5
Als ich in unserem Büro ankam, war Bertha gerade dabei, die Post zu unterschreiben.
»Hallo, Donald, Liebling«, sagte sie. »Du hast doch gearbeitet, nicht wahr?«
»Was dachtest du?«
»In welcher Sache bist du eigentlich unterwegs gewesen, mein Liebling?«
»In der Ballwin-Angelegenheit.«
»Und was hast du herausgefunden?«
»Daß unsere Klientin nicht Beatrice Ballwin ist. Sie heißt Carlotta Hanford und ist die Sekretärin von Mrs. Ballwin.«
»Und warum hat sie uns belogen?«
»Dafür gibt es ein halbes Dutzend Gründe.«
»Gut, sag mir einen.«
»Sie kann ihre Brötchengeberin nicht ausstehen.«
»Wer könnte das je?« fragte Bertha gereizt. »Schau dir meine Sekretärin an. Du meine Güte. Ich zahle ihr doppelt so viel, wie ihre Arbeit wert ist, und trotzdem würde ich sogar hohe -Wetten darauf abschließen, daß sie mich verabscheut.«
Ich sagte gar nichts.
»Was hat dieses Mädchen, das seine Chefin haßt, überhaupt mit der ganzen Sache zu tun?«
»Vielleicht hat Gerald Ballwin selbst Angst, vergiftet zu werden. Er kann die Sekretärin seiner Frau veranlaßt haben, uns zu engagieren, damit wir ihn schützen.«
»Ja, so wird es vermutlich sein«, sagte Bertha, »obwohl ich nicht verstehe, warum er nicht selbst gekommen ist.«
»Sicher ist er ein tüchtiger Geschäftsmann.«
»Was willst du damit sagen?«
»Er ist offenbar ganz gut gepolstert. Er hat Geld wie Heu im Grundstückshandel verdient.«
»Na, und?«
»Vielleicht würden wir von ihm ein etwas höheres Honorar... «
Bertha begriff sofort. »Da brat mir doch einer ’n Storch!« rief sie aus, und ihre kleinen, feurigen Augen funkelten vor Habgier. »Dieser Himmelhund. Meinst du, er hat... «
»Es ist nur eine Mutmaßung von mir.«
»Leuchtet mir ein. Weiter, andere Gründe!«
»Vielleicht will ein anderer Mr. Ballwin vergiften und möchte den Verdacht auf Ballwins Frau lenken. Dadurch, daß der Betreffende uns engagiert hat, ist ein zweifacher Verdacht auf Daphne gerichtet. Sollte wirklich etwas passieren, dann wird die Polizei erfahren, daß wir in der Sache tätig gewesen sind. Man wird uns ausfragen und von uns hören, daß wir beauftragt waren, Gerald vor seiner Frau zu beschützen. Und sofort wird man ihr die Schuld in die Schuhe schieben.«
Bertha sagte: »Das würde bedeuten, daß das Geld, das der Betreffende bei uns angelegt hat, sich erst bezahlt macht, wenn Gerald Ballwin vergiftet worden ist.«
»Das wollte ich damit gesagt haben.«
Bertha schaukelte in ihrem Drehstuhl hin und her. Dann fuhr sie wie von der Tarantel gestochen hoch.
»Donald, Liebling, weißt du was?«
»Na, was denn?«
»Aus beiden Mutmaßungen folgere ich, daß dieses Mädchen, das hier im Büro aufkreuzte... Du sagst, sie heißt Carlotta Hanford...?«
Ich nickte.
»... daß dieses Küken uns an der Nase herumführt. Das Geld gehört ihr gar nicht, das hat ihr irgend jemand gegeben.«
»Alle meine Vermutungen haben diese Annahme zur Voraussetzung.«
»Wieso?«
»Weil auch ich mir nicht denken kann, daß es ihr eigenes Geld ist. Die Summe war zu hoch. Stell dir mal vor, du arbeitest bei irgendeiner Frau für hundertundfünfzig oder zweihundert Dollar im Monat, und du gewinnst die Überzeugung, daß sie vorhat, ihren Mann zu vergiften. Was würdest du dann tun?«
»Wahrscheinlich gar nichts«, sagte Bertha. »Wenn die Sache passiert wäre, hätte ich es vielleicht der Polizei gemeldet. Oder vielleicht hätte ich vor Wut gekündigt und dem Mann alles erzählt.«
»Richtig, aber du wärest niemals zu einer Privatdetektei gegangen und hättest zweihundertfünfzig Dollar von deinen Ersparnissen geopfert, nur um den Mann deiner Chefin beschützen zu lassen.«
»Wenn ich nicht in ihn verliebt wäre.«
»Wenn du in ihn verliebt wärest, dann würdest du nicht zu einer Detektei gehen, sondern zu ihm. Außerdem behauptet Carlotta, '»daß Ballwin mit seiner Sekretärin Ethel Worley ein Verhältnis hat.«
»Da brat mir doch einer ’n Storch«, wiederholte Bertha.
»Willst du wissen, was ich gemacht habe?« fragte ich sie.
»Zum Teufel, nein«, sagte Bertha. »Die Recherchen sind deine Angelegenheit, ich sorge für die Finanzen. Gerade jetzt denkt Bertha darüber nach, wie sie die kleine Heuchlerin mit den beiden Namen dazu bringen kann, mehr Geld auszuspucken.«
»Das wird nicht so ganz einfach sein«, sagte ich. »Wirklich nicht. Du hast doch schon eine finanzielle Abmachung mit ihr getroffen.«
»Einfach?« fuhr Bertha mich an. »Was verstehst du schon von Geldangelegenheiten? Du wirfst mit dem Geld um dich wie ein nasser Hund, der sich schüttelt und dabei die Möbel bespritzt. Du würdest noch nicht einmal Saft aus einer Wassermelone drücken können. Ich dagegen habe mein Leben darauf verwandt, Blut aus Zuckerrüben zu pressen. Mach, daß du hier herauskommst, und laß Bertha nachdenken.«
Ich ging in mein Büro hinüber und wartete auf den Bericht über Daphne Ballwin. Der Detektiv, der sie beobachtete, rief erst um fünf Uhr an. Er glaubte etwas Interessantes festgestellt zu haben Und fragte, ob er mir seine Beobachtungen telefonisch durchgeben sollte.
Ich sagte ihm, er solle zu uns kommen.
Er versprach, in zehn Minuten bei uns zu sein.
Ich schob ihm einen Stuhl hin und stellte fest, daß er sehr mit sich zufrieden war.
»Nun«, fragte ich, »was hat sie angestellt?«
»Der Chauffeur hielt vor dem Pawkette Building. Sie stieg aus und ging hinein. Ich konnte noch den gleichen Fahrstuhl wie sie erwischen. Ihre Gedanken schienen so stark auf irgendeine Sache konzentriert zu sein, daß alles andere bei ihr in den Hintergrund geriet. Wenn man sie nur ansah, konnte man merken, daß ihr Vorhaben wichtiger Natur war und sie möglichst schnell an ihr Ziel kommen wollte.«
»Sie glauben nicht, daß sie nur geblufft hat? Vielleicht hat sie Ihre Aufgabe erkannt und hat darum versucht... «
Er winkte entschieden ab. »Das ist mir auch schon passiert«, sagte er, »aber es gelingt ihnen nie, mich abzuschütteln. Früher oder später werfen sie dann doch einen schnellen Seitenblick auf einen. Oder sie bleiben plötzlich stehen, um sich zu vergewissern, ob man ihnen noch auf den Fersen bleibt. Die meisten Menschen sind solchen Situationen nicht gewachsen.«
»Vielleicht war sie es aber doch.«
»Gut«, sagte er zweifelnd, »vielleicht - aber überzeugt bin ich davon nicht.«
»Weiter, was tat sie dann?«
»Sie ging zu ihrem Zahnarzt.«
»Zu ihrem Zahnarzt?«
Er nickte.
»Wer ist das?«
»Doktor George L. Quay.«
»Seine Adresse?«
»Pawkette Building sechshundertfünfundneunzig.«
»Gut, weiter.«
»Da ich auch einen Zahn habe, der behandelt werden muß, dachte ich mir, ich könnte einmal hineingehen und mir den Zahnarzt an-sehen.«
»Das war gefährlich.«
»Da haben Sie recht, aber die Frau war völlig von ihrem Vorhaben in Anspruch genommen. Sie wirkte wie eine Schlafwandlerin.«
»Weiter«, sagte ich zweifelnd.
»Sie ging also in Doktor Quays Praxis, und ich folgte ihr. Sobald
die Sprechstundenhilfe sie sah, bemerkte ich eine Feindseligkeit zwischen den beiden Frauen. Mrs. Ballwin setzte sich gar nicht erst hin, sondern blieb herausfordernd stehen und nickte der Sprechstundenhilfe zu. Nun saß da noch ein anderer Patient im Wartezimmer, der ziemlich ungeduldig war und zu der Assistentin sagte: »Wollen Sie etwa die Dame vor mir ’reinlassen?< Die Assistentin lächelte und sagte: »Diese Dame befindet sich in einer sehr komplizierten Spezialbehandlung.< Da ging der Patient hoch und sagte, er sei für diese Zeit bestellt worden, und nun seien schon zwei Leute vor ihm behandelt worden. Die Assistentin forderte in ihrer Not Mrs. Ballwin auf, sie möge doch Platz Platz nehmen, aber das wollte sie durchaus nicht. Sie trug der Assistentin auf, Doktor Quay zu bestellen, daß sie da sei. Ihr Benehmen war so, daß man annehmen mußte, ihr gehöre die ganze Praxis. Die Assistentin ging hinein, dann hörte man aus dem Arztzimmer einen Wortwechsel. Als sie wieder herauskam, forderte sie Mrs. Ballwin auf, hineinzugehen. Dabei waren ihre Lippen aufeinandergepreßt, und ihre Augen sprühten Funken.«
»Und was geschah mit dem anderen Patienten?«
»Er stand auf und ging weg.«
»Wie lange war Mrs. Ballwin bei ihm?«
»Ungefähr zehn Minuten.«
»Kam ein anderer Patient ’raus, als Mrs. Ballwin ins Behandlungszimmer ging?«
»Wieso das?«
»Na, er muß doch jemanden in seinem Stuhl gehabt haben. Was geschah mit dem Patienten, den er gerade behandelte?«
»Das weiß ich nicht. Ich nehme aber an, daß Doktor Quay mit Mrs. Ballwin ins Laboratorium ging. Ich habe nicht länger gewartet.«
»Sondern... was taten Sie?«
»Während sie bei ihm drin war, bin ich wieder nach unten gegangen, habe den Motor laufen lassen und gewartet. Als sie dann ankam, bin ich ihr nachgefahren.«
»Und weiter?«
»Dann ging sie einkaufen. Nach einer Weile verlor ich sie aus den Augen. Vor einem Geschäft hatte sie den Chauffeur weggeschickt und ihm wohl gesagt, wann er sie abholen sollte. Ich wollte mich an den Chauffeur und das Auto hängen und ihre Spur wieder aufnehmen, wenn er sie abholte. Schließlich fand er einen Parkplatz, aber für mich war keiner mehr da. Ich fuhr also immer um den Häuserblock, und als ich das dritte Mal wieder vorbeikam, waren Chauffeur und Wagen verschwunden. Ich kurvte eine Weile in der Gegend umher, aber ich spürte ihn nicht wieder auf. Darum fuhr ich zu ihrer Wohnung in der Atwell Avenue zurück. Ungefähr zehn Minuten, nachdem ich mich dort postiert hatte, kam sie dort an. Sie brachte einen Haufen Pakete mit, die der Chauffeur ins Haus trug. Er machte auf mich einen schlechtgelaunten Eindrude. Dann wartete ich, bis um fünf meine Ablösung kam und rief Sie hier an. Ich dachte, die Sache mit dem Zahnarzt würde Sie interessieren.«
»Wie heißt Doktor Quays Sprechstundenhilfe?«
»Mrs. Ballwin nannte sie Ruth.«
»Beschreiben Sie mir die Dame etwas näher.«
»Sie ist rothaarig, ungefähr siebenundzwanzig und eine adrette Erscheinung. Sie hat ein paar Sommersprossen, man hat den Eindruck, daß sie sowohl ein Kätzchen als auch ein Teufelsbraten sein kann - je nachdem, wie man sie nimmt.«
»Wie groß ist sie?«
»Normalgröße und mittleres Gewicht. Weiße Strümpfe und weiße Schuhe. Ein verdammt hübsches Persönchen, wie mir schien.«
»Geht ihre Nasenspitze nach unten oder nach oben?«
»Gerade Nase.«
Ich sah auf meine Uhr und sagte: »Vielleicht habe ich Glück.« Ich schlug die Nummer von Dr. Quays Praxis nach und wählte sie.
Zunächst sah es so aus, als würde niemand antworten; aber dann sagte eine weibliche Stimme: »Hier Praxis Doktor Quay.«
Ich sagte: »Sie kennen mich nicht, denn ich war noch nicht bei Ihnen, aber ich möchte gern eine Verabredung für eine Behandlung treffen.«
»Da müssen Sie morgen noch einmal anrufen, Doktor Quay ist schon nach Hause gegangen.«
»Sind Sie seine Assistentin?«
»Ja.«
»Können Sie mir dann nicht einen Termin nennen?«
»Ich muß erst mit Doktor Quay darüber sprechen.«
»Hören Sie bitte, wie lange sind Sie noch da?«
»Noch höchstens zehn Minuten«, sagte sie abweisend. »Und es würde auch nichts ändern, wenn Sie mit mir sprechen. Ich bin nicht befugt, Behandlungstermine für Doktor Quay festzulegen.«
»Kommt Doktor Quay heute abend noch mal zurück?«
»Bestimmt nicht. Bitte rufen Sie morgen noch einmal an. Guten Abend!«
Sie hängte ein.
Ich sah unseren Detektiv an und sagte: »Sie wollte noch zehn Minuten dableiben. Es ist schon nach halb sechs. Der Doktor kommt heute abend nicht mehr wieder. Sie kann keine Verabredung für ihn treffen. Halten Sie es für möglich, daß sie gekündigt hat und jetzt ihre Siebensachen zusammensucht?«
»Vielleicht hat er sie auch ’rausgeschmissen«, sagte der Detektiv.
»Okay«, sagte ich. »Bleiben Sie Mrs. Ballwin auf den Fersen, bis ich Ihnen Bescheid gebe, damit aufzuhören. Geben Sie Ihre Berichte durch, wann immer Sie Gelegenheit dazu haben. Sollte ich nicht hier sein und es handelt sich um etwas äußerst Wichtiges, dann diktieren Sie es meiner Sekretärin. Auf jeden Fall erstatten Sie mir allabendlich Bericht.«
Er ging hinaus, und ich folgte ihm. Mit dem Geschäftsauto fuhr ich zum Pawkette Building. Ich parkte gegenüber dem Eingang und verließ mich auf mein Glück.
Zu dieser Stunde war kaum noch Betrieb. Nur ein paar Geschäftsleute, die länger gearbeitet hatten, verließen nach und nach das Gebäude.
Ich blieb am Steuer sitzen, ließ den Motor weiterlaufen und behielt den Hauseingang im Auge. Ein Mädchen mit einem größeren Paket würde das Angebot, nach Hause gefahren zu werden, vielleicht auch von einem Fremden annehmen, wenn er sich in etwas origineller Form näherte, so spekulierte ich. Die Chancen standen natürlich zehn zu eins gegen meine Annahme, aber mein Einsatz bestand auch nur aus zehn Minuten Zeitverlust und einem viertel Liter Benzin. —
Das Glück war mir hold, denn bald erschien sie auf der Bildfläche - ein gepflegtes rothaariges Mädchen, das ein in Zeitungspapier eingewickeltes Paket und eine Tasche trug, die so vollgestopft war, daß sie zu platzen drohte.
Ich machte die Wagentür auf und schätzte den Abstand: jetzt ein schneller Spurt, sie im vollen Lauf mit der Schulter streifen, das Paket fällt hin, und sein Inhalt liegt auf dem Fußweg breit verstreut, lebhaftes Bedauern, ihr beim Einsammeln helfen, dann ihr anbieten, sie nach Hause zu fahren - das müßte doch eigentlich klappen!
Ich sah sie mir noch einmal genau an und kam zu dem Ergebnis, daß es nicht hinhauen würde.
Die Art, wie sie ging, brachte mich auf den Gedanken, daß sie nicht zur Straßenbahn wollte. Das Paket war zu groß und unförmig, die Art, wie sie es trug, die Art, wie sie ging, brachten meinen ersten Plan schnell zu Fall.
Ich rührte mich nicht von der Stelle.
Sie ging zu dem Parkplatz in der Nähe des Gebäudes.
Ich ließ es darauf ankommen und fuhr um den Häuserblock. Als ich dann die Stelle erreichte, von der aus ich die Ausfahrt vom Parkplatz gut übersehen konnte, drosselte ich den Motor ab und fuhr ganz langsam weiter.
Sie kam in einem Auto herausgefahren und schlug die Richtung nach Westen ein. Das war mein Glück, denn so konnte ich mich, ohne aufzufallen, im Kielwasser halten.
Ich folgte ihrem Wagen zu einer der Ausfallstraßen. Der Verkehr war ziemlich stark, aber dann bot mir ein großer Autobus die Gelegenheit zur Ausführung meines Planes. Ich wußte, daß der Bus gleich nach links biegen würde. Das Mädchen fuhr auf der mittleren Fahrspur, links neben dem Omnibus, und bemerkte zu spät, daß er nach links abbog, hupte entrüstet und schwenkte gleichfalls nach links. Ich schoß ganz links an ihr vorbei, so daß sie meinen Wagen bei ihrem Ausweichmanöver streifen mußte.
Da hörte ich ein Krachen, spürte einen heftigen Stoß und vernahm das Reißen von Blech, so als würde einer der Kotflügel losgerissen.
Ein paar Fahrgäste des an uns vorüberfahrenden Autobusses drückten ihre Nasen gegen die Rückfenster. Sonst nahm niemand von uns Notiz.
Ich gab dem Mädchen ein Zeichen, an den Straßenrand zu fahren, und fuhr vor ihren Wagen. Dabei konnte ich hören, wie der rechte Kotflügel am Hinterreifen kratzte. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte mir, daß das linke Vorderrad ihres Wagens schlingerte. Die Fahrzeuge hinter uns hupten laut vernehmbar, fuhren aber weiter. Mindestens ein Dutzend Zeugen mußten den Zusammenstoß gesehen haben, doch alle machten sich mit einer Geschwindigkeit aus dem Staube, als gelte es, ein Rennen zu gewinnen.
Nun stieg ich aus und ging zu dem Wagen des Mädchens zurück. Bevor sie irgend etwas sagen konnte, kam ich ihr zuvor und fuhr sie mächtig an: »Wußten Sie denn nicht, daß der Autobus nach links ausbiegen würde?«
»Sie denn?« gab sie zurück. »Sie flitzten an mir vorbei, ohne mir einen Zentimeter Platz zum Ausweichen zu lassen!«
»Sie hätten bremsen und den Bus vorbeilassen müssen.«
»Ich hätte bremsen müssen? Ich wurde doch vom Bus aus meiner Spur gedrängt«, verteidigte sie sich wütend.
Ich grinste sie an und sagte: »Betrachten wir die Sache einmal vom Standpunkt des Busfahrers. Wenn er jedesmal erst den ganzen übrigen Verkehr vorbeiließe, bevor er abbiegt, dann würde er die halbe Nacht für eine Strecke von sechs Häuserblocks brauchen.«
»Ich habe nicht den Eindrude, daß ich mich in Sie verlieben könnte«, meinte das Mädchen.
»Gut, besehen wir uns erst einmal den Schaden«, sagte ich lächelnd, »dann können wir immer noch herausfinden, wer sich in wen verliebt.«
Wie ich erwartet hatte, war der rechte hintere Kotflügel meines Wagens stark ramponiert. Ich hatte den gleichen Trick schon einmal angewandt, als ich unbedingt eine Bekanntschaft schließen mußte, die auf keine andere Weise zustande gekommen wäre. Es überrascht mich immer wieder, wenn ich feststelle, wie jeder Verdächtige, der wachsam genug ist, auch den sorgfältig ausgeklügelten Fallen aus dem Wege zu gehen, unweigerlich auf fingierte Autozusammenstöße hereinfällt.
Ich bog den Kotflügel vom Reifen zurück und sagte: »Scheint so, als wäre das der einzige Schaden, abgesehen von der Verschlußkappe.«
»Bei mir ist etwas am Vorderrad nicht in Ordnung«, sagte das Mädchen. »Es schlingert.«
Ich holte meinen Führerschein hervor.
»Ich heiße Ruth Otis«, sagte sie.
»Haben Sie Ihren Führerschein bei sich?«
Sie öffnete ihre Handtasche, faltete mit eisiger Miene ihren Führerschein auseinander und sagte: »Die Adresse stimmt nicht mehr. Ich wohne jetzt Lexbrook Nummer sechzehnhundertsiebenundzwanzig.«
»Das ist ziemlich weit draußen.«
»Na, und?«
»Nichts weiter, nur glaube ich kaum, daß Ihr Wagen das bis dahin schaffen wird.«
Sie sah mich an und fing plötzlich zu weinen an.
Mir unterlief der Fehler, Bleistift und Notizbuch hervorzuziehen und mir die Nummer ihres Führerscheins aufzuschreiben. Das erregte sie sehr.
Sie sagte: »Sie brauchen sich gar nicht so hochnäsig und überlegen aufzuspielen. Ganz abgesehen von der Schuldfrage - wenn Sie ein geschickter Fahrer wären, dann hätten Sie die Karambolage vermieden. Außerdem glaube ich nicht, daß mich die Schuld trifft. Meiner Meinung nach haben Sie den Autobus erst bemerkt, nachdem Sie mich gerammt hatten. Hinzu kommt, daß Sie viel zu schnell gefahren sind.«
Ich zeigte auf die Rückseite meines Wagens und sagte: »Ich habe nicht Sie, sondern Sie haben mich angefahren.«
»Wie sollte ich das wohl mit der Beule am hinteren Kotflügel meines Wagens angestellt haben?«
»Ich weiß nicht, wie Sie es angestellt haben, aber Sie sind so plötzlich vor mir eingebogen.«
Ich zeigte ein überlegenes Lächeln. Sie holte einen Bleistift und ein kleines Notizbuch aus ihrer Handtasche hervor und versuchte, sich die Nummer des Agenturautos aufzuschreiben. Ihre Hand zitterte dabei so stark, daß sie kaum die Zahlen richtig zu Papier brachte.
»Vielleicht sehen Sie sich einmal meinen Führerschein an. Mein Name ist Donald Lam.«
Sie riß mir den Führerschein aus der Hand und benutzte den rechten vorderen Kotflügel ihres Wagens als Schreibunterlage. Nun notierte sie sorgfältig meinen Namen, mein Alter, die Adresse, meine Größe, das Gewicht, meine Haar- und Augenfarbe.
»Das Auto ist auf den Namen Cool und Lam eingetragen«, fuhr ich leutselig fort. »Wir sind Geschäftspartner.«
Sie schritt zu unserem Auto und notierte sich auch alle Angaben auf dem Zulassungsschein.
Tröstend sagte ich: »Nehmen Sie sich die Sache nicht allzu sehr zu Herzen. Die Versicherungsgesellschaften werden das schon in Ordnung bringen.«
»Ich bin nicht versichert.«
Ich zeigte Überraschung und Bestürzung. »Das verändert die Situation beträchtlich.«
»Inwiefern ändert das die Sachlage?«
»Weil ich versichert bin«, sagte ich. »Ich möchte nicht, daß meine Versicherungsgesellschaft ihr Gehalt kassiert.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorge. Dieser Fall wird nicht eintreten. Mein Anwalt wird vielmehr bei Ihrer Versicherungsgesellschaft kassieren.«
»Schließlich, warum sollte er auch nicht?« sagte ich scherzend. »Wenn man die Karambolage genau betrachtet, kann man vielleicht doch eine ganze Menge zu Ihren Gunsten anführen. Abgesehen von allem anderen hätte ich doch bemerken müssen, daß Sie schon zu nahe an dem Autobus waren. Wenn ich Ihnen nur ein paar Zentimeter mehr Platz gelassen hätte, wären Sie wahrscheinlich vorbeigekommen.«
»Was haben Sie eigentlich im Sinn?« fragte sie. »Wollen Sie es etwa so darstellen, damit ich bei Ihrer Versicherung leichter kassieren kann?«
»Vielleicht.«
»Nein, lassen Sie das bitte. Was Recht ist, muß Recht bleiben. Auf einen solchen Dreh lasse ich mich nicht ein, nur um die Ausgaben für einen Kotflügel zu sparen.«
»Sie sind doch der festen Meinung, daß ich schuld habe, nicht wahr?«
»Ja.«
»Wenn ich nun der gleichen Ansicht bin, so ist doch daran nichts auszusetzen. Das bedeutet doch nicht, daß wir die Versicherungsgesellschaft hinters Licht führen.«
»Doch! Ich muß glauben, es sei Ihre Schuld, und Sie müssen glauben, es sei meine Schuld - das ist doch der Normalfall.«
»Gut, streiten wir nicht länger darüber. Ich werde Sie nach Hause fahren.«
»Danke. Ich kann auch allein nach Hause kommen.«
»Okay«, sagte ich gutgelaunt. »Darf ich Ihnen ein Taxi besorgen?«
»Auch das kann ich allein.«
»Um so besser. Wie ich sehe, haben Sie da noch ein paar Sachen im Auto. Schließen Sie es also lieber ab, wenn Sie fortgehen. Und falls Sie in einem Taxi nach Hause fahren, nehmen Sie die Sachen besser mit. Es geht mich ja nichts an, aber selbst wenn Sie telefonieren, wird es eine ganze Weile dauern, ehe ein Taxi hier herauskommt. Die sind jetzt in den Hauptverkehrsstunden zu stark in der Innenstadt beschäftigt, und andere Verkehrsmittel gibt es hier weit und breit nicht.«
Sie warf erst einen Blick auf die Sachen in ihrem Wagen und dann musterte sie das Agenturauto.
Ich zog meinen Hut und sagte: »Wenn Sie also meine Hilfe nicht annehmen wollen, dann darf ich mich jetzt von Ihnen verabschieden. Sie können... «
»In welcher Richtung fahren Sie denn?«
»Immer geradeaus den Boulevard hinunter.«
»Bis Lexbrook?«
»Ich komme direkt daran vorbei.«
Da sagte sie plötzlich: »Also gut, ich werde mit Ihnen fahren.«
Einen Augenblick zögerte ich, so daß sie annehmen konnte, ich wolle mein Angebot wieder zurückziehen. Mein Zögern dauerte gerade lange genug, um ihr klarzumachen, daß ich nicht allzu begierig darauf war, sie mitzunehmen. Dann sagte ich ziemlich mürrisch: »Na schön.«
Ich hielt ihr die Tür auf, doch sie ging erst zu ihrem Wagen zurück, um die Tasche und das Paket zu holen. Dann stieg sie ein, und wir fuhren eine Zeitlang, ohne ein Wort miteinander zu sprechen. Zuerst wischte sie ein paar Tränen fort, aber dann saß sie mit unbeweglichem Gesicht da.
Ich sagte: »Hinten an dem Wagen scheint etwas nicht in Ordnung zu sein.« Ich hielt am Straßenrand an, stieg aus, ging nach hinten und machte mich dort ein wenig zu schaffen.
»Nun?« fragte sie, als ich wieder einstieg.
»Ich kann nichts finden, aber etwas stimmt da nicht. Würden Sie vielleicht einmal aussteigen und die Räder beobachten, wenn ich fahre? Ich möchte mich vergewissern, ob die Hinter- und Vorderräder eine Spur halten. Ich werde vorwärtsfahren, und Sie beobachten bitte von hinten, ob alles in Ordnung ist. Dann werde ich anhalten und zurückkommen.«
Ohne ein Wort zu sagen, stieg sie aus und stellte sich an den Rinnstein. Ich fuhr langsam etwa dreißig Meter weiter und kam dann zurück.
»Ich habe nichts feststellen können.«
»Die Hinterräder schlingern nicht?«
»Nein.«
»Und sie befanden sich in einer Linie mit den Vorderrädern?«
»Ja.«
»Da fällt mir ein Stein vom Herzen, ich hatte schon befürchtet, daß der Rahmen beschädigt ist.«
»Sagten Sie nicht, Sie wären versichert?«
»Bin ich auch, aber ich muß mit diesem Auto meinen Lebensunterhalt verdienen. Wenn der Rahmen beschädigt sein sollte, wäre das eine unangenehme Sache für mich, denn diese Reparaturen dauern recht lange.«
»Was haben Sie denn für einen Beruf?«
»Ich stelle private Erhebungen an.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie Privatdetektiv sind?« fragte sie laut vernehmbar.
»So ist es.«
Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie vorsichtig tastend: »Das muß sehr interessant sein.«
»Vielleicht für den, der nichts damit zu tun hat.«
»Und aufregend.«
»Nicht immer.«
»Ihre Tätigkeit ist doch sicher etwas ganz anderes als der eintönige Trott, in dem die meisten Menschen ihr Leben abrollen lassen müssen.«
»Oh, bei uns gibt es auch häufig langweilige Sachen. Viel Routinearbeit, Leute beschatten und ähnliches.«
Ich sah auf meine Uhr und sagte plötzlich: »Ach, du meine Güte.«
»Was ist?«
»Ich muß im Büro anrufen, man wartet darauf, um mir einen Bericht durchzugeben, auf den ich dringend angewiesen bin. Durch den Zusammenstoß war mir das ganz entfallen. Ich sollte sie schon vor zehn Minuten anrufen.«
»Sie?«
»Ja.«
»Haben Sie eine Frau als Kompagnon?«
»Ganz recht. B. Cool«, sagte ich. »Das B. bedeutet Bertha. Sie ist eine Frau mittleren Alters, wiegt hundertfünfundsechzig Pfund, ist hartgesotten wie ein Osterei, und der Umgang mit ihr ist so schwierig wie mit einer Rolle Stacheldraht. Warten Sie hier einen Augenblick - ich gehe rasch telefonieren.«
»Von wo wollen Sie denn hier telefonieren?«
Ich zeigte auf ein Restaurant und sah mich ein paar Minuten darin um. Es war ein hübsches, sauberes, kleines chinesisches Restaurant, das sich wahrscheinlich in dieser Gegend niedergelassen hatte, weil hier die Mieten bedeutend niedriger waren.
Dann ging ich wieder zum Wagen und sagte zu ihr: »Ich habe sie verpaßt. Sie wird sicher schon in zehn oder fünfzehn Minuten zurück sein, aber Bertha ist sehr empfindlich in diesen Dingen. Sie wird stets wütend, wenn ich einen vereinbarten Anruf nicht auf die Minute genau einhalte. Ich möchte daher an einem Ort bleiben, von dem aus ich laufend versuchen kann, sie zu erreichen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit hineinzukommen und mit mir eine Minute zu warten? Das Auto können wir so lange abschließen. Es ist e>n nettes chinesisches Restaurant, in dem es ein paar besondere Spe-zialitäten gibt. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn Sie so lange mit mir warten, bis ich die Verbindung bekommen habe, lade ich Sie zum Abendessen ein.«
»Und wenn ich nicht warten möchte?«
»Dann wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben, als hier neben dem Auto zu warten, bis ein Taxi vorbeikommt.« Und mit einem Bedauern im Tonfall fügte ich hinzu: »Hier draußen kann das sehr lange dauern, und das täte mir wirklich schrecklich leid, Miss Otis.«
»Da hoffte ich nun, endlich nach Hause zu kommen... Ich bin sowieso schon ziemlich spät dran.«
»Wie gesagt, es tut mir sehr leid«, meinte ich und sah ungeduldig auf meine Armbanduhr. »Aber daran ist nun nichts zu ändern. Wahrscheinlich habe ich heute abend noch allerlei Arbeit vor mir, und da paßt es ganz gut, wenn ich hier schnell noch etwas zu mir nehme. In unserem Beruf kann man nur essen, wenn man gerade Zeit und Gelegenheit dazu hat.«
Während ich sprach, spielte ich ungeduldig mit den Wagenschlüsseln. Endlich sagte sie: »Also gut, gehen wir hinein.«
Ich schloß den Wagen ab, und wir betraten das Restaurant. In einer Nische neben dem Telefon nahmen wir Platz. Umständlich wählte ich unsere Nummer und wartete. Dann hing ich, Bedauern ausdrückend, den Hörer wieder auf, bekam mein Geld zurück und ließ mich auf der gepolsterten Bank nieder, die den kleinen, runden Tisch umgab.
Ein Kellner brachte uns Tee und Reiskuchen. Ich fragte sie, ob sie chinesische Speisen möge, und sie sagte, daß sie am liebsten die Eierspeisen esse. »Ich glaube, das Gericht heißt >foo yong hai<«, sagte sie. Daran merkte ich, daß sie nur die einfachen chinesischen Speisen kannte. Ich wählte nochmals unsere Nummer, wartete wieder eine Weile, hängte ein und nahm die Telefonmünzen zurück. Dann ging ich wieder an unseren Tisch und nahm ihr sanft die Speisekarte aus der Hand. »Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte ich, »werde ich für uns beide bestellen. Ich werde etwas für Sie aussuchen, was Sie wahrscheinlich noch nie gegessen haben und das Ihnen auch schmecken wird.«
Dabei verschwieg ich ihr, daß die Zubereitung dieser Spezialität mindestens zwanzig Minuten dauern würde.
»Ich lasse mich gerne überraschen«, sagte sie.
Erst bestellte ich ein paar chinesische Vorspeisen, >sohn keau tau<, etwas Huhn und Ananas, gebratene Garnelen und Schweinerippenspeer mit süß-saurer Soße sowie eine Kanne frischen Tee.
»Ich glaube, das einzige, was ich je in einem chinesischen Restaurant gegessen habe«, sagte sie, »war >chop suey< und >foo yong hai<.«
»Das bestellen die meisten Leute in einem chinesischen Restaurant.«
»Wie läßt sich denn die Zusammenarbeit mit einem weiblichen Kompagnon an?«
»Es klappt ganz gut.«
»Haben Sie die Agentur gemeinsam aufgezogen?«
»Nein. Bertha betrieb die Detektei schon vorher. Ich kam zu ihr, weil ich gerade eine Beschäftigung suchte.«
»Und daraus ist dann eine Partnerschaft geworden?«
»Ja.«
»Wie kam denn das?«
»Oh, das weiß ich nicht mehr so genau. Ich glaube, durch ein paar Zufälle. Wir erhielten gerade einige größere Aufträge, und Bertha sah ein, daß sie meine Hilfe brauchte, denn es befanden sich darunter ein paar Fälle, mit denen sie sich bisher nicht befaßt hatte. Bevor ich in die Agentur eintrat, hat sie nämlich fast nur Routinearbeiten verrichtet: Beschattungen in Scheidungsfällen, Recherchen für Rechtsanwälte in Unfallsachen und andere leichtere Aufgaben.«
»Die unkomplizierte Arbeit behagt Ihnen nicht so recht, nicht wahr?«
»Nein.«
»Welche Art Arbeit gefällt Ihnen denn besser?«
»Was jetzt so in der Hauptsache anfällt.«
»Und was ist das?«
»Alles mögliche«, sagte ich zurückhaltend.
»Und wodurch ist diese Veränderung entstanden?«
»Ich weiß es nicht. Plötzlich bekamen wir ein paar größere Sachen, und irgendwie ist es dann dabei geblieben.«
»Ich nehme an, ein besserer Fall zieht andere nach sich. Ist es so?«
»So wird es wohl sein.«
Sie reichte mir ihre Tasse, und ich goß ihr Tee nach. Dann sagte sie gänzlich unvermittelt: »Ich habe heute meine Stellung verloren.«
»Sie meinen, Sie haben gekündigt?«
»Ich meine«, sagte sie bitter, »daß ich hinausgeworfen worden bin.«
»Das ist aber dumm. War man mit Ihrer Arbeit nicht zufrieden?«
Sie lachte verächtlich und sagte: »Ich glaube, eher habe ich zu gut gearbeitet. Ich hatte nur das Interesse meines Chefs im Auge -mehr als er selbst.«
»Wie ist so etwas dann möglich?«
»Durch eine Frau.«
Ich sagte: »Oh, ich verstehe.«
Der Ton, in dem ich das von mir gab, schien ihr nicht zu gefallen. »Nein, Sie verstehen überhaupt nichts«, fuhr sie mich an. »Diese Frau ruiniert meinem Chef das Geschäft. Sie ist anmaßend. Sie ist... Sie ist selbstsüchtig und tut alles, was eine egoistische Frau nur tun kann.«
»Ich verstehe«, sagte ich ernst. »Und da Sie Ihren Chef lieben, er aber nun diese Frau liebt, so ergibt das ein Trio von ganz besonderer Art.«
»Was reden Sie da für einen Unsinn«, fuhr sie mich an. »Ich und in den Chef verliebt - im Gegenteil, ich hasse ihn.«
Ich machte erstaunte Augen. »Warum haben Sie dann gekündigt?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich nicht gekündigt habe. Ich bin gegangen worden, ganz einfach *’rausgeschmissen hat er mich.«
Und dann fing sie plötzlich an zu weinen.
In tröstendem Ton sagte ich. »Gut, schon gut, denken Sie nicht mehr daran.«
»Ich werde aber die Gedanken daran nicht los. Es macht mich noch ganz verrückt. Sie ruiniert sein Geschäft, und als ich ihm sagte... «
»Er war der Ansicht, daß Sie sich in seine privaten Sachen mischten, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat. Jedenfalls hat er mich gehen lassen. Fast glaube ich, daß sie es von ihm verlangt hat.«
»Sie brauchen mir nichts mehr davon zu erzählen, wenn Sie nicht wollen«, sagte ich.
»Es tut mir aber gut, wenn ich mich mit jemandem darüber aussprechen kann.«
»Aber ich bin doch ein Fremder für Sie.«
»Darum erzähle ich es ja gerade Ihnen. Ich glaube nicht, daß ich es in meinem Bekanntenkreis zum besten geben würde.«
»Außerdem bin ich ein Detektiv. Es könnte doch sein, daß ich gerade mit einem Fall beschäftigt bin, der in die Angelegenheit hineinspielen kann.«
Sie richtete den Kopf wieder hoch und brach in ein nervöses,
schluchzendes Lachen aus. Dann öffnete sie ihre Handtasche, zog ein Taschentuch hervor, wischte sich die Tränen ab und sagte: »Ich fange immer an zu weinen, wenn ich wütend bin, und wenn ich merke, daß ich weine, werde ich noch wütender.«
»Sind Sie wütend auf Ihren Chef?«
»Auf meinen ehemaligen Chef. Ich glaube, ich bin nicht einmal so wütend auf ihn wie über die Ungerechtigkeit, die in der ganzen Sache liegt.«
»Was hat denn Ihr Chef für ein Geschäft?«
»Er ist Akademiker.«
»Ich vermute, daß die Frau eine Klientin von ihm ist?«
»Bestimmt nicht. Er ist Zahnarzt und nicht Rechtsanwalt.«
»Kam die Frau oft in seine Praxis?«
»Das kann man wohl sagen. Und wenn sie erschien, dann tat sie stets so, als ob die Königin von Saba eine Visite machte. Sie wollte immer sofort vorgelassen werden. Man kann wartende Patienten doch nicht hintansetzen. Es hat eigentlich gar keinen Sinn mehr, daß ich weiter darüber spreche.«
»Warum nicht? Reden Sie sich doch mal alles von der Leber ’runter.«
»Nein. Ich habe jetzt genug gesagt. Ich fürchte sogar, schon ein bißchen zuviel. Sprechen wir lieber von etwas anderem. Erzählen Sie mir etwas Interessantes aus Ihrer Tätigkeit. Diese Mrs. Cool ist also eine Frau mittleren Alters?«
»Ja.«
»Und ein Besen?«
»Ein Besen.«
»Wie kommen Sie mit einer .solchen Frau überhaupt zu Rande?«
»Natürlich läuft nicht immer alles glatt über die Bühne.«
»Fällt es Ihnen nicht auf die Nerven, tagein, tagaus eng mit ihr zusammenzuarbeiten, da sie doch nach Ihren Worten zu urteilen, eine recht schwierige Natur ist?«
»Nicht besonders. Zeitweilig ist das für mich sogar ein ganz gutes Training. Es hindert mich daran, zu verweichlichen.«
»Sie gehen doch sicher Streitigkeiten mit ihr aus dem Wege, nicht wahr?«
»Keineswegs!«
»Wie erhalten Sie dann den Hausfrieden?«
»Ganz einfach: Ich tue, was ich für richtig halte, und überlasse das Streiten ihr.«
»Sie sind ein drolliger Bursche. Sie haben so etwas… Nun, Sie wirken so ruhig, daß man fast glauben könnte, Sie lassen nach Belieben alles mit sich geschehen. Und dann merkt man plötzlich, daß Sie auch hart sein können.«
»Oh, das glaube ich nicht.«
»Nun, ich wette, daß Ihre Mrs. Cool genauso denkt. Ich würde gern einmal mit ihr sprechen, um zu hören, was sie von Ihnen hält.«
Ich ging zum Telefon, wählte die Nummer, wiederholte das ganze Theater mit dem Stirnrunzeln und dem Warten, legte schließlich den Hörer auf und nahm mein Geld zurück.
»Immer noch niemand da?«
»Nein, noch immer nicht.«
»Glauben Sie, daß Ihre Madam wütend ist, weil Sie nicht zur verabredeten Zeit angerufen haben?«
»Davon bin ich überzeugt.«
Der Kellner brachte die Speisen. Während wir aßen, sah mich das Mädchen zwei- oder dreimal prüfend an. Ich unternahm keinen Versuch, in sie einzudringen, denn ich hatte das sichere Gefühl, daß sie sofort mißtrauisch werden würde.
Sie unterbrach die Stille: »Wieviel meinen Sie, wird die Reparatur meines Wagens kosten?«
»Zwanzig oder fünfundzwanzig Dollar.«
»Haben Sie ’ne Ahnung«, meinte sie. »Ich wette, es kostet mindestens fünfundsiebzig bis hundert.«
»So teuer dürfte es nicht werden... Ich will Ihnen was sagen: Ich werde es aus meiner eigenen Tasche bezahlen.«
»Sie?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil ich jetzt wirklich davon überzeugt bin, daß ich die Schuld hatte.«
Sie sagte: »Ich weiß immer noch nicht, wie das eigentlich passiert ist. Ich war wütend und dachte beim Fahren an Doktor Quay... Oh, das hätte ich nicht tun sollen.«
»Was?«
»Ihnen seinen Namen nennen.«
»Das ist ganz belanglos«, sagte ich. »Ich will noch mal unser Büro anrufen.«
Ich wählte wieder die Nummer und nur, um ganz sicherzugehen, wartete ich, bis das Klingelzeichen am anderen Ende der Leitung hörbar wurde. Als ich den Hörer auflegen und mein Geld wieder in
Empfang nehmen wollte, hörte ich ein metallisches Geräusch in der Muschel. Ich nahm den Hörer wieder ans Ohr und rief: »Hallo.«
Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, daß jetzt noch jemand im Büro ist, aber da war zweifellos ein menschliches Krächzen in der Leitung.
Kaum hatte ich »Hallo« gesagt, als Berthas gereizte Stimme mein Trommelfell bombardierte. »Wo steckst du eigentlich?«
»Im Augenblick esse ich. Aber was treibst du denn noch im Büro?«
»Was ich hier treibe?« fragte Bertha kreischend. »Na, das ist ja köstlich von dir! Was ich hier noch mache? Ich versuche, unsere verdammte Agentur zu retten und zu verhindern, daß wir zum Tratsch und Gespött der ganzen Stadt werden.« Sie brüllte weiter: »Du und dein Meistergehirn. Du und dein Einfall, Mrs. Ballwin psychologische Handschellen anzulegen!«
»Wovon redest du eigentlich?« fragte ich.
»Wovon ich rede?« schrie sie mich an. »Ich spreche davon, daß Gerald Ballwin vergiftet worden ist.«
»Willst du damit sagen, daß... «
»Genau das will ich damit sagen«, bellte sie. »Warum, meinst du wohl, bin ich noch hier im Büro? Diese Carlotta Hanford will nun ihr Geld wiederhaben und meint, wir seien ein Dilettantenverein. Gerald Ballwin hat seine Dosis Gift weg, und hier ist nun die Hölle los. Mach, daß du eiligst herkommst!«
»Ich fahre sofort los«, sagte ich zu Bertha und hängte ein.
Ruth Otis sah mich seltsam fragend an. »Was gibt’s denn, Mr. Lam?«
»Wieder nur eine Routinesache.«
»Sie gingen ja hoch, als hätte man Sie mit einer Nadel gepiekt. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war deutlich zu hören. War das etwa Mrs. Cool?«
»Worauf Sie sich verlassen können.«
»Die muß aber ordentlich gebrüllt haben.«
»Das hat sie auch.«
»Ich konnte nicht einmal vermeiden, einiges von dem, was sie sagte, mitzubekommen. Das Telefon glich ja beinahe einem Lautsprecher.«
Ich nickte.
Ihre fragenden Augen versuchten, in meinen zu lesen. Dabei ^ar ihr Blick von so merkwürdiger Eindringlichkeit, daß ich mich
noch einmal genau besinnen mußte, was Bertha mir eben gesagt hatte.
»Handelt es sich bei dem Vergifteten um Gerald Ballwin?« fragte sie.
»Wieso?«
»Die Frau, von der ich Ihnen erzählt habe, war nämlich Gerald Ballwins Gattin.«
»So?«
»Wurde Gerald Ballwin vergiftet?«
Ich sagte: »Sie können es morgen früh in der Zeitung nachlesen. Jetzt bin ich sehr in Eile. Ich will rasch die Rechnung bezahlen, dann werde ich ein paar Schnelligkeitsrekorde brechen, um Sie nach Hause zu bringen. Danach muß ich ins Büro rasen.«
»Gerald Ballwin vergiftet!« sagte sie langsam, während sie den Stuhl zurückschob und aufstand, wobei sie ihre Hände auf den Tisch stützte.
»Gerald Ballwin vergiftet!« wiederholte sie nochmals, und ihr Gesicht nahm eine eigenartige grünliche Färbung an. Sie klammerte sich an dem Tischtuch fest. Ihre Knie gäben nach, und plötzlich sackte sie in sich zusammen.
Ehe ich um den Tisch herum war, lag sie schon auf dem Polster und rührte sich nicht.
Der Kellner stürzte herbei, sah sich die Bescherung an und lief in die Küche, wobei er chinesische Worte verlauten ließ. Zehn Sekunden später standen eine Frau, ein Mädchen, ein alter Mann und zwei junge Burschen, allesamt Chinesen, um den Tisch herum. Mit ihren hohen Vogelstimmen redeten sie gleichzeitig alle durcheinander.
Ich griff nach einem Glas Wasser, goß etwas davon auf eine Serviette und schlug ihr damit so lange ins Gesicht, bis sie wieder zu sich kam. Dann warf ich einen Fünf-Dollar-Schein auf den Tisch und half Ruth Otis wieder auf die Beine. Als ich sie zum Auto führte, war sie noch immer ganz benommen.