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Vor Ruths Haus in der Lexbrook Avenue stoppte ich meinen Wagen und ging zum Eingang hinüber. Als ich die Außentür aufstieß, blickte ich mich erst vorsichtig nach allen Seiten um. Niemand schien auch nur das geringste Interesse an meiner Person zu nehmen. Links und rechts der Straße parkten ein paar Autos, aber niemand saß darin.

Ich nahm zwei Stufen auf einmal und lief dann den Korridor zu Ruths Zimmer entlang. Ohne vorher anzuklopfen, steckte ich leise den Schlüssel ins Schloß, hielt dann kurz inne und überblickte noch einmal den Flur in beiden Richtungen, um mich zu vergewissern, daß mich auch niemand beobachtete. Dann erst drehte ich den Schlüssel herum, stieß ruckartig die Tür auf und trat ein.

Ein Instinkt warnte mich zur Vorsicht. Blitzschnell zog ich den Kopf ein, doch es war zu spät. Einen winzigen Moment war mir zumute, als fiele die Decke auf mich herab. Ich spürte noch, wie die Kraft aus meinen Beinen wich. Der ausgebleichte Teppich kam auf mich zu. Er klatschte gegen mein Gesicht - und im selben Augenblick trat ich die Fahrt ins Traumland an.

Auf unergründliche Weise spürte ich, wie die Zeit verging. Ich wußte nicht, wieviel Zeit, denn sie war recht bedeutungslos geworden. Mir war so übel, und irgend etwas surrte in meinem Kopf. Es war ein merkwürdiges Surren, das ich abwechselnd als laut und dann wieder als abklingend empfand, ähnlich dem Geräusch eines Zahnarztbohrers, nur mit dem Unterschied, daß ihn niemand in Betrieb zu setzen brauchte.

Unter Aufbietung aller noch verfügbaren Energie zwang ich mich, die Augen zu öffnen... Langsam kehrte mein Bewußtsein zurück. Ich lag auf dem dünnen Teppich in Ruths Zimmer und roch den Staub des Fußbodens. Das Geräusch, das ich vernommen hatte und das mir wie ein in Tätigkeit befindlicher Zahnarztbohrer erschienen war, rührte von einer dicken grünen Fliege her, die meinen Kopf umkreiste. Dann und wann ließ sie sich einen Augenblick nieder, um nach ein paar Sekunden ihre Rundflüge um mein Haupt wiederaufzunehmen.

Ich versuchte festzustellen, ob sich jemand im Zimmer befand, aber außer dem fetten Brummer konnte ich kein Geräusch wahrnehmen. Aus meiner Lage heraus reichte mein Blickwinkel nur bis zu den Beinen und unteren Flächen der Stühle und des Tisches.

Mühsam versuchte ich, meine Arme und Beine zu bewegen. Der Kopf schmerzte mich entsetzlich, und im Magen verspürte ich ein Drehen, aber meine Muskeln schienen mir noch zu gehorchen.

Ich holte tief Luft, spitzte einen Augenblick die Ohren, raffte dann alle meine Kräfte zusammen und richtete mich auf.

Nichts geschah.

Allmählich wurde mein Kopf klarer, aber die Schmerzen ließen nicht nach. Ich ging zum Badezimmer hinüber und riß die Tür mit einem Ruck auf. Auch hier war ich allein.

Dann schlich ich auf Zehenspitzen zum Kleiderschrank, riß auch dort die Tür auf und sprang vorsichtshalber etwas zurück. Doch alles blieb ruhig.

Behutsam tastete ich in dem Schrank herum und fand auch das graue Kostüm, das Ruth am Vorabend getragen hatte. Dann ließ ich meine Hand in die linke und rechte Jackentasche des Kostüms gleiten. Ich hatte nicht damit gerechnet, noch etwas darin zu finden, und war daher fast erschrocken, als meine Fingerspitzen an sich kalt anfühlendes Metall stießen. Mit dem Gefühl, daß mich eventuell eine neue Falle erwarten könnte, angelte ich den Schlüssel für das Schließfach aus der Tasche. Ich atmete erleichtert auf, als ich ihn in der Hand hielt, ohne daß weder ein Pistolenschuß gefallen noch ein schriller Pfiff ertönt war.

Ich betrachtete den Schlüssel und steckte ihn ein.

Dann stand ich noch einen Moment in der Mitte des Zimmers und sah mich um. Wollte ich ganz sichergehen, dann mußte ich auch das Wandbett inspizieren. Daher öffnete ich den Verschluß, und das Bett klappte langsam herunter. Es war ordentlich zurechtgemacht, die Kante des oberen Lakens exakt zurückgeschlagen. Zwischen der Rückwand und dem Bett befand sich ein Zwischenraum. Ein Damenschuh wurde sichtbar. Als ich mir jedoch den Schuh näher betrachtete, entdeckte ich, daß ein Bein darin steckte.

Ich sprang zurück und wartete eine Sekunde. Meine Nerven waren auf das äußerste angespannt. Aber nichts rührte sich, auch das Bein blieb regungslos. Ich schaltete das Deckenlicht ein. Nun konnte ich feststellen, daß hinter dem Bett eine weibliche Gestalt lag, völlig reglos, und es schien, als wäre alles Leben aus ihr gewichen.

Ich griff nach ihrem Arm. Er war noch warm, aber einen Pulsschlag konnte ich nicht mehr fühlen. Ich hob ihren Kopf ein wenig an.

Das Licht fiel auf das tote Gesicht von Ethel Worley. Man hatte sie mit einem Nylonstrumpf erwürgt.

Ich vergewisserte mich noch, ob sie auch tatsächlich ihr Leben ausgehaucht hatte. Dann trat ich aus dem schrankartigen Einbau wieder heraus, ließ das Bett langsam hochschwingen und die Tür einschnappen.

Nun ging ich zur Korridortür, legte mein Taschentuch über den Türgriff, drückte ihn langsam und geräuschlos hinunter und stieß ganz plötzlich die Tür auf.

Der Korridor war menschenleer.

Ich zog die Tür hinter mir zu und stürzte förmlich die Treppen zur Vorhalle hinunter. Dort befand sich eine Telefonzelle. Ich steckte eine Münze in den Schlitz, wählte das Polizeipräsidium, verlangte die Mordkommission und fragte nach Inspektor Sellers.

Gleich darauf hörte ich Sellers’ Stimme.

»Hier Donald Lam. Hallo, Inspektor.«

»Hallo, Donald. Ich muß Sie dringend sprechen. Wo sind Sie jetzt?«

»Lexbrook Avenue sechzehnhundertsiebenundzwanzig«, sagte ich. »Sie täten gut daran, so schnell wie möglich herzukommen.«

»Was soll ich da?« brummte Sellers. »Lassen Sie alles andere liegen und kommen Sie lieber hierher.«

»Die Leiche von Ethel Worley, der Sekretärin von Gerald Ballwin, liegt hinter dem Wandbett im Zimmer einer gewissen Ruth Otis, die...«

Mitten im Satz drückte ich die Gabel des Telefonapparates herunter, so daß die Verbindung unterbrochen war.

Dann legte ich den Hörer auf, trat schleunigst aus der Telefonzelle und riß die Haustür auf.

Als das grelle Sonnenlicht meine Augen traf, fuhr ich unter dem Schmerz zusammen, der durch meinen Kopf zuckte. Einen Augenblick später fühlte ich mich jedoch wieder einigermaßen, und ich konnte das Bild der sonnenüberfluteten Straße mit den parkenden Autos überblicken. Mein Wagen stand noch an der gleichen Stelle, an der ich ihn verlassen hatte.

Kräftig schüttelte ich meinen Kopf, um ihn ganz freizubekommen, mußte dabei aber feststellen, daß doch noch nicht alles wieder in Ordnung war. Die letzten Stufen hinter mir lassend, schritt ich zu meinem Wagen hinüber und stieg ein.