»Dazu ist er nicht mehr gekommen.« Zeevanck stieß abermals auf.

»Wo steckt er jetzt?«

»Ihm ist noch in derselben Nacht etwas zugestoßen«, erklärte van Huyssen. »Ein bedauerlicher Unfall. Ich war dabei. Es war schrecklich.«

»Wir finden heraus, wer auf unserer Seite steht«, bemerkte Zeevanck dumpf. »Die anderen bringen wir um.«

Jeronimus schaute ihn verblüfft an. Dann legte er seinen Kopf in den Nacken und lachte schallend auf. Die feine Companie schien sich neuerdings recht blutrünstiger Gestalten als Schreiber zu bedienen. »Da kann der Kommandeur aber von Glück sagen«, bemerkte er heiter, »dass Ihr ihn noch nicht mit Eurer Feder abgestochen habt.«

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Jeronimus machte eine abwiegelnde Geste, als er Zeevancks beleidigte Miene sah. Der Mann meint es offenkundig ernst, dachte er.

Jeronimus' warf einen Blick auf van Huyssen. Bei dem wundert mich nichts, überlegte er. Der Bursche ist seit jeher ein Sadist gewesen.

Jeronimus bega nn zu kichern.

»Schön, dass Ihr alles so lustig findet«, brummte Zeevanck verdrießlich. Er wirkte mit einem Mal wieder nüchtern. »Wenn Ihr Euch beruhigt habt«, fuhr er fort, »könnt Ihr uns vielleicht sagen, ob wir weiterhin jeden mit Wasser und Nahrung versorgen oder ob nur ein Gruppe Auserwählter überleben soll.«

»Entschuldigt«, entgegnete Jeronimus, »ich habe Euch verkannt, Zeevanck. Natürlich sorgen wir in erster Linie für uns.

Nachdem der Skipper und der Kommandeur das Weite gesucht haben, liegt das Schicksal der anderen ohnehin in meiner Hand.«

»Je eher wir mit der Auslese beginnen, desto besser«, erklärte van Huyssen. »Diejenigen, die gegen uns sind, bekommen mein Schwert zu spüren.«

»Mit Ausnahme der Frauen«, wandte Zeevanck ein. »Die werden ein anderes Schwert spüren.« Er lachte meckernd auf.

»Ich werde mir alles in Ruhe überlegen«, erklärte Jeronimus bedächtig.

»Was gibt es da noch zu überlegen?«, erkundigte sich Zeevanck.

»Schaut euch doch um, Zeevanck! Auf der Insel befinden sich Söldner der Companie, die uns ohne viel Federlesens niederstrecken können. Glaubt Ihr ernsthaft, die ließen sich von uns kommandieren? Die machen mit uns kurzen Prozess!«

»Für die denken wir uns etwas aus.«

»Ihr seid ein Mann des Wortes«, stichelte van Huyssen.

»Warum schickt Ihr ihnen keinen Brief?«

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»Täuscht Euch nicht, van Huyssen«, knurrte Zeevanck. »Ich kämpfe genauso gut wie Ihr.«

»Jetzt lasst es gut sein«, schaltete sich Jeronimus ein. »Wir müssen vor allem einen klaren Kopf behalten. Gebt mir noch ein wenig Zeit. Es wäre doch gelacht, wenn ich keine Lösung fände.«

Van Huyssen nickte zuversichtlich, während Zeevanck erneut nach der Weinflasche griff.

»Vor allem keinen Mucks zu irgendjemandem«, befahl Jeronimus ihnen. »Wir dürfen keinen Verdacht erregen. Ist das klar?«

»Ist ja schon gut«, willigte Zeevanck missmutig ein. »Es sollte nur nicht zu lange dauern.« Er setzte die Weinflasche an und trank sie in einem Zug leer.

»Ihr zwei scheint ja nicht gerade Not gelitten zu haben«, bemerkte Jeronimus anzüglich.

»Das nicht«, erwiderte van Huyssen. »Es gibt nur welche, die es übertreiben.« Er stieß Zeevanck an und bedeutete ihm, sich zu erheben. Der Schreiber kam torkelnd hoch.

»Er ist hinüber«, erklärte van Huyssen. »Ich kümmere mich darum, dass er in sein Zelt gelangt. Wir sehen uns später, Jeronimus.«

Jeronimus nickte und legte sich zurück. Er würde auf van Huyssens Rückkehr warten und sich die Lage genauer schildern lassen. Anschließend würde er mit der Planung beginnen.

Es dauerte nicht lange, bis sich van Huyssen erneut zu Jeronimus gesellte und sich leise mit ihm beriet.

Später, nachdem sich van Huyssen zurückgezogen hatte, blieb Jeronimus noch am Feuer sitzen, um seine Gedanken zu ordnen.

Er versuchte, das Verhältnis zwischen den Versorgungsquellen und der Anzahl der Menschen zu überschlagen. Van Huyssen

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hat Recht, dachte er. Zweihundert Esser sind zu viel, um monatelang zu überleben. Ein kleinere Gruppe dagegen könnte sich ganz vorzüglich ernähren, vierzig bis fünfzig Personen vielleicht, darunter die Jankers, die laut van Huyssen hinter ihnen standen, wie auch die Hand voll Soldaten, die dem Steinmetz anhingen. Denen gegenüber stünden indes einhundertfünfzig Männer, die sich womöglich auflehnen konnten, darunter mindestens vierzig Söldner.

Jeronimus kniff die Augen zusammen. Ein ungesundes Verhältnis, überlegte er, im Grunde nicht zu schaffen.

Andererseits hielt er sich vor Augen, dass seine Leute die Überlegenen waren, Aristokraten und Schreiber der Companie, Menschen, die sich durchzusetzen wussten und die gebildet waren. Von den Söldnern einmal abgesehen, bestanden ihre Gegner aus Handwerkern und Krämern, Leuten also, die von jeher nur den Gehorsam kannten.

Von den holländischen Soldaten hatten nur wenige überlebt, was Jeronimus sehr bedauerlich fand, denn aus ihnen hätte er seine Schutztruppe bilden können. Fünf seien noch übrig, hatte van Huyssen gesagt, darunter Mattys Beer, Jan Hendricks und Wouter Loos.

Das Problem blieben eindeutig die Söldner, wilde, ungezähmte Gesellen, zudem geschickt mit ihren Waffen, Männer, die sich keinem Unterkaufmann zu unterwerfen gedachten.

Allerdings besaß auch er, Jeronimus, eine Waffe, die er entscheidend einzusetzen plante. Er war der Stellvertreter des Kommandeurs. Infolgedessen konnte er diejenigen, die sich gegen ihn erhoben, bestrafen und zu Meuterern erklären.

Jeronimus schloss die Augen. Als Erstes werde ich die Söldner überlisten, entschied er. Danach mache ich den restlichen Pöbel fügsam. Anschließend kommt der nächste Schachzug an die Reihe. Ich nehme an, der Skipper erreicht

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Java. Demzufolge wird auch der Kommandeur die Reise schaffen, es sei denn, er erliegt seinem Fieber. Wenig später wird die Gesellschaft Jacobs mit der Bergung von Fracht und Menschen betrauen, weil niemand außer ihm die Stelle kennt, an der sich das Wrack befindet. Bis dahin, überlegte Jeronimus, musste er gerüstet sein, um die Mannschaft des Rettungsschiffes gebührend zu empfangen - und dann übernähme er das Schiff.

Das war seine Gelegenheit. Danach bräche er auf, würde Herr aller Meere und baute sich ein Königreich, das seinesgleichen suchte. Jeronimus überlief ein Schauer. Er spürte das Gefühl eines glühenden Triumphes in sich aufsteigen.

Einfach nur einen kleinen Schritt in die Dunkelheit machen, befahl sich Lucretia. Allen Mut zusammennehmen, ein Bein vor das andere setzen, mehr ist es nicht.

Früher war ihr das doch auch nicht schwer gefallen, warum also sollte ihr dergleichen nicht abermals gelingen?

Du musst dich nicht fürchten, redete Lucretia sich zu. Die Frauen wachen über dich, sie passen auf. Sie werden dich schützen.

Seit einigen Tagen schlief Lucretia bei den Frauen, die sich ein großes Zelt teilten. Es waren etwa ein Dutzend, die nachts eingerollt auf dem nackten Erdboden lagen und sich unter den wenigen Decken wärmten.

Die Nähe ihrer Körper störte Lucretia nicht. Sie wollte nur ruhig daliegen, furchtlos einschlafen, ihre Träume vergessen.

In dieser Nacht jedoch wollte sie prüfen, ob sie noch etwas von ihrer alten Kraft besaß, ob sie sich allein hinaus ins Dunkle wagte.

Schritt für Schritt, spornte sie sich an. Du kannst es, Lucretia, geh los! Na, siehst du, mach schon... geh weiter... nicht kneifen... noch ein Stück... und noch eins, so ist's gut.

Nachdem sie ein paar Schritte geschafft hatte, hielt Lucretia inne, ließ sich von der Nacht umhüllen und atmete tief ein und

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aus. Bisweilen hörte ihr Atem sich zittrig an, und sie spürte ein Kribbeln im Leib, doch wenn sie sich dann umwenden und flüchten wollte, schloss sie die Augen und rührte sich nicht, zwang sich zu verharren.

Für lange Zeit stand Lucretia still und lauschte in die Dunkelheit. Sie hörte den Wind und die Brandung. Stimmen und Gerüche mischten sich in das Rauschen, brüchiger Widerhall dessen, was geschehen war.

Mit einem Mal schlug Lucretia die Augen weit auf und blickte entschlossen in die Schwärze. Dann legte sie den Kopf in den Nacken. Gib mir meine Seele zurück! forderte sie von einer Macht, deren Anwesenheit sie irgendwo erahnte.

Wie zur Antwort strömte etwas durch sie hindurch, das bis in ihre Fingerspitzen drang und sie wohlig erwärmte.

Ein ungeheures Gefühl der Dankbarkeit überkam Lucretia.

Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Es war getan. Sie hatte einen Teil von sich zurückerobert. Den würde sie nun hüten, darauf würde sie bauen.

Lucretia kehrte um. Das Schlimmste, was man sich vorstellen konnte, war ihr zugestoßen, doch es hatte sie nicht zerstört. Nun konnte sie den nächsten Schritt tun, nun konnte sie beginnen, sich ihr Leben wieder zu eigen zu machen.

Zweiundzwanzig Grad und zweiundvierzig Minuten südlicher Breite

Jan Everts spielte mit seinem Messer, drehte es hin und her, wog es in der Hand. Komm schon näher, du erbärmlicher Hund!

dachte er. Komm einfach über die Düne gewandert, fort von den anderen. In null Komma nichts ist es getan. Ich will dich fertig machen, ich steche dich ab! Danach schaufle ich Sand über dich,

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und dann ist die Sache vergessen. Länger als zwei, drei Stunden sucht der Skipper dich nicht, du Bastard. Er wird denken, du wärest herumgeirrt und hättest dich auf der Suche nach deinem gottverdammten Wasser verlaufen.

Ich muss es jetzt tun, überlegte Jan, denn auf dem Boot ist es zu gewagt. Irgendeiner würde mich bestimmt verraten.

Halfwaack gewiss, vielleicht sogar der Skipper. Dann blühen mir Rad und Galgen. Also muss es heimlich geschehen, und nun ist die beste Gelegenheit. Warum tritt der Mistkerl nicht einmal beiseite, geht in die Dünen, erleichtert sich? Ich käme von hinten und schon hätte ich ihn, am besten noch mit heruntergelassener Hose, das wäre überhaupt der Witz.

Prächtig! Er macht sich auf die Socken, schlendert am Strand entlang. Los, beeil dich, Junge, komm, hier spielt die Musik! Ich kann es kurz machen, wenn du willst, ruckzuck. Ja, schau dir in Ruhe die Landschaft an, hier gibt es ja auch so unendlich viel zu sehen. Und nun mach dich herbei - und dann wird die Geschichte mit deiner Hure gleich mit dir erledigt und begraben.

Auf dem Friedhof

Der Säugling schrie ohne Unterlass. Kurz hinter der Tafelbucht war er zur Welt gekommen, doch er war von Anfang kränklich.

Mayken, seine Mutter, reichte dem Kind zum wiederholten Mal die Brust, doch es wand sich in ihren Armen, drehte den Kopf zur Seite und schrie. Es hatte die ganze Nacht lang geweint. Keine der Frauen hatte geschlafen.

Lucretia sah zu, wie die Frauen sich um Mayken und ihr Kind scharten, allen voran Gertje Willemsz, eine Witwe, die eine stattliche Anzahl eigener Kinder geboren hatte und sich bestens damit auszukennen schien.

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Lucretia fühlte sich überflüssig, doch es drängte sie danach zu helfen.

»Kann ich etwas tun?«, fragte sie beflissen.

Der Blick, mit dem Gertje Willemsz sie bedachte, war eindeutig. Was kannst du schon tun? besagte er.

Lucretia schaute zu Boden. Was erwarte ich? dachte sie. Sie haben mich bei sich aufgenommen und sie bieten mir Schutz, doch meine Freundinnen sind sie nicht geworden. Ich hatte einmal eine vornehme Kabine für mich, das allein nehmen sie mir krumm. Und dann ist mir noch etwas zugestoßen, worüber keine von ihnen spricht. Womöglich glauben sie, dass es mir recht geschah.

»Das Kind hat Magenkrämpfe«, erklärte Geertje. »Wir brauchten Kräuter für einen Sud. Doch hier gedeiht ja nichts.«

»Ich könnte den Unterkaufmann um eine Arznei bitten«, schlug Lucretia vor. »Er war früher Apotheker. Vielleicht wurde eine seiner Vorratskisten angespült.«

»Ärzte und Apotheker kennen sich bei Kindern nicht aus«, beschied Gertje sie ruppig.

»Es schadet aber doch nichts, ihn zu fragen«, wandte Lucretia ein.

Gertje runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, doch hinter ihrem Rücken nickte Mayken Lucretia zu.

Lucretia raffte ihre Röcke zusammen und verließ das Zelt.

»Wartet noch einen Augenblick!«, rief Sussie und eilte hinter ihr her.

»Madame«, begann Sussie, als sie Lucretia eingeholt hatte,

»wenn Ihr mit dem Unterkaufmann sprecht, könntet Ihr ihn vielleicht auch nach den Gerüchten fragen.«

»Nach welchen Gerüchten speziell, Sussie? Es gibt jede Menge Gerede.«

»Na, zum Beispiel dem über Ryckert.«

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»Was soll denn der Unterkaufmann über Ryckert wissen? Er ist doch erst später aufgetaucht.«

»Es wird aber seitdem gemunkelt, dass sich Meuterer unter uns befinden. Einige sorgen sich, dass dem Unterkaufmann etwas geschieht. Vielleicht solltet Ihr ihn warnen.«

»Ich werde daran denken.«

Sussie lächelte und knickste. »Danke, Madame«, sagte sie.

Wenigstens eine, die mich zu mögen scheint, dachte Lucretia, ehe sie sich auf die Suche nach Jeronimus begab.

Jeronimus schien sich erholt zu haben. Er sprang auf, als er Lucretia sah.

»Lucretia!«, begrüßte er sie händereibend. »Wenn Ihr wüsstet, wie sehr mich Euer Besuch erfreut!«

Lucretia stutzte. »Guten Tag, Herr Unterkaufmann«, erwiderte sie ein wenig steif.

»Ihr habt also glücklich überlebt«, fuhr Jeronimus überschwänglich fort. »Und Ihr seht wundervoll aus, wenn ich das hinzufügen darf.«

»Wir hatten befürchtet, Euch sei etwas zugestoßen«, entgegnete Lucretia, verwirrt von seinem Gebaren.

»Nicht doch«, winkte Jeronimus ab. »Diese Sorge war gänzlich überflüssig. Ich habe lediglich meine Pflicht getan.

Nicht alle suchen in der Not das Weite. Ich tat mein Bestes, um die Fracht der Companie zu retten. Leider ein hoffnungsloses Unterfangen.« Er deutete auf eine Flasche Wein. »Hättet Ihr Lust, ein Gläschen mit mir zu trinken?«

Lucretia schüttelte den Kopf.

Jeronimus schenkte sich seinen Becher voll.

Lucretia beobachtete verwundert, wie er ihn mit großen Schlucken leerte, und fragte sich, ob er nicht wusste, dass alle Getränke rationiert worden waren.

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»Ich benötige Eure Hilfe«, begann Lucretia.

»Und ich stehe wie immer zu Euren Diensten.«

»Eine der Frauen hat ein krankes Kind«, erklärte Lucretia.

»Ich dachte, als ehemaliger Apotheker hättet Ihr -«

»Bedauerlicherweise nicht«, wehrte Jeronimus ab. »Meine Bücher und Arzneien sind mit der Batavia untergegangen.

Warum versucht Ihr es nicht bei Aris Janz?«

»Ich weiß nicht, ob er der Richtige ist«, entgegnete Lucretia, die sich seiner erfolglosen Bemühungen bei Francois' Krankheit entsann.

»Tja, dann kann ich auch nicht helfen«, bedauerte Jeronimus.

»Das ist zu schade«, murmelte Lucretia. Sie wollte sich bereits wieder zum Gehen wenden, als ihr Sussies Bitte einfiel.

»Da wäre noch etwas«, hub sie an. »Etwas, das Euch womöglich unmittelbar betrifft. Vielleicht habt Ihr es bereits vernommen.«

Über Jeronimus' Gesicht huschte ein Schatten. »Ich fürchte, Ihr müsst deutlicher werden.«

»Erinnert Ihr Euch an einen Mann namens Ryckert?«

Jeronimus verneinte. »Nicht, dass ich wusste. Wer soll das sein?«

»Ein Soldat wohl oder ein Matrose. Ich hörte ihn eines Nachts mit den anderen reden. Es ging um einen Plan, nach dem der Kommandeur hätte ermordet werden sollen. Angeblich steckte auch der Kapitän dahinter.«

»Na, aber!«, rief Jeronimus augenzwinkernd. »Vielleicht hatte da jemand ein bisschen zu tief ins Glas geschaut.«

»Oder er hat die Wahrheit verkündet. Seitdem ist Ryckert jedenfalls fort.«

Jeronimus schürzte die Lippen. »Verstehe ich Euch richtig?«, fragte er mit schief gelegtem Kopf. »Wollt Ihr etwa ein Komplott andeuten? Einen Aufstand? Eine Meuterei?«

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»Etwas in der Art.« Lucretia nickte.

»Und vermute ich richtig, dass Ihr die Verschwörer noch immer unter uns vermutet?«

»So ist es«, bestätigte Lucretia.

»So ist es«, wiederholte Jeronimus versonnen. Er ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. »Hat dieser Mann... hat dieser Ryckert Namen genannt?«

»Nein. Allerdings war Zeevanck auch anwesend. Er schien zu wissen, worum es ging.«

Jeronimus hob die Brauen. »Ist das alles?«

»Reicht das nicht? Dieser Ryckert war übrigens auch der Meinung, der Kapitän kehre nicht zurück.«

»Ach herrje.« Jeronimus lachte. »Euer Ryckert war offenkundig ein ausgesprochener Pessimist.« Er machte eine Pause, ehe er hinzusetzte: »In diesem Punkt kann ich Euch beruhigen, meine Liebe. Jacobs kommt garantiert wieder.«

Lucretia blickte ihn verblüfft an. »Woher nehmt Ihr Eure Gewissheit?«, erkundigte sie sich.

»Verlasst Euch einfach auf meinen Instinkt.«

Lucretia wollte etwas erwidern, doch Jeronimus kam ihr zuvor. »Seid unbesorgt«, versicherte er ihr. »Euch geschieht nichts. Nicht, solange ich hier bin.«

»Ich dachte eigentlich weniger an mich, sondern an -«

»- sondern an mich, und das ehrt mich. Doch in diesem Fall ist Eure Sorge erst recht unbegründet.«

Jeronimus griff nach der Weinflasche. »Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht doch einen Schluck wollt?«

»Ich muss zu den Frauen zurück«, entschuldigte sich Lucretia.

»Vermutlich warten sie auf mich.«

»Dann ein anderes Mal«, erwiderte Jeronimus gut gelaunt.

»Wir habe ja noch ein wenig Zeit, nicht wahr?«

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Lucretia murmelte einen Abschiedsgruß und machte sich auf den Rückweg. Er war nett, er war sogar reizend, sagte sie sich.

Was hat er nur an sich, das mich dermaßen misstrauisch werden

lässt?

Sussie begleitete Anneken Hardens auf einem Spaziergang über die Insel. Hilletje hüpfte munter um sie herum. Bisweilen stürzte sie sich mit einem Freudenschrei auf die winzigen weißen Blumen, die unter den Sträuchern blühten, und pflückte sie zu einem Strauß.

»Hatte Claas sich eigentlich von Tryntgen verabschiedet?«, erkundigte sich Anneken.

»Nein«, antwortete Sussie bedrückt. »Er hat sich wortlos aus dem Staub gemacht.«

Sussie schaute zu Hilletje hinüber, die nun im Sand und unter Steinen nach kleinen Taschenkrebsen suchte. Doch schon im nächsten Moment sprang die Kleine auf und jagte einer Möwe hinterher.

»So sind die Männer nun mal!«, erklärte Anneken mit einem Seufzer.

»Warum sagst du das? Hat Hans dich etwa im Stich gelassen?«, entgegnete Sussie.

»Wahrscheinlich hat sich ihm nicht die Gelegenheit geboten«, gab Anneken nachdenklich zurück.

Sussie betrachtete sie erstaunt. »Liebt er dich nicht?«, fragte sie.

Anneken zuckte die Schultern. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ob man sich liebt, erfährt man erst, wenn es schwierig wird.«

»Das finde ich nicht«, widersprach Sussie. »Ich glaube, dass -

«

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»Ach, Sussie«, sagte Anneken. »Was du glaubst, spielt keine Rolle. Du bist doch noch ein Kind.«

»Lass uns umkehren«, entgegnete Sussie verärgert. »Ich mag es nicht, wenn Tryntgen zu lang mit sich allein ist.«

Die beiden Frauen begaben sich in Richtung Strand zurück.

Anneken rief Hilletje zu sich. Die Kleine zeigte ihrer Mutter stolz ihren kleinen Blumenstrauß.

Wenig später trafen sie auf eine Gruppe Jankers.

»Guten Tag«, sagte Sussie knicksend.

»Wohin so eilig?«, rief einer von ihnen. Die Männer stießen sich heimlich an und verstellten den Frauen den Weg.

Sussie erkannte die beiden van Weiderens, van Luyck und van Os. Ohne zu wissen, warum, wurde ihr bang.

Anneken schien etwas Ähnliches zu empfinden, denn sie zog Hilletje zu sich und nahm sie bei der Hand.

»Lasst uns durch«, bat Anneken leise.

»Hier ist Platz genug«, erklärte van Os. »Vielleicht bist du nur zu fett, um zwischen uns zu passen.«

Seine Gefährten lachten schallend auf. »Nimm dir ein Beispiel an der Kleinen«, fuhr van Os fort, indem er auf Sussie wies. »Sie hätte zwischen jedem von uns Platz.«

»Lasst sie gehen«, befahl van Luyck. »Für so etwas ist später noch Zeit.«

Die Jonkers traten zur Seite.

Sussie spürte, dass ihr Herz vor Furcht zu rasen begonnen hatte. Sie senkte den Blick und hastete an den Männern vorbei.

Plötzlich beugte sich einer von ihnen vor und schlug Hilletje die Blumen aus der Hand. Hilletje machte den Mund auf, um sich lauthals zu beschweren, doch ihre Mutter befahl ihr, still zu sein, und zog sie eiligst mit sich fort.

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»Ist euch nachts nicht zu kalt?«, rief einer hinter ihnen her.

»Sollen wir kommen, um euch zu wärmen?«

Sussie und Anneken wechselten kein Wort, bis sie am Strand angelangt waren, wo sich die anderen Gestrandeten aufhielten.

»Mach dir nichts daraus, Sussie«, brach Anneken schließlich ihr Schweigen. »Das sind harmlose junge Burschen, sonst nichts.«

Als Sussie Anneken anschaute, bemerkte sie, wie bleich die andere geworden war. »Ich bin kein Kind mehr, Anneken«, erklärte sie entschieden. »Und was du sagst, ist nicht richtig, denn wir wissen beide, wovor wir uns gefürchtet haben.«

Anschließend blickte Sussie sich suchend nach dem Kopf mit dem weizenblonden Haar um. Gut, dass mich jemand beschützt, dachte sie, als sie ihn entdeckte.

Sussie sah Lucretia am Strand sitzen. Sie lehnte mit dem Rücken an einem Felsen und blickte auf das Meer. Wie bösartig die Frauen über sie gelästert hatten, dachte Sussie. Ob sie sich ähnlich niederträchtig über sie oder Tryntgen äußern würden, falls ihnen dergleichen geschah? Würden sie dann auch behaupten, sie hätten es ja nicht anders gewollt?

Judith sah zu den Kranken hinüber, die außer ihr kaum jemand zu beachten schien.

Vor allem ihren Vater schienen die Qualen dieser Menschen nicht zu kümmern. Selbst deren Seelenheil ist ihm einerlei, dachte Judith. Er tut, als wären sie gar nicht da.

Judiths Blick verdunkelte sich. Ihr Vater saß behaglich in seinem Zelt und unterhielt sich mit Conrad van Huyssen, stellte sie fest. Seine Füße ruhten auf dem großen Orientteppich, der aus der Offiziersmesse geborgen worden war.

In seinen Predigten versäumte ihr Vater selten, hervorzuheben, Leid läutere den Mensche n und erhöhe ihn vor Gott. Wenn dem so ist, überlegte Judith, sollte er sich dann nicht

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um einen größtmöglichen Anteil an diesem Leid hier bemühen?

Wie konnte es angehen, dass er stattdessen auf doppelten Rationen an Nahrung und Wasser bestand und dass er sich und seiner Familie gleich mehrere Decken pro Kopf beschafft hatte, unter denen sie sich nachts wärmten?

Judith fasste sich ein Herz. Sie stand auf.

Als sie das Zelt betrat, legte ihr Vater Conrad gerade dar, dass das gotteslästerliche Verhalten der Menschen auf dem Schiff ihre Katastrophe herbeigeführt habe, denn der Herr habe ja nicht mehr umhin gekonnt, als seinem Missfallen Ausdruck zu verleihen. Vor allem der Kommandeur, hob er hervor, habe sich seinen Warnungen fortwährend widersetzt, wenngleich er selbst ihm gänzlich unerschrocken ins Gewissen geredet habe...

»Vater...«, setzte Judith an.

Ihr Vater wandte sich um und betrachtete sie erstaunt. »Siehst du nicht, dass ich mich mit Herrn van Huyssen unterhalte?«, fragte er. »Seit wann unterbrichst du mich unerlaubt?«

Judith holte tief Atem. »Seit heute. Ich kann das nicht länger mitansehen. Ihr vernachlässigt die Kranken.«

Ihr Vater schnappte nach Luft. Conrads Lippen kräuselten sich spöttisch.

»Wir müssen etwas tun!«, fuhr Judith entschlossen fort. »Seht Ihr nicht, dass sie leiden?«

»Ich werde für sie beten«, beschied ihr Vater sie, und wedelte ungeduldig mit den Händen.

»Es wäre mir lieber, Ihr brächtet sie in Zelten unter«, entgegnete Judith heftiger, als sie vorgehabt hatte.

Ihr Vater starrte sie sprachlos an.

»Eure Tochter scheint recht leidenschaftlich zu sein«, bemerkte van Huyssen nachdenklich.

Pfarrer Bastians streckte einen wutbebenden Finger aus.

»Hinaus, Judith!«, befahl er. »Und zwar sofort.«

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»Sie brauchen Wasser und ein Dach über dem Kopf«, beharrte Judith störrisch. »Wir besitzen beides und sollten es mit ihnen teilen. Die Bibel sagt, wer zwei -«

Pfarrer Bastians sprang von seinem Sitz auf. »Du wagst es, mich über die Bibel zu belehren?«, rief er, außer sich vor Empörung.

»Weil Ihr unchristlich geworden seid«, gab Judith zurück. Sie war feuerrot geworden und zitterte am ganzen Leib.

»Du... du undankbares Geschöpf!«, schäumte Pfarrer Bastians. »Christlich zu sein, heißt Vater und Mutter zu ehren, vergiss das nicht!« Er ließ sich auf seinen Schemel zurückfallen und warf Conrad einen Mitleid heischenden Blick zu. »Ein halsstarriges Weib«, murmelte er. »Sie muss gezüchtigt werden.«

Conrads Wangen hatten sich bei seinen Worten leicht gerötet und sein Blick ruhte auf Judith.

»Die Kranken brauchen Wasser«, wiederholte Judith hartnäckig.

»Ebenso gut könntet Ihr das Wasser in den Sand gießen«, schaltete Conrad sich nun ein, während er Judiths Miene studierte. »Die Kranken sterben ohnehin.«

»Verschwinde, Judith, ehe ich mich vergesse!«, zischte Pfarrer Bastians. »Herr van Huyssen und ich haben Wichtiges zu besprechen. Auf deinen Ungehorsam komme ich später noch zurück.«

Judith warf den beiden Männern einen hitzigen Blick zu.

Danach machte sie auf dem Absatz kehrt und stürmte zu den Soldaten, die an den Fässern Wache standen. Von ihnen ließ sie sich ihre Wasserration für den Tag austeilen und begab sich damit zu den Kranken.

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XVI

Keine Sorge, ich bin nicht verstummt.

Ich war lediglich beschäftigt, hatte sozusagen alle Hände voll zu tun.

Dabei wollte ich Ihnen doch längst vermittelt haben, dass es dem reinen, tugendhaften Menschen im Allgemeinen an Versuchungen gebricht.

Das ist mir zwar in der Eile ein wenig herausgeplatzt, aber es trifft den Kern.

Ich weiß, Sie möchten sofort die innere Stärke zitieren, mit der sich jemand der Versuchung erwehrt. Nun, innere Trägheit ließe ich vielleicht noch gelten, aber das ist das Äußerste meines Entgegenkommens.

Was aber die innere Stärke betrifft, so stelle ich fest, dass sie in dem Maße sinkt, wie die Versuchung steigt.

Man muss nur den richtigen Köder auslegen, die Schwachstelle finden, an der der Mensch zerbricht.

Möglichkeiten gibt es unendlich viele.

Der Anschaulichkeit halber wählen wir Sie als Beispiel aus.

Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich auf der Insel.

Ich biete Ihnen grenzenlose Macht. Die Bedingungen, die Sie sonst stören, sind außer Kraft gesetzt. Niemand entzieht sich Ihren Wünschen, niemand hindert Sie an der Umsetzung Ihrer Fantasien.

Was würden Sie tun, wenn man Sie ließe?

Widmen Sie sich ruhig für eine Weile Ihren Träumen...

Und? Sagen Sie mir die Wahrheit!

War ein einziger Ihrer Träume tugendhaft?

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Auf dem Friedhof

Die Insel gleicht einem Kerker ohne Mauern, fand Lucretia, und das Leben war ebenso eintönig und karg. Tagein, tagaus gab es nichts zu tun, als das stets gleiche Bild zu betrachten: das Kommen und Gehen der Wellen, die sich am Ufer brachen, die Möwen, die flatternd und kreischend den Strand bewachten oder aber reglos im flachen Wasser standen und den Kopf horchend zur Seite neigten.

Pfarrer Bastians trat gelegentlich in Erscheinung, um dem Herrn arme Seelen zuzuführen. Er hielt die Menschen zur Demut an, zu Entsagung und Reue. Auf diese Weise würden sie sich ihren Lohn für das jenseitige Leben verdienen, wiewohl er sich denselben bereits im Diesseits gewährte.

Die Gespräche der Gefangenen kreisten dagegen um das nackte Überleben, waren auf niedere Belange zusammengeschrumpft, auf die Sorge um Nahrung und Wasser, auf die Suche nach Schutz und die Angst vor dem Tod.

Lucretia spann ihre Gedanken weiter. Genau wie unter Kerkerinsassen waren auch hier seltsame Verbindungen entstanden. Überraschende Bruderschaften wurden geschlossen, wie die zwischen Zeevanck und dem Steinmetz, zwischen den Jonkers und einigen der gemeinen Soldaten. Ebenso ließen sich neue Abhängigkeiten entdecken, allen voran die zwischen Jeronimus und einer Hand "voll abstoßender Gesellen, die jeden seiner Befehle ausführten.

Bisweilen schweiften Lucretias Gedanken jedoch auch in die Ferne und richteten sich auf Francois. In solchen Momenten versuchte sie zu ergründen, was ihn bewegen hatte, die Menschen, die eigentlich seiner Obhut unterstanden, zu verlassen. Ob er sich jemals fragte, wie sie, Lucretia, sich fühlte? Ob sie sich ängstigte, darbte, ob sie starb? Oder war sie

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ihm wie eine Laune verflogen, in Vergessenheit geraten wie ein dummer Zeitvertreib?

Eines Nachts war es so weit. Jeronimus rief seine Anhänger zusammen. Sie hockten um ein kleines Feuer und tranken Wein.

»So wie ich es sehe«, begann Jeronimus, »bedeuten nur die Söldner eine Gefahr. Wir müssen sie von hier fortschaffen.

Anschließend wird es leicht sein, die anderen zu kontrollieren.«

Er blickte in die glänzenden Augen, in denen sich die tanzenden Flammen widerspiegelten.

»Wir wissen nur leider noch nicht, wie wir das anstellen sollen«, murmelte van Huyssen.

Jeronimus ignorierte ihn. Er wandte sich an Zeevanck. »Wart Ihr nicht heute auf der langen Insel im Westen?«

Zeevanck nickte.

»Und?«, drängte Jeronimus. »Wie sieht es dort aus?«

»Wie soll es da aussehen?«, brummte Zeevanck. »Genau wie hier. Ein Felsbrocken mit Gestrüpp und Korallenstrand. Pisse und Schweiß sind das einzige Wasser.«

Jeronimus lächelte zufrieden. »Prächtig«, bemerkte er.

»Morgen setzt Ihr ein zweites Mal über. Nehmt zwei, drei der Jonkers mit. Wir werden behaupten, dass Ihr nach Wasser sucht.

Wenn Ihr zurück seid, verbreiten wir die Mär von einer Wasserstelle, deren Vorrat für alle reicht. Danach werden die Söldner mit leeren Fässern dorthin geschickt. Leider wird es für sie keine Rückkehr mehr geben. Die Natur übernimmt diesmal die Auslese.«

Conrad pfiff anerkennend durch die Zähne.

»Und was geschieht, wenn sie dort tatsächlich auf Wasser stoßen?«, wollte Zeevanck wissen.

»Aber, lieber Zeevanck«, sagte Jeronimus tadelnd. »Unser Herr Kommandeur hat doch wohl jede Insel sorgsam abgesucht, ehe er so sang- und klanglos verschwand.«

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Die anderen brachen in schallendes Gelächter aus.

»Damit hätten wir uns der Söldner entledigt«, ergriff Conrad das Wort. »Und was ist mit ihren Waffen?«

»Na, was wohl?«, fragte Jeronimus. »Die Waffen bleiben hier. Seit wann sind denn zum Wasserholen Schwerter und Säbel nötig?«

Conrad grinste ihn an. »Danach wird niemand mehr wagen, sich gegen uns aufzulehnen. Dann sind wir das Gesetz.«

»Ganz recht«, pflichtete Jeronimus ihm bei. »Anschließend beugt man sich unserem Willen. Wir werden genug zu essen und trinken haben und« - er machte eine Kunstpause - »genug Frauen, um uns zu amüsieren.«

Seine letzte Bemerkung stachelte die Männer auf. Conrad spürte, dass ihm die Hitze durch die Lenden schoss. Der Steinmetz grunzte unbestimmt, rutschte jedoch mehrmals unruhig hin und her.

»Wir können tun, wonach uns verlangt«, hob Jeronimus noch einmal hervor. »Wir sind Herrscher. Und wehe dem, der sich gegen uns erhebt!«

Wiebe beobachtete Pie ter Janz, seinen Feldwebel, der sich mit dem Unterkaufmann zu streiten schien. Die beiden verstummten, als Wiebe zu ihnen trat.

Jeronimus maß Wiebe mit abwägenden Blicken, ehe er sich umwandte und wortlos verschwand.

»Was wollte er?«, erkundigte sich Wiebe, während er den Kopf in den Nacken legte und zu den Möwen hoch sah, die heiser kreischend umeinander schwirrten.

»Herr Cornelius wünscht, dass du mit den anderen Söldnern zu der langen Insel im Westen ruderst und leere Fässer mit Wasser füllst. Zeevanck hat dort eine große Wasserstelle entdeckt.« Janz zwang sich zu einem Lächeln. »Seht zu, dass ihr

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auch auf eine Weinquelle stoßt. Ich könnte einen ordentlichen Schluck gebrauchen.«

»Und was ist mit Euch?«, fragte Wiebe. »Begleitet Ihr uns nicht?«

Janz legte die Hand an den Knauf seines Schwertes. »Der Unterkaufmann möchte mich hier behalten, für den Fall, dass etwas geschieht.«

Wiebe zuckte mit den Schultern. »Na gut«, brummte er. »Mal was anderes. Ich bin es ohnehin leid, den Horizont nach Segelschiffen abzusuchen.«

»Ihr könnt die Messer mitnehmen, um Holz für die Feuer zu schneiden«, fuhr Janz fort. »Die Gewehre und die Schwerter bleiben hier.«

Wiebe blickte den Feldwebel verwundert an. »Seit wann trennen wir uns von unseren Waffen?«, fragte er. »Wir sind schließlich Soldaten, oder nicht?«

»Der Unterkaufmann will es so«, beschied Janz ihn. »Er befürchtet, dass ihr euch in die Haare geratet, und möchte nicht, dass ein Kampf entsteht.«

»Was soll das heißen? Wir sind uns doch bis jetzt auch nicht in die Haare ge raten.«

Der Feldwebel machte eine hilflose Geste. »Mir schmeckt das ebenfalls nicht, aber der Unterkaufmann hat nun einmal die Befehlsgewalt. Er spricht für die Companie.«

»Wer passt sonst noch auf die Leute auf?«, wollte Wiebe wissen.

»Der Steinmetz, glaube ich.«

Wiebe runzelte die Stirn. Ausgerechnet der, dem niemand traut, dachte er.

»Es wäre mir lieber, wenn der Steinmetz mit uns käme«, bemerkte er.

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»Mir auch«, entgegnete Janz mit bekümmerter Miene. »Doch der Unterkaufmann hat es nun einmal anders bestimmt. Tu einfach deine Pflicht, Hayes, und denk nicht darüber nach.«

Wiebe ging kopfschüttelnd davon. Irgendetwas an der Sache war eigentümlich. Er wusste nur nicht, was.

Sussie bemerkte, dass Wiebe über den Strand auf sie zugeeilt kam. Als sie seine hin und her schwingenden Arme sah, lächelte sie, weil er sie an eine Windmühle erinnerte.

Wiebe ist groß und schwer wie ein Ochse, dachte Sussie.

Aber dennoch hatte sie sich noch nie vor ihm gefürchtet. Das war bei van Huyssen ganz anders. Bei dessen Anblick wurde ihr stets unheimlich zu Mute, obwohl er eher zierlich war.

»Ich muss hinüber zu der Langen Insel«, erklärte Wiebe, als er vor Sussie stand. »Der Unterkaufmann sagt, es gibt dort Wasser. Wir füllen die Fässer auf. In ein paar Tagen bin ich wieder da.«

Sussie nagte an ihrer Unterlippe. Der Gedanke an Wiebes Abwesenheit behagte ihr nicht. »Wer fährt noch mit?«, fragte sie.

»Alle Söldner. Die Holländer, die Flamen und die verbliebenen Franzosen«, entgegnete Wiebe. »Na ja«, fügte er hinzu, »ist eigentlich nur gerecht. Seit die Hütten und Zelte fertig sind, haben wir nichts Vernünftiges mehr zu tun, und es sind immer noch genug Männer hier, die Robben jagen und fischen können.«

Sussie betrachtete ihn sehnsüchtig. So jemanden werde ich eines Tages heiraten, beschloss sie. Jemanden, der schlicht, freundlich und zuverlässig ist.

»Ich möchte, dass Ihr mir einen Gefallen tut«, unterbrach Wiebe Sussies Gedanken.

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Er stand nun so dicht vor ihr, dass Sussie sich zwingen musste, nicht ihre Arme um ihn zu schlingen, den Kopf an seine Brust zu betten und sich an ihn zu schmiegen.

»Ihr kennt doch Jan Finten, den Engländer«, fuhr Wiebe unterdessen fort. »Er liegt bei den Kranken, und es geht ihm schlecht. Ob Ihr Euch ein wenig um ihn kümmern könnt? Sorgt dafür, dass er seine Wasserration erhält, und vielleicht kühlt Ihr ihm auch ab und zu die Stirn. Was meint Ihr? Werdet Ihr das tun?«

Sussie nickte. »Ganz gewiss«, versprach sie Wiebe eifrig. Sie freute sich, dass er ihr eine Aufgabe anvertraute. Sie würde den Engländer hingebungsvoll pflegen. Das würde wie ein Gelöbnis sein, das sie und Wiebe verband.

Als Sussie Wiebe ins Gesicht sah, stellte sie fest, dass er mit einem Mal verlegen wirkte. »Ihr seid ein süßes Mädel, Sussie Fredericks«, erklärte er. »Ich hätte Euch gern einmal geküsst.«

Danach machte Wiebe auf dem Absatz kehrt und eilte mit seinen schwingenden Armen über den Strand davon.

Tu's doch! wollte Sussie ihm nachrufen. küss mich gleich hier auf der Stelle! Mit einem Seufzer blickte sie um sich. Leider war die halbe Insel auf den Beinen, und jedermann hätte sie gehört.

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XVII

Wie Sie wissen, mag ich den Bösewicht. Allerdings reizt nicht er selbst mich, sondern eher die Einfalt, mit der die anderen Menschen ihm begegnen.

Stellen Sie sich den Unhold als geiferndes Monstrum vor, als Ungeheuer, dem der Wahnsinn aus den Augen springt?

Nun, in dem Fall ist es Zeit für einen weiteren Exkurs.

Der wahre Schurke ist nämlich freundlich. Er lächelt gefällig und ist galant.

Sie treffen ihn bisweilen in einem Kontor oder in den Salons feiner Leute an. Er ist stets liebenswürdig, er reicht Ihnen die weiche Hand, er weiß zu plaudern, ist feinsinnig, weltgewandt...

Er könnte indes auch ein Dienstbote sein, der sich mit gesenkten Lidern verneigt, dieweil er sich lustvoll ausmalt, wie er Sie meuchelt, metzelt und entehrt.

Der Böse ist demnach ein Meister der Verstellung. Er will, dass Sie ihm in die Falle tappen, denn darin besteht sein Genuss.

Die Missetat selbst ist ihm nachrangig.

Für mich erhält er dadurch eine gewisse Würze, doch Ihnen möchte ich wärmstens empfehlen, auf der Hut zu sein.

Auf der Langen Insel

Die Söldner fluchten, als sie mit nackten Füßen die weißen Korallensplitter berührten. Die ersten hatten sich bereits die Fußsohlen aufgeschnitten. Die anderen legten sich schleunigs t ihre schweren Schnallenstiefel an, ehe sie ins Wasser sprangen.

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Die Insel sieht fast wie der Friedhof aus, dachte Wiebe. Sie war jedoch größer. In der Länge schätzte Wiebe sie auf gut eine Meile.

Es dauerte nicht lang, bis sie die leeren Fässer an Land geschafft hatten, doch van Huyssen ließ es sich dennoch nicht nehmen, großspurig Aufsicht zu führen. Er hatte sich eine Feder an den Hut gesteckt, stolzierte auf und ab und stemmte sich die Fäuste in die Seiten. Vermutlich hält er sich bereits für einen General, dachte Wiebe verächtlich.

Zeevanck war auf einem der Flöße zurückgeblieben. »Die Wasserstelle, zu der ihr laufen müsst, befindet sich am Südende der Insel!«, rief er den Söldnern zu.

»Wenn ihr fertig seid, zündet ihr ein Feuer an«, erklärte van Huyssen unterdessen. »Dann kommen wir euch holen.«

»Wartet Ihr denn nicht?«, erkundigte sich Wiebe.

»Zeevanck und ich rudern zurück«, beschied van Huyssen ihn knapp. »Der Unterkaufmann wünscht das so.«

Wiebe und seine Kameraden tauschten verwunderte Blicke.

Davon hatte der Feldwebel nichts gesagt.

Schließlich" zuckte Wiebe die Achseln. Was soll's? überlegte er. Auf die Gesellschaft von Zeevanck und van Huyssen konnten sie gut verzichten. Lediglich die Flöße hätte er lieber in Reichweite gewusst.

Wiebe schaute zu, wie van Huyssen mit vorsichtigen Schritten durch die seichte Lagune watete. Abermals beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl.

Van Huyssen kletterte auf das Floß, und Zeevanck legte ab.

»Bis bald!«, rief Zeevanck fröhlich.

Und wenn sie nun nicht mehr wiederkommen? fuhr es Wiebe durch den Sinn. Doch er wischte den Gedanken fort. Sie mussten ja zurückkehren, fiel ihm ein. Die Menschen auf dem Friedhof benötigten schließlich das Wasser.

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Auf dem Friedhof

Auf der Batavia waren Fragen und Streitigkeiten von eine m Schiffsrat geregelt worden, der aus dem Kommandeur, dem Kapitän, dem Unterkaufmann, dem Ersten Steuermann, dem Schiffsmarschall und dem Pfarrer bestand. Er tagte gewöhnlich in der Offiziersmesse bei einem Essen und einer guten Flasche Wein.

Inzwischen ha tte sich ein neuer Rat gebildet, der sich aus dem Pfarrer, Pieter Janz, Zeevanck und Deschamps zusammensetzte.

Seit Jeronimus auf der Insel angekommen war, stand er diesem Rat vor.

Wenn die Mitglieder vor Jeronimus' Zelt zusammentrafen, gesellten sich die Bewohner der Insel ihnen zuweilen zu. Es war ihnen allerdings nur gestattet zuzuhören. Ein Mitspracherecht besaßen sie nicht.

An diesem Tag hatte Jeronimus jedoch darauf bestanden, dass der Rat sich zu einer vertraulichen Sitzung zusammenfand.

Pfarrer Bastians tauchte als Letzter auf. Er hielt seine Bibel an sich gedrückt und ließ sich mit salbungsvoller Miene nieder.

Wenn er wüsste, wie sehr ich ihn verachte! dachte Jeronimus.

Im Geiste sah er eine ganze Reihe schwarz gewandeter Gestalten mit verkniffenem Gesichtsausdruck auf einer langen Holzbank sitzen und über seinen Freund Torrentius richten. Er hörte die kleinlichen Fragen, die ihr kümmerlicher Verstand gebar, und fragte sich, wie derartige Krämerseelen sich anmaßen konnten, die Gedanken eines Torrentius oder gar die endlose Größe des göttlichen Willens begreifen zu wollen.

Mit einem Seufzer kehrte Jeronimus in die Gegenwart zurück.

Er eröffnete die Versammlung und legte den ersten Punkt seiner Tagesordnung vor.

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Die Insel, erklärte Jeronimus den Ratsmitgliedern, sei zu überfüllt, um ein friedliches Miteinander der Menschen zu gewähren. Infolgedessen habe er beschlossen, die Gestrandeten in Gruppen aufzuteilen und etliche davon auf die umliegenden Inseln zu verlagern.

Während er seine Gründe darlegte, weidete Jeronimus sich insgeheim an der Verblüffung, die sich auf den Gesichtern seiner Ratsbrüder abmalte.

Wie bequem sie bereits wieder geworden sind! dachte er spöttisch. Wie behaglich sie sich abermals im Bestehenden eingerichtet haben und sich gegen Veränderungen sträuben, und sei die Lage noch so schlecht!

Für eine Weile schwiegen alle, bis Pieter Janz das Wort ergriff und unsicher fragte: »Muss das denn wirklich sein?«

»Ich denke schon«, erwiderte Jeronimus. »Die Reinlichkeit lässt zu wünschen übrig, da die Bedingungen unzulänglich sind.

Zudem benötigen wir bereits jetzt das Buschwerk der Nachbarinseln, um unsere Feuer in Gang zu halten, und von dort beziehen wir auch einen großen Teil dessen, was wir verzehren.

Was läge also näher, als die Menschen auf diesen Inseln anzusiedeln?«

»Und wie stellt Ihr Euch das vor?«, erkundigte sich Pfarrer Bastians.

»Pieter Janz wird einen Teil auf die Verräterinsel rudern.

Einen weiteren Teil verlegen wir auf die Insel, auf der die Robben wohnen.«

Der Pfarrer nickte. »Für mich hört sich das äußerst vernünftig an.« Er belohnte Jeronimus mit einem schmeichlerischen Lächeln. »Ich stimme dem Plan zu.«

Jeronimus erwiderte sein Lächeln. Du dummer, törichter Esel, du wirst dich noch wundern, dachte er. Er musterte die Gesichter der anderen.

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Lediglich Pieter Janz schien noch unschlüssig zu sein.

»Überdies ist mir zu Ohren gekommen«, begann Jeronimus abermals, »dass es vor meiner Ankunft zu Handgreiflichkeiten kam. Ich wünsche nicht, dass sich derlei wiederholt. Ihr vermochtet wohl damals nicht für Ruhe zu sorgen, Janz - oder wie war das?«

Janz blickte betreten zu Boden und schwieg.

»Ganz richtig«, pflichtete Pfarrer Bastians Jeronimus bei. »Es war schändlich. Der Herr musste sein Haupt verhüllen.«

Jeronimus nickte ihm anerkennend zu. »Deshalb werden wir noch ein Weiteres tun«, erklärte er sanft. »Wir werden alle Waffen einsammeln und sie sicherstellen. Auf diese Weise schließen wir jede weitere Schändlichkeit aus.«

Pieter Janz zog hörbar den Atem ein, doch er wagte es nicht, sich dem Unterkaufmann zu widersetzen.

»Nimmt der Rat meinen Vorschlag an?«, fragte Jeronimus.

Pfarrer Bastians reckte seine Hand in die Höhe. Schließlich folgte Deschamps seinem Beispiel, und wenig später schloss sich Pieter Janz ebenfalls an.

»Ausgezeichnet«, lobte Jeronimus. »Dann werden wir unsere Beschlüsse umgehend in die Tat umsetzen.« Er lachte belustigt auf, ehe er ein wenig unvermittelt hinzufügte: »Was glaubt ihr, was für Augen der Kommandeur machen wird, wenn er uns bei seiner Rückkehr so gesund und rüstig antrifft.« Danach stieß er Pfarrer Bastians aufgeräumt in die Seite und forderte ihn auf, die Versammlung mit einem schönen Gebet abzuschließen.

Als ihr Vater das Zelt betrat, erkannte Judith sofort, dass er sich bester Laune erfreute. »Nun wird alles gut«, verkündete er in die Runde. »Der Herr ist uns wohlgesinnt. Er hat uns den Unterkaufmann als Boten gesandt. Er richtet die Dinge nach seinem Willen.«

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Vierzehn Grad und zehn Minuten südlicher Breite dreiundzwanzigster Tag des Juni im Jahre des Herrn, 1629

Ob ich auch so elend aussehe wie sie? überlegte Francois, während sein Blick über die anderen wanderte. Wie die Opfer einer Schlacht lagen die Männer da, mit verfilztem, abstehendem Haar, leeren, geröteten Augen und aufgeplatzten Wunden dort, wo sic h das Salzwasser in ihre Haut gefressen hatte. Etliche hatte Fieber und fantasierten vor sich hin.

Inzwischen hatte Francois begriffen, wie groß die Versuchung war, Meerwasser zu trinken. Bereits seit einer geraumen Weile schimmerten statt des Meeres bauchige Karaffen mit frischem Wasser vor seinen Augen, und bisweilen ertappte er sich dabei, dass seine ausgestreckten Hände danach griffen. Dann wieder veränderte sich das Meer, nahm die Gestalt eines Bergsees an, so rein und klar, dass alles in Francois danach schrie, sich über Bord zu beugen, um von diesem köstlichen Nass zu schlürfen.

Er musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um das schöne Trugbild und den Abgrund der Wirklichkeit auseinander zu halten.

Ich muss diesen Kampf gewinnen, beschwor sich Francois.

Wenn ich nachgebe, bin ich verloren. Er hatte festgestellt, dass es ihn stärkte, wenn er sich seiner Würde entsann. Zu diesem Zweck behielt er seinen Kommandeurshut auf und strich sich gelegentlich über sein Hemd und dessen Spitzenbesatz, wenngleich der längst grau und steif geworden war.

Jan Everts erwachte und blinzelte. »Wo sind wir, Skipper?«, murmelte er.

Jacobs stand an der Ruderpinne. Im fahlen Morgenlicht hoben sich seine kantigen Gesichtszüge scharf ab. Er schien weder Hunger noch Durst zu kennen. »Bald ist Land in Sicht«, knurrte er.

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»Das habt Ihr gestern auch schon gesagt«, murrte eine Stimme. »Und vorgestern auch.«

Dem Kapitän schoss das Blut in den Kopf.

»Das Große Südland liegt bereits seit einer Woche hinter uns«, ließ sich eine weitere Stimme vernehmen.

»Jacobs tut nur so, als wisse er, wo's lang geht«, spottete Halfwaack. »Doch in Wahrheit leitet ihn sein Schwengel.«

»Halt die Klappe«, grunzte der Kapitän.

»Wenn du die Hure da hinten nicht so fleißig besprungen hättest«, fuhr Halfwaack unbeirrt fort, indem er in Richtung der schlafenden Zwaantie nickte, »wären wir noch immer auf der Batavia.«

Das Gesicht des Kapitäns nahm eine äußerst ungesunde Farbe an. Es wirkte bläulich.

»Du wolltest ja nicht auf mich hören«, stichelte Halfwaack weiter. »Ich hatte dir gesagt, lass die Finger von der Dirne.«

In der Hand des Skippers blitzte sein Messer auf. »Noch ein Wort«, zischte er, »und du erteilst deine weiteren Ratschläge den Fischen.«

»Vielleicht sollten wir den Kapitän in Ruhe seine Arbeit verrichten lassen«, schaltete sich Francois ein. »Es sei denn, wir hätten einen unter uns, der glaubt, er könne das besser.«

Niemand erwiderte etwas.

Francois richtete seinen Blick auf den Skipper, der sein Messer schwer atmend zurück in die Scheide schob.

»Nun, wie sieht es aus?«, fragte Francois in die Runde. »Weiß jemand, wie wir nach Java kommen?«

Die Männer schauten zu Boden.

Francois fing den Blick des Skippers auf. Er glaubte sogar, ein anerkennendes Nicken zu bemerken. Mehr Dank ist von einem Adriaen Jacobs nicht zu erwarten, sagte er sich.

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Er musste sich dennoch ein Schmunzeln verbeißen. Da sieh einer an! dachte er amüsiert und verwundert zugleich. Wer hätte geglaubt, dass der Kapitän und ich eines Tages auf einer Seite stehen?

Auf dem Friedhof

Jeronimus hatte den Inselrat zu einer öffentlichen Versammlung einberufen.

Lucretia erschien, weil Andries de Vries ihr zugeflüstert hatte, es sei wichtig.

In der vergangenen Nacht hatte ein Matrose, der die Vorräte bewachte, ein Weinfass angestochen und sich daraus bedient.

Offenbar hatte er auch seine Kameraden angestiftet, denn in den frühen Morgenstunden wurden mehrere Männer betrunken neben den Fässern aufgefunden.

Jeronimus ließ den Rat nahezu eine Stunde lang in der Sonne warten, ehe er erschien. Dann jedoch tauchte er in der Kleidung des Kommandeurs auf, die er, wie Andries Lucretia zuwisperte, aus dessen Truhe geplündert hatte. Lucretia gewahrte einen frischen weißen Spitzenkragen unter einem dunklen Rock und einen weißen Hut, um dessen Krone sich eine schwere Goldkette wand. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht zu kichern, denn inmitten der ganzen abgerissenen Gestalten wirkte Jeronimus' Anblick eindeutig komisch. Die Lust zu lachen verging Lucretia indes, nachdem sie Jeronimus' Miene gewahrte.

Bis auf wenige Ausnahmefälle hatte Lucretia Jeronimus stets zuvorkommend erlebt, doch an diesem Morgen wirkte er ausgesprochen wütend und merkwürdig erregt. Er blieb hoch aufgerichtet stehen, stemmte die Fäuste in die Seiten und maß die Versammelten mit zornigem Blick.

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Was hat er vor? fragte Lucretia sich. Was will er mit diesem Auftritt bezwecken?

»Also«, ertönte Jeronimus' schneidende Stimme. »Ihr wisst, weshalb wir hier versammelt sind.«

»Lieber Herr Cornelius«, begann Pfarrer Bastians unterwürfig,

»bitte setzt Euch doch hin und lasst uns in Ruhe über den Vorfall reden.«

»Nein!«, entgegnete Jeronimus kalt. »Hier gibt es nichts zu bereden. Es geht um Männer, die sich meinen Befehlen widersetzten.« Jeronimus machte eine Pause. »Diese Befehle waren auf unser Überleben ausgerichtet«, fuhr er mit erhobener Stimme fort. »Ich plädiere deshalb für den Tod der Schuldigen.«

Die Ratsmitglieder tauschten entsetzte Blicke.

Die Umstehenden wirkten wie gelähmt.

»Herr Unterkaufmann«, hub Pieter Janz schließlich an, »ich stimme Euch insofern zu, als dass der Wachmann eine harte Strafe verdient. Seine Kameraden hingegen nahmen aber doch nur, was man ihnen bot. Womöglich wussten sie nicht einmal, woher der Wein stammte.«

Jeronimus funkelte ihn aufgebracht an. »Das ist eine überaus fadenscheinige Erklärung«, erwiderte er. »Wie konnte der Wein anders als gestohlen sein?«

»Dennoch sind ihre Vergehen geringer«, beharrte Pieter Janz.

»Sie haben getrunken, jedoch nicht gestohlen. Das ist ein Unterschied.«

»Was fällt Euch ein, mich zu korrigieren?«, schrie Jeronimus außer sich. »Seit wann seid Ihr ein Advokat des Verbrechens geworden?«

Die Ratsmitglieder erschraken sichtlich. Pfarrer Bastians presste die Bibel fester an sich.

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»Darum geht es nicht, Herr Unterkaufmann«, nahm Janz einen neuerlichen Anlauf. »Ich finde lediglich, eine derart drastische Entscheidung liegt in der Verantwortung des gesamten Rates.«

Jeronimus wurde kreidebleich. »Wenn wir zulassen, dass der Diebstahl unserer Rationen keine drastische Strafe nach sich zieht«, zischte er, »kann ich für unser Überleben nicht länger garantieren.«

»Eure Worte enthalten viel Wahrheit«, schaltete Pfarrer Bastians sich eilig ein. »Aber vielleicht reicht es tatsächlich, nur den Wachmann hinzurichten. Was seinen Kameraden betrifft, zöge auch ich ein milderes Urteil vor.«

»Ihr werdet nach meinen Wünschen abstimmen«, beschied Jeronimus ihn eisig. »Für die Schuldigen gilt der Tod durch Ertränken.«

Lucretia sah, dass der Feldwebel und Pfarrer Bastians tuschelnd die Köpfe zusammensteckten. Beide wirkten verstört, wohingegen Zeevanck gleichgültig in die Runde blickte.

Deschamps knetete lediglich seine Finger, ihm schien es die Sprache verschlagen zu haben.

Lucretia schaute sich um. Hinter sich entdeckte sie Andries'

furchtsame Miene. Alle anderen schienen noch immer wie versteinert zu sein.

Jeronimus wurde ungeduldig. »Ich verlange die Todesstrafe für jeden der Schuldigen! Diejenigen, die mir zustimmen, heben die Hand.«

Zeevancks Hand flog als Einzige in die Höhe.

Jeronimus lief dunkelrot an, und das Atmen schien ihm Schwierigkeiten zu bereiten. »Das wird euch noch Leid tun«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, ehe er auf den Hacken kehrtmachte und verschwand.

Zeevanck erhob sich, um ihm zu folgen.

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Lucretia blickte ihnen verblüfft nach. Der Wutanfall des Unterkaufmanns kam ihr nahezu kindisch vor, nur ein Aufstampfen mit dem Fuß hätte noch gefehlt. Sie musste sich abermals zwingen, ernst zu bleiben.

Lucretia war jedoch die Einzige, die Jeronimus' Auftreten erheiternd fand. Alle anderen begaben sich mit besorgten Mienen in ihre Unterkünfte zurück.

Später lag eine unnatürliche Stille über der Insel, so als ob jeder die Luft anhielte, um sich gegen ein drohendes Strafgericht zu wappnen.

Abends traf Lucretia auf Andries, der mit bedrückter Miene am Strand kauerte und die Arme um seinen Oberkörper geschlungen hatte. Als er ihrer ansichtig wurde, sprang er auf.

»Madame«, murmelte er errötend. »Ich bin froh, Euch zu sehen. Ich hatte gehofft... ich muss Euch etwas berichten.«

Lucretia lächelte. Höfliche Anreden war sie nicht mehr gewohnt. Sie blickte an ihrem Samtkleid hinab, auf die Salzränder und den zerschlissenen Saum. Danach betrachtete sie ihre Hände mit den schmutzigen Rändern unter den abgebrochenen Fingernägeln. Zwaantie würde meinen Anblick genießen, fuhr es ihr durch den Sinn. Sie würde sich daran weiden, wie weit es mit ihrer Herrin gekommen war.

»Ist denn etwas vorgefallen?«, erkundigte sich Lucretia.

»Der Inselrat wurde aufgelöst«, erklärte Andries. »Jeronimus hat Deschamps durch van Huyssen ersetzt und den Feldwebel durch den Steinmetz.«

»Durch den Steinmetz?«, fragte Lucretia ungläubig nach.

»Der Steinmetz ist halb verblödet. Wie kann so jemand Mitglied eines Rates werden?«

Andries zuckte die Achseln.

»Was hat der Feldwebel dazu gesagt?«

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»Nichts«, erwiderte Andries. »Was soll er denn sagen? Die Söldner, die hinter ihm standen, sind fort, um die Wasserfässer zu füllen. Außerdem verlässt er uns morgen selbst, da er die Freiwilligen auf die Verräterinsel rudert.«

Lucretia ließ sich auf den Strand nieder. Andries setzte sich in gebührendem Abstand von ihr ebenfalls wieder hin.

»Es war sowieso nur eine Frage der Zeit«, murmelte er.

»Was meinst du damit?«

»Es spielen sich seltsame Dinge ab, Madame, Dinge, von denen die meisten hier keine Ahnung haben.«

»Nenn mir ein paar Beispiele.«

Andries pflückte ein Korallenbäumchen ab und schleuderte es in die Wellen. »Wisst Ihr eigentlich, wie viel Wein wir haben und wie viel Wasser?«

»Nein.« Lucretia schüttelte den Kopf.

»Seht Ihr«, murmelte Andries. »Und allen anderen geht es ebenso. Die Einzigen, die die genaue Menge kennen, sind Jeronimus und seine Spießgesellen. Sie tun so, als besäßen wir nur noch wenig, und teilen alles unter sich auf.«

»Willst du behaupten, dass Jeronimus uns betrügt?«

Andries nickte. »Der Wachmann hatte sich an Jeronimus'

bestem Wein vergriffen. Kein Wunder also, dass der Unterkaufmann außer sich war.«

Lucretia war verwirrt. Bislang hatte sie Jeronimus für einen zuverlässigen Diener der Companie gehalten, für jemanden, der sich nichts zuschulden kommen ließ. Gewiss war er ihr zuweilen eigentümlich vorgekommen, doch sie hatte stets angenommen, dass dies ihr persönlicher Eindruck war, der sich durch nichts Greifbares begründen ließ.

»Wart Ihr jemals in seinem Zelt?«, fuhr Andries unterdessen fort.

»Ganz am Anfang«, erwiderte Lucretia. »Später nicht mehr.«

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»Das passt«, erklärte Andries verdrossen. »Er erlaubt den Zutritt nur seinen Auserwählten, denn außer ihnen darf niemand sehen, wie er lebt. Er besitzt die große Truhe des Kommandeurs, seinen kostbaren Teppich, seine Kerzenleuchter, seine Becher -

überhaupt alles, was wertvoll ist. Es wurde für ihn aus der Batavia gestohlen.«

»Andries«, versuchte Lucretia den jungen Mann zu besänftigen, »er ist doch inzwischen unser Kommandeur.

Vielleicht ist das alles sein gutes Recht -«

»Er tut aber so, als handele es sich um sein Eigentum«, fiel Andries Lucretia ins Wort. »Es ist jedoch das Eigentum von Herrn Pelsaert und der Companie.«

»Hast du je mit jemand anders darüber gesprochen?«

»Nur mit Pfarrer Bastians. Er hat es Jeronimus vorgetragen.

Angeblich hat er daraufhin wie ein Wahnsinniger getobt.«

»Nun, womöglich will der Unterkaufmann die Gegenstände lediglich hüten.«

Andries lächelte bitter. »Ich kenne ihn besser, als Ihr denkt.«

Ein Gefühl des Unbehagens kroch Lucretia über den Rücken, doch noch ehe sie Andries weiter befragen konnte, hörten sie Schritte näher kommen.

Lucretia wandte sich um.

Jeronimus.

Andries erschrak und begann unmerklich zu zittern.

»Andries, solltest du nicht Deschamps bei der Arbeit helfen?«, fragte Jeronimus, indem er dem Jungen mit dem Finger drohte.

Andries machte wortlos kehrt und rannte davon.

Jeronimus lächelte Lucretia an. Sein Gemütszustand hatte sich offenbar gewandelt.

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»Diese jungen Leute«, bemerkte er nachsichtig. »Den lieben langen Tag wollen sie herumsitzen und plaudern. Doch Müßiggang ist aller Laster Anfang.« Er verneigte sich galant, bevor er sich umwandte und Andries folgte.

Elf Grad und dreißig Minuten südlicher Breite fünfundzwanzigster Tag des Juni im Jahre des Herrn, 1629

Unter dem zinkfarbenen Himmel und der brütenden Hitze wirkte das Meer schwer und träge wie Öl.

Jacobs war der Erste, der den umhertreibenden Seetang entdeckte. »Land in Sicht«, verkündete er zufrieden.

Die anderen fuhren hoch.

»Na, was sagst du jetzt?«, wandte Jacobs sich an Halfwaack.

»Vor acht Tagen haben wir die Küste des Südlands verlassen.

Jetzt ist es geschafft. Genau wie ich es gesagt habe.« Er schaute triumphierend in die Runde. »Ich habe es gewusst! Ich täusche mich nicht.«

Zwei Tage später sahen sie Java am Horizont auftauchen.

Zuerst war es ein Berg, den sie anfänglich für eine Wolke hielten, bis sie im Dunst seine grüne Spitze hervorschimmern sahen. Ihm vorgelagert befand sich eine Insel, die von einer schmalen Felsenkette geschützt wurde. Bald darauf konnten sie bereits die Hütten eines Dorfes ausmachen. Sie zogen es jedoch vor, weiterzusegeln, da es sich bei den Bewohnern um Untertanen des Sultans von Mataram handeln konnte, der mit der Companie in Fehde lag.

Nachts ankerten sie in sicherer Entfernung vor der Küste und schliefen abermals in ihrem Boot. Die Luft war feucht und warm, und das Meer breitete sich so still um sie herum aus, dass die eiskalten Stürme, die sie erlebt hatten, wie ein böser Traum wirkten.

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Einzig Francois und der Skipper waren wach. Unter einer schmalen Mondsichel saßen sie am Heck und schwiegen versonnen.

Jacobs starrte zum Himmel empor und beobachtete die Sterne.

Er lauschte dem sanften Wellenklatschen und hörte den Säugling greinen und wieder verstummen. Schließlich neigte er sich ein wenig zu Francois hinüber und fragte leise: »Was wird nun, wenn wir in Batavia sind?«

»Na, was wohl? Wir nehmen ein Schiff und segeln so bald wie möglich zurück.«

»Ich dachte mehr an eine andere Sache«, murmelte der Kapitän. »Ich spreche von dem, was zwischen uns ist.«

Francois lächelte vor sich hin. »Ich weiß nicht recht, wovon Ihr redet.«

»Was werdet Ihr dem Gouverneur erzählen?«, fragte Jacobs ungeduldig.

Francois ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Ich werde ihm erzählen, dass Ihr unser Leben gerettet und uns allen Widrigkeiten zum Trotz nach Java gesegelt habt.«

»Werdet Ihr mir das Auflaufen des Schiffes anlasten?«

»Das ist eine Angelegenheit, die Ihr dem Gouverneur persönlich erklären müsst. Was mich betrifft, so weiß ich nicht, wie das möglich war.«

»Was ist mit der Geschichte in der Tafelbucht?«

»Was für eine Geschichte? Ich fürchte, mein Gedächtnis lässt mich im Stich. Ich erinnere ich mich lediglich an die letzten Tage und daran, wie Ihr uns gerettet habt.«

»Und was wird aus Jan?«

»Das ist etwas anderes, Jacobs. In dem Fall kann und will ich nicht schweigen. Für den Überfall auf Frau van der Mylen wird er bestraft.«

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»Was ist, wenn er mich mit hineinzieht? Was, wenn er mich als Hintermann bezichtigt?«

Jacobs beobachtete den Kommandeur aus den Augenwinkeln.

Er steckt mit mir in der Klemme, dachte er. Er braucht mich, damit ich seine Aussagen bestätige. Ich muss bezeugen, dass er nicht pflichtvergessen war. Außerdem weiß er, dass ich der Einzige bin, der das Wrack aufspüren kann, und wenn er der Companie nicht das Silber beschafft, ist seine Zukunft dahin.

»Warum sollte Jan Euch bezichtigen?«, hörte er den Kommandeur fragen.

»Was weiß ich«, entgegnete der Kapitän. »Um mich zu Fall zu bringen, vielleicht. Er ist wütend, weil ich ihm nicht aus dem Kerker geholfen habe.«

»Habt Ihr denn tatsächlich hinter dem Angriff auf Frau van der Mylen gestanden?« Francois blickte Jacobs nun voll ins Gesicht. »Wenn dem so ist«, setzte er hinzu, »kann ich nichts für Euch tun. Ein derartiges Verbrechen nehme ich nicht hin.«

»Ich hatte damit nichts zu schaffen. Ich schwöre es.«

Francois seufzte tief auf.

Er ist erleichtert, erkannte der Skipper. Letztlich ist er doch kein Narr und hat erfasst, dass wir beide in der Tinte sitzen, wenn wir uns nicht gegenseitig helfen.

»Der Gouverneur wird uns mit Sicherheit unangenehme Fragen stellen«, begann Francois nach einer Weile. »Ihr habt das Schiff der Companie verloren - und ich ein beträchtliches Vermögen. Wir sollten uns einigen. Was haltet Ihr davon?«

Als der Kapitän schwieg, fuhr Francois eindringlicher fort:

»Gewiss hatten wir in der Vergangenheit Schwierigkeiten miteinander, doch das ist nun vorbei. Inzwischen habe ich mir ein neues Bild von Euch gemacht. Ihr seid ein Held, Adriaen.

Überdies gibt es niemandem, dem ich zutrauen würde, die Batavia wiederzufinden.«

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Jacobs grinste. Sie hatten sich eindeutig verstanden.

»Ihr seid im Grunde gar kein so übler Bursche, Francois«, lobte der Skipper und klopfte ihm auf die Schulter. Danach erhob er sich, um sich einen Platz zum Schlafen zu suchen.

Auf dem Friedhof

Lucretia saß am Strand, als Jeronimus neben ihr auftauchte.

Er machte einen ausgesprochen zufriedenen Eindruck und überreichte ihr einen zerknitterten Bogen Papier.

Lucretia nahm ihn verwundert entge gen. Er war beschrieben.

Sie erkannte die Handschrift von Francois. Sie war indes kaum zu lesen, denn die Tinte war an etlichen Stellen ausgelaufen und verschmiert.

Lucretia versuchte, die Worte zu entziffern.

AN DIE PASS IEREUNDD MA SCHA T DER BATAV

Da auf der In d Gestr d ten kein Tri wa r vor den ist, wer ich mich mit ei Expe ion auf die ho Insel bege , um mit Gott Hilfe fri Wasser zu f den. Sobald die Me hen versorgt sind, we ich nach Java se In, um den Gouv eur zu unterrichten und um Hi zu bit n.

Wir wer alles Men nmög tun, um eu aus eurer Not zu erre n.

Eigenh ig verf und untersch eben.

FRANCOIS PELSAERT

Lucretia spürte, dass Jeronimus sie ansah, während sie den Text studierte. Als sie ihm das Papier zurückreichte, begegnete sie seinem Blick. Ihre Miene wurde verschlossen. Sie wollte nicht, dass er merkte, wie schwer ihr das Herz geworden war.

»Wo habt Ihr das gefunden?«, erkundigte sie sich leise. »Pieter Janz hat es auf der Verräterinsel entdeckt.« Lucretia blickte zu Boden. Sie hasste diese Bezeichnung. Francois war kein Verräter.

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»Ich habe es immer gewusst«, triumphierte Jeronimus. »Euer Liebster ist geflüchtet und hat uns aufgegeben.«

Lucretia hob die Brauen. Euer Liebster? Sie entsann sich einer früheren Begebenheit, in der Jeronimus ähnliche Anspielungen gemacht hatte. Es war in der Nacht des heftigen Sturmes gewesen, als sie sich noch auf der Batavia befanden. Was geht in diesem Menschen vor? überlegte sie. Woher stammen die seltsamen Schwankungen seines Gemüts? Wie kommt es, dass er an einem Tag liebenswürdig, am anderen aber abscheulich und zudringlich ist?

»In diesem Fall versteht Ihr sein Schreiben anders als ich«, bemerkte Lucretia abweisend.

Jeronimus machte eine wegwerfende Geste. »Er hat uns aufgegeben«, wiederholte er. »Er hatte niemals vor, zurückzukommen. Weder wegen Euch noch wegen irgendeinem anderen. Er hatte stets nur seine eigene Sicherheit im Sinn.«

»In dem Brief steht das Gegenteil«, beharrte Lucretia trotzig.

»Im Übrigen meine ich mich zu erinnern, dass Ihr einmal sehr überzeugt von unserer Rettung spracht.«

»Dann solltet Ihr versuchen, Euch genauer zu erinnern«, forderte Jeronimus Lucretia auf. »Ich sprach davon, dass der Kapitän wiederkehrt. Von Eurem Buhlen war nie die Rede.«

»Ihr scheint Euch zu vergessen«, erklärte Lucretia eisig, indem sie sich erhob. »Oder Ihr wisst nicht mehr, wen Ihr vor Euch habt.« Sie raffte ihre Röcke zusammen.

Jeronimus ergriff ihren Arm. »Ich mag es, wenn Ihr hochfahrend sein«, raunte er. »Treibt es dennoch nicht zu weit.

Ihr habt jetzt nur noch mich.«

Lucretia riss sich los. »Besten Dank«, zischte sie wütend. »Ich fürchte nur, ich brauche Euch nicht.«

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Jeronimus lächelte amüsiert. »Da irrt Ihr Euch sehr, meine zornige Schöne. Ihr werdet mich noch mehr brauchen, als Ihr denkt.«

Seine letzten Worte verhallten jedoch ungehört, denn Lucretia entfernte sich bereits mit ungeduldigen Schritten.

Wie genüsslich er mir Francois' Untreue vor Augen gehalten hat! Und wieso ist er seiner Sache so sicher? ging es Lucretia durch den Sinn, ehe ihre Gedanken sich zu überschlagen begannen und sie sich immer wieder fragte, ob sie sich denn wahrhaftig derart in Francois getäuscht hatte. Hatte er sie im Stich gelassen, um sich zu retten? Steckte unter seiner gewandten, klugen Art in Wirklichkeit der Verräter, der Feigling, der Schuft? Empfand er endgültig nichts mehr für sie?

Hatte er seinen Brief lediglich als fadenscheinige Ausrede hinterlassen?

Sechs Grad und achtundvierzig Minuten südlicher Breite sechsundzwanzigster Tag des Juni im Jahre des Herrn, 1629

Am anderen Morgen setzten sie in Java an Land.

Im ersten Glückstaumel fielen sie auf die Knie. Einige berührten den Boden innig mit den Lippen, so als sei er der teure Ehemann oder das teure Eheweib, das sie vor langer Zeit in Holland zurückgelassen hatten. Danach sammelten sie am Strand Kokosnüsse, schlugen sie mit Steinen auf und ließen sich die süße Milch durch die ausgedörrten Kehlen rinnen.

Der Skipper entdeckte den Wasserfall. Er mündete in einen Teich, ehe er als Bach im dichten grünen Blättergewirr verschwand.

Ausge lassen warfen sie sich in das tiefblaue Gewässer, tauchten, schluckten, schlürften, soffen, spien übermütig

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Fontänen in die Luft, rannten unter die Sturzbäche und ließen sie sich auf Kopf und Schultern platschen.

Später, nachdem sie ihren Durst gestillt hatten, sanken sie zufrieden in den Schatten hoher Farne.

Doch selbst als er dort lag und die Augen schloss, glaubte Francois, ihn dürste noch immer. Ein über das andere Mal fuhr er sich mit seiner Zunge über die Lippen und schmeckte den letzten Tropfen nach.

Jan Everts war wie alle anderen in den Teich gerannt und hatte sich vorgebeugt, um zu trinken, doch währenddessen achtete er darauf, dass der Kommandeur nie aus seinem Gesichtsfeld verschwand.

Säuft wie ein Tier, der feine Herr, dachte Jan. Lacht wie ein Idiot und schüttet sich Wasser ins Gesicht. Hätte nie geglaubt, dass der es schafft. Wie ein Leichnam hat er im Boot gelegen, und der Skipper hatte ihn aufgegeben, doch der Skipper hat auch nicht immer Recht, das war klar, denn sonst wären sie nie in diesem Boot durch die Stürme getrieben, als hätten sie die Arche Noah verpasst.

Den ganzen Morgen über verfolgte Jan den Kommandeur mit seinen Blicken, beobachtete, wie er mit den anderen scherzte, Kokosnüsse aufschlug, sie leer trank und zum Schluss sogar mithalf, die Wasserfässer zu füllen und zum Boot zu schaffen.

Kurz ehe sie aufbrechen wollten, trat der Kommandeur beiseite und drang tiefer in den Blätterwald ein, während er sich bereits an seiner Hose zu schaffen machte.

Jan erkannte die Gelegenheit. Er schlich hinterher, zückte sein Messer und warf noch einmal einen hastigen Blick zurück.

Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Jan tat noch ein, zwei lautlose Schritte, hörte das schrille Zirpen von Insekten, erblickte auf einer Lichtung das weiße Hinterteil des Kommandeurs und holte tief Luft.

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Gerade als er sich bereit machte, vorzuspringen, legte sich eine raue Hand auf seinen Mund, sein Arm wurde gepackt und auf den Rücken gedreht. Das Messer entglitt Jans Hand.

»War davon die Rede, Jan?«, hörte er die Stimme des Skippers an seinem Ohr raunen. »Hatte ich dir einen derartigen Auftrag erteilt?«

Der Wind trieb sie an Vulkaninseln vorbei auf die Sundastraße zu. Als sie in die Meerenge eintauchten, legte der Wind sich, und sie überließen sich der Strömung. In der Ferne leuchteten weiße Palmenstrände.

Nach einer Weile änderte sich die Strömung jedoch und sog sie zurück, so dass der Kapitän die Männer abermals an die Ruder befahl.

Unterdessen legte die Hitze sich wie ein schweres, feuchtes Tuch über sie und hüllte sie ein.

Mit einem Mal tauchten hinter ihnen im Hitzedunst Spitzen von Masten und Kanten von Segeln auf, die nach und nach größer wurden und sich deutlicher abhoben. Dann traten die Umrisse eines Schiffsrumpfes hervor, Aufbauten, die immer klarer wurden, der Schatten einer Kommandobrücke.

Wie gebannt blickten sie dem Schiff entgegen und versuchten, die Fahne auszumachen. Sie hofften auf einen Holländer oder auch einen Engländer - alles, nur keine javanischen Piraten, die ihnen kurz vor dem Ziel den Garaus machten.

Auf dem Friedhof

Lucretia entsann sich, dass Francois den Unterkaufmann stets als zuvorkommenden, gebildeten Menschen bezeichnet hatte, als einen Mann mit Zukunft in der Companie. Ich wüsste gern, was er nun sagen würde, dachte sie, als sie Jeronimus in der roten

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Weste des Kommandeurs und mit dessen Goldkette geschmückt auf das Zelt der Frauen zustolzieren sah.

Es war nicht üblich, dass einer der Männer sie besuchte, doch Jeronimus setzte sich darüber hinweg und betrat ihr Zelt, als sei dies sein gutes Recht oder normal.

»Madame«, begrüßte er Lucretia, die anderen Frauen geflissentlich übersehend. »Ich hoffe, es mangelt Euch an nichts.«

»Aber woher denn?«, entgegnete Lucretia spitz. »Hier gibt es doch jede Menge Fliegen! Bisweilen haben wir vielleicht ein wenig Durst oder wären auch gern einmal allein, doch darüber hinaus wäre es vermessen zu klagen.«

Jeronimus verzog keine Miene. »Ich werde dafür sorgen, dass Ihr ab sofort jede Art der Bequemlichkeit genießen könnt«, erklärte er.

»Es geht nicht um mich«, bemerkte Lucretia. »Wir leiden alle.«

Jeronimus machte eine abfällige Geste in Richtung der anderen Frauen. »Ich werde zusehen, dass Ihr nichts mehr entbehren müsst, Madame. Ihr steht unter meinem Schutz.«

»Wenn ich nur wüsste, wovor Ihr mich fortwährend beschützen wollt«, sagte Lucretia spöttisch.

Jeronimus lächelte vieldeutig. »Schlaft Ihr gut?«, fragte er.

Lucretia hob die Brauen. »Nein«, antwortete sie. »Ich möchte ein Daunenbett, und wenn es kalt wird, hätte ich gern ein knisterndes kleines Feue r und einen Kamin.«

Jeronimus runzelte die Stirn. »Ihr solltet nicht bei den Frauen wohnen.«

»Wo sonst?«, gab Lucretia zurück. »Fändet Ihr es richtiger, ich wohnte bei den Männern?«

»Ihr seid heute witzig aufgelegt, habe ich den Eindruck.«

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»Das ist nur meine Freude angesichts Eurer

Aufmerksamkeit.«

»Großartig. Nur weiter so. Ich werde Euch dennoch eine bessere Unterkunft besorgen.«

»Habe ich darum gebeten?«

Jeronimus verneigte sich knapp. Er wirkte nun leicht gekränkt. »Ich lasse von mir hören«, beschied er Lucretia, ehe er verschwand.

Lucretia nahm die missgünstigen Blicke der anderen Frauen wahr. Somit wäre ich wieder am Anfang angelangt, dachte sie.

Sie werden mich schneiden, sobald sie merken, dass man mir eine Sonderbehandlung gewährt.

Fünf Grad und fünfzig Minuten südlicher Breite dritter Tag des Juli im Jahre des Herrn, 1629

Erst bei Sonnenaufgang am folgenden Tag löste sich das fremde Schiff aus dem Schatten einer Bucht und segelte auf sie zu.

Die Männer tauschten unruhige Blicke.

Jacobs stand auf und begann zu winken. Er hatte die holländische Fahne entdeckt. Einmal wandte er sich um und schaute zu Jan hinüber, den er hatte fesseln lassen. Als er den Hass in dessen Augen las, seufzte er. Tut mir Leid, mein Junge, bedeutete er ihm mit einem Achselzucken, doch wenn es drauf ankommt, kämpft jeder für sich. Er, Jacobs, hatte seine Entscheidung getroffen. Er setzte auf das Wort des Kommandeurs.

Es dauerte nicht lang, bis hinter dem ersten Schiff zwei weitere erschienen.

Jacobs rieb sich die Hände, als er als Flaggschiff die Zandaam und gleich danach die Frederik Hendrik erkannte. Er tippte

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Francois an und grinste verschmitzt. Habe ich es dir nicht gesagt? bekundete sein Blick. Mit der Zeit stoßen wir schon noch auf die restliche Flotte.

Als Francois das Deck der Zandaam betrat, bemerkte er die heimlichen Blicke der Matrosen, während Crijn Rambruch, ein Mitglied des Ostindienrates, auf ihn zugeeilt kam und ihn wortlos mit sich in seine Kabine zog.

Wenngleich Rambruch und er im Grunde einen ähnlichen Rang innehatten, kam Francois sich vor wie ein Bettler vor einem hohen Herrn. Er zwang sich, den anderen nicht offen anzustarren, doch es war schwer, den Blick von den gestärkten weißen Hemdrüschen, dem schweren Goldmedaillon und dem ordentlich gestutzten Bart abzuwenden. Welch eine groteske Gestalt ich dagegen abgebe! ging es Francois durch den Sinn.

Meine Haare sind strähnig, mein Bart ist struppig, die Fetzen meiner Kleidung schlottern um meinen stinkenden, dürren Leib, während der zerbeulte Hut des Kommandeurs, den ich so sorgsam gehütet habe, mich vollends lächerlich macht.

»Was um alles in der Welt ist passiert?«, begann Rambruch.

Francois zuckte verlegen die Achseln und schwieg, um sich erst einmal zu sammeln. Unterdessen wanderten seine Blicke über die Bibel, die auf dem Schreibpult lag, über die saubere Leinenwäsche auf dem Bett und die schwere,

messingbeschlagene Truhe aus Eichenholz. Meine Kajüte war prächtiger, ging es ihm unsinnigerweise durch den Kopf. Er hielt den fein geschliffenen Weinkelch hoch, damit Rambruch ihn mit dunklem Burgunder füllen konnte.

Francois setzte zu der Rede an, die er bereits unzählige Male vor sich aufgesagt hatte. Ich habe meine Pflicht getan, wollte er anheben, ich versuchte, die Fracht des Schiffes zu retten, ich habe nie auc h nur für einen Augenblick an meine persönliche Sicherheit gedacht. Doch stattdessen spürte er, dass sich seine Kehle zusammenschnürte. Er stieß plötzlich keuchende Laute

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aus, begann zu zittern, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und brach in heiseres Schluchzen aus.

Auf der Langen Insel

Der Wind fuhr über die Lagune und ließ die Wasserfläche wie gefaltet aussehen. Am Strand stakste eine Möwe mit zerzaustem Gefieder umher und hinterließ im Sand pfeilförmige Spuren.

Etwa zwanzig Schritt entfernt lagerte eine Robbe und begutachtete Wiebe aus feuchten, samtigen Augen.

Das ist also Zeevancks wundervolle Insel, dachte Wiebe, wo sie Wasser aus einer Quelle schöpfen würden, so viel sie wollten.

Einen einzigen trüben, moosbewachsenen Tümpel hatten sie bislang entdeckt.

Wiebe verstand das nicht. Es ergab keinen Sinn.

Er gesellte sich zu seinen Kameraden, die sich am Strand ausgestreckt hatten. Sie waren müde und durstig.

»Dieser verdammte Schreiberling hat hier nie in seinem Leben Wasser gefunden«, murrte einer. »Ich weiß nicht, was das soll.«

»Geht mir ähnlich«, murmelte Wiebe.

»Trau nie einem Kerl, der Tinte an den Fingern hat«, brummte ein anderer und spuckte aus.

»Das solltest du nicht tun«, ermahnte ihn ein Franzose. »Die Spucke wird dir nachher fehlen.«

»Jeronimus verlässt sich auf uns«, überlegte Wiebe laut.

»Wenn wir mit leeren Händen vor ihm stehen, ist er enttäuscht.«

»Der Steinmetz hat die Insel mit Zeevanck erkundet«, ergriff einer das Wort. »Wenn der Federfuchser sich irrt, kann ich das

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verstehen, doch der Steinmetz ist Soldat, der kennt sich aus. Ich begreife das nicht.«

»Es ist und bleibt ein Rätsel«, stimmte Wiebe ihm zu und stutzte dann. Für einen Augenblick fragte er sich, ob Zeevanck und der Steinmetz den Unterkaufmann absichtlich angelogen hatten. Doch was hätten die beiden davon gehabt?

Wiebe spürte eine eigenartige Unruhe in sich aufsteigen. »Am besten entzünden wir unser Feuer«, schlug er vor. »Zeevanck soll kommen und uns holen. Gleichzeitig kann er uns ja zeigen, wo das Wasser ist.«

Danach konnte es Wiebe nicht schnell genug gehen, Äste zusammenzutragen und das Feuer zu schüren, damit das Floß bald auftauchte, und er den Beweis hätte, dass seine Unruhe unbegründet war.

Auf dem Friedhof

Jeronimus beobachtete die dünne Rauchsäule, die sich über der Langen Insel in die Lüfte kräuselte, und lächelte befriedigt.

Da drüben war die Panik schneller ausgebrochen als gedacht. Er begann zu kichern. Ich werde auf die tapferen Männer trinken, sagte er sich, auf die Helden, die ihr Leben für mich opfern.

Es war leicht gewesen, wirklich leicht.

Jetzt ging es nur noch darum zu sehen, wie lange sie es schafften.

Die Fetzen des Verbandes, die der Arzt um Jans Arm gelegt hatte, stanken. Dort, wo der Knochen sich durch die Haut bohrte, hatte die Wunde zu schwären begonnen.

Sussie löste die Fetzen und wusch den Eiter ab. Auf Jans Gesicht blühten Fieberrosen.

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Mit Judiths Hilfe hatte Sussie frische Bandagen organisiert, mit denen sie seinen Arm umwickelte, während Judith die Schweißperlen abtupfte, die ihm über die Stirn rannen.

Das Zelt stank nach Krankheit und Tod.

Etwa ein Dutzend Männer lag auf dem Boden. Sie stöhnten und wehrten die Fliegen ab. Einige litten an der Ruhr, andere hatten bei der Flucht aus der Batavia Verletzungen davongetragen oder waren unglücklich aufgeschlagen, als sie in die Boote sprangen.

Aris Janz hatte sein Bestes versucht, doch ohne Instrumente und Arzneien vermochte er nur wenig auszurichten.

Jan schlug die Lider auf. »Ich danke Euch«, flüsterte er kaum vernehmlich.

»Wie arg ist es?«, erkundigte sich Sussie.

Jan wandte den Kopf ab.

Sussie hatte die Antwort in seinem Blick erkannt.

»Wiebe ist auf der Langen Insel im Westen«, erklärte Sussie.

»Er macht sich Sorgen um Euch.«

Jan wandte sein Gesicht zu ihr. »Dann müsst Ihr Sussie Fredericks sein«, murmelte er. »Wiebe hat viel von Euch gesprochen.«

Sussie spürte, dass ihr die Glut in die Wangen schoss. »Von mir?«, fragte sie ungläubig.

»Wenn Ihr erwachsen wäret, sagte er, würdet Ihr das richtige Mädchen zum Heiraten sein.«

Sussie zog die Brauen zusammen. »Aber ich bin erwachsen«, betonte sie.

Ihre Worte erreichten ihn jedoch nicht. Jan Finten begann in der Sprache der Engländer zu reden und wälzte sich unruhig hin und her.

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Wenn Ihr erwachsen wäret, sagte er, würdet Ihr das richtige Mädchen zum Heiraten sein, wiederholte Sussie bei sich. Sie hatte den Eindruck, als sei sie seit ihrem Aufbruch aus Amsterdam um Jahre gereift. Wie viel erwachsener muss ich denn noch werden? fragte sie sich. Wann wird Wiebe mich denn endlich nehmen?

Nachdem Judith das Krankenzelt verlassen hatte, machte sie sich auf die Suche nach Conrad van Huyssen. Sie traf ihn trinkend und würfelnd in der Gesellschaft der Jonkers an. Für einen Moment wunderte Judith sich über die nie versiegende Weinquelle, über die die jungen Männer verfügten, doch dann wurde sie von Conrads Anblick abgelenkt.

Seine Augen blickten glasig und sein Gesicht war rot und verquollen. Als er Judith gewahr wurde, grinste er schräg.

»Sie kann es nicht erwarten«, murmelte er den anderen zu, die daraufhin lachten und Judith gierig taxierten.

»Darf ich Euch wohl für einen Moment stören?«, fragte Judith scheu.

Van Huyssen erhob sich und machte eine Verbeugung.

»Jederzeit, meine Dame«, erwiderte er.

»Ich benötige Eure Hilfe.«

Conrads Grinsen wurde selbstgefällig. »Sie sei Euch gewährt.

Wonach steht Euch der Sinn? Nahrung, Wasser? Sprecht es aus.

Ich gebe Euch, was Ihr wollt.«

»Du hast das Wichtigste vergessen«, kicherte einer der Jonkers.

»Ich brauche frische Bandagen für die Verletzten«, murmelte Judith.

Van Huyssen hob die Brauen. »Meine Liebe«, lallte er verwundert, »diese Leute sind so gut wie tot.«

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Judith senkte die Lider. Wie konnte ich ihn jemals anziehend finden? dachte sie. »Es geht nur um ein paar Fetzen Stoff«, erklärte sie leise.

Van Huyssen tat, als sei er entrüstet. »Wollt Ihr mich zum Diebstahl anstiften? Soll ich mich etwa an der Fracht vergreifen?«

Judith überging seinen Spott. »Ja, bitte«, flüsterte sie.

»Vielleicht ein seidenes Hemd, um Eiterbeulen zu verbinden?«

Judith schaute ihn hilflos an. »Frau van der Mylen glaubt, dass der Unterkaufmann Kleidung in Hülle und Fülle besitzt.

Womöglich könnte er etwas Minderwertiges entbehren.«

»Ihr scheint Euch mit den Frauen gut zu verstehen«, bemerkte van Huyssen. »Selbst mit Sussie Fredericks gebt Ihr Euch ab. Ist sie Euch nicht ein wenig zu gewöhnlich?«

»Sussie ist ein guter Mensch«, stammelte Judith verwirrt.

Van Huyssens Brauen wanderten abermals in die Höhe.

»Bitte«, drängte Judith.

»Bitte was?«, fragte Conrad und tat einen Schritt vor.

Judith wich zurück.

»Na gut«, beschied van Huyssen Judith verdrossen. »Ich will sehen, was sich machen lässt.«

Dann wandte er sich erneut seinen Kameraden zu.

»Vielen Bank«, sagte Judith erleichtert, ehe sie zum Krankenzelt zurückeilte.

Sussie hatte dem Mann, der auf der Batavia die Trompetensignale geblasen hatte, nie besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Bestenfalls war ihr einmal aufgefallen, dass er außergewöhnlich groß war und einen schwarzen Bart trug. Inzwischen hatte sie jedoch entdeckt, dass auf seinem Unterarm eine nackte, an eine Palme gefesselte Frau

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eintätowiert war, und außerdem hatte sie bemerkt, dass er sie mit Blicken verschlang.

Wenn doch Wiebe nur bald wieder käme! dachte Sussie stets, wenn die Augen des Trompeters an ihrem Gesicht oder ihren Brüsten kleben blieben. Doch Wiebe blieb länger fort als erwartet.

Überhaupt hatte sich einiges verändert, seit die Söldner verschwunden waren, fand Sussie. Die Menschen wirkten seltsam beklommen, mit den Waffen der Söldner spielten die Jankers, der Steinmetz und Zeevanck teilten Befehle aus, und die Matrosen, die heimlich Wein getrunken hatten, waren ebenso spurlos verschwunden wie Ryckert.

Auch den anderen auf der Insel waren diese Vorgänge nicht entgangen, doch irgendetwas schien sie zu hindern, laut darüber zu sprechen. Selbst als der Rauch von der Langen Insel aufstieg, wurde nichts geäußert. Offenbar wagte niemand zu fragen, warum die Söldner dort bleiben mussten.

Sussie wanderte am Strand entlang. Sie hatte ihren Eimer mit Meerwasser füllen wollen, um die Bandagen der Kranken zu kühlen, doch unterwegs hatte sie die Zeit vergessen und war einfach weiterspaziert. Erst als sie bemerkte, dass die Sonne unterging und sich um sie herum keine Menschenseele mehr befand, wurde ihr eigenartig zumute - doch da war es bereits zu spät.

Vor ihr tauchte der Trompeter auf.

Er hieß Groenewald, so viel wusste Sussie inzwischen. Sie blieb stehen und starrte ihn an. Es hatte ihr aufgelauert.

Sussie holte tief Luft, um zu schreien, doch Groenewald wedelte beschwichtigend mit den Händen. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, erklärte er. »Ich bin lediglich hier, um Euch zu warnen, und ich wollte nicht gesehen werden.«

Sussie blickte sich um. Sie waren allein. »Was ist denn?«, fragte sie unsicher.

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»Ihr und Eure Schwester solltet verschwinden«, sagte Groenewald.

»O gewiss«, entgegnete Sussie. »Wir segeln gleich morgen, wenn Ihr uns erklärt, wie.«

Groenewald schüttelte ungehalten den Kopf. »Ich mache keinen Spaß. Ich will nur Euer Bestes. Morgen werden ein paar von uns auf die Robbeninsel verlegt. Ihr solltet sie begleiten.«

Sussie dachte an Jan Finten und an ihr Versprechen. »Das geht nicht«, erwiderte sie.

»Vielleicht überlegt Ihr es Euch noch einmal«, forderte Groenewald sie auf. Er machte eine Pause, ehe er hinzusetzte:

»Hier gehen Dinge vor sich, von denen Ihr keine Ahnung habt.«

»Was für Dinge?«

Hinter Groenewald tauchte plötzlich der Steinmetz auf, gefolgt von Mattys Beer und Allert Janz. Groenewald wandte sich um. Als er die Männer sah, erblasste er und entfernte sich eilig.

Sussie blickte ihm verblüfft nach.

Gleich darauf verschwanden auch die anderen.

Mit einem Mal wurde es Sussie kalt. Sie sah das letzte Stück Sonne im Meer versinken, drehte sich um und flüchtete in den Schutz der Hütten und Zelte zurück.

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XVIII

Ich finde, um wahrhaft frei zu sein, sollte der Mensch sich von seinem Gewissen trennen. Geht es Ihnen nicht häufig so, dass Sie im Begriff sind, eine Missetat zu rechtfertigen, nur um zu erkennen, dass Ihr Gewissen sich diesem Prozess widersetzt?

Wie ein lästiger Priester hockt es in Ihnen und summiert die Sündenfälle auf. Was gäbe man nicht alles, um diese Instanz beseitigen zu können! Ausgerechnet ein Priester, der einem das Leben zur Hölle macht? Ganz recht - da stimmt etwas nicht.

Ähnlichen Überlegungen muss Jeronimus gefolgt sein, als er zwei Fliegen mit einer Klappe schlug. Er gab sein Gewissen auf und entledigte sich damit zwangsläufig seines Glaubens an die Hölle.

(Es spielt übrigens keine Rolle, welches von beiden Sie als Erstes abstoßen, denn wie alle Abhängigkeiten bedingen sie sich gegenseitig. Wenn das eine weg ist, verschwindet auch das andere.)

Der Steinmetz besitzt übrigens auch kein Gewissen, jedoch fehlte ihm von vornherein der Verstand, um derlei überhaupt zu entwickeln. Der Steinmetz ist deshalb uninteressant.

Ich bevorzuge einen Menschen wie Jeronimus, jemanden, der sich dank seiner Geisteskraft erhöht, um sich über Einschränkungen hinwegzusetzen. Sobald er das schafft - sobald er sich gottgleich wähnt -, sind seinem Tun keine Grenzen mehr gesetzt. Danach ist er frei.

Ja aber..., höre ich Sie beginnen, Jeronimus ist doch nun die reine Form des Bösen geworden!

Schade nur, dass es dergleichen nicht gibt, denn auch das Böse ist ja nur eine Vorstellung Ihres Gewissens.

Auf dem Friedhof

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Eines Morgens tauchte der Steinmetz auf, um Lucretias Habseligkeiten aus dem Frauenzelt abzuholen. Sie wohne ab sofort in dem alten Zelt von Pieter Janz, erklärte er, das sei ein Befehl des Unterkaufmanns, und deshalb solle sie kein Theater machen.

Das Gefühl der Verlassenheit, das Lucretia daraufhin überfiel, ließ erstmals die Angst wieder zum Leben erwachen. Zwar hatte sie auf dem Schiff nie ein Wort mit den Frauen gewechselt und dies kaum als Verlust empfunden, doch auf dem Friedhof machten sie ihr das Leben erträglich und lenkten sie von ihren Grübeleien ab.

Beim Betreten ihrer neuen Behausung stockte Lucretia indes der Atem. Ihr Blick fiel auf einen Tisch und ein Bett. Auf dem Bett lag eine kostbare Seidendecke, an deren Kopfende sich dicke, weiche Samtkissen stapelten. Über dem Fußende war ein neues Kleid ausgebreitet, aus königsblauem Samt und mit goldenen Bordüren.

Lucretia trat auf den Tisch zu, auf dem zwei silberne Krüge standen. Einer war mit Wasser gefüllt, der andere mit Wein.

»Gefällt es Euch?«

Lucretia fuhr herum. Im Eingang stand Jeronimus.

»Was soll das bedeuten?«, fragte Lucretia.

»Ich fand, Euch stände eine standesgemäße Unterbringung zu.

Freut Ihr Euch nicht?«

»Warum tut Ihr das?«

»Unter anderem zu Eurem Schutz. Ihr seid zu schön, um vor den Männern sicher zu sein. Gewisse Ereignisse sollten sich nicht wiederholen, finde ich.«

»Ich habe mich bei den Frauen wohl gefühlt«, murmelte Lucretia verunsichert.

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»Ihr wisst nicht, wovon Ihr redet«, winkte Jeronimus ab. »Ich werde fortan für Eure Sicherheit sorgen. Das betrachte ich als meine Pflicht.«

Lucretia schloss die Augen. Sie spürte eine schwielige Hand an ihrer Kehle und die schmutzigen Finger, die sie betastet hatten.

Jeronimus hatte Recht. Wer konnte garantieren, dass derlei nicht ein zweites Mal geschah?

Judith merkte, das jemand sie an der Schulter rüttelte. Sie schlug die Augen auf und erkannte Daniel, ihren kleinen Bruder.

»Hörst du das nicht?«, flüsterte er. »Was ist das?«

Judith lauschte in die Nacht. »Es ist nichts«, wisperte sie zurück. »Leg dich wieder hin.«

Daniel schüttelte den Kopf. »Da, horch! Da ist es wieder.«

Dieses Mal vernahm auch Judith einen Laut. Er klang wie ein dünner Schrei, den der Wind zu ihnen herüberwehte. Gleich darauf folgten dumpfe Geräusche und dunklere Stimmen, die etwas riefen. Danach wurde es abermals still.

»Na, siehst du!«, beruhigte Judith ihren Bruder. »Das war ein Vogel und der Wind, der gegen die Zeltwände schlug.«

Von draußen ertönten Stiefelschritte. Judith stockte der Atem.

Die Schritte stapften vorbei und verhallten.

»Was ist denn da los?«, flüsterte Daniel.

»Hab keine Angst, mein Kleiner«, sagte Judith beschwichtigend. »Vielleicht geht jemand, der nicht schlafen kann, ein wenig spazieren.«

Daniel schlüpfte unter Judiths Decke und schmiegte sich an sie.

Judith strich ihm beruhigend über den Kopf. Sie wusste, dass die Schreie weder von Vögeln stammten, noch die dumpfen Laute vom Wind herrührten.

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Für lange Zeit starrte Judith in die Dunkelheit und verfolgte mit angehaltenem Atem jedes noch so winzige Geräusch. Doch bis auf das gelegentliche Knistern und Schaben der Taschenkrebse, das Brausen der Brandung und das Rauschen des Windes blieb alles still.

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XIX

Wenn es um das Töten geht, gibt es zweierlei Arten von Menschen: diejenigen, die das Töten lieben, und diejenigen, die es hassen.

Allein wenn die Männer auf Robbenjagd gehen, lassen die Gruppen sich unterscheiden. Die einen tun ihre Pflicht, die anderen sind nicht zu bremsen.

Sofern Sie jemals Zeuge von Kriegen und Schlachten waren, ist Ihnen dieses Phänomen bekannt. Der grobe Kamerad, der wilde Saufkumpan, der wüste Krakeeler und Schläger wird plötzlich still und blass, wenn es ans Töten geht, und weigert sich, Frauen und Kinder zu morden. Andere, die zuvor sanft und unauffällig waren, riechen das Blut und werden zu Schlächtern.

Die Sache, um die es geht, interessiert sie in den seltensten Fällen, aber dennoch metzeln sie los, lassen nicht mit sich reden, sind taub und blind.

Ob ich einen solchen Blutrausch für entschuldbar halte?

Ja und nein.

Meine Güte, Rasereien neigen oftmals dazu, unappetitlich zu werden, das wissen wir doch alle.

Im Übrigen habe ich dazu keine Meinung, denn der Beobachter versucht, nicht zu werten.

Also gut, da Sie mich drängen... nein, ich schätze den Blutrausch nicht. Ich mag nichts, was im Rausch geschieht.

Auf dem Friedhof

Judith hatte sich stets bemüht, eine gute Christin zu sein. Sie wusste, dass Gott nicht allein ihre Taten, sondern auch ihre Gedanken wertete. Bisweilen gelüstete es sie jedoch danach, ihre Gedanken in Ruhe zu verfolgen, anstatt sie als nicht gottgefällig zu verwerfen. Andernfalls, überlegte sie in solchen

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Momenten, hätte Gott sie als Kuh oder als Schaf zur Welt bringen sollen, denn in dem Fall müsste sie gar nicht denken.

Als sie ihren Vater am Morgen auf den Knien vorfand, wo er mit erhobenen Händen betete, kräuselte Judith spöttisch die Lippen. Dennoch wartete sie, bis er sich erhob und sich den Staub von den Hosenbeinen bürstete. Dann räusperte sie sich.

»Was hast du auf dem Herzen?«, fragte Pfarrer Bastians.

»Habt Ihr gut geschlafen, Vater?«, erkundigte Judith sich angelegentlich.

Ihr Vater zögerte für einen Moment. »So hat es der Herr gewollt.«

»Ihr habt nicht etwa einen Schrei vernommen?«

»Nein.« Pfarrer Bastians schüttelte den Kopf, wobei er Judiths Blicken auswich. »Warum fragst du? Haben dich die Vögel gestört?«

»Die Vögel pflegen nachts zu schlafen.«

»Dann solltest du dir an ihnen ein Beispiel nehmen.«

»Das hafte ich gern getan, doch ich wurde von einem Schrei aufgeweckt.«

»Vielleicht hattest du einen schlechten Traum.«

»Daniel hat den Schrei ebenfalls gehört.«

»Dann habt ihr euch beide geirrt«, betonte ihr Vater. Er wandte sich ab, um sich zu entfernen, doch Judith hielt ihn fest.

»Vater«, begann sie erneut, »Ihr müsst -«

»Ich muss den Herrn um seine Gnade bitten, Judith, sonst nichts. Und nun geh mir aus dem Weg. Sprich deine Gebete und prüfe, ob deine Träume nicht des Teufels sind.«

Als Judith später an den Hütten und Zelten vorbeischritt, versuchte sie sich unauffällig der Anwesenden zu vergewissern.

Deschamps war da, de Vries, Aris Janz... alle waren sie da, niemand fehlte. Halt, dachte Judith. Einen habe ich noch nicht

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entdeckt. Wo ist der schwarzbärtige Trompeter? Groenewald.

Der Mann, der sonst immer um Sussie und Tryntgen herumschleicht.

Judith begann sich zu erkundigen. Die einen zuckten die Achseln, andere legten einen Finger auf den Mund, und wieder andere bedachten sie mit drohenden Blicken, ehe sie ihr rieten, sich um ihre eigenen Belange zu scheren.

Groenewald ist etwas zugestoßen, grübelte Judith, und nun hat ihn der Erdboden verschluckt. Genau wie Ryckert.

Judith wanderte zu Groenewalds Zelt hinüber und rief seinen Namen.

Keine Antwort. Sie wollte bereits den Rückweg einschlagen, als sie seltsame rotbraune Spuren auf dem Erdboden wahrnahm.

Judith bückte sich und fuhr gleich darauf hoch. Blut - dickes, geronnenes Blut. Die Spuren zogen sich bis zu dem Gestrüpp hinüber, so als habe man jemanden geschleift oder als sei jemand blutend vorwärts gekrochen.

Also doch. Weder sie noch Daniel hatten sich geirrt. Die Schreie hatten von einem Menschen gestammt.

Ein Schatten fiel über sie. Judith schaute auf.

Zeevanck.

»Was habt Ihr hier zu suchen?«, knurrte er.

»Ich wollte wissen, wo Groenewald steckt.«

»Er ist auf die Robbeninsel übergesiedelt.«

»Das stimmt nicht. Ich habe gesehen, wer auf dem Boot hinübergerudert wurde und wer nicht.«

»Weiß Euer Vater eigentlich, dass Ihr Euch bei den Männerzelten herumdrückt?«

Judith wurde rot. Wie eigenartig, dass dieser unangenehme Mensch ihr auf der Batavia nie aufgefallen war! Da war er nur irgendein Schreiber gewesen, eine dieser blassen Gestalten, von

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denen eine wie die andere aussah. Seine neue Rolle als Jeronimus' Vertrauter musste ihm zu Kopf gestiegen sein.

»Was habt ihr mit ihm gemacht?«, erkundigte sie sich.

»Das geht Euch nichts an. Verschwindet!«

Judith wäre am liebsten fortgerannt, doch den Gefallen wollte sie ihm nicht erweisen. Sie entfernte sich gemächlich.

Irgendetwas Abscheuliches geht hier vor sich, dachte sie unterdessen, und dieser Zeevanck weiß, worum es sich handelt.

Sie musste sich jemandem anvertrauen. Ihr Vater kam dazu nicht in Frage; er würde abwiegeln und wütend werden oder sie zum Beten anhalten. Die Söldner befanden sich auf der Langen Insel. Pieter Janz war auf die Verräterinsel umgezogen. Somit wäre nur noch der Unterkaufmann übrig. Judith blieb stehen.

Zeevanck und der Unterkaufmann waren eng befreundet. Wenn Zeevanck wusste, was Groenewald zugestoßen war, musste der Unterkaufmann es gleichermaßen wissen. Judith merkte, wie sich ihr der Magen zusammenkrampfte. Angst und Panik stiegen in ihr auf. Lieber Gott, hilf uns! betete sie und schloss die Augen. Doch es blieb leer, dunkel und kalt. Kein Trost, kein Erbarmen.

Danach ging Judith wie in Trance weiter. So ist also auch das geschehen, dachte sie. Gott ist verschwunden - wie Groenewald und Ryckert. Lediglich seinen Boten hat er bei uns zurückgelassen.

Es war das zweite Mal, dass Lucretia das Zelt des Unterkaufmanns betrat. Dieses Mal war ihr, als täte sich ein Palast vor ihr auf.

Die Segeltuchfetzen, die allen anderen als Eingangsklappen dienten, waren hier durch fein gewebte Wandteppiche ersetzt.

Zu dem Tisch hatten sich kostbare Orientteppiche gesellt, silberne Kerzenleuchter, Karaffen, das feine Geschirr aus der Offiziersmesse, eine weiße Leinendecke mit Spitzenbesatz. Und

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auf dem Lager befand sich die dunkelrote Brokatdecke aus Francois' großer Kajüte.

Jeronimus war in ein Gespräch mit van Huyssen und Zeevanck vertieft. Als er Lucretia erblickte, winkte er die beiden fort. Lucretia bat er, in einem roten Samtsessel Platz zu nehmen, der ihr sehr bekannt vorkam.

»Wein?«, erkundigte sich Jeronimus und hob fragend die Karaffe.

Lucretia winkte ab.

Jeronimus zog ein Gesicht und schenkte sich einen Becher Wein ein. Lucretia gewahrte einen neuen, funkelnden Rubin an seiner Hand.

»Steht Euch der Sinn eher nach einem kleinen Leckerbissen?«

Leckerbissen? Was meinte er damit? Bezog er sich etwa auf die mageren Sturmtaucher, die sie am Feuer rösteten?

»Nein, danke, ich möchte nichts«, erklärte Lucretia. Sie fühlte sich noch immer ein wenig benommen von den Dingen, die Judith ihr berichtet hatte.

»Was habt Ihr denn?«, hörte sie Jeronimus teilnahmsvoll fragen. »Ihr seid blass. Euch fehlt doch hoffentlich nichts?«

»Was geht hier vor, Herr Unterkaufmann?«, begann Lucretia, seine Frage ignorierend.

Jeronimus hob verwundert die Brauen.

»Eine der Frauen hat Blut vor dem Zelt des Mannes namens Groenewald entdeckt. Sie fürchtet, man habe ihn ermordet.«

Falls Lucretia geglaubt hatte, Jeronimus würde den Tatbestand leugnen, hatte sie sich geirrt. Seine Miene verdüsterte sich stattdessen und nahm einen gequälten Ausdruck an. »Ein höchst unliebsamer Zwischenfall«, bemerkte er. »Ich hatte gehofft, es vor Euch verbergen zu können. Wie Ihr wisst, gibt es Männer, die wie Tiere handeln.«

»Was ist vorgefallen?«

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»Groenewald war ein Dieb. Er hat sich an der Gesellschaft zu bereichern versucht. Unserer Sicherheit zuliebe war ich gezwungen, ihn zu bestrafen.« Jeronimus legte seine Hand auf Lucretias Arm. »Keine Sorge«, fuhr er besänftigend fort. »Es besteht keine Gefahr mehr.«

Lucretia entzog ihm ihren Arm. »Habt Ihr ihn ermordet?«

Jeronimus sah sie beleidigt an. Dann richtete er sich zu voller Größe auf und verkündete: »Wenn ich einen Tod befehle, handelt es sich grundsätzlich nicht um Mord. Vergesst bitte nicht, dass ich hier die Companie vertrete. Abgesehen davon kann ich Euch beruhigen: Groenewald lebt.«

»Und was bedeutet das Blut vor seinem Zelt?«

»Nun, er wurde zur Rechenschaft gezogen. Im Verlauf dieser Unterredung zog er sein Schwert.« Jeronimus nippte an seinem Wein und taxierte Lucretia über den Rand des Bechers hinweg.

»Er wurde überwältigt und zur Verräterinsel gebracht. Dort untersteht er nun der Aufsicht von Pieter Janz.«

»Warum hat niemand etwas davon erfahren?«

»Seit wann unterrichte ich die Menschen über das, was ich tue?«, fragte Jeronimus kalt. »Seit wann interessiert Ihr Euch überhaupt für dergleichen?«

»Ich spreche nicht von mir. War Pfarrer Bastians eingeweiht?«

In Jeronimus' Blick flackerte Wut auf. »Ich bin der Kommandeur«, erklärte er erregt. »Ich - und nicht Pfarrer Bastians - entscheide, was passiert.« Er zwang sich zu einem Lächeln und trat auf Lucretia zu. »Pelsaert war da nicht anders, meine Liebe. Oder glaubt Ihr, er hat nach Pfarrer Bastians'

Meinung gefragt?«

Lucretia erhob sich und bewegte sich auf den Ausgang zu.

Dort drehte sie sich noch einmal um. »Sagt mir die Wahrheit -

hat Zeevanck den Mann ermordet?«

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»David Zeevanck ist ein Angestellter der Gesellschaft«, beschied Jeronimus Lucretia. »Der Mann namens Groenewald befindet sich auf der Robbeninsel. Seid Ihr nun zufrieden?«

Lucretia wurde unsicher. Vielleicht hatte Judith sich geirrt.

Vielleicht war sie, Lucretia, verrückt genug, ihr derartige Mordgeschichten zu glauben.

»Denkt nicht so viel nach«, bemerkte Jeronimus sanft. »Ihr könnt mir vertrauen, Lucretia. An Euch wird sich niemand vergreifen.«

Lucretia verspürte ein seltsames Ziehen in ihrer Brust und eine Beklemmung, die sich ihr auf den Magen legte. Ihre Albträume kehrten zurück. Vertrauen, fuhr es ihr durch den Sinn. Wie gern möchte ich jemandem vertrauen! Doch wie soll das angehen, wenn die Schatten nicht weichen und nicht aufhören, meine Seele zu verdüstern?

Draußen vor dem Zelt wartete Zeevanck auf Lucretia. Er grinste verschlagen. »Der Unterkaufmann hat offenbar ein Auge auf Euch geworfen«, bemerkte er.

»Er weiß, dass ich verheiratet bin«, erwiderte Lucretia knapp.

»Das hat der Kommandeur ebenfalls gewusst.«

»Wagt es nicht -«, begann Lucretia, doch Zeevanck fiel ihr ins Wort.

»Steigt endlich von Eurem hohen Ross herunter, meine Dame«, höhnte er. »Immerhin habt Ihr Euch auf der Batavia vor aller Augen amüsiert.«

Lucretia wusste, dass sie ihn am besten keiner Antwort würdigte, doch sie schaffte es nicht zu schweigen. »Ich glaube, dass Ihr Eure Stellung vergesst«, erklärte sie hochmütig.

Zeevanck lachte laut auf. »O nein, meine Dame!«, entgegnete er. »Das tue ich nicht. Eher ist das Gegenteil der Fall. Die anderen« - er machte eine Geste über die Insel hinweg, die Lucretia mit einschloss - »sollten ihre Stellung vergessen.

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Zwischen Euch und den Vögeln besteht kein Unterschied mehr.«

Lucretia wich die Farbe aus dem Gesicht, als sie begriff, dass Zeevanck die Wahrheit sagte. Auf der Insel zählte niemand mehr, außer Jeronimus und denen, die er erhöhte.

Zwei Tage später machten sich Sussie, Tryntgen und Anneken auf, um auf der Insel nach Nahrung zu suchen.

Tryntgen hatte ihre Röcke geschürzt und watete durch das Wasser bis zu den Felsen, um Austern zu sammeln. Anneken suchte die Büsche nach Nestern mit Vogeleiern ab, während Sussie sich auf die Knie niedergelassen hatte und die Steine umdrehte, um Taschenkrebse zu fangen.

Als sie sich wieder aufrichtete, glitt ihr Blick über das Meer.

Da draußen trieb ein aufgeblähter Sack oder ein Stück Holz und kam schaukelnd auf sie zugeschwommen.

Sussie stand auf und lief ins Meer.

Als sie erkannte, worum es sich handelte, stieß sie einen gellenden Schrei aus. Sie ruderte wild mit den Armen, drehte sich um und flüchtete.

Die beiden anderen Frauen rannten zu ihr hin. Dann hielten sie jedoch inne und starrten auf das, was sich vor ihnen auf den Wellen wiegte.

Es war eine Leiche. Die Leiche eines Mannes, dem die Krebse und die Meerasseln die Augen weggefressen und Ohren und Lippen angeknabbert hatten. Der restliche Körper befand sich in einem Zustand der Verwesung, doch scharfe Zähne hatten seine Bauchdecke aufgerissen, so dass die Innereien hervorgequollen waren, die nun wie ein graugrünes Bündel an seiner Seite schwammen.

Das Gesicht konnte Sussie nicht mehr erkennen, doch als ihr Blick auf die Arme fiel, erkannte sie noch mit Mühe die Tätowierung.

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Der Tote war Groenewald.

Die Leiche trieb weiter auf den Kanal zwischen den Inseln zu.

Dort würden die Haie das, was von dem Mann übrig war, zerreißen.

Tryntgen wandte sich ab. Sussie hörte, wie sie sich keuchend erbrach.

Fort Batavia

siebter Tag des Juli im Jahre des Herrn, 1629

Francois stand an Deck der Zandaam und hielt den Blick auf die grünen Hänge gerichtet, die sich hinter dem Fort erhoben.

Sein Magen zog sich zusammen, und im Rachen stieg ihm der Geschmack bitterer Galle auf. Die Furcht, die ihm seit Wochen Gesellschaft leistete, hatte sich zu Panik gesteigert. Er kam sich nackt vor, elend, verloren. Er hatte nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit dem stolzen Repräsentanten der Companie.

Während der Nacht hatte er die Rede eingeübt, die er vor dem Gouverneur zu halten gedachte, doch die Argumente, die ihn da noch überzeugt hatten, schmolzen in der schwülen Luft dahin und lösten sich in nichts auf.

Vom Hafen legte ein Beiboot ab und nahm Kurs auf die Zandaam. Nachdem es angelegt hatte, ließ sich Francois am Fallreep hinab, gefolgt von Rambruch und den Offizieren.

Die Ruderer lotsten sie zwischen den vertäuten Handelsschiffen hindurch auf die aufragenden Wälle der Festung zu.

Francois erkannte die spitzen Pfähle des Gatters und sah die Geschütze, die auf den Dschungel zielten, wo sich der Sultan von Mataram verborgen hielt. Er belagerte die Stadt bereits seit zehn Jahren.

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Francois spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Die Soldaten auf der Batavia hatten in diesem Krieg kämpfen sollen.

Auch sie hatte er verloren.

Sie glitten durch die Pforte in den Binnenhafen und anschließend durch den Kanal, der die Festung von der Stadt trennte.

Francois erblickte Handelskontore mit spitzen holländischen Giebeln, große Lagerschuppen, das Zeughaus, die Waffenmeisterei und eine Kirche.

Das Boot machte an den Stufen einer breiten Landetreppe fest.

Als Francois den Blick hob, erkannte er hinter den hohen Festungsmauern die Spitzen der Galgen und roch den Leichengestank. Saurer Magensaft stieg ihm in die Kehle. Im Gegensatz zu denen da, dachte er, habe ich zwar überlebt, doch sie müssen für ihre Taten nicht mehr gerade stehen, müssen sich nicht mehr anhören, wie sie es besser hätten machen sollen, oder sich von Menschen bevo rmunden lassen, die nicht dabei gewesen waren.

Auf dem Friedhof

»Mein lieber Deschamps«, hub Jeronimus an, »ich glaube, wir haben noch eine Kleinigkeit zu bereden.«

Deschamps wurde leichenblass, und sein Blick begann zu flackern.

Jeronimus nahm auf dem Schemel Platz, den Deschamps sich gezimmert hatte. »Setz dich«, befahl er großzügig.

Deschamps zögerte für einen Moment, ehe er sich vor Jeronimus auf die Fersen hockte.

»Rück es heraus!«

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Deschamps bemühte sich, eine fragende Miene aufzusetzen, doch sie gela ng ihm nicht. »Ich - ich weiß nicht, wovon Ihr redet«, stammelte er.

»O doch, das weißt du sehr genau.«

»Ich schwöre, ich -«

»Möchtest du, dass Zeevanck und der Steinmetz die Sache in die Hand nehmen? Sollen sie dein Zelt nach gestohlenem Companie-Besitz durchsuchen? Wäre dir das lieber?«

»Aber ich habe dem Kommandeur... Herr Pelsaert hat mir persönlich -«

»Herrn Pelsaert gibt es nicht mehr«, brauste Jeronimus auf.

»Ich bin der Kommandeur, und ich trage die Verantwortung für die Fracht.« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern, ehe er fortfuhr: »Ich will die beiden Kästchen haben!«

Deschamps erhob sich auf unsteten Beinen und machte sich in der Ecke seines Zeltes zu schaffen. Mit bebenden Händen überreichte er Jeronimus die beiden Holzkästchen.

»Na, siehs t du«, lobte Jeronimus. »Und jetzt bitte die Schlüssel.«

Deschamps griff in seine Rocktasche und hielt Jeronimus die Schlüssel hin.

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, murmelte Jeronimus, indem er sie einsteckte.

»Was... was -?«, stotterte Deschamps.

»Ich weiß nicht, ob ich dich hier noch gebrauchen kann oder nicht«, antwortete Jeronimus. Er runzelte die Stirn und schüttelte unschlüssig den Kopf, ehe er sich erhob und ging.

Deschamps wischte sich die schweißnasse Stirn mit seinem Rockärmel ab. Du wirst keine ruhige Minute mehr haben, flüsterte ihm eine Stimme zu, keine einzige ruhige Minute, weder bei Tag noch bei Nacht.

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Fort Batavia

Es war Abend geworden. Francois wartete noch immer auf seine Audienz bei dem Gouverneur. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ein Dienstbote Gläser mit französischem Cognac herumgereicht, von denen Francois dankbar eines angenommen hatte. Nun stand er mit Rambruch am Fenster und blickte auf den dunklen Hafen hinaus, in dem kleine Boote wie Leuchtkäfer um die Schatten der Handelsschiffe schwirrten. Wenn er den Blick zur Seite drehte, konnte Francois die Fundamente des Stadttors ausmachen. Schade nur, dass dessen Aufbauten sich mit dem Wrack auf dem Grund des Meeres befanden.

Die Nachricht seines Scheiterns war wie ein Lauffeuer durch die holländische Kolonie geeilt. Alte Bekannte, denen Francois im Laufe des Tages begegnet war, hatten ihn zurückhaltend begrüßt. Er fragte sich, ob sie ihn im Stillen bereits verurteilt hatten oder ob sie lediglich abwarteten, wie Gouverneur Coen sich entschied, ehe sie sich auf die richtige Seite schlugen.

Jede Stunde, die verstrich, verbrachte Francois mit neuen Selbstzweifeln. Einmal sah er sich in dem großen Wandspiegel und wandte den Blick sogleich wieder ab. War er dieser Mann mit den ausgehöhlten Wangen in dem fahlen Gesicht? Wie unendlich albern dagegen die prachtvolle Kleidung wirkte, die Rambruch ihm ausgeliehen hatte!

Francois fühlte sich elend. Die reichhaltigen Mahlzeiten, die er an Bord der Zandaam zu sich genommen hatte, machten ihm zu schaffen. Zudem übermannten ihn in regelmäßigen Abständen Anfälle von Schüttelfrost, und der Raum begann sich zu drehen, woraufhin Francois sich jedes Mal unauffällig abstützte. Niemand durfte bemerken, wie leidend er war.

Niemand sollte argwöhnen, er sei zu schwach, um die Rückfahrt anzutreten. Er musste die Fracht der Gesellschaft bergen - nur das konnte seine Rettung sein.

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»Übrigens, Pelsaert«, unterbrach Rambruch Francois'

Gedanken, »hattet Ihr nicht eine Dame namens van der Mylen an Bord?«

Francois verspürte einen Stich in seiner Brust.

»Das ist richtig«, erwiderte er leise.

»Hat sie den Untergang überlebt?«

»Ich habe ihr selbst in eines der Boote geholfen«, log Francois, indem er sein Gesicht abwandte. Wie oft hatte er an Lucretia gedacht! Und kaum einmal, ohne sich nach ihr zu sehnen. »Sie war auf dem Weg zu ihrem Gemahl«, murmelte er.

»Welch eine Ironie!«

»Inwiefern das?«

»Ihr Mann ist gestorben. Ich habe es eben erfahren. Vor etwa zwei Monaten ist er einem Fieber erlegen. Da wart Ihr vermutlich gerade in der Tafelbucht.«

Francois spürte sein Herz rasen. Adriaen Jacobs, du sturer Hund, ich hätte dich doch einkerkern sollen, fluchte er. Wenn du Halunke nicht der Kapitän gewesen wärst, hätte Lucretia Batavia als Witwe erreicht, und nach einer Weile hätte ich offen um sie werben können.

Francois fuhr sich über die Stirn. Sie hätte ihm gehört, ihm allein. Welch qualvolle Foltern das Leben doch in seiner Vorratskammer bereit hält, sinnierte er. Just in dem Augenblick, in dem man glaubt, man könne nichts mehr ertragen, bohrt es noch einmal nach und zieht die Schraube an, so dass man den Leib aufbäumt und schreit.

»Ihr seid sehr blass geworden. Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«

»Nur die alte Geschichte«, entgegnete Francois. »Ein leichtes Frösteln.«

»Ihr müsst zu Bett, Pelsaert. Ihr schwankt ja auf den Beinen!

Ich werde zusehen, dass der Gouverneur Euch erst morgen früh empfängt.«

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»Nicht doch«, versuchte Francois abzuwehren, doch Rambruch blieb hart.

»Ihr seht aus wie eine Leiche«, flüsterte er Francois zu. »Ich hielte es für angebrachter, dem Gouverneur frisch und ausgeschlafen zu begegnen. Lasst mich nur machen - ich regele das für Euch. Trinkt Euren Cognac aus. Ich werde den Sekretär des Gouverneurs entsprechend unterrichten.«

Francois sah das Gesicht des anderen vor seine n Augen verschwimmen. Er nickte unmerklich und tastete nach einem Halt.

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XX

Gerade geht mir etwas Lustiges durch den Sinn, bei dem Sie mitlachen sollten.

Gott habe den Menschen nach seinem Abbild geschaffen, heißt es, woraufhin ich mich frage, ob dann nicht Gott und der Mensch gleich sein müssen.

Wenn dem so ist, wäre Gott indes ein reichlich unbeständiger Bursche - mal mitfühlend, mal kalt, hier mutig, da feige, an einem Tag langweilig, am nächsten amüsant. Das erklärte natürlich sein launiges Verfahren, unangenehme Personen mit Reichtum zu belohnen, brave hingegen mit Krankheit und Not.

Doch ich habe Gott noch nie verstanden. Ich bin nämlich gradlinig und handele schlüssig.

Wenn ich die Menschen über ihn reden höre, schüttele ich jedoch den Kopf. Wie kann man sich jemanden gleichsam weise, gerecht, liebevoll, rachsüchtig, zornig und eifersüchtig denken? Es liegt doch auf der Hand, dass so jemand einfach nur tut, was er will.

Wenn ich mir das vor Augen halte, kommt mir oftmals der Verdacht, dass die Menschen im Grunde wenig über den Geist wissen, der sie regiert. Vielmehr haben sie eine Instanz erfunden, die nach Bedarf und Belieben einzusetzen ist - womit sie Gott dann in der Tat ein wenig ähnlich wären.

Fort Batavia

An diesem Morgen sah Gouverneur Jan Pieterszoon Coen besonders eindrucksvoll aus. Unter seinem spitz getrimmten schwarzen Bart fiel von dem weißen Spitzenkragen eine dicke Rüsche herab, die mit einer schweren Goldkette ein schwarzes Samtwams schmückte.

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Der Gouverneur war bereits zu Lebzeiten eine Legende, mit einem Ruf, der ihm sowohl Rücksichtslosigkeit als auch Frömmigkeit und einen unerbittlichen Ordnungswillen nachsagte.

Seine dunklen Augen ruhten kalt auf Francois.

Francois zwang sich, seinen Blick von der Goldkette zu lösen, doch als er die gnadenlosen Augen gewahrte, zog er es vor, seine Aufmerksamkeit auf den dunklen Wandteppich zu richten, der hinter dem Gouverneur hing.

Wenn Rubens Gott hätte malen wollen, fuhr es dem Kommandeur durch den Sinn, hätte er in Coen ein ideales Modell gefunden.

»Nun«, begann dieser nach einer Weile, »Ihr habt also nicht nur das Schiff verloren, sondern auch die Menschen ihrem Schicksal überlassen.«

Francois erschrak. Ein schnelles Urteil! Dabei war er noch nicht einmal bei seinen Entschuldigungen angelangt, sondern hatte bisher nur den reinen Tatbestand geschildert.

»Der Untergang des Schiffes geht nicht zu meinen Lasten«, erwiderte er.

»Habt Ihr die Instrumente abgelesen?«

»Selbstverständlich tat ich das. Auf der Insel -«

»Und?«

»Unsere Position am Tag vor dem Unglück lag bei dreißig Grad, mit Kurs Nordosten.«

»Ist das nicht ziemlich genau am Houtmans Riff? Habt Ihr meine Warnung nicht erhalten?«

»Ich hatte den Kapitän ausdrücklich gebeten -«

»Gebeten?«

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»Ich hatte ihm eingeschärft, Eure Warnung zu beachten. Er war der Ansicht, wir wären noch sechshundert Meilen vom Großen Südland entfernt, doch leider war ich erkrankt und -«

Coen winkte unwirsch ab. »Fest steht, dass die Batavia verloren ist. Was ist mit der Fracht, die Euch anvertraut war?«

»Es gelang mir nicht, die Geldtruhen zu retten. Sie befinden sich noch auf dem Wrack.«

»Ihr habt das Schiff verlassen, ohne zuerst das Silber zu bergen?«

Francois spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach und über seinen Rücken rann. »Ich wollte als Erstes die Passagiere beruhigen, doch dann erhob sich ein Sturm und -«

»Was ist aus den Juwelen und dem Schmuck geworden?«

»Sie befinden sich in der Obhut eines vertrauenswürdigen Angestellten.«

Coen blickte ihn reglos an. Lediglich seine Hände spielten mit dem großen Rubin an seinem Finger. »Ich verstehe«, bemerkte er zuletzt.

Francois schluckte und räusperte sich. »Herr Gouverneur«, hub er an, »erlaubt mir, einen Teil des Schadens zu beheben. Ich ersuche Euch untertänigst um Bereitstellung eines schnellen Schiffes, so dass ich zu dem Wrack zurückkehren kann, um die Gestrandeten und -«

»Richtig - die Gestrandeten«, entgegnete Coen abwesend.

»Ich sorge mich um ihr Leben.«

»Mit gutem Grund.«

Ich habe alles mit gutem Grund getan! hätte Francois am liebsten ausgerufen und sich nach allen Regeln der Kunst verteidigt, doch Coens unbarmherziger Blick verbot es ihm.

»Es war Eure oberste Pflicht, die Fracht zu sichern«, belehrte Coen ihn.

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»Die ich nie vergessen habe«, verteidigte sich Francois. »Ich habe jeden Versuch unternommen -«

»Und die Menschen! Was hat Euch veranlasst, sie ohne Aufsicht zurückzulassen?«

Francois zögerte. »Ich zweifelte an der Treue des Kapitäns«, antwortete er unbehaglich. »Mir war nicht klar, ob er wiederkehren würde.«

»Offenbar zweifeltet Ihr jedoch nicht an seinen Fähigkeiten als Navigator. Immerhin steuerte er direkt auf das Houtmans Riff zu.«

Francois' Hände krampften sich um die Stützen seines Stuhls.

Der dunkle Wandteppich wellte sich, und die flackernden Kerzen in den silbernen Leuchtern drehten sich im Reigen. Er spürte den kalten Schweiß auf seiner Stirn. Doch er sammelte seine verbliebene Kraft.

»Da wäre noch etwas«, setzte er an. »Auf dem Schiff geschah ein Überfall auf eine Dame. Ich habe Euch den Umstand schriftlich dargelegt. Einer der Schuldigen ist -«

»Ich habe Euren Bericht gelesen. Auf der Batavia scheint sich etliches an Unbotmäßigkeiten ereignet zu haben, findet Ihr nicht, Herr Kommandeur?«

»Keine von ihnen war durch mich verschuldet.«

»Das wird vermutlich jeder behaupten«, gab Coen ungehalten zurück. Er ergriff das Dokument, das auf seinem Schreibtisch lag. »Ich werde Euren Bootsmann befragen und Eure Anschuldigungen prüfen. Die Dame, um die es geht -«

»Frau van der Mylen«, soufflierte Francois, wobei sein Herz schneller zu klopfen begann.

»Ich weiß. Ich kannte ihren Gemahl.«

Coen warf Francois einen prüfenden Blick zu. »Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«, fragte er.

»Ein wenig geschwächt, Herr Gouverneur.«

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Ein Anflug von Milde huschte über Coens Gesicht. »Das wird an den Strapazen liegen«, sagte er. »Ihr seid erschöpft. Ihr solltet Euch hinlegen. Ich werde den Fall dem Rat der Gesellschaft vortragen. Für den Moment seid Ihr entschuldigt. Zieht Euch zurück und ruht Euch aus.«

Francois stand auf und verneigte sich.

Auf dem Gang hörte Francois seine Stiefelschritte hallen. Wie der Trommelwirbel auf dem Weg zum Schafott, dachte er.

Das Fort lag Tausende von Seemeilen von Holland entfernt, doch wie Jan Everts erfuhr, entbehrte es keiner der Einrichtungen, deren sein Heimatland sich rühmte -

insbesondere nicht der Wippe.

Um einem verstockten Sünder die Wahrheit zu entlocken, band man ihm die Hände auf den Rücken, verknüpfte ihn mit einer Winde und beschwerte seine Füße mit einem Stein.

Auf diese Weise wurde auch Jan Everts hochgezurrt, bis er die Spitze der Winde erreichte. Anschließend ließ man ihn dort unter qualvollen Schmerzen hängen und fragte ihn über den Angriff auf Frau van der Mylen aus.

Es dauerte nicht lange, bis Everts die Namen aller Beteiligten aufzählte und auch den Hintergrund des Überfalls gestand.

Zwaant ie Hendricks, Frau van der Mylens Mädchen, beichtete er, habe ihren Liebhaber, Kapitän Jacobs, dazu aufgehetzt. Der wiederum habe ihn, Jan Everts, wie auch die anderen angestiftet, die Tat zu verüben.

Der Kommandeur habe Unrecht, schwor er, den Männern eine Verschwörung anzulasten, denn schließlich handelten sie auf Befehl ihres Kapitäns.

Um die Standhaftigkeit seiner Aussage zu prüfen, ließ man Jan Everts für mehrere Stunden an der Wippe hängen. Drei Mal schwanden ihm währenddessen die Sinne, drei Mal wurde er wieder zu sich gebracht, doch stets beharrte er auf seiner Version und schwor, sie sei die Wahrheit.

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Auf der Langen Insel

Seit sie sich auf der Langen Insel befanden, hatte es zweimal kurz geregnet. Es reichte nur aus, um die Böden der Wasserfässer zu bedecken.

Ihre Lage wurde von Tag zu Tag verzweifelter.

Sie hatten immer wieder Feuer entfacht, doch niemand war erschienen, um sie zu holen.

Wenn ich nur wüsste, was dahinter steckt, überlegte Wiebe.

Vielleicht ist auf dem Friedhof die Pest ausgebroche n, vielleicht kommen sie deswegen nicht zurück. Doch dann lächelte er grimmig. Von wegen die Pest! Eher hatte Jeronimus beschlossen, dass man sie besser verrecken ließ. Ein paar durstige Kehlen weniger für sein kostbares Wasser, sagte er sich sicher, dieser Schweinehund.

Sie hatten nie vor, uns zu retten, stellte Wiebe fest, ganz gleich aus welchem Grund. Wir fangen besser an, Vorsorge für unser Überleben zu treffen.

Irgendwo auf dieser Insel, dachte er, könnte vielleicht doch Wasser sein. Wir haben es nur noch nicht entdeckt. Wir müssen noch einmal suchen.

Die Sonne versank wie ein Kupferball im Meer und färbte den Strand rosig und danach grau. Dazwischen schimmerten wie winzige Knochen die weißen Korallenäste.

Die Sturmtaucher kehrten vom Meer zurück und zogen schwirrende Kreise.

Wiebe sah ihnen zu. Sie kommen, um zu trinken, ging es ihm durch den Sinn. Vögel brauchen ebenso Wasser wie Menschen.

Er verfolgte den Flug eines Vogels, der auf einem Kalksteinfelsen landete und in einer Mulde verschwand.

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Wiebe lief auf den Felsen zu. Tatsächlich befand sich dort eine Öffnung, nicht größer als eine Faust.

Wiebe ließ sich auf alle viere nieder, hieb die Faust gegen die brüchigen Ränder der Öffnung und scharrte das Geröll aus dem Weg.

Als er seinen Arm hindurchschieben konnte, schoss der Vogel laut zeternd aus der Tiefe empor.

Ein paar kleine Geröllbrocken stürzten hinab.

Wiebe hörte ein leises Aufplatschen. Er begann zu lachen.

Einige Tage zuvor hatte er bereits durch ein Felsloch Wasser schimmern sehen, doch er hatte es für Meerwasser gehalten, das durch schmale Tunnel eingedrungen war. Vielleicht hatte er sich geirrt.

Am nächsten Tag würde er das Loch größer machen, so groß, dass er hineinkriechen konnte, um sich zu vergewissern.

Fort Batavia

Wie selbstbewusst er aussieht! dachte Francois beim Anblick des Kapitäns, der mit getrimmtem Bart und frischer Kleidung den Raum betrat. Er wirkt noch gewaltiger als der Gouverneur, was an dem Wilden und Rebellischen in seiner Natur liegen muss.

Coen ließ den Kapitän nicht aus den Augen.

Ehe Jacobs sich setzte, nickte er Francois zu und zwinkerte unmerklich.

Der Gouverneur kam ohne Umschweife zur Sache. »Die ersten Untersuchungen sind abgeschlossen«, erklärte er Jacobs.

»Der Rat wird sich nun mit Eurem persönlichen Verhalten befassen.«

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Die Kieferknochen des Skippers begannen zu mahlen. »Nach meinen Berechnungen...«, setzte er an, doch eine Geste des Gouverneurs brachte ihn zum Schweigen.

»Eure Berechnungen waren falsch.« Der Gouverneur machte eine Pause.

»Seid Ihr Euch eigentlich über das Ausmaß des Verlustes im Klaren, den die Companie aufgrund Eurer Fahrlässigkeit zu beklagen hat?«, fuhr er nach einer Weile fort.

»Wenn wir zurückkehren, retten wir die Fracht. Darauf gebe ich Euch mein Wort.« Jacobs blickte stolz um sich.

»Ihr werdet nicht zurückkehren, Kapitän. Kommandeur Pelsaert wird auf der Zandaam segeln, und wenn mich nicht alles täuscht, besitzt dieses Schiff bereits einen Skipper.«

Jacobs schoss das Blut ins Gesicht. Ungläubig schüttelte er den Kopf.

»Ich bin der Einzige, der das Wrack finden kann«, sagte er. Es klang verwundert. »Bitte, erkundigt Euch bei dem Kommandeur.«

Jacobs lehnte sich zurück und warf Francois einen auffordernden Blick zu.

»Ich habe mich bereits ausgiebig bei dem Kommandeur erkundigt«, ergriff Coen das Wort. »Allerdings bin ich mir nicht sicher, was sein Urteil über Euch betrifft. Zum Glück habe ich den Kapitän der Zandaam befragen können. Er hat mir eine aufschlussreiche Geschichte aus der Tafelbucht geschildert.«

Francois sah, wie sich der Blick des Skippers verdunkelte. Als Jacobs ihn anschaute, hob er die Schultern.

»Der Kapitän wusste zu berichten«, fuhr Coen unerbittlich fort, »dass Ihr in Begleitung einer Frau bei ihm erschient und Euch äußerst unschicklich aufführtet. Es fällt mir daher sehr schwer zu glauben, dass Ihr ein Vorbild sein könnt, wie wir es von einem Kapitän unserer Schiffe erwarten.«

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Dafür würde Jacobs dem Gouverneur vermutlich am liebsten an die Gurgel gehen, dachte Francois. Angesichts der Wachen und der aufgepflanzten Bajonette bleibt ihm indes nichts anderes übrig, als still vor sich hin zu kochen.

»Viel schwerer wiegt jedoch die Anschuldigung, die Euer Bootsmann gegen Euch vorbringt«, fügte Coen hinzu. »Er hat unter der Folter gestanden, dass der Angriff auf Frau van der Mylen zu Euren Lasten geht.«

Jacobs fuhr hoch. Die Vene an seiner Schläfe pochte. »Wie könnt Ihr es wagen? Wie könnt Ihr diesem Dreckskerl Glauben schenken?«, brüllte er. »Er will sich an mir rächen, begreift Ihr das nicht?«

Seine Blicke bohrten sich wie Dolche in den Gouverneur.

Dann besann er sich und ließ sich schwer atmend auf seinen Stuhl zurückfallen.

Auf seine Worte folgte tödliches Schweigen.

»Ich fürchte, Ihr vergesst, mit wem Ihr sprecht«, bemerkte der Gouverneur nach einer Weile.

Der Kapitän schluckte erregt. »Wenn Ihr die Fracht zurückhaben wollt, müsst Ihr mir die Zandaam übergeben«, beharrte er störrisch. »Der Kommandeur allein findet das Wrack nicht.«

»Der Kommandeur wird das Wrack finden«, erwiderte Coen kalt. »Ihm bleibt keine andere Wahl.«

Er winkte die Wachen näher, die sich hinter Jacobs' Stuhl aufstellten.

»Kapitän Adriaen Jacobs, Ihr seid verhaftet. Ich beschuldige Euch der groben Fahrlässigkeit im Zusammenhang mit dem Untergang der Batavia. Was den Angriff auf Frau van der Mylen betrifft, wird das Urteil später gefällt. Wachen! Führt ihn ab!«

Jacobs sprang auf. Seine Augen schienen ihm aus dem Kopf zu quellen. Benommen schaute er zu Francois hinüber.

-341-

Francois blickte zu Boden.

Jacobs wollte etwas sagen, doch harte Fäuste schlossen sich um seine Arme, packten ihn und stießen ihn auf den Ausgang zu.

Francois merkte, dass er die Luft angehalten hatte. Langsam stieß er sie nun wieder aus und blickte auf seine zitternden Hände.

Damit wäre das Kapitel Jacobs ein für alle Mal abgeschlossen, dachte er. Eigentlich sollte ich frohlocken, doch eigentümlicherweise kann ich das nicht.

Auf dem Friedhof

Jeronimus hatte sich zurückgezogen, um in Ruhe den Stand der Dinge zu überdenken. Diejenigen, die sich nicht fügen wollten, waren aus dem Weg geräumt. Die Söldner hausten auf der Langen Insel. Andere waren unauffällig umgebracht worden, des Nachts beispielsweise, wenn sie aus den Zelten krochen, um sich zu erleichtern. Ihnen wurde die Kehle durchgeschnitten und anschließend dienten sie den Haien zum Fraß. Wieder andere waren beim Fischen und Jagen umgekommen, bei Unglücksfällen, die sie seltsamerweise nicht überlebten.

Einige waren in der Dunkelheit geflüchtet, hatten sich tollkühn in die Brandung geworfen, um zu den Nachbarinseln zu schwimmen.

Jeronimus wünschte ihnen viel Glück, ganz gleich bei welcher Art des Untergangs. Er ließ seinen Blick zu der Langen Insel schweifen. Als wolle man ihn verhöhnen, kräuselten sich dort noch immer Rauchwolken in der Luft.

Er wandte sich zu Zeevanck um. »Hattet Ihr nicht erklärt, dort drüben befände sich kein Wasser?«

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Zeevanck zuckte mit den Schultern. »Wir hätten sie hier erledigen sollen«, knurrte er.

Da sieh einer an, dachte Jeronimus. Der kleine Schreiber wird aufmüpfig. Er scheint zu glauben, dass das Morden ihn zu einem harten Burschen gemacht hat. So hart, dass er mich zu kritisieren wagt. »Ihr schwatzt so dumm wie ein Waschweib«, herrschte er Zeevanck an und registrierte zufrieden, dass der andere sich duckte.

Jeronimus winkte den Steinmetz und Wouter Loos zu sich.

»Wir werden die Söldner töten«, erklärte Jeronimus. »Wenn wir Lust haben, jagen wir sie wie Vögel.«

Er sah die Augen seiner Männer aufleuchten.

»Für den Augenblick lassen wir sie jedoch noch in Ruhe«, fuhr er fort. »Erst wenn die Zeit gekommen ist, rechnen wir mit ihnen ab.«

»Versprochen?«, wollte der Steinmetz wissen.

»Versprochen«, erwiderte Jeronimus.

Später brachen Mattys Beer, der Steinmetz und mehrere der Jonkers auf, um Robben zu jagen.

Lucretia schaute ihnen nach. Als die Männer am Abend mit leeren Händen wiederkamen, wunderte sie sich nicht. Sie hatte keinen Zweifel an dem, was vorgefallen war. Niemand benötigte Schwerter, Messer und Bajonette, um ein paar Seehunde totzuschlagen.

Auf der Langen Insel

Wiebe fuhr aus dem Schlaf hoch. Er glaubte, einen Schrei vernommen zu haben, und setzte sich auf. Vielleicht war es lediglich eine Möwe gewesen.

Er stand auf und ging hinunter zum Strand.

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Als die Wachen seinen Schritt vernahmen, sprangen sie aus der Dunkelheit hervor, doch beim Klang seiner Stimme zogen sie sich wieder zurück.

Gott sei Dank schlafen sie nicht, dachte Wiebe.

Ein runder Mond stand hoch am Himmel, umgeben von einer Schar heller Wolken. Der Wind war kalt, und hohe Brandungswollen donnerten gegen die Felsen.

Wiebe ließ den Blick zu der Friedhofsinsel schweifen. Sie lag da wie ein stiller, dunkler Schatten.

Jeronimus hat sich verrechnet, dachte Wiebe triumphierend.

Er glaubte, uns in einer Felswüste auszusetzen, doch im Vergleich zu denen da drüben leben wir wie im Paradies.

Sie hatten alles, was ein Mensch zum Überleben brauchte: Vögel, deren Eier, Fische, Muscheln aller Art, die Robben, die sich zutraulich wie kleine Hündchen auf den Felsen aalten und mit wenigen Schlägen zu erlegen waren.

Das Wasser, das sie in den Felsen entdeckt hatten, würde fürs Erste ausreichen. Sie hatten tiefe Zisternen ausgehoben, in die sie hinabstiegen, um die Becher zu füllen. Es war frisches Wasser, süß und rein, das die vierzig Personen, die sie waren, versorgte.

Wie seltsam das Leben spielt! dachte Wiebe. Wahrscheinlich halten wir länger durch als Jeronimus und seine Leute. Wir wären vermutlich sogar noch hier, wenn der verwünschte Kommandeur bis Amsterdam segelt, um Hilfe zu holen.

Auf dem Friedhof

Lucretia erblickte eine Hand voll Männer, die sich um das Feuer geschart hatten. Ihre Gesichter konnte sie nicht erkennen, doch die Stimmen waren ihr inzwischen vertraut.

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Van Huyssen befand sich unter ihnen, der Steinmetz, Jan Hendricks, die Brüder van Weideren und Jan Pelgrom, Francois'

ehemaliger Kabinenjunge. Seine Stimme klang hoch und schrill.

»Habt ihr gehört, wie er geschrien hat? Er hat sich aufgeführt wie ein Weib. Auf den Knien hat er gefleht, ich möge ihn verschonen.«

»Was hast du denn erwartet?«, fragte van Huyssen. »Er war nur ein einfacher Zimmermann.«

»Auch ein Zimmermann sollte Selbstachtung besitzen«, sagte einer der van Weiderens. »Man hat zu sterben wie ein Mann.«

»Pah!«, machte Jan Hendricks. »Mir ist es gleich, wie sie sterben.«

»Ich hatte einen Morgenstern dabei!«, rief Jan Pelgrom dazwischen. »Da hing das Hirn dran, als der Kerl noch brüllte.

Ich habe noch drei Mal zuschlagen müssen, bis er schwieg.«

»Aber jeder entleert seinen Darm, ganz gleich wie schnell oder langsam es geht«, ließ sich van Huyssen vernehmen.

Lucretia war auf einen losen Stein getreten. Van Huyssen fuhr herum.

Sie wandte sich um, um zu flüchten, doch van Huyssen war mit wenigen Schritten bei ihr.

Nun wird er mich töten, dachte Lucretia.

Van Huyssen packte sie jedoch nur und schleifte sie zu ihrem Zelt zurück. »Du dummes Weibsstück«, knurrte er, während er sie durch den Eingang stieß. Danach rief er eine Wache herbei und postierte sie vor Lucretias Zelt.

Nach einer Weile tauchte Jeronimus auf und befahl Lucretia zornig, ohne seine Erlaubnis von nun an mit niemandem mehr zu sprechen.

Später lag Lucretia auf ihrem Lager und rollte sich wie ein Embryo zusammen. Sie würgte und presste sich die Hände auf den Leib. Dann verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und

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stöhnte. Tiefe Schluchzer brachen aus ihr hervor, während sie sich Trost suchend wiegte und verzweifelt dem Rauschen des Meeres lauschte. Ich bin in der Hölle gelandet, ging es ihr durch den Sinn, und sie ist noch weitaus schrecklicher, als ich jemals dachte.

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XXI

Nach vorherrschender Meinung findet nicht jede Seele Erlösung nach dem Tod. Das ist ausnahmsweise richtig.

Andererseits gilt auch die Meinung, es gäbe Menschen ohne Seele. Wenn ich kleinlich wäre, könnte ich fragen, was aus jenen wird, wenn sie sterben, doch ich vernachlässige diesen Gedanken für gewöhnlich als einen der zahllosen Widersprüche des christlichen Glaubens.

Seelenlose Menschen behandele ich wie diejenigen ohne Gewissen. Sie interessieren mich kaum, doch ich benutze sie zu meinen Zwecken.

Lieber ist mir der Mensch, den ich als grau bezeichne, der wankende Schatten, der zwischen Gut und Böse taumelt, wohl wissend, worin der Unterschied besteht.

Wie ich mich weide, wenn er sich nachts reuig auf dem Kissen wälzt und die Gräueltat, die er beging, rückgängig machen möchte. Ach, und dann mein Entzücken am anderen Morgen! Da erhebt er sich zerknirscht und zerknittert und schwört, hinfort nur Gutes zu tun.

Leider gelingt es ihm nicht, denn er hat die Früchte des Bösen genossen, und es dürstet ihn nach mehr.

Auf dem Friedhof

Jeronimus tobte. »Wie konnte es geschehen, dass sie eins der Flöße stehlen?«, brüllte er.

Der Steinmetz deutete auf Zeevanck. »Fragt ihn! Er hatte Wache.«

Zeevanck blickte verstockt zu Boden.

»Also?« Jeronimus sah Zeevanck abwartend an.

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Zeevanck zog es jedoch weiterhin vor zu schweigen.

»Die beiden waren im Frauenzelt«, ließ Wouter Loos sich vernehmen.

»Wie schön!«, erwiderte Jeronimus kalt. »Derweil sie sich der Frauen bedienten, bedienten sich andere der Flöße.« Er betrachtete Zeevanck angeekelt. »Wissen wir, wer verschwunden ist?«

»Der Arzt ist nicht mehr in seinem Zelt«, erklärte Loos.

»Ich hätte ihn fast erwischt«, verteidigte sich Zeevanck mürrisch.

Großartig, dachte Jeronimus. Nur weil es ihnen zwischen den Beinen juckt, fehlt uns ein Floß. Wenn Janz damit zur Langen Insel gerudert ist, wird er die Söldner warnen. Die werden sich dann nicht zu Tode jagen lassen wie diese niedrigen Kreaturen auf der Robbeninsel.

»Es ist eine Schande vor dem Herrn«, verkündete Pfarrer Bastians. Er bebte vor Zorn. »Jeronimus und sein so genannter Inselrat führen sich auf wie Tiere. Ich werde nicht länger dulden, dass sie derart mit gottesfürchtigen Menschen verfahren.«

Es hatte Judith längst nicht mehr gewundert, dass ihr Vater das Verschwinden zahlreicher Inselbewohner wortlos hingenommen hatte oder dass er allenfalls Jeronimus'

Erklärungen wiederholte, die Menschen hätten sich woanders niedergelassen oder seien ertrunken.

Nun war jedoch etwas Neues vorgefallen.

Tryntgen war von Mattys Beer und David Zeevanck vergewaltigt worden.

Das ließ sich nicht beschönigen. Dazu konnte Pfarrer Bastians nicht schweigen.

»Ich habe Angst, Gijsbert«, murmelte Frau Bastians.

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Pfarrer Bastians hob die Hand. Seine Augen funkelten. »Der Teufel ist unter uns!«, rief er. »Ich werde ihm das Handwerk legen!«

»Lass uns zuvor beten!«, bat Frau Bastians.

»Wir beten, seit wir hier gelandet sind«, beschied ihr Mann sie ungeduldig. »Nun geht es um mehr. Nun prüft Gott unseren Mut. Doch er muss sich nicht sorgen. Den Satan lasse ich nicht gewähren, hier ebenso wenig wie in Holland.«

In Holland gab es Wachsoldaten und Bürgerwehren, die Gottes Anliegen schützten, hätte Judith ihren Vater gern erinnert. Und was den Satan betrifft, so lässt du ihn bereits viel zu lang gewähren, dachte sie.

Pfarrer Bastians warf sich seinen Rock über und ergriff die Bibel. »Du kommst mit mir, Judith!«, befahl er.

Vor dem Eingang von Jeronimus' Zelt lungerten ein paar Jonkers. Der Wind trug ihr Gelächter zu ihnen.

Sie sind kaum älter als ich, dachte Judith. Wie kommt es, dass sie derart schreckliche Dinge zu tun vermögen? Wo haben sie das Morden gelernt?

Ihr Vater schien sich zu stählen. »Verzage nicht, o Häuflein klein«, summte er. Seine Schritte knirschten auf den Korallen.

Jeronimus war aus seinem Zelt getreten. Er stützte die Hände in die Hüften und schaute den Näherkommenden entgegen.

Welch einen lächerlichen Anblick wir abgeben müssen, dachte Judith. Vorab mein Vater, im schwarzen, wehenden Rock wie eine fette Krähe, und ich wie ein dürrer Spatz hinterher.

Jeronimus machte eine Bemerkung, woraufhin die Jonkers erneut in Gelächter ausbrachen.

Judiths Herz begann Trommelwirbel zu schlagen. Das geht nicht gut, dachte sie angstvoll.

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»Ja, wen haben wir denn da?«, rief Jeronimus erfreut. »Der Herr hat uns seinen Hirten entsandt. Wie lautet die Losung des Tages, lieber Pfarrer Bastians?«

Pfarrer Bastians kam schwer atmend zum Stehen. Mit der rechten Hand hob er die Bibel hoch. »Seid Ihr mit diesem Buch vertraut, Herr Unterkaufmann?«

Jeronimus nahm ihm die Bibel ab. Mit gerunzelter Stirn blätterte er durch die Seiten, nickte, brummte etwas, schüttelte den Kopf. »Die ein oder andere Stelle kommt mir bekannt vor«, murmelte er, »im Übrigen entdecke ich Gefasel.« Mit einem Ruck riss er ein paar Seiten heraus und ließ sie im Wind davonflattern.

Pfarrer Bastians schien für einen Augenblick zu schwanken.

Dann stürzte er jedoch vor, um Jeronimus das Buch aus den Händen zu reißen.

Jeronimus ließ nicht locker, sodass die beiden Männer die Bibel hin und her zerrten, was die Jankers abermals erheiterte.

»Dafür wird Gott seine Blitze auf Euch herniederfahren lassen!«, rief Pfarrer Bastians.

Jeronimus blickte prüfend zum Himmel empor. »Wann?«, fragte er interessiert. »Doch gewiss nicht in den nächsten Stunden.«

»Der Herr befiehlt -«

Zeevanck packte Pfarrer Bastians am Kragen und stieß ihn zu Boden.

»Verzieh dich, Dummkopf«, sagte er.

»Tut ihm nichts!«, schrie Judith. Sie bückte sich, um ihrem Vater auf die Beine zu helfen.

»Ein rührender Anblick«, bemerkte Jeronimus. Er schleuderte die Bibel in die Lagune. »Was der Herr befiehlt, interessiert hier keinen«, fuhr er fort. »Der Herr hat das Schiff zerstört, auf dass mein Wort gilt, Herr Pfarrer. Merkt Euch das! Aus diesem

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Grund stellt Ihr auch sofort Eure Predigten ein, denn wenn jemand Gottes Wortes bedarf, kommt er zukünftig zu mir.«

Pfarrer Bastians hatte sein Gesicht in den Händen geborgen und winselte wie ein verwundetes Tier. Als er die Hände sinken ließ, war seine Haut aschfahl. Er blickte wortlos in die Runde.

Dann machte er kehrt. Wie ein Betrunkener stolpernd schlug er den Rückweg ein.

Judith folgte ihm stumm und mit gesenktem Blick.

Über ihr schwirrten die Möwen und kreischten wie des Teufels Heerscharen.

Auf der Langen Insel

Wiebe Hayes und seine Kameraden entdeckten zwei Gestalten, die ans Ufer taumelten.

Die Männer sprangen auf und liefen auf sie zu. Bei ihrem Anblick erschraken sie.

Wie haben sie es geschafft, bis hierher zu schwimmen? fragte sich Wiebe, als er die Wunden der beiden sah.

Einem war eine Schwertklinge mitten über den Rücken gezogen worden. Sie hatte einen tiefen, klaffenden Schnitt hinterlassen. Der andere hatte eine Wunde im Nacken davongetragen, die aussah, als habe jemand versucht, ihn zu köpfen.

Die beiden Männer waren zusammengebrochen und lagen reglos auf dem Sand.

Wiebe beugte sich zu ihnen hinunter. Er erkannte, dass sich die Lippen des einen Mannes bewegten.

»Was sagt Ihr?«, fragte er leise.

Der andere röchelte. »Der Schrecken...«, flüsterte er und dann noch etwas, das Wiebe nicht verstand.

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»Holt ihnen etwas zu trinken«, befahl Wiebe seinen Gefährten. »Danach schaffen wir sie hoch.«

Als sich die Verletzten ein wenig erholt hatten, erzählten sie, sie seien von der Robbeninsel geflüchtet, auf der man sie ausgesetzt hatte. Am Vortag seien Männer auf Flößen von der Friedhofsinsel gekommen und hätten sie von hinten mit Bajonetten überfallen. Sie hatten den Steinmetz, Allert Janz und Jan Hendricks erkannt und auch den Kabinenjungen Pelgrom, der die Kinder erschlagen hatte. Sie selbst hätten sich gerettet, indem sie um ihr Leben rannten und sich in die Fluten warfen, doch einer sei ihnen hinterhergehetzt und habe mit dem Schwert nach ihnen geschlagen.

Wiebe und seine Kameraden blickten sich an.

»Unfassbar«, murmelte Wiebe. »Was soll dieser Wahnsinn?«

Er musterte die beiden Männer abwägend. Wenn er das Grauen nicht in ihren Augen gelesen, und ihre Wunden ihm nicht als Zeugnis gedient hätten, wäre es ihm schwer gefallen, ihre Geschichte zu glauben. Allerdings weigerte er sich, den Unterkaufmann als Hintermann zu betrachten. Er traute Jeronimus vieles an Tücke zu, Mord jedoch nicht.

Es dauerte nicht lang, bis Wiebe gezwungen war, seine Meinung zu ändern.

Am nächsten Tag sichteten er und seine Kameraden ein Floß.

Es trieb auf ihre Insel zu.

Anfänglich dachte Wiebe, die Mörder hätten sich aufgemacht, den Männern nachzustellen, doch dann entdeckte er, dass sich lediglich ein Mann auf dem Floß befand, der sich kaum bewegte.

In Begleitung mehrerer anderer watete Wiebe dem Floß entgegen und zog es an Land.

Der einsame Passagier war der sehr entkräftete Aris Janz, den man ans Ufer tragen musste. Auch er hatte eine böse

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Schwertwunde auf dem Rücken und berichtete mit schwacher Stimme und unterbrochen von zahlreichen Pausen, dass er mit David Zeevanck aneinander geraten sei.

Wiebe zog zischend den Atem ein, als er erfuhr, dass der Arzt den Steinmetz und Zeevanck hatte hindern wollen, sich an den Frauen zu vergreifen.

Jeronimus, erklärte Janz den verdutzt Lauschenden, betrachtete die Friedhofsinsel inzwischen als sein Reich, in dem er jeden töten lassen könnte, der ihm nicht gefiel. Er und seine Spießgesellen seien nicht länger als Menschen anzusehen, sondern als Wesen, die sich in einem Wahn teuflischen Ursprungs befanden.

Wiebe schauderte bis auf die Knochen. Als er zu der Friedhofsinsel hinüberschaute, erblickte er die Rauchsäulen, die von den Feuern aufstiegen. Vielleicht sind wir bis zum Ende der Welt gesegelt, um in der Hölle zu landen, dachte er.

Fort Batavia

Francois studierte die finstere Miene des Gouverneurs, der wortlos in den Berichten blätterte, die er, wie Francois wusste, bereits hundert Mal gelesen hatte.

Der Gouverneur war an diesem Tag vollständig in Schwarz gekleidet. Lediglich ein schmaler weißer Spitzenkragen unterbrach die düstere Strenge.

Schließlich schob Coen die Unterlagen beiseite und betrachtete Francois. »Nach der Lektüre Eurer Dokumente«, hub er an, »bin ich von Euren Fähigkeiten weniger überzeugt als die Herren in Amsterdam.«

Du eiskalter Hund, dachte Francois, ich möchte wissen, wie du dich an meiner Stelle verhalten hättest.

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»Euer Fall ist noch nicht abgeschlossen«, fuhr Coen indessen fort. »Ich werde die Vorgänge weiterhin prüfen.«

Francois nickte. Nichts, was er jetzt sagen konnte, würde ihm zum Vorteil gereichen, deshalb zog er es vor zu schweigen.

»Das Dringlichste ist im Moment jedoch, dass Ihr Euch zurück zu dem Wrack begebt, um die Schätze der Companie zu retten -und um die Menschen zu bergen, sofern sie noch leben.

Ihr segelt mit der Zandaam, aber das sagte ich ja bereits. Der Erste Steuermann der Batavia wird Euch begleiten.«

Coen tippte mit seinem langen Zeigefinger auf Francois'

Bericht. »Gibt es noch Fragen?«

Francois schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Gouverneur.«

»Um so besser. Ihr verlasst Java morgen früh. Dieses Mal bitte ich mir Erfolg für Eure Sache aus.«

Coen wedelte mit der Hand. »Ihr könnt Euch entfernen.«

Francois stand auf und verneigte sich wortlos. Danach wandte er sich um und verließ leise den Raum.

Wenige Tage nach ihrer Ankunft wurde Zwaantie verhaftet.

Kurz darauf stieß man sie in eine dunkle Kerkerzelle, die heiß wie ein Brutofen und voller Stechmücken war. Wessen man sie bezichtigte, wusste Zwaantie nicht.

Als eines Morgens eine Gruppe Wärter in ihre Zelle polterte, glaubte sie, sie würde freigelassen. Sie lachte triumphierend und bedachte die Wärter mit derbem Spott.

Auf dem Weg nach draußen erkannte Zwaantie jedoch, dass die langen Gänge nicht ins Freie führten, sondern vielmehr noch tiefer in den Schlund der Festung hinein.

Dann wurde eine schwere Holztür aufgestoßen.

Zwaantie kreischte vor Entsetzen, als sie die Streckbank, die Wippe und die eiserne Spindel sah. Verzweifelt bäumte sie sich auf und trat um sich. Die Wächter verstärkten ihren Griff.

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Zuletzt trat aus dem Dunkel ein Mann mit einem schmalen weißen Spitzenkragen hervor, der den Wachen ein Zeichen gab und angeekelt den Mund verzog, als Zwaantie sich übergab.

Zwaantie sah sein blasses Gesicht im Fackellicht.

»Zwaantie Hendricks«, verkündete er. »Ihr seid hier, um Euch zu dem Angriff auf Frau van der Mylen zu äußern, der an Bord der Batavia geschah. Ich hoffe, dass Ihr uns und Euch die Befragung leicht machen werdet.«

Zwaantie übergab sich ein zweites Mal. Wo ist der Skipper?

fragte sie sich stöhnend. Warum kommt er nicht, um mir zu helfen?

Als die Zandaam den Hafen verließ und Kurs auf die Straße von Sunda nahm, stützte Francois sich schwer auf der Reling auf. Seine Haut glühte vom Fieber.

Das Feuer, das in seinem Hirn brannte, war indes kaum schwächerer Natur. Seit Tagen schwankte er zwischen Anfällen sinnloser Wut, die gegen den Gouverneur gerichtet waren, und bitteren Selbstvorwürfe n, die mit Kapitän Jacobs zusammenhingen. Es hätte nicht so kommen dürfen, sagte er sich mit dumpfer Reue. Das war nicht gerecht. Doch wie konnte ich annehmen, dass diese schwarze Vogelscheuche Jacobs dergleichen antun wird? Ich hätte mich entschiedener für ihn eingesetzt, hätte ich davon gewusst.

Francois begann zu zittern. Wem machte er da etwas vor? Er hatte sich geduckt, um unauffällig zu bleiben, hatte geschwiegen, nicht widersprochen, hatte alles hingenommen, um seinen Hals aus der Schlinge ziehen zu können.

Dennoch trug er nicht die Schuld, hielt sich Francois vor Augen. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Er hatte so handeln müssen. Im Grunde musste sich Jacobs seine Strafe selbst zuschreiben. Immerhin hatte der Kapitän die Batavia versenkt, nicht der Kommandeur. Seltsam war lediglich, dass ihm dieser Gedanke nicht half, ihm keine Erleichterung verschaffte.

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Francois warf einen Blick auf die Festung zurück. Er sah die Galgen. An einem von ihnen hing Jan Everts.

Francois verzog spöttisch den Mund. Das is t wohl das Einzige, was mir auf dieser Reise gelungen ist, dachte er. Ich habe es geschafft, dass ein Vergewaltiger hängt.

Auf dem Friedhof

Wie ein Fürst stolzierte Jeronimus über die Insel. In seinem Gefolge befanden sich van Huyssen, Zeevanck, Allert Janz, Mattys Beer - und Pfarrer Bastians.

Judith stand mit ihrer Mutter vor ihrem Zelt und beobachtete die Parade. Ihre kleinen Geschwister hatten sich an sie geklammert.

»Was tut er da?«, fragte Judith ihre Mutter.

»Das Richtige«, erwiderte Frau Bastians.

Als die Gruppe weiterzog, blieb Conrad van Huyssen stehen und musterte Judith ausgiebig. Es sah aus, als wolle er ihren Wert bemessen. Danach schloss er wieder zu den anderen auf.

Wenig später kehrte Pfarrer Bastians mit wehenden Rockschößen zurück.

»Nun, was hat Jeronimus heute zum Besten gegeben?«, fragte Judith spitz.

Ihr Vater wich ihrem Blick aus. »Jetzt renkt sich alles ein«, verkündete er.

»Was hat er gesagt?«, beharrte Judith. »Gib seine Worte wieder.«

»Nichts. Er lädt uns lediglich für heute Abend zu einer gemeinsamen Mahlzeit mit den Jankers ein. Im Zelt von van Huyssen.«

»Uns alle? Die ganze Familie?«

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»Nein«, gab Pfarrer Bastians widerwillig zu. »Nur dich und mich.«

Seine Frau packte ihn am Ärmel. »Weißt du, was er will?«

»Frau!«, schnaubte Pfarrer Bastians. »Lasst mich zufrieden.

Vertraut auf den Herrn.«

Judith spürte, dass sich eine dumpfe Vorahnung in ihr regte.

»Vater -«, begann sie.

Pfarrer Bastians winkte ab. »Es sind gar nicht so üble Burschen«, sagte er. »Gewiss, sie waren hart und unerbittlich, doch sie fanden ihr Vorgehen angemessen, um die Diebe zu bestrafen. Wenn wir überleben wollen, bedarf es strenger Disziplin.«

»So wie bei Tryntgen?«

Pfarrer Bastians wurde bleich. »Alles wird gut«, murmelte er.

»Du wirst es selbst sehen.«

Judith warf einen Blick zur Langen Insel hinüber, wo sich der Rauch in die Lüfte kringelte. Wenn doch nur Wiebe und seine Männer zurückkämen! Dann würde nichts von alledem geschehen.

Ein kalter Wind näherte sich vom Strand, fegte durch die Lagerfeuer und ließ glühende Funken aufstieben.

Hie und da trug er Fetzen des Gelächters zu Judith hinüber.

Sie erkannte die Stimme van Huyssens, hörte dazwischen den Steinmetz grunzen und die Geräusche von Zinnbechern, die aneinander geschlagen wurden.

Ihr Vater klemmte sich die Bibel, die er aus den Wellen gerettet hatte, unter den Arm. »Ich werde sie von der Macht der Sühne überzeugen«, erklärte er.

»Ich glaube nicht, dass Conrad van Huyssen heute Abend sühnen möchte«, erwiderte Judith.

»Es steht dir nicht zu, an mir zu zweifeln«, entgegnete ihr Vater verärgert.

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Wie leicht er mich preisgibt! dachte Judith. Die älteste Tochter für ein Essen, für Macht und Respekt. Er schien es kaum abwarten zu können, den Tauschhandel zu vollziehen.

»Herr van Huyssen entstammt einer guten, gottesfürchtigen Familie«, gab Pfarrer Bastians zu bedenken. »Diese Einladung ist eine Ehre.«

»Vater!«, bat Judith. »Lass es gut sein. Ich weiß, dass man uns keine Wahl lässt.«

Conrad trat aus dem Zelt. Er trug einen neuen Rock mit goldener Bordüre. Jeronimus musste ihm den Mann ausgeliehen haben, der sonst seine eigene prächtige Kleidung nähte.

Van Huyssen verneigte sich vor Judith und ihrem Vater und winkte sie in sein Zelt.

Verglichen mit unserer eigenen Unterkunft handelt es sich hier um einen Palast, dachte Jud ith beim Anblick der schweren Silberleuchter und der schimmernden Seidenteppiche.

Auf dem Tisch türmten sich die Speisen. Welch geschickte Art, Vater gefügig zu machen, überlegte Judith, während sie auf die Berge von Krebsen, gebratenen Vogelleibern und Austern blickte.

»So viel!«, murmelte sie vor sich hin. So viel Überfluss, wiederholte sie im Stillen. Andere quält der Hunger.

»Esst, so viel Ihr wollt!«, flüsterte Conrad ihr ins Ohr. »Wir schenken die Reste nicht den Armen. Was übrig bleibt, werfen wir fort.«

Judith blickte ihn an. Sein Lächeln war unergründlich. Auch als sie in seine Augen schaute, konnte sie nicht erkennen, was sich dahinter verbarg.

Conrad ergriff einen Zinnbecher. »Wein?«, fragte er, indem er bereits einzuschenken begann.

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In diesem Augenblick tauchte Jeronimus auf. Auch er trug einen neuen Rock aus roter Farbe, den eine Goldbordüre zierte.

Auf seiner Brust glänzte die goldene Kette des Kommandeurs.

Conrad verbeugte sich ehrerbietig und begrüßte Jeronimus als Generalkapitän - ein Titel, den Judith noch nie gehört hatte.

Anschließend setzten sie sich zu Tisch. Pelgrom, der Kabinenjunge, briet Fische vor dem Zelt, tat ihnen auf und schenkte nach, sobald sie die Becher geleert hatten.

Heute Nacht müssen wir nicht darben, dachte Judith spöttisch.

Die Bettler sind der Einladung Ihrer königlichen Hoheit gefolgt.

Heute ist der Tag im Jahr, an dem sie sich satt essen dürfen.

Judith beobachtete ihren Vater, der das Fleisch mit den Zähnen von den Vogelleibern riss, schmatzend Krebse in sich schlang und geräuschvoll Austern schlürfte. Dazwischen schnaufte er und nickte stumm, während Jeronimus ihm seine Pläne darlegte, noch mehr Menschen auf die Nachbarinseln zu verteilen, um für ihre eigene Insel die Versorgung mit Nahrung und Wasser sicherzustellen.

»Kluge Worte«, lobte Pfarrer Bastians mit vollem Mund und den Blick unverwandt auf den kleiner werdenden Hügel Vogelleiber gerichtet. »Ich werde zu den Menschen sprechen und ihnen versichern, dass Gottes Gesetz gilt.«

»Seit wann erlässt Gott Gesetze?«, erkundigte sich Jeronimus amüsiert.

Pfarrer Bastians schien blass zu werden. »Schon immer«, murmelte er.

Judith runzelte die Stirn. Früher wäre ihr Vater aufgefahren, hätte sich empört und gewütet, doch nun reagierte er sanft wie ein Lamm.

»Eigentlich sollte mein Vater den Menschen verkünden, dass gottesfürchtige Sitten hier bei uns abgeschafft worden sind«, sagte Judith barsch.

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Jeronimus hob nachsichtig die Brauen. »Warum, findet Ihr, soll der Mensch Gott fürchten? Warum empfängt er ihn nicht in Liebe?«

Pfarrer Bastians lachte gekünstelt. »Wir empfangen seine Liebe«, betonte er. »Gott liebt uns. Wir fürchten ihn. Ihn nicht zu fürchten zöge das Unheil herbei.«

Jeronimus' Lachen hörte sich fröhlich an. »Nun, ganz so ist es nicht«, verbesserte er. »Ich fürchte Gott beispielsweise nicht, und dennoch hat er mich vor allerlei Unheil bewahrt. Er hat mich aus dem Wrack auf diese Insel gerettet, wo er mich mit Speisen, Wein und feiner Kleidung versieht. Er hält seine schützende Hand über mich, während ringsum Menschen sterben. Somit weiß ich, dass ich zu seinen Auserwählten gehöre. Was Euch betrifft, bin ich mir indes nicht sicher, lieber Pfarrer Bastians. Manchmal habe ich nämlich den Eindruck, dass Ihr Euch an jedweden Rockzipfel hängt, nicht "immer nur an den des Herrn.«

Pfarrer Bastians begann, unmerklich zu zittern.

»Sprecht nicht auf diese Weise zu ihm!«, zischte Judith Jeronimus an. »Mein Vater war stets ein treuer Diener des Herrn.«

Jeronimus maß sie mit einem Blick, in dem sich Zorn und Verwunderung mischten. Dann warf er seinen Kopf in den Nacken und lachte schallend auf. »Du liebe Güte, Conrad«, rief er, »da hast du dir aber ein widerspenstiges kleines Fohlen eingehandelt! Vielleicht solltest du dir einen Dolch unter dein Kopfkissen stecken.«

Pfarrer Bastians hatte sich wieder gefasst. Er häufte gebratene Vögel und Krebse auf seinen Teller.

»Na, was sagt Ihr dazu, Judith?«, fuhr Jeronimus heiter fort.

»Wisst Ihr überhaupt schon, dass dieser brave junge Mann Euch zum Weib begehrt?«

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Judith schwieg. Dieser brave junge Mann, dachte sie, kann nichts außer morden und trinken. Er hat in seinem Leben so wenig an Leid erfahren, dass er annimmt, Leid sei ein neuer Sport. Wenn wir nicht auf dem Riff aufgelaufen wären, wäre der brave junge Mann dank seiner Herkunft Unterkaufmann der Gesellschaft geworden, doch nun, da der Teufel ihn lobt und als Freund bezeichnet, fügt er sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit in den Beruf als Mörder.

Ich nehme diesen braven jungen Mann, damit meine Familie überlebt. Ich bin inzwischen ein Pfand geworden.

»Es wird nach dem Gesetz vonstatten gehen«, ließ Pfarrer Bastians sich vernehmen.

»Judith?«, fragte Jeronimus. »Wie sieht es bei Euch aus?

Wünscht Ihr Conrad van Huyssen zum Mann?«

Judith nickte geistesabwesend.

»Ich persönlich finde«, fuhr Jeronimus fort, »Frauen sollten als Allgemeingut dienen. Schließlich ist die Lust, die der Mann empfindet, nur natürlich und von Gott geschenkt.«

»Sie ist ein Geschenk des Teufels«, brummte Pfarrer Bastians.

Wie rasch Jeronimus' Stimmungen wechseln! dachte Judith.

Er sprang auf. Speicheltropfen sprühten aus seinem Mund, als er zu toben begann. »Es gibt keinen Teufel!«, brüllte er. »Das ist lediglich eine Erfindung von euch Kirchenmännern, um starke Naturen zu knechten. Alles stammt von Gott! Auch das Verlangen! Und insofern ist es nicht schlecht!«

Das waren die ketzerischen Gedanken der Anabaptisten, erkannte Judith, die Lehre von Torrentius. Sie hatte ihren Vater häufig genug dagegen wettern hören.

Pfarrer Bastians sagte nichts.

Jeronimus ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen. Von einem Moment zum anderen hatte er sich wieder im Griff. »Warum

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plötzlich diese Leichenbittermiene?«, erkundigte er sich bei Pfarrer Bastians. »Hat es Euch etwa nicht geschmeckt?«

»O doch«, versicherte Pfarrer Bastians ihm eilig. »Ihr wart äußerst großzügig -«

Jeronimus winkte ab. »Ich hatte mir Hoffnung gemacht, wir könnten Freunde werden. Sollen wir unser Kriegsbeil nicht begraben? Was haltet Ihr davon?«

Judith beobachtete ihren Vater gespannt. Würde er für Nahrung und Jeronimus' Gnade auch seinen Glauben opfern?

»Das ist auch mein sehnlichster Wunsch«, beeilte sich Pfarrer Bastians Jeronimus zuzustimmen.

»Vielleicht sollten wir auch Eure Wiederaufnahme in den Rat der Insel prüfen«, bot Jeronimus an.

»Das wäre mir eine Ehre«, murmelte Pfarrer Bastians erfreut.

Jeronimus trug Pelgrom auf, die Gläser neu zu füllen. »Ich werde darüber nachdenken«, erklärte er verschmitzt.

»Hängt das nicht auch ein wenig von Judith ab?«, fragte van Huyssen.

»Ich bin sicher, dass sie sich als gehorsam erweist«, kam es umgehend von Pfarrer Bastians.

»Vorzüglich!« Jeronimus zwinkerte van Huyssen zu. »Das ist doch ganz nach deinem Geschmack.«

»Es ist gut verlaufen«, erklärte Pfarrer Bastians Judith auf dem Rückweg zu ihrem Zelt. Er leuchtete ihnen mit einer brennenden Fackel.

Judith erwiderte nichts. Inwendig fühlte sie sich wie gestorben. Die Trennung von böse und gut hatte sie ihr Leben lang geleitet, doch an diesem Abend hatte sie erkannt, dass dergleichen nicht mehr galt, dass diese Begriffe austauschbar waren oder dass sie sich einfach in nichts auflösten, wenn man den Glauben an sie verlor.

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»Jeronimus bedarf der Unterweisung, das ist alles«, hörte Judith ihren Vater sagen. »Sobald ich wieder Mitglied im Inselrat bin, wirke ich entsprechend auf ihn ein.«

»Jeronimus ist ein Ketzer.«

»Davon verstehst du nichts.« Ihr Vater senkte seine Stimme.

»Man darf solche Menschen nicht vor den Kopf stoßen, Judith.

Man muss behutsam mit ihnen verfahren. Du bist noch zu jung, um dergleichen zu begreifen.«

Sie wanderten schweigend weiter. Judith zuckte zusammen, als irgendwo in der Dunkelheit ein Schrei erklang.

Wahrscheinlich der übliche Vogel, dachte sie.

»Wünscht Ihr tatsächlich, dass ich Herrn van Huyssen heirate?«, fragte sie nach einer Weile.

»Es ist besser, ein Mann besitzt dich nach dem Gesetz, als dass dich zahllose Männer gesetzlos besitzen.«

Oder als dass man sich ihnen freiwillig anbietet, um sich etwas zu essen zu verschaffen, vervollständigte Judith seinen Satz im Stillen.

So wie es bereits etliche Frauen tun mussten.

»Du hättest es viel ärger treffen können, Judith«, fuhr Pfarrer Bastians fort. »Das Vorgehen ist vielleicht ein wenig ungewöhnlich, doch es geschieht nach dem Gesetz. Du wirst mir später noch dankbar sein. Warte, bis du erst Frau van Huyssen bist.«

Eine kräftige Windbö peitschte Judith in den Rücken, sodass sie einen Schritt vorwärts taumelte.

»Sie glauben, sie hätten mich übertölpelt«, erklärte Pfarrer Bastians hinter ihr. »Der Teufel ist ein gerissener Kerl, Judith.

Doch dein Vater auch. Wenn es sein muss, bin ich genauso gut wie er.«

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Judith klappte die Lasche am Eingang ihres Zeltes beiseite.

Das Zelt war leer. Ihr Vater trat hinter sie und hielt seine Fackel in die Höhe.

Eine Lampe lag zerschmettert am Boden. Der Tisch und die armseligen Bettgestelle, die sie aus Treibholz gezimmert hatten, waren von Äxten zersplittert worden. Über den Erdboden zog sich ein verschlungenes Gewirr blutiger Spuren.

Pfarrer Bastians fiel auf die Knie.

Seine Schreie gellten durch die Nacht.

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XXII

Wie rasch wir doch immer dabei sind, über andere zu richten!

Da geschieht eine Missetat, und wir liegen im warmen Bett oder sitzen behaglich am Ofen und denken: Das täte ich nicht, und: Wie kann man nur?

Andererseits wissen Sie, dass die Sonne morgens auf- und abends untergeht, und Sie sind satt. Es gibt keine Katastrophe, die Ihnen die Sicherheit raubt, keine Gefahr, die Ihre Moral entstellt.

Lassen Sie sich jedoch warnen!

Niemand weiß vorher, wie er sich unter extremen Bedingungen verhalten wird. Erst wenn der Albtraum Wirklichkeit ist, wird er es erfahren.

Habe ich jetzt Zweifel in Ihre Brust gesät?

Das tut mir Leid.

Sie müssen aber auch einmal meine Lage verstehen.

Ich nähre mich schließlich vom Zweifel der Menschen.

Auf dem Friedhof

Der scharfe Wind trieb Regenscha uer über die Insel. Am grauen Himmel schrien die Möwen.

Judiths Gesicht war bleich.

Ihr Vater hatte die Bibel aufgeschlagen und hielt die Hochzeitspredigt vor der bunt gekleideten Gesellschaft.

Generalkapitän Jeronimus trug seinen roten Rock mit den goldenen Bordüren. Zur Feier des Tages hatte er gleich mehrere goldene Ketten angelegt. Hinter ihm befanden sich, ebenfalls

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neu eingekleidet, seine Offiziere Zeevanck, Mattys Beer, Allert Janz und der Steinmetz.

Der Bräutigam hatte sich zu seinem schwarzen Rock einen vornehmen Seidenhut aufgesetzt, den ein dicker Federbusch zierte. Die silbernen Schnallen an seinen Stiefeln glänzten.

Der Steinmetz legte einen Rubinring auf die Bibel.

Der Mann hatte braune Ränder unter den Fingernägeln, und Judith schauderte. Er hat es nicht einmal für nötig gehalten, das Blut meiner Familie zu entfernen, dachte sie.

Pfarrer Bastians beendete die Zeremonie mit unsteter Stimme.

Nach dem Gesetz war seine Tochter nun Frau van Huyssen geworden.

Conrad strich sich mit der Zunge über die Lippen und spielte mit den Schnüren von Judiths Mieder.

Judith fand, er sah aus wie ein Mann, der einen seltenen Fisch geangelt hatte und nun nicht weiß, wie er ihn am geschicktesten filetiert.

»Warst du schon einmal mit einem Mann zusammen?«, fragte er.

Wenn man eine Wunde ausbrennt, ging es Judith durch den Kopf, lässt sie sich untersuchen, ohne dass es den Verwundeten schmerzt. Vielleicht galt dieselbe Regel für das Herz. Es musste wohl so sein.

Im Übrigen schien die Regel auch für den Geist zu gelten.

Selbst die einfachste Frage musste sie des Öfteren überdenken, bevor sie sie verstand.

War sie schon einmal mit einem Mann zusammengewesen?

Welche Antwort gab es darauf? In Holland hatte ein Junge sie geküsst. Musste sie davon berichten? Wusste sie noch, wer das gewesen war?

»Du bist sehr schön«, sagte Conrad. »Weißt du das?«

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Er streckte seine Hand aus, um ihre Wange zu berühren.

»Auf dem Schiff sah ich dich häufig in der Gesellschaft dieses Soldaten. Hattest du etwas mit ihm?«

Dieses Soldaten. Welchen Soldaten meinte er? Judith tat ihr Bestes, um sich zu besinnen, doch sie vermochte an nichts außer an das Blut auf dem Erdboden zu denken und daran, wie an einigen Stellen dicke Klumpen entstanden waren.

»Das schmeckt deinem Vater, dich an einen Adligen verheiratet zu haben, nicht wahr? Dadurch ist er ein ordentliches Stück nach oben gekommen.«

»Mein Vater ist ein getreuer Diener des Herrn«, erwiderte Judith.

»Im Gegensatz zu mir.« Conrad lachte. Danach wurde er ernst. »Ich möchte nicht, dass du deine frommen Sprüche mit ins Bett nimmst, Judith.«

Er fuhr mit den Fingern durch ihr Haar.

Judith entfernte sich von ihrem Körper. Wie ein Geist schwebte sie in der Luft. Von dort sah sie, dass sich Conrads Mund bewegte, doch was er sagte, hörte sie nicht. Es war, als stünde er auf der anderen Seite einer Gasse, anstatt neben ihr auf dem Bett zu sitzen.

Conrad erhob sich und füllte einen Becher mit Wein, den er Judith hinhielt. Sie ergriff ihn und trank. Ihre Hände zitterten.

Sie hatte Wein auf ihr Kleid geschüttet.

Conrad nahm ihr den Becher ab und stellte ihn auf den Boden.

»Was hast du denn?«, fragte er. »Du wirkst so beklommen.«

»Hast du gewusst, was er vorhatte?«

»Natürlich nicht.«

»Wir waren in deinem Zelt, während -«

»Ich wusste nichts davon. Wofür hältst du mich? Glaubst du, ich mache bei so etwas mit?«

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»Wie konntest du nichts wissen?«

»Ja, denkst du denn, Jeronimus weiht mich in alles ein?«

Judith schaute in Conrads Augen. Sie waren blau und klar. Sie wollte ihm Glauben schenken. Sie hoffte, er wäre wie sie nur ein unschuldiges Opfer schlimmer Umstände.

»Ich will überleben«, erklärte Conrad. »Genau wie du.

Deshalb hast du mich doch auch geheiratet, oder etwa nicht?«

»Was ist mit meinem Vater? Was geschieht mit ihm?«

»Warum, glaubst du, lebt er noch? Er wäre tot, wenn ich nicht wäre.«

Auch das versuchte Judith zu glauben.

»Ich tue dir nichts zuleide«, flüsterte Conrad. »Niemals.«

Er küsste Judiths Mund, doch ihre Lippen blieben kalt. Wenn er nun ein Messer nähme und es mir in die Brust stieße, würde mich Aas ebenso wenig berühren, dachte sie. Nicht einmal schreien würde ich.

Conrad begann, Judiths Mieder aufzuschnüren. Anschließend streifte er es ihr über die Schultern und bettete Judith sanft auf das Lager. Danach blies er die Lampe aus und begann sich zu entkleiden. Judith hörte den Steinmetz und die Jankers draußen vor dem Zelt lachen, doch wie alles andere drang auch dies kaum in ihr Bewusstsein. Vergeblich fahndete sie nach Empfindungen der Angst, des Schmerzes, des Hasses oder der Wut. Sie kam sich vor wie eine alte Frau, die in einer Truhe nach etwas gräbt, das sich dort vor langer Zeit einmal befunden hat, inzwischen jedoch abhanden gekommen ist.

Judith hörte, dass Conrad die Schnallen seiner Schuhe löste.

Danach fielen sie zu Boden, und Conrad glitt neben Judith. Er küsste sie erneut und murmelte ihr Liebesworte ins Ohr, während seine Hände ihren Körper erforschten.

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Wusste er von dem Mord an meiner Familie? fragte sich Judith erneut. muss ich ihn verabscheuen? Liege ich bei einem Lügner? Macht mich ein Mörder zur Frau?

Sie schloss die Augen und ließ Conrad gewähren. Ich bin die Ehefrau eines Jonkers, sagte sie sich. Meinem Mann gehört ein Fleckchen Sand. Meine Seele ist verloren, aber auch das schert mich nicht. Soll Gott getrost die Wahrheit über mich erkennen: Ich tausche selbst die Erinnerung an meine Familie gegen das Versprechen von Sicherheit ein.

Ich bin in der Tat die wahre Tochter meines Vaters.

Vom Eingang ihres Zeltes aus sah Lucretia die Möwen kreischend in den Kanal zwischen den Inseln stoßen. Wenn sie auftauchten, zappelten Fische in ihrem Schnabel.

Hinter ihnen brauten sich Wolken zusammen, durch die sich nur noch einzelne Sonnenstrahlen bohrten. Der Wind war feucht und kalt. Es würde Regen geben.

Plötzlich ertönten am Strand Schreie. Lucretia trat aus ihrem Zelt und beschirmte ihre Augen mit der Hand.

Auf dem Meer trieb ein Floß. Offenbar war es von der Verräterinsel gekommen. Es hielt auf die Lange Insel zu.

Einigen von denen, die Jeronimus dort ausgesetzt hatte, war es geglückt, sich aus Treibholz ein Floß zu zimmern.

Jeronimus befand sich bereits am Strand und brüllte seinen Gefolgsleuten zu, sich zu sputen.

Kurz darauf rannten Jan Hendricks und ein paar andere los und schoben ihr Floß ins Wasser. Sie sprangen hinauf und begannen, aus Leibeskräften zu rudern.

Die Menschen von der Verräterinsel hatten keine Chance, so viel war Lucretia klar. Es befanden sich ihrer zu viele auf dem kleinen Floß und sie hockten zu dicht aufeinander. Zudem stellte sich die Strömung ihnen entgegen und trieb sie zurück.

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Als die beiden Flöße aufeinander stießen, entstand ein kurzer Kampf, danach schlug das Floß der Flüchtenden um.

Der Wind trug Lucretia abermals hohe, schrille Schreie zu, die von Frauen stammten.

Sie lief zum Strand hinunter und blickte angestrengt über das Wasser. Das leere Floß schaukelte auf den Wellen, daneben tauchten dunkle Köpfe auf, Arme ruderten durch die Luft.

Andere riskierten ihr Glück, indem sie auf die Friedhofsinsel zuschwammen. Die Angreifer auf dem zweiten Floß schauten tatenlos zu.

Lucretia wollte ihnen entgegenlaufen, doch eine entschlossene Hand hielt sie fest.

Jeronimus.

Lucretia hörte verzweifelte Hilfeschreie.

»Ihr könnt sie nicht einfach ertrinken lassen«, stieß sie hervor.

»Und ob ich das kann«, erwiderte Jeronimus. »Ihr werdet es gleich sehen.«

Lucretia wollte sich auf ihn stürzen, doch wie aus dem Nichts tauchte Zeevanck neben ihr auf.

»Macht sie Schwierigkeiten?«, erkundigte er sich.

Jeronimus überging seine Frage. Seine Blicke waren wie gebannt auf die Schwimmer gerichtet.

»Herr Unterkaufmann!«, ließen sich nun deutliche Rufe vernehmen. »Habt Erbarmen! Rettet uns!«

Jeronimus schloss für einen Moment die Augen. Dann lächelte er. »Bringt sie um!«, befahl er Zeevanck.

Zeevanck gab Wouter Loos ein Zeichen, der daraufhin sein Bajonett ergriff und in die Lagune hinaus stürzte.

»Alle an die Bajonette!«, brüllte Jeronimus.

Vier, fünf Soldaten hetzten mit hochgereckten Waffen zum Strand und setzten mit großen Sprüngen ins Wasser.

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Wouter Loos hatte seinem ersten Opfer bereits das Bajonett in die Brust gerammt. Mit dem zweiten Hieb durchtrennte er ihm die Kehle und schaute abwartend zu, wie es sich ein letztes Mal aufbäumte, ehe es blutüberströmt versank. Suchend blickte er sich um, bis er den nächsten Schwimmer erspähte.

Jeronimus* wandte sich zu Lucretia um, die schreckensstarr zusah, wie ein Schwimmer nach dem anderen ermordet wurde.

Die Lagune färbte sich rot.

»Schaut nur gut hin«, ermunterte Jeronimus sie. »Das ist die Strafe für ihren Verrat.«

Lucretia riss den Blick von den Wellen los und richtete ihn auf Jeronimus.

Seine Augen glänzten.

Er ist verzückt, dachte Lucretia. Dem Morden zuzusehen versetzt ihn in Ekstase.

Jeronimus schmunzelte. »Ganz recht«, erklärte er, als läse er ihre Gedanken. »Nichts ist so erhebend wie der Tod. Ich wünschte, Ihr würdet dasselbe empfinden, denn der Genuss ist überaus köstlich.«

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XXIII

Ich habe noch etwas Lustiges für Sie parat. Dieses Mal geht es um die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens.

Stellen Sie sich vor, Sie sehen einen Menschen, der entsetzliche Qualen leidet. Er fleht einen anderen an, ihn davon zu erlösen. Das tut dieser aber nicht, denn das Leben ist ein Schatz, den es zu bewahren gilt.

Bei anderen Gelegenheiten wiederum - sagen wir im Fall eines Krieges - wird der Mensch gebeten, beziehungsweise wird ihm befohlen, sein Leben wie eine wertlose Münze zu opfern.

Beide Male wird davon gesprochen, Gottes Wille würde befolgt, wiewohl es in Wahrheit der Mensch ist, der entscheidet, wann ein Leben heilig ist und wann nicht.

Warum aber immer so gehemmt, so verdruckst, so heuchlerisch?

Warum sagt man nicht offen und gerade heraus: Wenn der Mensch Glück hat, darf er sein Leben genießen, wenn nicht, soll er es sich nehmen, und wenn er Pech hat, wird er es ohnehin ungefragt los.

Auf dem Friedhof

Als Sussie aufsah, stand Andries im Eingang des Krankenzeltes. Hinter ihm lauerten Pelgrom, die Ratte, und der Jonker Lennart van Os.

Sussie erhob sich langsam. Noch ehe sie das Messer in Andries' Hand ausmachte, wusste sie, dass sich etwas Entsetzliches ereignen würde.

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Sie warf einen Hilfe suchenden Blick in die Runde, doch es war niemand da. Judith kam nicht mehr zu den Kranken, und Aris Janz war fort.

»Geh nach draußen, Sussie!«, sagte Andries leise.

»Warum? Was hast du vor?«

»Du kannst nicht bleiben. Bitte geh!«, drängte Andries.

»Wozu haben sie dich gezwungen, Andries? Tu's nicht!«

Sussies Stimme war schrill.

Andries gab ihr keine Antwort.

Sussie fürchtete, sie müsste sich vor Angst übergeben.

Van Os packte Sussie und presste ihr die Arme auf den Rücken. Sein Gesicht war ganz nah. Er grinste und leckte sich die Lippen.

Sussie bespuckte ihn. Van Os stieß sie von sich. Dann holte er aus und ohrfeigte sie. Sussie schwankte benommen.

Van Os zerrte sie nach draußen. »Es ist nur zu deinem Besten, du dumme, kleine Gans«, murmelte er.

Vor dem Zelt hatten sich Zeevanck und Jeronimus aufgebaut.

Sie lachten, als Sussie ihnen entgegenstolperte.

»Ihr seid nicht besser als Tiere!«, kreischte Sussie.

»Na, na, na«, bemerkte Jeronimus und drohte ihr mit dem Finger.

Er und Zeevanck bückten sich, um das Zelt zu betreten.

Sussie stürzte hinter ihnen her.

Als Erstes sah Sussie Andries. Ein feiner roter Sprühregen hatte sich auf sein Gesicht gelegt, und sein Hemd war blutdurchtränkt. Er stand halb aufgerichtet über einem Kranken.

Mit einem tödlichen Streich hatte er ihm die Kehle durchtrennt.

Sussie tat ein, zwei hastige Schritte auf ihn zu - und rutschte in einer Blutlache aus.

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Andries blickte sich um. Sussie schauderte, als sie seine Augen sah. Es war nichts mehr in ihnen zu erkennen - sie waren wie tot.

Andries murmelte etwas und streifte sein Messer am Ärmel ab. Dann wandte er sich dem nächsten Kranken zu.

Er nimmt sich einen nach dem anderen vor, erkannte Sussie.

Sie überlegte fieberhaft, wie sie Jan Finten retten konnte, der sich am Ende der Reihe befand. Sie sah, wie ein Matrose sich wehrte, doch da sprangen Pelgrom und van Os hinzu. Pelgrom setzte sich lachend auf dessen Beine und van Os hielt ihn an den Haaren fest. Es sah aus, als würden ein paar Jungen einen Ringkampf austragen. Andries durchtrennte dem Matrosen die Kehle. Das Blut spritzte bis zur Decke. Es dauerte eine Weile, bis der Ermordete zu zucken aufhörte und reglos dalag.

Andries war bereits beim Nächsten angelangt.

Der Gestank wurde überwältigend. Es war der metallische Geruch von Blut, der sich mit dem von Kot vermischte.

Zeevanck und Jeronimus verfolgten Andries' Werk, als seien sie Aufseher in einer Strafkolonie.

Jeronimus hatte den Kopf auf die Seite gelegt und wirkte zufrieden.

Nun war Jan an der Reihe.

»Nein!« Sussie warf sich Andries in den Arm, doch Zeevanck riss sie zurück und schleppte sie nach draußen. Dort stieß er sie grob zu Boden. »Willst du selbst drankommen?«, knurrte er.

»Wenn nicht, rate ich dir zu verschwinden.«

»Andries muss wahrhaftig einen starken Drang haben, zu überleben«, bemerkte Zeevanck, als Jeronimus das Zelt verließ.

»Vollkommen richtig«, entgegnete Jeronimus. »Er hat die Kranken ruckzuck von ihrem Leiden befreit. Er ist geschickter als jeder Arzt.«

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In diesem Moment trat Andries aus dem Krankenzelt heraus.

Er ließ sein Messer fallen und rannte zum Strand. Dort warf er sich kopfüber in die Wellen.

»Zwanzig Mann hat er getötet«, lobte van Os beim Verlassen des Zeltes. »Mehr schafft auch keine Kanonenkugel.«

Andries erhob sich aus dem Wasser und versuchte, das Blut von seinem Hemd und seinen Händen abzuwaschen. Die Wellen, die ihn umspülten, färbten sich rosig.

Später schleppte er sich auf den Strand zurück und ließ sich dort niedersinken. Er begriff, dass seine Seele verloren war. Er gehörte von nun an dem Teufel.

Als die Nacht einsetzte, hockte Sussie noch immer zusammengekauert in einer Ecke des Frauenzeltes und zitterte.

Tryntgen hatte einen Arm um sie gelegt und versuchte, sie zu trösten. Sussie bettete ihren Kopf an Tryntgens Brust und weinte.

Die anderen Frauen sahen sich hin und wieder beunruhigt an.

Sie horchten auf die Stimmen, die von draußen ertönten.

Schritte knirschten näher, hielten inne, wanderten weiter.

Die Frauen atmeten auf.

»Wir haben erfahren, dass Ihr Eigentum der Companie gestohlen und hier versteckt habt«, erklärte eine raue Stimme im Nachbarzelt.

Sussie erkannte den Sprecher. Es war Jan Hendricks, einer der brutalsten unter Jeronimus' Henkersknechten. Sie presste sich die Hände auf die Ohren, doch dann ließ sie sie sinken. Ihr durfte nichts entgehen, das hatte sie sich geschworen. Sie würde darüber Zeugnis ablegen - eines Tages... falls sie überlebte.

»Los steht auf!«, befahl Jan Hendricks. »Das ist eine Durchsuchung.«

Sussie hörte die Bewohner des Nachbarzeltes wimmernd ihre Unschuld beteuern. Sie flehten Jan an, sie zu verschonen.

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»Es muss sein«, erwiderte dieser. »Das ist ein Befehl.«

»Los, mach schon«, drängte Zeevanck.

»Warum können wir ihnen nicht helfen?«, flüsterte Sussie.

»Sei still«, zischte Tryntgen zurück. »Du weißt genau, warum das nicht geht.«

Die beiden Schwestern hielten sich in der Dunkelheit umklammert und lauschten in die Nacht. Sie hörten ihre Nachbarn sterben, vernahmen die gurgelnden Laute, die Menschen mit durchschnittener Kehle von sich geben, wenn sie in ihrem Blut ertrinken.

Eine neue Stimme gesellte sich zu den anderen.

Jeronimus.

Zeevanck wollte von ihm wissen, ob sie den Jungen verschonen sollten. Er könne ihnen dienen.

»Er hinkt, er ist ein Krüppel«, beschied Jeronimus ihn. »Ich wüsste nicht, wozu er mir dienen sollte. Bring ihn um!«

Sussie hörte eine gellende Kinderstimme und gleich darauf heftiges Fluchen.

»Das Messer ist hin«, schimpfte Jan Hendricks. »Beeilt euch, verschafft mir ein neues!«

Knirschende Laufschritte ertönten und die Geräusche von dumpfen Hieben. Das Schreien verstummte. Kurz darauf war abermals das entsetzliche Gurgeln zu vernehmen.

Die Frauen hockten starr auf dem Boden und wagten sich nicht zu rühren. Jede wüsste, was die andere dachte. Es würde nicht mehr lang dauern, bis die Reihe an einer von ihnen war.

Auf der Langen Insel

Eines Tages wird Jeronimus hier erscheinen, überlegte Wiebe.

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Wenn er und seine Schergen mehr Mut besäßen, wären sie bereits da gewesen. Vor allem hätten sie das längst getan, wenn sie klüger wären.

Stattdessen hatten sie ihnen Zeit zur Vorbereitung gegeben.

Mittlerweile waren aus den ursprünglichen vierzig Männern nahezu sechzig geworden. Ihre Zahl hatte sich durch Flüchtlinge von den umliegenden Inseln erhöht.

Unter ihnen befanden sich zwei Küfer, denen Wiebe den Auftrag gab, Waffen herzustellen. Die beiden Männer grinsten und nickten.

Als Erstes lösten sie die eisernen Beschläge von den Wasserfässern, hämmerten sie flach und schärften die Spitzen.

Aus Holzstücken bastelten sie Prügel, indem sie die Nägel aus den Wasserfässern oben in die Hölzer trieben.

Unterdessen stapelten andere Männer schwere Gesteinsbrocken auf, die ihnen als Wurfgeschosse dienen sollten.

Dennoch machte Wiebe sich Sorgen. Zwar hatte er erfahrene Soldaten an seiner Seite, doch Jeronimus besaß ihre Bajonette, die Gewehre und Säbel.

Morgen für Morgen ließ Wiebe die Männer antreten und probte Angriffs- und Verteidigungsmanöver. Inzwischen war er überzeugt, dass Sich der Feind von Süden nähern würde, wohin ihn die Strömung trieb. Einen militärischen Hinterhalt zu planen, traute Wiebe Jeronimus nicht zu. Trotzdem stellte er an allen wichtigen Punkten der Insel Wachposten auf. Es durfte Jeronimus nicht gelingen, sie zu überraschen, denn dann würde er dank seiner Waffen siegen. Würden die feind lichen Truppen hingegen entdeckt, während sie auf die Landzunge zu ruderten, müssten

Wiebes Männer lediglich warten, bis sie an Land wateten, um sie überwältigen zu können.

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Wir werden uns nicht wie Schafe abschlachten lassen, schwor sich Wiebe. Anders als die armen Seelen auf der Verräterinsel würden sie Jeronimus das Fürchten lehren.

Auf dem Friedhof

Hans Hardens, Annekens Mann, stand mit gesenktem Kopf vor Jeronimus.

»Nun, mein Guter«, begann Jeronimus leutselig, »wie lange bist du denn schon Soldat?«

Hardens schaffte es nicht, seinen Blick zu heben. Er murmelte etwas Unverständliches.

Welch ein Einfaltspinsel! dachte Jeronimus. »Sieh mich an!«, sagte er.

Mit einem Ruck fuhr Hardens' Kopf in die Höhe.

Jeronimus studierte sein Gesicht. Genau wie ich vermutete, dachte er. Ein stumpfes Gesicht mit gierigen Augen. Selbst dieser Tölpel will höher hinaus, will mehr werden, als er ist.

»Bist du bereit, dich mir zu unterstellen?«, fragte Jeronimus.

»Ihr könnt auf mich zählen, Generalkapitän.«

Jeronimus schmunzelte. Habgier und Unterwürfigkeit! Genau die Zutaten, die er brauchte. Nun musste der Tropf noch seine erste Probe bestehen. Das würde ein lustiges kleines Experiment werden. - »Es reicht nicht, dergleichen einfach zu verkünden, Hans«, erklärte Jeronimus sanft. »Ich muss das nachprüfen. Das verstehst du doch.«

Jeronimus zwinkerte Zeevanck und dem Steinmetz zu, die hinter Hans Hardens standen. Die beiden wussten, was er plante, und grinsten.

Hardens blickte sich zu ihnen um. Er sah, dass sie mit ihren Schwertern spielten, und schluckte nervös.

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»Wir haben Silber«, begann Jeronimus erneut, indem einen Dukaten hervorholte und ihn im Lampenlicht auffunkeln ließ.

»Und wir verfügen über Frauen.« Er seufzte betrübt. »Ach herrje«, fuhr er fort. »Du hast ja schon eine. Bist du ihr ebenso treu ergeben wie mir?«

»Im Vergleich zu Euch bedeutet sie mir nichts.«

»Prächtig«, lobte Jeronimus. »Und äußerst günstig! Denn für alle Frauen wird nicht immer genug Platz unter uns sein.«

Hans Hardens senkte den Blick.

Er sieht aus, als sei ihm übel geworden, fand Jeronimus. Doch wer weiß, vielleicht lag es auch nur am Schein des Kerzenlichtes.

»Hättest du Lust, heute Nacht das Frauenzelt zu besuchen?«, erkundigte sich Jeronimus. »Mit welcher würdest du dich am liebsten vergnügen? Willst du Annie Bottschieters mit ihren schweren, wogenden Brüsten oder die kleine Sussie Fredericks, die wohl eher ein wenig dünn geraten ist? Doch manche finden ja gerade das reizvoll. Oder hättest du Spaß an Tryntgen?«

Hans Hardens warf Jeronimus einen verstohlenen Blick zu, woraufhin dieser aufmunternd nickte.

»Oder möchtest du etwa Anneken besuchen? Sie ist schließlich deine Frau. Ich persönlich würde sie nicht anrühren.

Sie ist mir zu fett. Ich mag keine dicken Hinterteile.«

Ehe Hardens etwas entgegnen konnte, warf Jeronimus den silbernen Dukaten in die Luft. »Da, fang auf«, sagte er. »Wir haben davon noch reichlich.«

Hardens riskierte abermals einen Blick über die Schulter. Der Steinmetz und Zeevanck ließen ihn nicht aus den Augen.

»Ich sagte doch bereits, dass ich Euch treu ergeben bin«, beeilte Hardens sich zu versichern. »Befehlt mir, was Ihr wollt.«

Jeronimus lachte belustigt auf. »Ich erteile keine Befehle. Du musst einfach nur wählen, sonst nichts.«

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»Ihr müsst mir sagen, was ich zu tun habe«, beharrte Hardens.

»Im Gegenteil«, erwiderte Jeronimus. »Das ist ja gerade das Schöne. Du musst nichts tun. Ich bin dabei, dich zu prüfen, und irgendwann werde ich dir sagen, ob du bestanden hast oder nicht.« Jeronimus beugte sich vor und flüsterte: »Ich kann deine Träume erfüllen, Hans. Jeden einzelnen deiner kleinen, schmutzigen Träume mache ich wahr, wenn du es willst.«

Hans Hardens verließ das Frauenzelt, knöpfte sich die Hose zu und machte einen äußerst zufriedenen Eindruck.

Als er sich zum Strand begab, rannte Anneken hinter ihm her.

Judith beobachtete sie. Es wird dir nichts nutzen, dachte sie.

Er interessiert sich nicht mehr für dich - falls er das je getan hat.

Anneken versuchte, ihren Mann am Ärmel zu fassen.

»Lass mich zufrieden, Weib!«, knurrte Hans.

»Ich gehöre doch zu dir!«, schluchzte Anneken. »Ich bin deine Frau.«

Hans Hardens wandte sich zu ihr um. »Alle Frauen gehören mir!«, rief er. »Nicht nur eine.«

Anneken klammerte sich an ihm fest, doch Hans stieß sie von sich und hob die Faust.

»Willst du Prügel?«, drohte er.

Judith stand auf und kletterte von ihrem Felsen hinunter.

»Hans, lass das!«, befahl sie. »Tu ihr nicht noch mehr zuleide.«