungen abzubringen, die in seinem Kopf wühlten wie gefangene Aale in einem Sack. Endlich hatte er es geschafft. Er wurde demnächst Kapitän - aber er wurde demnächst auch Spion.

***

C. S. Forester starb, ehe er dieses Buch vollenden konnte, aber die von ihm hinterlassenen Notizen geben uns immerhin eine Vorstellung, wie die Erzählung geendet hätte.

Hornblower muß zunächst eine Schulungszeit durchmachen, um sich auf seine Aufgabe als Spion vorzubereiten. Graf Miranda, mit dem roten Kopf eines Lebemanns, hilft ihm, seine spanischen Kenntnisse aufzufrischen. Dann soll er den Grafen als Diener verkleidet nach Spanien begleiten. ›Fortan muß er sorgfältig auf jedes seiner Worte, jede seiner Gesten achten, da sein Leben davon abhängt, daß er sich durch nichts verrät.‹ Zuletzt gerät er wegen dieses Spionageauftrags noch in eine ernste Gewissenskrise. Als Hornblower zu dem Schiff gerudert wird, das ihn vom Spithead nach Spanien bringen soll, bedenkt er, daß er auf dieser verhaßten Reise den entscheidenden Schritt macht, daß ihn jeder Schlag der Bootsriemen einer Zeit unerhörter körperlicher und geistiger Belastung entgegenfährt, einer Zeit, in der ihm ständig das Gespenst eines schändlichen, grausamen Endes greifbar vor Augen stehen würde... Er schwankt, will kehrtmachen, aber sein Pflichtgefühl siegt. Der gefälschte Brief wird Villeneuve ausgeliefert und bestimmt den französischen Admiral, sofort auszulaufen und sich zum Kampf zu stellen. Darauf hat Nelson gewartet.

Der Sieg von Trafalgar ist die Folge. Von da an nimmt die Weltgeschichte einen anderen Lauf.