16

Ich hatte gehofft, Bertha wäre heute zur üblichen Zeit zum Lunch gegangen.

Diese Hoffnung erwies sich jedoch als trügerisch.

Unsere neue Empfangsdame sagte zu mir: »Mrs. Cool möchte Sie sofort sprechen. Sie wartet bereits in ihrem Büro auf Sie.«

»Schon gut«, sagte ich. »Ich werde gleich zu ihr gehen.«

»Ich werde sie von Ihrem Kommen verständigen.«

»Nein, lassen Sie das bitte. In einer Minute gehe ich selbst zu ihr.«

»Aber Mrs. Cool wollte sofort Bescheid haben, wenn Sie kommen.«

Die Kleine sah mich mit gerunzelter Stirn an und erweckte den Eindruck, als wollte sie jeden Augenblick zu weinen anfangen.

Ich lachte und sagte: »Na gut, gehen Sie schon hinein und melden Sie Mrs. Cool mein Kommen, wenn Sie durchaus nicht anders können.« Dann ging ich in mein Arbeitszimmer.

Elsie Brand empfing mich mit den Worten: »Mein Gott, Donald, Sie sehen ja ganz ramponiert aus. Was ist denn nur passiert?«

»Ich habe ein ziemliches Ding abbekommen.«

»Fällt es Ihnen schwer, jetzt darüber zu sprechen?«

» Ja, ich bin in großer Eile.«

Ich bemerkte das Mitgefühl in ihren Augen und erklärte ihr daher kurz: »Irgend jemand hat mir ein Ding auf den Hinterkopf verpaßt. Davon habe ich noch immer Kopfschmerzen, und mein Rückgrat scheint ein Brett geworden zu sein.«

Die Tür wurde auf gestoßen, und Berthas Redeschwall ertönte: »Du, häßlicher, kleiner Vogel. Was denkst du dir eigentlich dabei, wenn du dich immer aus dem Staube machst, sobald eine Sache für dich brenzlig wird?«

»Ich bin wegen des Falles unterwegs gewesen.«

»>Wegen des Falles unterwegs gewesen<, daß ich nicht kichere«, schrie Bertha mich an. »Du bist nicht einmal mehr im Bilde, um welchen Fall es überhaupt geht. Scheinbar bist du noch immer bei deinem gestrigen Reinfall. Was ist das nur für eine Zusammenarbeit! Was betreiben wir eigentlich für ein Geschäft? Nicht einmal erreichen können wir uns, wenn so dicke Luft wie heute herrscht. Warum, zum Teufel, meldest du dich nicht bei mir, warum sagst du nicht, wo du so lange steckst?«

Ich setzte mich hinter meinen Schreibtisch in den Drehstuhl, lehnte mich zurück und streckte die Beine von mir. Als die Stuhllehne gegen mein Rückgrat drückte, zuckte ich zusammen.

»Was ist los mit dir?« fragte Bertha.

»Er hat Kopfschmerzen«, antwortete Elsie Brand.

»Kopfschmerzen!« kreischte Bertha, zu Elsie gewandt. »Kopfschmerzen? Was glaubt er denn, was ich habe?«

Ich sagte zu Bertha: »Sei endlich still. Ich muß nachdenken.«

»Nachdenken möchtest du? Du weißt ja nicht einmal, worüber.«

»Also gut«, erwiderte ich müde, »dann sag du mir, worüber ich nachdenken soll. Das werde ich mir lieber anhören als dein Geschrei, mit dem du mir Löcher ins Trommelfell bohrst. Nun schieß schon los. Worüber soll ich also nachdenken?«

»Unsere Klientin sitzt in der Tinte«, fing Bertha an. »Sie braucht dringend unsere Hilfe, und zwar sofort. Sie hockt mir hier auf der Pelle, und ich kann sie kaum noch trösten.«

»Welche Klientin meinst du?«

»Bist du unter die Spinner gegangen?«

»Noch nicht. Ich möchte lediglich wissen, von welcher Klientin du redest.«

»Immer von derselben - von Carlotta Hanford.«

»Wo brennt’s denn?«

»Sie steckt bis zum Hals im Schlamassel. Du sollst ihr schleunigst helfen. Was denkst du denn, was sie sonst von uns wollen könnte? Warum glaubst du wohl, hat sie jeden Cent, den sie auftreiben konnte, mir auf den Tisch gelegt? Fünfhundertfünfundachtzig Dollar! Hübsches Sümmchen, wie?«

»Nicht schlecht!«

»Erst wollte sie wieder nur zweihundertundfünfzig ’rausrücken, nachdem ich sie aber etwas in die Zange genommen hatte, habe ich sie doch um fünfhundertfünfundachtzig Eier leichter machen können. Dabei mußte ich die ganze Zeit über die Uhr im Auge behalten und ihr tolle Geschichten erzählen, damit sie glaubt, daß du ein Genie von Detektiv bist. Und als ich dann endlich das Geld und sie ihre Quittung hatte, da war ich auch am Ende meines Lateins. Ich wußte kaum noch, wie ich über die Runden kommen sollte. Es ist scheußlich, einen Laden zu führen, wenn man nichts zu verkaufen hat.«

»Warum hast du denn nicht selbst den Fall in die Hand genommen?« fragte ich sie.

»>Selbst in die Hand genommen!<« fauchte Bertha mich an. »Hab’ ich ihn denn nicht in die Hand genommen? Ist das etwa keine Leistung, ihr statt zweihundertundfünfzig nun fünfhundertfünfundachtzig Piepen abgeknöpft zu haben? Was soll also dein Geschwätz! Wenn das nach deiner Meinung eine Kleinigkeit ist, dann kannst du ja das nächste Mal die Monetenpresse bedienen.«

»Was steht auf der Quittung, Bertha?«

»Daß wir fünfhundertfünfundachtzig Dollar erhalten haben.«

»Und wofür?«

»Für die Wahrnehmung der Interessen Carlotta Hanfords.«

»Das hättest du lieber nicht tun sollen.«

»Ah, ich verstehe. Dir gefällt wohl ihre Haarfarbe nicht, wie?«

»Du hättest dich vorher genau erkundigen sollen, worum es sich bei ihr neuerdings handelt, bevor wir in einer solchen Sache unseren Kopf hinhalten.«

»Es handelt sich darum, daß die Kleine in einen falschen Verdacht geraten ist.«

»Und wer verdächtigt sie ungerechtfertigterweise?«

»Das sollst du ja gerade herausfinden.«

»Und wie wurde es inszeniert?«

»Indem man ihr erfundene Beschuldigungen unterstellt. Und dieser Sellers fällt mir allmählich auch auf die Nerven. In jedem sieht er nur noch einen Verbrecher.«

»Wo ist denn die Hanford jetzt?«

»Es gelang mir, sie zum Lunch zu schicken. Ich habe sie, solange es nur ging, damit hinzuhalten versucht, daß du bald zurückkommen würdest. Mein Gott, war ich durchgedreht. Keine Zigarette konnte ich mehr zu Ende rauchen.«

Während Bertha sich zu neuen Ausfällen sammelte, herrschte ein paar Sekunden Ruhe im Zimmer.

»Frank Sellers hat in dem Ballwinschen Haus tüchtig herumge-schnüffelt. Und was meinst du, hat er dabei zutage gefördert?«

»Nun?«

»Eine Mokkatasse, an der noch etwas vergiftete Anchovispaste klebte.«

»Wo hat er sie entdeckt?«

»In der Anrichte.«

»Ich sagte: »Über dieses Beweisstück wird er sich riesig freuen. Das ist eine neue Feder an Sellers’ Hut. Laß mich jetzt bitte zehn Minuten allein, Bertha. Nur zehn Minuten, damit ich in Ruhe hier über etwas nachdenken kann. Danach werde ich mich mit der Mokkatasse befassen.«

»Zehn Minuten!« jammerte Bertha. »Hast du nicht den ganzen Morgen Zeit zum Nachdenken gehabt?

Sie kann jede Minute zurückkommen«, fuhr Bertha fort. »Ich hatte ihr nahegelegt, sie solle deiner Sekretärin die Einzelheiten der Vorfälle diktieren, nur um sie hinzuhalten und natürlich auch, damit wir alles schwarz auf weiß haben. Hierzu war sie jedoch nicht zu bewegen, sie ist zu aufgeregt und will endlich Taten von uns sehen und... «

Ich unterbrach Bertha: »Ich muß unbedingt zehn Minuten Zeit zum Überlegen haben. Es ist jetzt eine Komplikation entstanden. Ich sehe einige Zusammenhänge und muß prüfen, ob sie sich wirklich ineinanderfügen lassen. Und außerdem muß ich in ein paar Minuten der Polizei ein längere Geschichte erzählen.«

Es wurde an die Tür gepkopft, und die etwas schreckhafte Sekretärin steckte ihren Kopf durch den Türspalt und fragte: »Störe ich?«

Bertha wollte sie gerade anfahren, aber die schüchterne Kleine schlüpfte durch die Tür und flüsterte: »Miss Hanford ist draußen und gebärdet sich wie wild. Ich wußte nicht, was ich tun sollte.«

»Bringen Sie sie ’rein«, befahl Bertha.

»In zehn Minuten, Bertha«, sagte ich. »Geh solange mit ihr in dein Zimmer und leiste ihr noch etwas Gesellschaft.«

»Ich habe sie heute schon lange genug hingehalten«, wetterte Bertha.

Sie schob die eingeschüchterte Sekretärin beiseite, riß die Tür auf und sagte mit honigsüßer Stimme: »Ah, Miss Hanford, schon wieder zurück? Haben Sie gut gespeist? Ich habe mich gerade mit Mr. Lam über Ihren Fall eingehend unterhalten. Er kam, kurz nachdem Sie zum Lunch gingen. Ich versuchte noch, Sie im Treppenhaus zu erreichen, aber Sie hatten schon die Pförtnerloge passiert. Treten Sie bitte näher, Mr. Lam möchte mit Ihnen die neue Entwicklung Ihres Falles durchsprechen. Er wird Sie in einen Plan einweihen, den wir inzwischen entwickelt haben.«

Carlotta Hanford schritt nun auf meinen Schreibtisch zu. Die Sekretärin zog sich durch die halbgeöffnete Tür zurück, und Bertha schloß die Tür zu meinem Zimmer hinter ihr zu. Carlotta lächelte mich an: »Da sind Sie ja endlich«, rief sie aus.

»Freut midi, Sie wiederzusehen, Miss Hanford«, erwiderte ich.

Sie setzte sich in den Stuhl, der für unsere Besucher bestimmt war, und schlug graziös die Beine übereinander.

Ich schloß die Augen.

»Er denkt nur etwas nach«, sagte Bertha flüsternd zu ihr.

Ich hörte ein leises Rascheln, als Carlotta ihren Rock zurechtzog, um die Stellung ihrer Beine ein wenig zu verändern.

»Nun«, sagte Miss Hanford nach einer Pause, »wie ist es um Ihre Ermittlungen bestellt? Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«

Wieder schaltete sich Bertha ein: »Mr. Lam möchte gern, daß Sie ihm die jüngsten Ereignisse einmal persönlich schildern. Er legt auf Ihre wörtliche Darlegung großen Wert.«

»Aber ich habe doch alles, was ich überhaupt weiß, ganz ausführlich berichtet. Haben Sie Mr. Lam nicht genau informiert?«

»Natürlich. Aber nicht über alle Einzelheiten«, sagte Bertha. »Er möchte es eben aus Ihrem Munde hören, vielleicht am besten bei einer Tasse Tee - nicht wahr, mein Lieber?«

»Gut, fangen wir an«, sagte ich.

Carlotta seufite: »Nur handelt es sich in meinem Fall nicht um eine Teetasse, sondern eine Mokkatasse. Irgend jemand will aus mir einen Sündenbock machen.«

»Ja, es sieht ganz danach aus«, sekundierte Bertha.

»Und das trifft mich natürlich hart.«

»Das kann ich mir gut vorstellen, meine Liebe. Erzählen Sie Mr. Lam jetzt von der Teetasse.«

»Von der Mokkatasse«, berichtigte Miss Hanford Bertha. »Dieser ekelhafte, überall herumschnüffelnde, spöttische Inspektor Sellers! «

»Ich verstehe Ihre Gefühlsausbrüche durchaus«, sagte Bertha begütigend.

»Er hat so lange die Ballwinsche Wohnung durchstöbert, bis er die Mokkatasse fand, an der spärliche Reste von Anchovispaste mit Arsenik klebten. Zu allem Überfluß entdeckte er dann auch noch den kleinen Löffel dazu.«

»Wissen Sie, wo er diese Beweisstücke gefunden hat?« fragte ich interessiert.

»Die Mokkatasse stand in der Anrichte hinter ein paar Schüsseln, die ganz selten benutzt werden. Irgend jemand muß die Tasse dahintergestellt haben, um sie aus dem Blickfeld zu räumen. Jemand, der sie schnell verbergen wollte und der Eile wegen keinen sicheren Platz fand.«

»Und weiter?« fragte ich.

»Diese Mokkatasse ist vor der Auffindung durch Inspektor Sel-

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lers von mir benutzt worden. Es sind auch meine Fingerabdrücke daran.«

»O je, o je«, stöhnte ich.

»Ich habe sie tatsächlich benutzt«, fuhr sie fort. »Am Vortage des Geschehens bin ich nach dem Abendessen in mein Zimmer gegangen und habe die Mokkatasse mit hinaufgenommen. Sie müssen wissen, daß ich nach dem Essen gern noch einen Mokka trinke, allerdings mit sehr viel Zucker. Genießerisch schlürfe ich ihn dann schluckweise.«

»Und der Löffel«, fragte ich, »wo wurde der gefunden?«

»Im Schubfach des Schreibtisches, der in meinem Schlafzimmer steht.«

»Waren noch andere Fingerabdrücke auf der Mokkatasse?«

»Das kann ich nicht sagen. Darüber hat Inspektor Sellers nichts verlauten lassen. Er zeigte mir nur Fotos mit meinen Fingerabdrücken, die man auf der Tasse gefunden hatte.«

»Handelte es sich um Vergrößerungen?«

»Soviel ich sehen konnte, ja.«

»Hat er die Fingerabdrücke, die auf den Fotos zu sehen waren, mit Ihren eigenen in Ihrer Gegenwart verglichen, um Ihnen zu demonstrieren, daß er Sie nicht etwa bluffte?«

»Ja, das tat er.«

»Und wie reagierten Sie darauf?«

»Zunächst beteuerte ich ihm, daß mir das Ganze einfach unerklärlich sei. Aber dann fiel mir ein, daß ich die Mokkatasse nach dem Gebrauch in meinem Zimmer gelassen hatte. Jemand konnte sie sich von dort geholt haben.«

»Haben Sie diese Ihre Vermutung auch Inspektor Sellers mitgeteilt?«

»Aber ja.«

»Sie haben sich doch nicht etwa nur so eine Geschichte ausgedacht, die sich gut ins Gesamtbild fügt?«

»Bestimmt nicht, ich sage die Wahrheit.«

»Ist es auch die ganze Wahrheit?«

»Ganz bestimmt.«

»Sie haben nichts ausgelassen und nichts hinzugefügt?«

»Nein.«

»Nun«, sagte ich, »wenn Ihre Schilderung tatsächlich der Wahrheit entspricht, dann haben Sie den Beweis hierfür selbst in der Hand.«

»Wie meinen Sie das?«

»Es existiert nämlich ein Beweisstück, das die Wahrheit Ihrer Darstellung unumstößlich bestätigen kann.«

»Und das wäre?« fragte sie hoffnungsvoll.

Bertha warf in zärtlichem Ton dazwischen: »Ich hab’ Ihnen ja gleich gesagt, daß er mehr als fünf Sinne hat.«

Ich sagte: »Die Reste der Anchovispaste in der Mokkatasse enthalten auch Arsenik, weil der Mörder oder die Mörderin das Gift in dieser Tasse unter die Anchovispaste mischte.«

»Genauso dürfte es gewesen sein«, sagte sie.

»Wenn Inspektor Sellers indessen auch noch den Löffel untersuchen läßt, dann wird sich ergeben, daß keine Spur von Anchovispaste oder gar Gift daran zu finden ist. Und das wird den Verdacht gegen Sie entkräften. Die Tasse wurde benutzt, um Gift und Anchovispaste zu vermengen. Hätten Sie diese Vorarbeit verrichtet, so würden Sie zweifellos den Löffel dazu benutzt haben, und zwar den gleichen, der sich bereits im Schreibtisch Ihres Zimmers befand.

Niemand, der fälschlicherweise einen Verdacht auf Sie lenken wollte, würde auch an den Löffel gedacht haben. Die Tasse mit Ihren Fingerabdrücken... Nun gut, das paßt noch in den Plan. Aber den benutzten Löffel hat man sicher anderswo hergenommen, jedenfalls nicht aus Ihrem Schreibtisch, das steht für mich fest.«

»Das, und nur das ist der springende Punkt, Donald«, sagte Bertha überschwenglich.

Carlotta Hanford aber blieb stumm.

»Nun?« fragte ich sie.

Sie veränderte nur ein klein wenig die Stellung ihrer Beine.

»Was meinen Sie dazu?« fragte ich nach einer Pause.

Sie sagte: »Wer mir auch immer diesen Streich gespielt haben mag - um einen Dummkopf handelt es sich jedenfalls nicht.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil sich an dem Löffel gleichfalls Spuren von vergifteter Anchovispaste befanden, als Inspektor Sellers ihn entdeckte.«

»Da hört doch nun aber alles auf!« murmelte Bertha mit einem drohenden Unterton.

Ich sagte: »Wirklich schade, daß Sie sich nichts Besseres einfallen ließen und Sellers diese Geschichte erzählten.«

»Was fällt Ihnen ein!« fuhr Miss Hanford mich scharf an.

Bertha sagte: »Denk nach, Donald. Bitte, streng dich an. Irgendwie müssen wir ihr aus der Misere heraushelfen.«

Zu Bertha gewandt, erwiderte ich: »Die Lizenz, die wir besitzen, gestattet uns lediglich, eine Detektei zu betreiben.«

»Was willst du damit sagen?«

»Wenn du schweigender Mitwisser an einem Verbrechen werden willst... «

Bertha starrte mich entsetzt an.

»Ich finde Sie, gelinde gesagt, abscheulich«, sprudelte Carlotta hervor.

Bertha sagte: »Aber Donald, früher warst du doch auch nicht so pingelig.«

»Ich habe Ihnen die absolute Wahrheit gesagt«, beharrte Carlotta.

Und Bertha redete weiter auf mich ein: »Schau, Donald. Wie auch die Dinge sich nun einmal entwickelt haben, wir können Miss Hanford doch jetzt nicht so hilflos wie eine Nußschale auf dem Ozean treiben lassen. Inspektor Sellers würde... Nun, er würde sehr, sehr unangenehm werden.«

»Ja, wie Sellers die Sache ansehen wird, kann ich mir lebhaft vorstellen«, sagte ich.

»Dann unternimm doch etwas!« fuhr Bertha mich an.

»Was wäre denn deiner Meinung nach zu tun?«

»Erstens müssen wir dafür sorgen, daß Miss Hanford sofort verschwindet, bis... Bis wir den tatsächlichen Sachverhalt aufgeklärt haben.«

Ich erwiderte: »Die Tatsachen liegen doch sonnenklar auf der Hand - es kann jetzt nur Miss Hanfords Sache sein, dort aufklärend zu wirken, wo es in ihrem Interesse notwendig ist.«

»Das habe ich doch schon getan«, sagte Carlotta.

»Bei Bertha mögen Sie wohl Eindruck mit Ihrer Darstellung hinterlassen haben, aber mich konnten Sie damit nicht überzeugen, und die Polizei, nun, die nimmt Ihnen eine solche Geschichte auch nicht ab.«

»Ich sagte Ihnen doch, daß man einen falschen Verdacht auf mich lenken will.«

Bertha sagte zu mir: »Bring sie doch irgendwo hin, wo sie in Sicherheit ist, bis wir hinter die Kulissen gesehen haben, und keine Gefahr mehr für sie besteht.«

»Wo soll ich sie denn verstecken?«

»Woher soll ich das wissen? Bring sie... Bring sie doch einfach in deine Wohnung.«

»Nein«, sagte ich kurz angebunden.

»Ich wüßte nicht, warum das nicht gehen sollte«, drängte Bertha weiter auf mich ein. »Du hast doch eine hübsche, kleine Wohnung ohne Portier, da sieht doch niemand, wer ein- und ausgeht.«

»Ich möchte den guten Ruf von Miss Hanford nicht gefährden«, sagte ich.

»Pah«, ließ Carlotta sich vernehmen.

»Also bitte, mein Lieber«, bat Bertha.

»Warum nimmst du sie nicht in deinem Haus auf?«

»In meiner Wohnung?« knurrte Bertha. »Was denkst du dir eigentlich dabei? Die Kleine ist doch ein verdammt heißes Eisen. Würde Sellers sie bei mir entdecken, dann... «

»Und was würde er wohl sagen, beziehungsweise tun, wenn er sie in meiner Wohnung versteckt findet?«

»Nichts würde dann passieren. Erstens kommt er nie auf die Idee, sie bei dir zu suchen, und zweitens könntest du dich dann immer noch irgendwie herausreden.«

Miss Hanford sagte: »Wenn Sie mich nicht vertreten wollen, dann geben Sie mir bitte mein Geld zurück. Ich werde schon eine andere Agentur finden... «

Wieder schaltete sich Bertha eifrig ein: »Natürlich wollen und werden wir Sie vertreten, Miss Hanford. Donald wird Sie in seine Wohnung bringen, aber Sie müssen auch begreifen, welch großes Risiko er damit auf sich nimmt. Es ist möglich, daß Sie längere Zeit bei ihm bleiben müssen.«

»Ich habe nichts mehr dazu zu sagen«, ließ Carlotta Hanford vernehmen. »Ich sitze nun einmal mitten in dem Schlamassel drin und möchte so schnell wie möglich wieder heraus. Nur aus diesem Grunde bin ich zu Ihnen gekommen und habe Sie so gut bezahlt.«

Bertha sah mich an und nickte: »Also ab in deine Wohnung mit ihr, mein Lieber«, sagte sie. »Los, los, wir haben nicht mehr viel Zeit zu verlieren.«

In völliger Ruhe sagte ich: »Laß mir noch ein paar Sekunden Zeit zum Überlegen, Bertha.«

»Wenn du sie erst bei dir untergebracht hast, kannst du brüten, soviel du willst. Jetzt ist nicht die rechte Zeit zum Nachdenken. Wenn du hier noch lange grübelnderweise herumsitzt, wird Sellers plötzlich die Tür aufmachen, und dann gehen wir alle baden.«

Ich erhob mich und forderte Carlotta auf: »Kommen Sie.«

Mit einer flinken, geschmeidigen Bewegung stand sie auf.

»Schönen Dank«, sagte sie zu Bertha.

»Nur Mut«, impfte Bertha ihr ein. »Wir werden schon auf Sie achtgeben.«

Elsie Brand sah mich mitleidvoll an, als ich an ihr vorbeiging, die Tür öffnete und zur Seite trat, um Carlotta zuerst durchzulassen.

Mit kurzen, doch recht schnellen Schritten trabte sie vor mir her. einem Rennpferd gleich, das auf- und davongaloppieren möchte, aber von seinem Reiter noch zurückgehalten wird.

Wir fuhren im Fahrstuhl hinunter, und ich führte sie über die Straße zu dem Parkplatz, auf dem der Wagen unserer Agentur stand.

»Wie weit ist es zu Ihrer Wohnung?« fragte sie.

»Wir fahren nicht zu meiner Wohnung.«

»Wie bitte, hörte ich richtig?«

Ich sagte: »Seien Sie nicht so kindisch. Bertha Cool ist an und für sich ein famoser Kerl, aber in der Beurteilung dieser Sache liegt sie schief. Es ist mir zu gefährlich, und ich möchte nicht ihrer Diskretion ausgesetzt sein.«

»Wie meinen Sie das?«

»Angenommen, Bertha entschlüpft aus reinem Versehen ein unüberlegtes Wort, und die Polizei würde erfahren, wo Sie stecken?«

»So indiskret wird Mrs. Cool doch nicht sein, nicht wahr?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Warum bringen Sie mich dann nicht doch in Ihre Wohnung?«

»Das Risiko kann ich mir einfach nicht leisten. Ich nehme zwar nicht an, daß Bertha die Katze aus dem Sack läßt, aber falls es ihr dennoch passieren sollte, so würde ich mir meinen Leichtsinn niemals verzeihen. Und Sie könnten mir mit vollem Recht deswegen Vorwürfe machen.«

»Wohin fahren wir nun?«

»In ein Hotel.«

»Muß das sein?«

»Aus mehreren Gründen«, sagte ich. »Einmal möchte ich verhindern, daß Sie sich unter einem falschen Namen eintragen müssen. Das könnte, falls es zu einer Anklage gegen Sie kommen sollte, unter anderem auch als ein Eingeständnis Ihrer Schuld ausgelegt werden.«

»Man sammelt doch schon Beweismaterial gegen mich.«

»Gerade deswegen können Sie es sich nicht leisten, einfach zu fliehen oder gar illegal zu leben. Das würde Sie schwer belasten, nachdem man Sie dann doch irgendwo aufgegriffen hat.«

»Was haben Sie also mit mir vor?«

»Ich werde Sie in einem Hotel absetzen und mich so aufspielen, als gehörten noch mehrere Personen zu unserer Gesellschaft. Ich werde mich unter meinem richtigen Namen als >Donald Lam und Freunde< eintragen und auch die genaue Nummer meines Autos angeben. Sollten wir entdeckt werden, so werde ich erklären, daß ich nur meinen Plan verwirklichen wollte, der vorsieht, alle Zeugen zusammenzuziehen, um die einzelnen Darstellungen zum Fall Ballwin besser miteinander vergleichen beziehungsweise den Wahrheitsgehalt der Aussagen abwägen zu können. Diesen Ort wählte ich, damit wir ungestört in der Sache vorankommen. Sie habe ich als erste Zeugin dahin gebracht und mich sofort wieder auf den Weg gemacht, um weitere Zeugen herbeizuholen. Bertha und ich hatten die Absicht, mit der Befragung aller Zeugen am späten Nachmittag zu beginnen.«

Miss Hanford dachte darüber nach und sagte dann: »Sie scheinen doch einen sechsten Sinn zu haben. Die Idee ist ausgezeichnet.«

»Sie sind also damit einverstanden?«

»Ja, so dürfte es glatt vonstatten gehen.«

Ich gab Gas. Als sie die Nähte ihrer Strümpfe geradezog, sagte ich zu ihr: » Sellers hat genügend Beweise in der Hand, um Sie zu verhaften. Die Tatsache, daß er Sie doch noch frei herumlaufen läßt, deutet darauf hin, daß er eine Falle aufgestellt hat. Wir haben alle Veranlassung, vorsichtig zu sein.«

»Disponieren Sie so, wie Sie es für richtig halten, Donald.«

Ich nickte nur und fuhr gedankenversunken weiter.

»Was ist heute nur mit Ihnen los?« fragte sie nach einer längeren Pause. »Beim letzten Male haben Sie sich immerhin noch etwas für mich - außerhalb des Falles - interessiert... Warum auf einmal so zugeknöpft.«

»Ich habe elende Kopfschmerzen.«

»Oh, das tut mir aber leid.«

Ich wandte meinen Blick von der Fahrbahn ab und sah zu ihr hinüber.

Sie lächelte mich verständnisvoll an. »Die Ausrede habe auch ich schon oft angewandt.« '

Ich erwiderte ihr: »Bei mir handelt es sich um traumatische Kopfschmerzen.«

»Was sind denn das für welche?«

»Das sind Kopfschmerzen, die durch Gewaltanwendung hervorgerufen werden.«

»Heißt das, daß man auf Sie eingeschlagen hat?«

»Ja, und zwar genau auf den Hinterkopf.«

»Wann war denn das?«

»Vor ein paar Stunden.«

»Und warum hat man Sie geschlagen?«

»Ich glaube, meine Anwesenheit war nicht erwünscht.«

Nun hüllte sie sich in Schweigen. Ich fuhr über eine Brücke, die uns von den Außenbezirken der Stadt trennte. Kurz danach hielt ich vor einem größeren Hotel.

»Haben Sie separat gelegene Zimmer für sechs Personen frei?« fragte ich den Portier.

»Gewiß, mein Herr, für achtzehn Dollar pro Nacht.«

»Sind es auch tadellose Zimmer, die Sie anzubieten haben?«

»Aber ja, mein Herr... «

»Gut, ich nehme sie.«

Ich trug mich als >Donald Lam und Freunde< ein. Der Mann warf einen Blick auf meine Wagenpapiere und schrieb sich die Nummer ab.

»Und wo sind die anderen Herrschaften?« fragte er.

»Sie werden erst später kommen.«

»Es sind drei Schlafzimmer mit Doppelbetten«, sagte der Portier.

»Das geht so in Ordnung«, erwiderte ich ihm.

»Ich werde Ihnen zeigen, wo die Räume liegen.«

Er nahm den Schlüssel und führte uns zu einem separat gelegenen einstöckigen Gebäude, das zu dem Hotel gehörte. Es war ein nettes Häuschen mit zwei gekachelten Duschräumen, einem Wohnzimmer und drei Schlafzimmern.

»Ist es so recht?« fragte er.

»Genau das haben wir gesucht«, sagte ich.

Dann ließ er uns allein. Carlotta kam zu mir herüber und blieb neben mir stehen.

Ich sagte: »Das wär’s zunächst. Machen Sie es sich gemütlich, hier müssen Sie nun abwarten. Und nun versprechen Sie mir bitte, daß Sie nicht ausrücken werden.«

»Das verspreche ich Ihnen. Was wollen Sie jetzt unternehmen?«

»Ich fahre zunächst ins Büro zurück.«

»Sie geplagtes Wesen! Wollen Sie sich nicht erst ein wenig ausruhen?«

»Arbeit hat immer den Vorrang bei mir.«

Mit sanfter Hand strich sie mir über den Hinterkopf. »Hat es weh getan?«

»Die Stelle ist noch sehr empfindlich, außerdem schmerzt es die Wirbelsäule entlang. Ich muß einen ganz schönen Denkzettel abbekommen haben.«

»Das ist ja entsetzlich!« sagte sie. »Vielleicht wird es besser, wenn Sie heute abend wieder herkommen. Ich finde Sie jedenfalls charmanter so, wie Sie vorher waren.«

»Das haben Sie sich aber gestern abend kaum anmerken lassen.«

Sie lächelte. »So sind wir Frauen nun mal.«

»Und ob!« Damit wandte ich mich zur Tür.

»Wann werden Sie voraussichtlich zurückkommen?«

»Das kann ich noch nicht genau sagen. In der kleinen Küche dort kann man auch kochen. Ich werde etwas mitbringen, damit Sie auch hier zu kulinarischen Genüssen kommen. Aber nochmals bitte ich Sie: Verlassen Sie unter gar keinen Umständen das Haus. Vor allem schließen Sie die Tür ab. Sollte es klopfen, dann gehen Sie ruhig zur Tür. Sie können ja dann sagen, daß Sie gerade ein Bad genommen haben und nicht in der Lage seien, einen Besucher zu empfangen.«

Als ich die Tür öffnen wollte, stellte sie sich mir in den Weg.

»Donald, wie soll ich Ihnen nur danken für all Ihre Hilfe?«

»Das ist im Honorar einbegriffen.«

»Sie sind wirklich gut zu mir gewesen. Ich werde das niemals vergessen. Sie sind sehr lieb und scharfsinnig zugleich. Sie haben sofort erkannt, daß ich bei meiner Darstellung noch etwas dazu erfinden mußte. Das konnte ich wohl Bertha Cool vorsetzen, aber Sie nahmen mir das nicht ab. Stimmt’s, Donald?«

»Ich habe jetzt keine Zeit, nach Komplimenten zu fischen«, sagte ich. »Inspektor Sellers ist der Mann, den Sie, sagen wir mal - zum besten halten müssen.« Damit verabschiedete ich mich von ihr und verließ das Haus.