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war inzwischen aufgebrochen worden. Ihr Inhalt versickerte im Sand.

Es hatte damit begonnen, dass einige Männer Fässer beiseite rollten und behaupteten, sie müssten die Versorgung von Frau und Kindern gewährleisten. Daraufhin merkten die anderen auf und klagten, sie würden übergangen. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Handgreiflichkeiten einsetzten und anschließend ein erbitterter Kampf.

Kurz darauf hatten die Soldaten eingegriffen und mit den Fäusten für Ordnung gesorgt. Nun gab es ringsum aufgeplatzte, blutige Lippen und Augen, die zuschwollen und sich verfärbten.

Die restlichen Wasserfässer wurden fortan von einem Spalier Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett bewacht.

Ein Gefreiter trat auf Lucretia zu. »Madame, habt Ihr schon etwas getrunken?«

Lucretia schüttelte den Kopf. Ihr Mund fühlte sich klebrig an, ihre Kehle war ausgedörrt, und sie vermochte kaum mehr zu schlucken. Doch es war ihr gleich. Sie wusste, dass sie auf diesem Ödland umkommen würde; es war lediglich eine Frage der Zeit.

Der Gefreite trug einem Soldaten auf, Lucretia eine Schöpfkelle mit Wasser zu besorge n.

»Der Herr Pfarrer hat den Tumult ausgelöst«, erklärte er, als er Lucretia die Kelle an die Lippen hielt. »Er hat auf einem eigenen Fass bestanden. Der Marschall konnte ihn verjagen, doch mit dem Pfarrer fing alles an.«»Wie viel Wasser haben wir noch?«, erkundigte Lucretia sich matt.

»Fragt lieber nicht«, murmelte der Gefreite, ehe er sich wieder zu seinen Kameraden begab.

Allmählich wurde es Abend. Dunkle Wolken jagten über den Himmel. Der Wind wurde schärfer und fraß sich bis auf die Knochen durch.

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Lucretia schaute sich um. Die ersten Menschen krochen Schutz suchend hinter die Felsen oder rückten sich unter den dürren Zweigen der mageren Büsche zurecht.

Diese kümmerlichen Orte der Zuflucht werden ihnen ebenso wenig nutzen wie die verbleibenden Tropfen Wasser, dachte Lucretia.

Auf dem Wrack

Claas Gerritz tauchte aus dem Laderaum auf, um dem Kapitän zu verkünden, das Wasser aus den Lecks habe den restlichen Proviant verdorben, und das Salzwasser sickere in die verbliebenen Wasserfässer ein.

»Die hätten wir eben als Erstes hochschaffen müssen«, knurrte der Kapitän. »Und nicht das verdammte Silber.«

Francois überging seine Bemerkung. Er hatte sich an ein Stück Reling geklammert und wusste, dass er bereits seit geraumer Zeit keinen vernünftigen Gedanken mehr gefasst hatte. Das, was ihm durch den Kopf wirbelte, betraf vor allem die Konsequenzen, die er in Java zu gewärtigen hatte. Immerzu malte er sich aus, wie er dem Gouverneur gegenübertrat, um ihn von dem Verlust der Fracht zu unterrichten. Ich hatte dem Kapitän aufgetragen, die Marsen zu bemannen, würde er erklären. Und danach? Was würde er als Nächstes darlegen?

Und was sollten seine Auskünfte bewirken? Keine seiner Entschuldigungen würde das Geschehene rückgängig machen.

Es hatte zu regnen begonnen, doch Francois merkte es kaum.

Er spürte, dass er abermals schwitzte. Ist das nun die Furcht oder ein neuerlicher Anfall meines Fiebers? fragte er sich flüchtig und fuhr sich über die Stirn. Sie fühlte sich heiß an. Ich müsste mich hinlegen, dachte er. Jemand soll diese Bürde von meinen Schultern nehmen. Ich brauche ein wenig Ruhe, ich muss schlafen, ich wollte, ich würde nie mehr wach...

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Er sah, dass ein Boot von der Insel zurückkam und längsseits des Wracks festmachte. Halfwaack, einer der Steuerleute, hielt sich am Fallreep fest. Er wölbte die Hand um den Mund und brüllte etwas zu ihnen empor.

Jacobs wandte sich zu Francois um. »Es ist kaum noch Trinkwasser übrig. Offenbar haben die Soldaten zu spät für Ordnung gesorgt.«

Francois machte eine hilflose Geste. »Das kann ich nun auch nicht mehr ändern«, bemerkte er.

»Ihr müsst zu ihnen hinüberfahren und sie beruhigen! Hier könnt Ihr ohnehin nichts mehr verrichten.«

»Ich werde das Schiff nicht verlassen, solange sich das Silber noch an Bord befindet. Ihr wisst, dass die Fracht meiner Verantwortung untersteht.«

»Liegt sie Euch mehr am Herzen als die Menschen da drüben?«

»Warum fahrt Ihr nicht hinüber und redet mit Ihnen?«

»Weil Ihr der Kommandeur seid, und weil sie auf mich nicht mehr hören.«

»Was ist mit Jeronimus?«, erkundigte sich Francois. »Wenn er noch lebt, soll er sich um die Leute kümmern.«

Der Kapitän stieß einen Seufzer aus. »Wir gehen beide«, erklärte er schließlich. »Ohne Wasser sind wir schließlich alle verloren.«

Die unruhigen grauen Wogen verschwammen Francois vor den Augen, doch ihm war klar, dass er sich der Gestrandeten annehmen musste. Er musste ihnen ins Gewissen reden und sie beruhigen. Vielleicht schaffte er es tatsächlich, sie zur Vernunft zu bringen. Als er sich umblickte, entdeckte er van Huyssen, der sich an der Bordwand fest hielt. Francois bedeutete ihm, näher zu kommen.

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»Ihr und die Kadetten wacht über das Silber«, trug er ihm auf.

»Ich bleibe über Nacht auf der Insel. Sobald es tagt, komme ich zurück.«

Er wandte sich ab, kletterte über die Reling und ließ sich am Fallreep hinunter.

»Setzt er sich ab?«, fragte van Huyssen den Kapitän.

»Der doch nicht! Wie denn?«, lautete die Antwort.

»Es passt mir dennoch nicht, ohne ihn zurückzubleiben.«

»Du bist nicht allein, Junge«, spottete der Skipper. »Deine Freunde bleiben bei dir und halten dir die Hand.«

Inzwischen war es dämmrig geworden. Francois sah das Langboot unter sich auf den Wellen tanzen. Mal schlug es mit dumpfem Gepolter an die Wand des Schiffes, mal trieb es wieder davon und hinterließ einen blassgrauen Streifen.

»Springt!«, ertönte es unter ihm.

Francois schloss die Augen und ließ die Strickleiter los. Im Boot griffen Hände nach ihm und halfen ihm auf.

Gleich darauf landete jemand neben ihm, und danach noch einer.

Jan Everts und der Skipper.

»Ich dachte, Ihr wolltet auf der Batavia bleiben«, wunderte sich Francois.

Jacobs zuckte die Achseln. »Die kommen auch ohne mich zurecht.«

Francois schaute in die Höhe. Er sah Köpfe über sich und offene Münder, die etwas riefen.

»Wir lassen euch nicht im Stich!«, brüllte Francois zu ihnen hinauf. »In der Frühe kehren wir zurück.« Ein Windstoß erfasste ihn von hinten. Er taumelte und ruderte mit den Armen durch die Luft.

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Abermals gab es Hände, die ihn auffingen und auf eine Bank niederdrückten. Francois sah Jacobs hämisch grinsen.

Das Boot drehte ab und trieb mit dem Wind in Richtung der Felseninsel.

Francois blickte zurück zur Batavia. Wie ein gestrandeter Wal lag sie im schwindenden Licht, ein riesiger schwarzer Schatten, ein Ungeheuer, das langsam versank. Francois spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Ihm war, als würde ihm das ganze Ausmaß des Entsetzens nun erst in seiner Endgültigkeit bewusst. Sein Magen verkrampfte sich.

Im Laderaum waren inzwischen auch die verbliebenen Silbertruhen aufgebrochen worden. Franzosen und Holländer wühlten darin herum.

»Jetzt sind wir reich«, lallte einer, der sich schwankend erhob und eine Hand voll Silber auf den Boden rieseln ließ.

Allert Janz machte Anstalten, in eine der Truhen zu steigen.

»Ich will mich drin suhlen«, grunzte er.

Auch der Marschall hatte den Truhen mehrere Münzen entnommen. Gedankenverloren ließ er sie durch seine Hände gleiten. »Ein Beutel davon ist mehr, als ich jemals verdienen werde«, murmelte er. Er ergriff einen Krug mit Cognac und trank einen tiefen Schluck.

Conrad van Huyssen stand mit zwei seiner Kameraden im Hintergrund und beobachtete das Treiben.

»Ich werde den Teufel tun und gegen sie einschreiten«, erklärte er. »Wenn der Kommandeur die Flucht vorzieht, wüsste ich nicht, was mich das Geld der Gesellschaft interessiert.«

»Der Wind hat sich gedreht«, stellte Jacobs fest. »Wir schaffen es nicht mehr bis auf die Insel.«

Francois merkte auf. Vor sich nahm er schroffe, gräuliche Umrisse wahr, auf denen dunkle Gestalten standen und gestikulierten.

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»Wir müssen es schaffen!«, erklärte er. »Nur aus diesem Grund habe ich das Schiff verlassen.«

»Unmöglich«, brummte der Skipper. »Gegen den Wind kommen wir nicht an.«

»Und was schlagt Ihr stattdessen vor?«

»Wir steuern die kleine Insel dort an.« Jacobs deutete auf ein Gebilde, das linker Hand aufragte.

Francois starrte ihn ungläubig an. »Ihr habt mich eben gedrängt, mit den Menschen zu reden! Was glaubt Ihr, welche Gefühle wir auslösen, wenn wir erst auftauchen und gleich darauf wieder verschwinden?«

Der Skipper zuckte die Achseln.

Francois fing einen Blick von Jan Everts auf und erkannte abermals den blanken Hass in dessen Augen. Er betrachtete die Mienen der anderen Männer im Boot. Sie starrten missmutig zurück oder schauten zu Boden.

»Der Kapitän steuert das Boot«, knurrte einer.

Ach so ist das, dachte Francois. Offenkundig hat man mich ohne großes Aufhebens meiner Funktion als Kommandeur enthoben.

»Spart Euch den Atem«, bestätigte der Kapitän seinen Verdacht. »Die Flut geht zurück. Die Strömung zieht uns genau in die entgegengesetzte Richtung.«

Jeronimus hatte den seidenen Morgenrock des Kommandeurs angelegt und in dessen rotem Samtsessel Platz genommen. Nun halte ich Hof, dachte er, während er sich einen erlesenen Cognac einschenkte. Mein Hofstaat lässt zwar noch zu wünschen übrig, doch sobald sie wissen, wer sie regiert, werden sie ganz schnell parieren.

Um Jeronimus herum waren mehrere Betrunkene dabei, die Besitztümer des Kommandeurs zu durchforsten.

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Die Dummheit des Kapitäns kennt wahrhaftig keine Grenzen, grübelte Jeronimus. Zuerst verliert er die Flotte, hernach verrechnet er sich um sechshundert Meilen und nun flüchtet er in einer Nussschale über das Meer. Na, sei's drum - für Feiglinge und Versager war ohnehin kein Platz in seinem Reich.

In seiner Kajüte hatte Jeronimus einen Moment lang befürchtet, dass ihm vor Furcht die Sinne schwinden würden.

Zuletzt hatte er jedoch begriffen, dass die Batavia vorerst festen Halt gefunden hatte und sicher auf ihrem Felsen saß. Das Grauen erregende Scheuern und Schaben hatte immerhin aufgehört und einem sanften Wippen und Wiegen Platz gemacht.

Infolgedessen hatte Jeronimus sich aufgerappelt und zu der Kajüte des Kommandeurs aufgemacht, um dessen Wertgegenstände in Augenschein zu nehmen. Später waren die betrunkenen Soldaten zu ihm gestoßen. Sie hatten offenbar dieselben Absichten gehabt.

Allert Janz hatte den Schreibtisch des Kommandeurs aufgebrochen und den Inhalt der Schubladen auf dem Boden ausgeleert. Derbe Stiefel trampelten nun über Briefe, Miniaturporträts von Pelsaerts Familie und Dokumente der Gesellschaft. Ein Soldat hatte sich Pelsaerts goldene Kette umgelegt und schickte sich an, den Kommandeur zu imitieren.

»Männer!«, rief er mit gezierter Stimme. »Unterlasst augenblicklich das Plündern meiner Kostbarkeiten!« Er drohte neckisch mit dem Zeigefinger. »Sonst bezichtige ich euch der Meuterei!«

Die Soldaten brüllten vor Lachen.

Jeronimus bat sich Ruhe aus. »Alle mal herhören!«, rief er.

»Ich habe hier das Handbuch des Kommandeurs gefunden.«

Die Männer blökten und grunzten beifällig. Danach verstummten sie und blickten Jeronimus erwartungsvoll an.

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»Hier steht ein Eintrag aus dem Monat März«, verkündete Jeronimus. »Ich glaube, den sollte ich laut vorlesen. An Bord befindet sich eine betörende junge Dame«, begann er. »Ihr Name ist Lucretia van der Mylen. Sie ist gebildet und stellt sich als äußerst liebenswürdig dar -«

»Das heißt, sie hat ihn rangelassen«, unterbrach ihn ein Soldat lüstern grinsend, woraufhin andere sich anzüglich zwischen den Schenkeln rieben, Schnalzlaute von sich gaben und durch die Zähne pfiffen.

Jeronimus hob die Hand und fuhr fort: »Ich versuche, ihr den Reiz des Ostens begreiflich zu machen -«

»Also hat er sie auch von hinten besprungen«, gab die vorherige Stimme zum Besten.

Die Männer wieherten und trampelten vor Vergnügen. Es bedurfte einer Weile, bis abermals Ruhe entstand.

»- insbesondere die fremd anmutenden Sitten des indischen Kontinents -«

An diesem Punkt sah Jeronimus sich gezwungen, seine Lektüre abzubrechen, da die Männer sich nun in den Ausschmückungen ihrer Fantasie nicht mehr zu lassen wussten und sich mit Beispielen gegenseitig überboten.

Nachdem sie sich erneut gefasst hatten, nahm Jeronimus das Handbuch wieder auf.

»Was ist mit dem siebenundzwanzigsten Tag des Mai?«, fragte Allert Janz. »Lest vor, was er da geschrieben hat!«

Jeronimus blätterte zu der entsprechenden Stelle vor. »Noch immer weiß ich nicht, wer sich auf diese unaussprechliche Weise an Lucretia vergangen hat. Lediglich Jan Everts steht als einer der Schuldigen fest. Selbst der Unterkaufmann ist mit seinen Nachforschungen nicht weiter vorgedrungen.«

Die Soldaten zollten Jeronimus lautstark Beifall.

Jeronimus neigte dankend den Kopf.

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»Ich verdächtige jedoch einige der Kanoniere«, las er weiter.

»Unter ihnen ist ein Mann namens Allert Janz, ein überaus abstoßender Bursche -«

»Was soll das?«, brüllte Allert. »Was gefällt ihm denn an mir nicht?«

»Voll ins Schwarze getroffen«, gluckste einer seiner Kameraden.

»Woher wusste er das überhaupt?«, empörte sich Allert.

»Er sah es dir an.« Wieder ertönte schallendes Gelächter.

»Was hat er danach geschrieben?«, murrte Allert.

Jeronimus blätterte weiter, und während er ihnen Beispiele von Francois' Empörung wie ausgesuchte Leckerbissen darbot, krümmten sich die Männer vor Lachen.

Hinterher schleuderte Jeronimus das Handbuch verächtlich auf den Boden und forderte die anderen auf, darauf zu urinieren.

Danach überließen sich die Männer abermals ihrer Zerstörungswut.

Jeronimus trieb sie weder an, noch beteiligte er sich an ihrem Tun, aber er griff auch nicht ein, um sie davon abzuhalten. Er beobachtete lediglich still lächelnd, was geschah. Nun gibt es für sie kein Zurück mehr, dachte er. Der Rest entwickelt sich ganz von selbst. Einer Frau, die sich schwängern lässt, schwillt der Bauch, und sie wird ein Kind gebären. Männern, die zu meutern begonnen haben, kocht das Blut, und es gelüstet sie nach Mord.

Auf der Verräterinsel

Nicht mehr als eine Meile von den Meuterern entfernt kauerte Francois vor einem kleinen Feuer und spähte zu der Batavia hinüber. Er erkannte ein winziges Licht, das aus dem Heck des Schiffes drang. Es sah aus, als käme es aus seiner Kajüte, und tanzte wie ein Leuchtkäfer in der Nacht.

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Zwölf Kisten mit Silber! dachte Francois. Morgen früh muss ich als Erstes dorthin. Den Kadetten, die den Schatz der Companie bewachten, würde er seine Anerkennung aussprechen. Was er hingegen mit den betrunkenen Söldnern anstellen würde, wusste er noch nicht. Es ist eigentlich einerlei, sagte er sich. Sie werden über kurz oder lang um ihr Leben schwimmen, das dürfte als Strafe reichen.

Ein Windstoß fuhr in die Flammen und drohte, das Feuerchen auszulöschen. Francois legte schützend die Hände über die Glut.

Jedes Mal wenn der Wind nachließ, hoffte er, er möge sich gänzlich legen, anstatt Atem zu holen und abermals loszustürmen. Francois träumte von einem nächsten Tag mit Sonne und klarem Himmel, so dass er zu dem Wrack hinüberkäme, um das Silber zu retten. Danach, beschloss er, würden die Kadetten zur Felseninsel geschafft, und anschließend würde er Pläne machen und seine weiteren Schritte überlegen.

Auf dem Wrack

Die Soldaten waren hungrig geworden. Einige von ihnen schwankten in den Laderaum zurück, um nach trockenen Kisten mit Schiffszwieback zu fahnden.

Der Gefreite Ryckert blieb an Deck zurück. Er sah, dass Dyrcks als Erster von unten auftauchte und sich mit einer Kiste abmühte. Der war auch bei der Geschichte mit der Kommandeurshure dabei gewesen, fiel Ryckert ein. Und er war ein Plappermaul. Hinterher hatte er zwar geschworen, zu schweigen wie ein Grab, doch Ryckert hatte ihn bereits mehrmals dabei ertappt, dass er mit anderen tuschelte.

Irgendwann wird dieser Hund uns verraten, schoss es ihm durch den Kopf. Plötzlich erinnerte er sich auch wieder an den Abend in Amsterdam, als Dyrcks ihn beim Kartenspiel betrogen und

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ihm danach sein Mädchen ausgespannt hatte. Wut übermannte ihn, und er ballte die Fäuste. Je länger Ryckert darüber nachbrütete, desto größer wurde sein Zorn. Als Dyrcks stolperte und mitsamt der Kiste auf dem Boden aufschlug, war Ryckert mit ein, zwei Schritten bei ihm, riss sein Messer aus dem Schaft und stieß zu. Danach noch ein wuchtiger Tritt in die Rippen und einer unter das Kinn. Dyrcks' Kopf flog zurück. Ryckert setzte ihm den Stiefel an die Kehle.

»Du Schwein!«, flüsterte er heiser. »Du wirst nie mehr Gelegenheit haben, zu schwatzen, zu betrügen und zu huren.«

Er ergriff den Bewusstlosen und stemmte ihn über Bord.

Das wäre erledigt, dachte Ryckert, während er zusah, wie der reglose Körper in den Fluten versank. Er bückte sich und spülte sein Messer im Speigatt ab.

Danach beschloss er, in die Kajüte des Kommandeurs zurückzugehen, um sich mit einem kräftigen Schluck zu belohnen.

»Glaubt Ihr, dass der Kommandeur zurückkommt?«, fragte van Huyssen Jeronimus.

Die anderen in der Kajüte wurden still. Die Wirkung des Alkohols hatte nachgelassen, und die Männer machten sich erneut Gedanken um ihr Überleben.

Jeronimus hatte inzwischen den besten Rock des Kommandeurs angelegt, um sich für die Abendmahlzeit herzurichten. Er befahl Jan Pelgrom mit einem herrischen Wink, ihm Wein nachzuschenken. Der Kabinenjunge kam seinem Wunsch mit mürrischer Miene nach.

»Natürlich kehrt er zurück«, erwiderte Jeronimus. »Pelsaert lässt doch seine wertvollen Schätze nicht im Stich.«

»Darauf würde ich nicht bauen«, erwiderte van Huyssen. »Ich glaubte auch einmal, wir segelten mit dem besten Skipper. Das hat sich ebenfalls als Irrtum erwiesen.«

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Der Kommandeur muss zurückkehren, flehte Jeronimus stumm, denn nach der Verwüstung, die die Männer in seiner Kajüte angerichtet hatten, bliebe ihnen kein anderer Ausweg mehr, als ihn zu töten.

Auf der Verräterinsel

Der Wunsch des Kommandeurs nach einem klaren, sonnigen Tag hatte sich nicht erfüllt. Stattdessen türmten sich am Himmel graue Wolkengebirge, die ein heulender Wind auseinander zerrte und neu zusammenballte.

Francois hatte sich auf einen kleinen Strandstreifen zurückgezogen. Sein Blick haftete auf der Batavia. Es ist ein Wunder, dass sie noch nicht auseinander gebrochen ist, dachte er. Dann lächelte er jedoch grimmig. Es ist eigentlich kein Wunder, verbesserte er sich. Die besten Schiffszimmerleute von Amsterdam hatten sich bei ihrem Bau schließlich außergewöhnlich große Mühe gegeben.

Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass sich ihm der Skipper näherte. Auc h er starrte zur Batavia hinüber. Seine Miene wirkte verkniffen. Wahrscheinlich glaubt er, das Schiff habe ihn verraten, argwöhnte Francois. Er wird sich lieber jeden Unfug zusammenreimen, ehe er sich eingesteht, dass er die Schuld an ihrem Untergang trägt.

»Ich habe die Männer angewiesen, zum Wrack zu rudern«, erklärte Jacobs, als er neben Francois stand. Er deutete auf das Langboot, das sich mühsam durch die stürmischen Wellen vorwärts kämpfte. »Es ist allerdings ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen.«

Francois sah zwar, dass die Wogen das Boot zurückwarfen, doch er erkannte auch die Männer, die auf der Batavia standen und es mit verzweifelten Gesten zu sich winkten.

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»Dreht um!«, brüllte der Skipper seinen Ruderern zu. »Ihr schafft es nicht!«

Francois packte ihn am Ärmel. »Seid Ihr nicht mehr recht gescheit?«, fragte er leise. »Treibt die Leute an, dann legen sie sich ins Zeug!«

Der Kapitän stieß ihn zurück. »Mann!«, zischte er wütend.

»Wenn Ihr doch nur einmal wüsstet, wovon Ihr sprecht! Warum macht Ihr nicht die Augen auf? Das Boot kommt bereits seit einer Stunde nicht vom Fleck! Danach könntet Ihr Euch fragen, wer von uns beiden der Verrückte ist.«

Ich war vermutlich von Sinnen, als ich mit dir an Bord gestiegen bin, dachte Francois, und womöglich auch, als du mich letzte Nacht überredet hast, die Batavia zu verlassen, doch inzwischen bin ich wieder bei Verstand und deshalb weiß ich, dass du einen Plan ausheckst, der sich meinem widersetzt.

»Ich glaube, sie kommen uns holen«, murmelte Conrad van Huyssen. Er gehörte zu jenen, die sich mit Tauen an der Reling festgebunden hatten, um das Näherrücken des Rettungsbootes zu verfolgen.

Van Huyssen war inzwischen nüchtern geworden, doch in seinem Kopf tobten rasende Schmerzen. Den anderen schien es ähnlich zu ergehen, denn sie waren ausnahmslos kleinlaut und blass.

Van Huyssen blinzelte angestrengt zu dem schaukelnden Langboot hinüber. Er konnte nicht erkennen, ob der Kommandeur zwischen den Ruderern saß. Einerseits betete er zwar, Pelsaert möge zu ihnen kommen, um sie zu retten, doch andererseits fragte er sich, wie dem Kommandeur seine geplünderte Kajüte zu erklären war. Es hatte wohl wenig Sinn, ihm vorzuschwindeln, stürmische Winde und Wogen hätten die Schäden angerichtet, denn dafür rührten die Spuren zu offenkundig von menschlicher Hand.

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Van Huyssen hoffte, der Zorn des Kommandeurs würde sich auf die unteren Ränge richten, auf Männer wie Allert Janz, der einen Kameraden erstochen hatte, nachdem dieser ihn von einem Weinfass vertrieb. Oder auf die Franzosen, die mit dem Plündern begonnen hatten, oder auf jenen finsteren Gefreiten, der mitten in der Nacht verschwunden und später mit blutbespritztem Hemd wieder aufgetaucht war.

Andererseits müsste der Kommandeur wahnsinnig sein, wenn er gegen die Meute vorginge. Das war ihm bereits am Vortag nicht gelungen. Wie also jetzt, da der Hass noch größer geworden war?

Das Rettungsboot schien an ein- und derselben Stelle festzukleben.

Mit einem Mal schrie van Huyssen entsetzt auf.

Das Boot begann ein Wendemanöver, drehte und ruderte zurück.

Van Huyssens Hände krallten sich um die Reling. Das war der reine Hohn! Wie konnte man ihnen zuerst Hoffnung machen, nur um sie dann abermals aufzugeben? Diese feigen Hunde!

fuhr es ihm durch den Sinn. Diese mörderischen Verräter! Ihnen war es einerlei, ob er lebte oder starb.

Van Huyssen spürte, dass ihm die Augen brannten. Er wollte die Zähne zusammenbeißen, doch stattdessen ließ er seinen Tränen freien Lauf. Sollen die anderen es ruhig sehen, dachte er.

Ihnen bliebe ohnehin nicht mehr viel Zeit, ihn deswegen auszulachen.

Auf der Verräterinsel

Zwaantie hatte die Beine angezogen und frierend die Arme um sich gelegt. Sie saß auf einem kleinen Stück Strand und beobachtete, was geschah. Der Kommandeur hatte die Stirn

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gerunzelt, als er sie unter den Bootsleuten erblickte, doch gesagt hatte er nichts. Offenkundig hatte er inzwischen andere Sorgen, als sich für sie und den Kapitän zu interessieren. Dieser Narr!

dachte Zwaantie. Da tigert er vor mir auf und ab und murmelt albernes Zeug vor sich hin. Warum begreift er nicht, dass er verloren hat? Das Sagen hatte doch längst der Kapitän.

Sie bemerkte, dass Jacobs zu Pelsaert trat.

»Wir haben ein Problem«, hörte sie den Kapitän verkünden.

»Nur eins?«, fragte Pelsaert spöttisch. »Ich dachte eigentlich, wir hätten derer mehrere.«

»Bravo!«, lobte der Kapitän. »Ausnahmsweise einmal richtig gedacht. Und da wir schon so schön zum Zeitvertreib hier stehen, sollten wir nun über das Wichtigste nachdenken.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Ihr müsst die Fracht vergessen!«

Der Kommandeur wurde kreidebleich und rang sichtlich um Fassung. »Wie oft sollen wir das noch besprechen?«, erkundigte er sich. »Wir haben beide die Pflicht, das Eigentum der Companie zu retten!«

»Wir haben vor allem eine Pflicht uns selbst gegenüber«, entgegnete der Skipper. »Vierzig unserer Männer sind auf dieser Insel. Wir besitzen lediglich ein paar Fässer mit Wasser. Da drüben befinden sich etwa zweihundert Menschen. Die wiederum haben ihre Wasservorräte zerstört. Demnach liegt es auf der Hand, dass wir als Erstes Wasser suchen müssen. Wenn das nicht gelingt, sind wir alle tot.«

»Ihr habt offenbar die Menschen auf der Batavia vergessen.«

»Oh, entschuldigt, wie unbedacht! Nun denn, die Menschen auf der Batavia werden ohne Wasser ebenfalls verrecken.«

»Dummerweise sind sie es aber - und die Fracht natürlich -, die ich als vorrangig betrachte.«

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Himmelherrgott, dachte Zwaantie. Er hat wahrhaftig den Verstand verloren. Wir sitzen am Ende der Welt, haben mit ein bisschen Glück nur noch ein paar Tage zu leben, und dieser eingebildete Geck schwafelt noch immer von seinem Silber! Sie sah, dass der Kopf des Skippers rot anlief. Na endlich, dachte Zwaantie, nun kommt es zum Knall.

»Meine Männer sind mit mir einer Meinung«, knurrte Jacobs mit zusammengebissenen Zähnen.

»Wie war das? Habe ich das richtig verstanden?«, fragte der Kommandeur.

»Ich glaube schon. Meine Männer werden hier jedenfalls nicht still sitzen und auf ihr Sterben warten!«

Die Stimme des Skippers war lauter geworden. Zwaantie sah die Adern an seinen Schläfen pochen.

Claas Gerritz, der Steuermann, war zu den Streitenden getreten. »Der Kapitän hat Recht«, bestätigte er. »Die Männer wollen nach Wasser suchen, solange sie noch kräftig genug sind.«

»Sie werden tun, was ich ihnen befehle!«, erklärte der Kommandeur.

»Nicht mehr«, beschied ihn der Kapitän. »Die Sache ist abgemacht. Wir rudern zu der hohen Felseninsel dort im Westen hinüber -«

»Die Leute auf der Batavia können unser Tun aus der Ferne verfolgen«, fiel Francois ihm ins Wort. »Was glaubt Ihr, was sie denken, wenn sie uns fortrudern sehen?«

Der Kapitän zuckte die Achseln. »Wir bleiben allenfalls für einen Tag dort drüben. Im schlimmsten Fall für zwei.«

Zwaantie studierte Jacobs' Miene. Ob er sich mit seinen Gefolgsleuten heimlich aus dem Staub machen wollte? Wollte er womöglich flüchten, um Jan Everts' Kopf vor dem Galgen zu retten?

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Sie erkannte, dass der Kommandeur unmerklich in sich zusammensank. »Dann komme ich mit«, erklärte er.

Eine Art spöttische Anerkennung schien über die Miene des Skippers zu huschen. »Wie Ihr wollt«, bemerkte er über die Schulter gewandt und stapfte mit Claas Gerritz von dannen.

»Morgen in aller Frühe geht es los.«

Ein Kommandeur ohne Kommando, dachte Zwaantie beim Anblick der verlorenen Gestalt, die resigniert zu der Batavia hinüberspähte.

Es wurde die schrecklichste Nacht, die Francois jemals zugebracht hatte, schlimmer noch als jene im Fieberwahn, denn dieses Mal war er bei vollem Bewusstsein.

Ohne ihm großartig Beachtung zu schenken, hatte man vor ihm aus dürren Zweigen ein armseliges Feuerchen entfacht und ihm aufgetragen, in die Flammen zu blasen, wenn sie zu verlöschen drohten.

Francois hatte zwei-, dreimal gepustet, doch nach einem heftigen Windstoß zuckten die Flammen ein letztes Mal auf, ehe sie erstarben. Danach rieb Francois seine Hände frierend über der schwachen Glut, die wenig später zu einem kümmerlichen Aschehäufchen zerfiel.

Dennoch musste er eingeschlafen sein, denn inmitten der pechschwarzen Nacht wachte er auf, zusammengekrümmt, zitternd vor Kälte, halb zugeweht vom Sand. Kurz darauf begannen seine Gedanken im vertrauten Ringelreihen durch sein gemartertes Hirn zu tanzen.

Als Erstes versuchte Francois, den Wert der Fracht zu errechnen, die er zurückließ. Danach kreisten seine Überlegungen um die Menschen, die ihm anvertraut worden waren, und bisweilen fragte er sich auch, was Lucretia nun von ihm hielt. Später überließ er sich Selbstvorwürfen, bezichtigte bisweilen auch Gott der Untreue, bis seine Gedanken schließlich

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erlahmten und er sich dem dumpfen Bedauern überließ, überhaupt an Bord der Batavia gegangen zu sein.

Im ersten Morgengrauen war der Skipper auf den Beinen und trug seinen Männern auf, alles, was sie an Proviant und Wasservorräten an Land gebracht hatten, zurück in das Boot zu verladen.

Francois näherte sich verwundert. »Was soll das?«, erkundigte er sich. »Weshalb wird alles eingepackt? Ich entsinne mich nicht, dergleichen angeordnet zu haben.«

Jacobs seufzte angewidert und würdigte ihn keiner Antwort.

»Ich dachte, wir würden lediglich nach Wasser suchen«, fuhr Francois unnachgiebig fort. »Da böte es sich doch wohl an, mit einem leichten Boot zu fahren und die vollen Kisten und Fässer hier zu lassen.«

»Was ist, wenn ein Sturm aufkommt?«, fragte der Kapitän gereizt. »Was ist, wenn wir deshalb nicht zurückrudern können?

Möchtet Ihr dann ohne Wasser und Nahrung warten, bis er vorüber ist?«

Francois schwieg. Um sie herum war nur das Rauschen der Wellen zu hören.

»Tut mir Leid, das geht nicht«, erklärte Francois schließlich.

»Wir werden die Menschen drüben auf der Insel zuerst von unserer Absicht unterrichten. Wir werden nicht einfach sang-und klanglos verschwinden.«

Jacobs schaute zu den dunklen Wolken hoch, die eilig über den grauen Himmel zogen. Sein Gefühl verriet ihm, dass sich ein Sturm zusammenbraute. »Für solche Mätzchen ist jetzt keine Zeit mehr«, knurrte er.

»O doch«, widersprach Francois. »Dafür ist Zeit. Die Menschen müssen beschwichtigt werden. Sie müssen erkennen, dass unsere Pläne ehrenhaft sind.«

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Ehrenhaft. Die Umstehenden blickten Francois mitleidig an.

Der Kapitän verlieh ihrer Meinung Ausdruck. »Für hohle Begriffe ist es längst zu spät«, verkündete er. »Da drüben lauert ein Haufen nutzloser Pöbel. Wenn Ihr zu ihnen geht, kapern sie das Boot und nehmen Euch als Geisel.«

»Das werde ich riskieren.«

»Dann seid Ihr noch verrückter, als ich dachte.«

»Ich muss zumindest ein Fass Wasser zu ihnen schaffen.«

»Ha!«, lachte der Kapitän. »Ein Tropfen auf den heißen Stein!

Was nutzt so vielen denn ein einzelnes Fässchen? Ihr plant das alles nur, um Euch vorzugaukeln, Ihr hättet ihnen geholfen.«

»Legt es aus, wie Ihr wollt«, erwiderte Francois zornig. »So lautet jedenfalls mein Befehl.«

Der sture Bock! dachte der Skipper. Ich sollte ihn windelweich prügeln - vielleicht käme er dann einmal zu Verstand. »Ich dachte, es wäre geklärt, wer hier befiehlt«, bemerkte er leise. »Ohne mich gelangt Ihr nirgendwo hin!

Deshalb wäre es angeraten, Ihr stiegt nun endlich von Eurem hohen Ross herunter und sähet die Lage so, wie sie ist.«

»Und wo wollt Ihr ohne mich hin, wenn ich fragen darf?«, versetzte Francois. »Wollt Ihr dem Gouverneur die Angelegenheit allein darlegen?«

»Es geht doch nur um einen Tag oder zwei«, lenkte Jacobs ein.

»Ihr vertut unsere Zeit, Kapitän, nicht ich. Ich setze auf die Insel über und rede mit den Menschen. Und das ist jetzt mein letztes Wort.«

Der Kapitän spuckte aus. Dann wandte er sich jäh ab und begab sich zu den Männern, die das Boot beluden.

»Was will der Mistkerl?«, fragte Jan Everts ihn.

»Er möchte den armen Seelen ein Fässchen Wasser darbieten.

Als Gegenleistung sollen sie ihn segnen.«

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»Warum machen wir ihn nicht einfach kalt?«

Jacobs schüttelte den Kopf. Jan ist ebenso wenig bei Trost wie der Kommandeur, ging es ihm durch den Kopf. Man konnte vor dieser Vielzahl an Zeugen keinen hohen Beamten der Gesellschaft umbringen.

»Wie stellst du dir das vor?«, fragte er Jan im Flüsterton.

»Was möchtest du denn dem Gouverneur für eine Geschichte auftischen, wenn er wissen will, wo der Kommandeur abgeblieben ist? Was glaubst du, wie sehr die anderen sich beeilen werden, ihm Aufklärung zu verschaffen? Und was denkst du, was dann geschieht? Erwartest du, dass er dir auf die Schulter klopft und sagt: ›war höchste Zeit‹ und ›gut gemacht, Jan‹?«

»Wer behauptet denn, dass wir nach Batavia müssen? Wir können doch zu den Molukken segeln. Die Eingeborenen rudern uns sogar hierher zurück, wenn wir ihnen von den Reichtümern auf dem Wrack erzählen.«

»Später vielleicht, Jan. Was weiß ich, was die nächsten Tage bringen? Vielleicht werden wir den Kommandeur unterwegs ja auf natürliche Weise los.«

Jan betrachtete die Wunden an seinen Handgelenken, die allmählich verheilten. Jacobs weiß, dass ich Recht habe, sagte er sich. Der Kommandeur muss beseitigt werden. Er ist jedem von uns im Weg.

»Wir brauchen unser Wasser selbst«, murrte er.

»Allmächtiger, was soll's? Ein Fässchen können wir ruhig entbehren.«

»Bin gespannt, ob Ihr noch genauso denkt, wenn uns vor Java die Zunge am Gaumen klebt.«

»Lass gut sein, Junge! Tu einfach, was er sagt. Rudere den Dummkopf zu der Insel hinüber.«

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Francois saß am Bug des Langbootes und schaute zu, wie sich die Seeleute in die Ruder legten. Vor ihm befand sich das Wasserfass. Er bemerkte den gierigen Blick, mit dem Jan Everts es immer wieder taxierte. Sein Inhalt war inzwischen wertvoller als Gold.

Der Himmel hatte sich mittlerweile dichter zugezogen, doch der Sturm hielt sich noch zurück. Das Boot schlingerte allerdings gefährlich auf den Wellen, so dass sie sich der Nachbarinsel nur langsam zu nähern vermochten.

Als sie dicht genug herangerudert waren, um die Menschen dort auszumachen, erhob Jan Everts sich von seiner Bank und deutete voraus.

»Seht Euch diese Wahnsinnigen an!« Er lachte verächtlich.

Die Menschen strömten an den Strand, als triebe sie eine unsichtbare Hand. Francois hörte sie brüllen und sah die ersten ins Wasser laufen, um ihrem Boot entgegenzuwaten.

»Sie wollen das Boot«, verkündete Jan Everts.

»Sie sind verzweifelt«, berichtigte Francois. »Sie sehen das Wasserfass.«

»Umdrehen!«, brüllte Jan. »Sofort die Segel hoch! Die sind doch alle außer sich. Sie drohen uns mit den Fäusten!«

Er musste sein Kommando kein zweites Mal wiederholen. Die Männer zogen die Ruder ein, hissten die Segel und drehten ab.

Francois war aufgesprungen. »Ich gebe euch den Befehl, das Land anzusteuern!«, schrie er aufgebracht.

»Dann schwimmt doch an Land!«, rief Jan ihm höhnisch zu.

»Das letzte Stückchen könnt Ihr sogar gehen.«

Francois' Blicke irrten zwischen dem Boot und dem Strand hin und her. Es stimmte, er würde es schaffen. Doch damit wären er und die Menschen auf der Insel verloren. Jacobs würde ihnen niemals Wasser bringen, selbst wenn er welches fände. Es war nicht einmal sicher, dass er für ein Rettungsschiff sorgte,

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wenn er in Batavia war. Nein, er, Francois, war der Kommandeur! Er musste garantieren, dass alles ordnungsgemäß verlief und Jacobs keinen Alleingang antrat - schon gar nicht in Java vor dem Gouverneur.

Francois ließ sich auf seine Bank zurücksinken. Er konnte nur tatenlos zusehen, wie der Wind die Segel blähte und das Boot zügig den Rückweg einschlug. Er wandte sich um. Hinter ihm wurde der Strand schon kleiner. Die Flüche und Schreie der Menschen wurden schwächer und verloren sich im Wind, die Gestalten verwandelten sich in dunkle Schatten, bis sie zuletzt nur noch Punkte waren, die sich im grauen Dunst auflösten.

Auf dem Friedhof

Wir haben unsere Insel nicht umsonst »Friedhof« genannt, dachte Lucretia, als sie das Boot umdrehen und zurücksegeln sah, denn schon bald werden wir hier liegen und zu Skeletten verfaulen.

Sie hatte Francois in dem Langboot erkannt. Sein roter Umhang hatte aufgeleuchtet, als er sich kurz erhob. Für einen Moment hatte sie geglaubt, dass er sie retten käme.

Lucretia schaute zu, wie verzweifelte Menschen in die Lagune liefen und sich in die Wellen warfen, um zu dem Boot hinüberzuschwimmen.

»Was tut der Kommandeur da?«, rief Pfarrer Bastians wehleidig. »Warum dreht er um?«

Nach einer Weile gaben die, die dem Boot hatten folgen wollen, ihr Ansinnen auf. Über den Strand senkte sich fassungsloses Schweigen. Ungläubig starrten die Menschen sich an, bis die Ersten unter ihnen zu schluchzen begannen.

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»Der Kommandeur soll in der Hölle braten!«, rief einer mit heiserer Stimme. Lucretia wandte sich nach der Stimme um. Sie gehörte dem hässlichen Obergefreiten Steinmetz.

Dieser verdammte Sohn einer Zigeunerhure, dachte Wiebe Hayes, obgleich er das Verhalten des Kommandeurs im Grunde nicht erstaunlich fand. Pelsaert hatte seine Entscheidung wie ein Feldherr getroffen, beschloss den strategischen Rückzug und opferte seine Truppen für irgendein übergeordnetes Ziel, das die unteren Ränge nicht kannten. Waren es nicht stets die gemeinen Soldaten, die dafür büßten, wenn ein Plan misslang? Machten die Offiziere sich nicht regelmäßig aus dem Staub, ehe sie den eigenen Kopf riskierten? Waren nicht diejenigen, die ihnen treu gefolgt waren, immer die, die starben?

Andererseits ist dies keine Schlacht, überlegte Wiebe, sondern es war eine Schiffsreise, bei der der Kommandeur die Verantwortung für Menschen trug und nicht für einen Sieg oder eine militärische Strategie. Offenbar waren derlei Regeln jedoch hinfällig geworden, nachdem die Batavia aufgelaufen war.

Für Pelsaert gibt es keine Entschuldigung, befand Wiebe schließlich. Der Kommandeur war einfach ein verräterischer, feiger Schuft.

Auf der Verräterinsel

Ohne dass Francois noch einmal eine Widerrede begann, wurde das Langboot nun mit den Fässern und Kisten bestückt.

Danach schickten sich die Männer an, ihr Lager abzubrechen, und stiegen einer nach dem anderen an Bord - in Begleitung von Zwaantie und der Frau eines Matrosen, die ihren Säugling bei sich trug. Offenbar hatte man sich während Francois'

Abwesenheit endgültig über das weitere Vorgehen geeinigt. Der Aufbruch war beschlossene Sache, und kein Mensch dachte daran, jemals wieder zurückzukehren.

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Als das Langboot in die Brandung geschoben wurde, fragte sich Francois, ob er noch einmal das Wort ergreifen und Einwände erheben sollte, doch dann besann er sich anders und kletterte als Letzter an Bord. Er ließ sich auf einem Platz am Bug nieder und betrachtete seine zitternden Hände. Sein Kopf fühlte sich heiß an. Er war hungrig. Womöglich hatte der Skipper Recht. Was wäre damit erreicht, wenn er hilflos mit den anderen stürbe? War es nicht tatkräftiger und umsichtiger, nach Wasser zu suchen? Anschließend würde er die notwendigen Schritte einleiten, um sowohl die Fracht als auch die Menschen zu retten. Trotzdem konnte sich Francois des Gedankens nicht erwehren, dass er sich seit dem Untergang seines Schiffes im Kreis gedreht, ein paar Mal gekläfft und sich zum Schluss ohnmächtig in den Schwanz gebissen hatte - wie ein dummer, aufgeregter Hund.

Sie kamen nur langsam voran und ließen sich von der Strömung treiben. Der Kapitän stand an der Ruderpinne und studierte aufmerksam die Schatten der Fels en, die unter der Wasseroberfläche schimmerten.

Zwaantie hatte sich auf dem Boden des Bootes niedergelassen und blickte der hohen Felseninsel entgegen. Wie sie feststellte, handelte es sich keineswegs um einen einzigen Hügel, wie sie vermutet hatten, sondern um zwei hintereinander liegende Inseln, von denen die vordere sich wie eine sandige Dünenlandschaft wellte, wohingegen der dahinter liegende Felsen lediglich einen schmalen Strandsaum bot.

Der Kapitän umschiffte die erste Insel und das Boot glitt auf die Felseninsel zu. Das Meer hatte ihre Klippen ausgehöhlt, so dass sie von weitem wie eine Gruppe verwachsener Pilze wirkte, deren ausgefranste Dächer sich über die helle Wasserfläche neigten.

Der Skipper deutete voraus und gab seinen Männern den Befehl, auf das Strandstück zuzuhalten, dessen Sand der weißeste war, den Zwaantie jemals erblickt hatte.

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Kurz darauf sprangen die Matrosen mit bloßen Füßen über Bord, um ihr Boot an Land zu ziehen. Ihr Aufschreien und das hastige Zurückklettern waren eins. Fluchend betrachteten sie ihre blutenden Füße. Zwaantie schloss die Augen. Der gleißend helle Strand bestand offenbar aus messerscharfen Korallen und schneeweißen Muscheln, die die mahlenden Fluten zu Splittern zerrieben hatten.

Der Kapitän spuckte über Bord. »Es scheint ein Fluch auf uns zu liegen«, murmelte er.

So ist es, pflichtete Zwaantie ihm stumm bei. Beim Anblick des leuchtend weißen Strandes hatte sie für einen Augenblick gehofft, nun würde alles gut. Doch sie hatte nur einmal kurz aufatmen dürfen, mehr war ihr nicht vergönnt gewesen.

In den folgenden Stunden suchten sie auf der Insel nach Wasser, oder taten lediglich so, wie Zwaantie fand. Niemand wagte, sich weit von dem Boot zu entfernen, niemand traute dem anderen über den Weg.

Nach Zwaanties Meinung war die Insel ebenso unwirtlich wie diejenige, die sie verlassen hatten. Es gab nichts außer nackten Hängen, an die sich staubgraues Buschwerk klammerte. Auf dem schmalen Strand, der aus der Ferne so verlockend und einladend geleuchtet hatte, knirschten ihre Schritte auf den Kalkablagerungen. Lediglich Vögel wohnten auf der Insel, Schnepfen und Reiher, die mit tückischen Seitenblicken am Ufer entlang staksten, Möwen und Kormorane, die in riesengroßen Schwärmen den Himmel verdeckten. Auf dem Hügelgrat erkannte Zwaantie ein Seeadlerpaar, das sich mit mächtigen Schwingenschlägen erhob und wie zwei schwarze Schatten über ihnen schwebte.

Gegen Mittag begannen einige Matrosen zu winken und zu rufen. Sie hatten auf einem hochgelagerten Felsen Lachen mit Regenwasser entdeckt. Ihre Freude war indes nur von kurzer Dauer, denn die Gischt hatte die Tümpel bereits erfasst und mit

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Meerwasser durchtränkt. Es war aussichtslos. Selbst als sie schließlich mit den Ruderstielen Löcher in den Strand bohrten, stießen sie lediglich auf hartes Gestein.

Auch diese Versuche kamen Zwaantie halbherzig vor. Den Männern ging es vor allem darum, ihr Langboot seetüchtig zu machen. Bereits auf dem Weg zu der hohen Insel hatten sie umherschwimmende Planken von der Batavia aus dem Meer gefischt, die die Geschicktesten unter ihnen nun mit der Axt zurechtschlugen, um damit das Schanzkleid ihres Bootes zu verstärken.

Gut, dass es Männer unter uns gibt, die sowohl ihr Hirn als auch ihre Muskelkraft einsetzen, dachte Zwaantie erneut, als sie die gebeugte Gestalt des Kommandeurs abseits von den anderen umherwandern sah. Wenn es nach diesem Weichling ginge, könnten sie sich nun hinlegen und ehrenhaft sterben.

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XIII

Ich finde, es ist an der Zeit für einen kleinen Zwischengedanken, und deshalb bitte ich Sie, mir kurz zu folgen.

Meiner Ansicht nach gibt es, gleichgültig nach welcher Missetat, keinen Menschen, der bereit ist, sich dafür schuldig zu bekennen.

Zur Anschauung wähle ich von der Batavia ein paar beliebige Fälle heraus.

Da hätten wir einmal Halfwaack, einen der Steuerleute (er ist übrigens der Schwager des Kapitäns). Er war beauftragt, Menschen und Proviant aus dem gestrandeten Schiff auf die Friedhofsinsel zu transportieren. Als er entdeckte, dass das Langboot mit dem Kapitän und dem Kommandeur von der Nachbarinsel verschwand, setzte er ihm nach. O nein, er ließ die Menschen nicht im Stich. Er folgte lediglich seinen Offizieren.

Bei ihm befand sich auch Claas, Tryntgens Ehemann. Fühlte er sich etwa schuldig? Als Verräter an seiner Frau? Aber woher denn. Er schloss sich doch nur seinem Steuermann an. Der hatte entschieden, nicht er.

Fand der Kapitän, er wäre ein Deserteur? Hielt der Kommandeur sich für pflichtvergessen?

Hatte Jan Everts jemals Gewissensbisse verspürt? Ja, warum denn, wenn er lediglich Jeronimus gehorchte?

Irgendeine Rechtfertigung legte sich jeder von ihnen zurecht.

Ihnen geht es häufig ähnlich, vermute ich. Immer gibt es Umstände, die Ihr Handeln erklären.

Glauben Sie, ich werfe Ihnen das vor? Bewahre!

Ich wäre bestürzt, wenn es sich anders verhielte.

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Auf der hohen Insel

Im Laufe des Nachmittags tauchte ein zweites Boot vor der hohen Felseninsel auf. Die Männer ließen ihre Arbeit sinken und blickten ihm argwöhnisch entgegen.

Der Kapitän hatte sich am Ufer postiert, die Fäuste in den Hüften. Als das Boot näher kam, erkannte er Halfwaack am Ruder, seinen Schwager und Steuermann, derselbe, der kein Wort mehr mit ihm gewechselt hatte, seit er sich mit Zwaantie vergnügte.

Nun sprang Halfwaack aus dem Boot und watete sichtlich erregt an Land.

Ob er mir Vorwürfe zu machen wagt? fragte sich der Kapitän.

Ob er annimmt, als Bruder meiner Frau hätte er Rechte anzumelden?

»Was willst du hier?«, rief er Halfwaack entgegen.

»Dasselbe könnte ich dich fragen, Skipper.«

Jacobs warf einen Blick auf die anderen Männer, die dem Boot zögernder entstiegen. Er erkannte Claas und noch etwa ein halbes Dutzend weiterer Soldaten und Matrosen.

Der Kommandeur war inzwischen zu ihnen getreten. »Wir suchen hier nach Wasser für uns alle«, erklärte er.

»Das sehen die Le ute da hinten auf der Insel anders. Sie glauben, Ihr seid dabei, Euch zu verdrücken.«

»Warum beantwortest du nicht erst einmal meine Frage?«, erkundigte sich der Kapitän. »Was willst du hier?«

Halfwaack schaute ihn heimtückisch an. »Die Passagiere haben uns beauftragt, hinter euch herzurudern. Sie möchten wissen, was ihr plant.«

Der Kapitän betrachtete ihn nachdenklich. »So, so«, entgegnete er.

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»Nun«, fuhr Halfwaack fort, »ich habe ihnen geschworen, dass du niemals deinen eigenen Schwager vergessen und dich klammheimlich entfernen würdest.«

Jacobs lachte schallend auf. »Wie wahr«, erwiderte er belustigt. »Die Familie hält treu zusammen.«

Claas, der inzwischen bei ihnen stand, fiel in sein Lachen mit ein, doch es klang nicht sehr fröhlich, und er sah dabei zur Seite, um dem Blick des Kapitäns auszuweichen.

Gegen Ende des Tages setzten die Männer sich am Ufer zu einer Lagebesprechung zusammen.

»Hier finden wir kein Wasser«, erklärte der Skipper. »So viel steht inzwischen fest.«

»Wir haben doch erst einen Tag lang gesucht«, hielt Francois ihm entgegen. »Wie kommt es, dass Ihr so schnell aufgeben wollt?«

»Weil wir den Wind nutzen sollten, um das Große Südland anzusteuern. Je eher wir dort sind, desto besser.«

»Wenn ich mir den Himmel anschaue«, entgegnete Francois,

»sieht es eher nach Regen aus. Warum warten wir nicht ab?

Wenn es regnet, haben wir Wasser.«

»Zu unsicher«, bemerkte der Skipper.

Die anderen pflichteten ihm bei.

»Wenn es regnet, hätten auch die Menschen auf der großen Insel Wasser«, gab Claas Gerritz zu bedenken. »Sie brauchten uns dann nicht mehr.«

»Das geht mir alles zu schnell«, widersprach Francois. »Die Strömung hat bereits Planken von der Batavia hergetrieben.

Womöglich werden auch noch Wasserfässer angespült. Damit könnten wir -«

»Wir können gar nichts«, fiel der Skipper ihm ins Wort. »Bis die Fässer hier sind, hat das Meerwasser sie verdorben.«

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»Außerdem haben die da drüben auf der Insel sich ihre Lage selbst eingebrockt«, flocht Halfwaack ein. »Wären sie nicht so haltlos gewesen, hätten sie jetzt noch etwas zu trinken.«

»Ihr scheint nicht zu begreifen, dass ich für diese Menschen die Verantwortung trage«, beschied Francois ihn ungnädig.

Der Kapitän deutete in die Runde. »Und für die hier trage ich die Verantwortung«, erklärte er. »Das andere Thema haben wir inzwischen zur Genüge durchgekaut. Ich schlage vor, wir segeln in Richtung Südland. Dessen Küste liegt nicht weiter als vierzig oder fünfzig Meilen von hier.«

Womit er endlich zugegeben hätte, dass wir auf dem Houtmans Riff gestrandet sind, dachte Francois. Das Märchen von der Sandbank wäre damit erledigt. »Woher wisst Ihr das mit einem Mal so genau?«, konnte er dennoch nicht umhin zu fragen.

Der Kapitän machte eine wegwerfende Geste. »Wir segeln zum Südland«, bestimmte er.

»Ich werde mir das durch den Kopf gehen lassen«, sagte Francois.

»So lange können wir nicht warten«, entgegnete Jacobs.

Die Männer in der Runde lachten.

Dieses Mal werden wir unseren Zwist nicht vor aller Augen und Ohren austragen, beschloss Francois. »Vielleicht klären wir das besser unter vier Augen«, schlug er vor.

Francois und der Kapitän erhoben sich und taten ein paar Schritte zur Seite.

»Ich weiß, was Euch beschäftigt«, murmelte der Kapitän. »Ihr seid nicht in der Lage, den Gedanken an die kostbare Fracht aufzugeben. Ich verstehe das sogar. Wenn Ihr wollt, bleibt hier.

Da könnt Ihr mit reinem Gewissen sterben.«

»Wenn Ihr mein Gewissen aus dem Spiel ließet, wäre ich Euch äußerst verbunden.«

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»Liebend gern«, versetzte der Skipper. »Ohne Gewissen segelt es sich nämlich leichter.«

Francois begegnete ihm mit einem strafenden Blick. Danach schaute er zum Himmel empor, wo sich dicke graue Wolken jagten. Der Wind schnitt ihm ins Gesicht. »Na gut«, willigte er schließlich ein. »Aber nur bis zum Südland. Dort wird nach Wasser gesucht, und danach kehren wir wieder um!«

»Selbstredend«, versicherte der Skipper mit kaum verkennbarer Ironie.

Francois warf abermals einen Blick zum Himmel. Du da oben siehst mir bis in meine düstere Seele, dachte er. Du und der Kapitän. Aber du, Herr, wirst mich wohl eines Tages richten, nicht er.

sechster Tag des Juni im Jahre des Herrn, 1629

Am ändern Morgen stachen sie in See. An Bord des Langbootes befanden sich nun siebenundvierzig Menschen, darunter zwei Frauen und ein drei Monate altes Kind. Das kleinere Beiboot zogen sie im Schlepptau leer hinter sich her.

Francois hatte im Heck des Langbootes Platz genommen und brütete schweigend vor sich hin. Bisweilen wandte er sich um und schaute zurück zu einem winzigen Punkt, dem Wrack der Batavia. In solchen Momenten war es ihm, als ob sich bleischwere Steine auf seinen Magen senkten. Ich habe alles Erdenkliche getan, versuchte er sich zu beruhigen. Ich wäre sogar zurückgekehrt, um mit den Gestrandeten zu sterben. Trifft mich die Schuld, wenn es dem Kapitän an moralischer Stärke gebricht, um mit der gleichen Treue zu den Verlorenen zu halten? Oder hat er nicht vielleicht Recht, wenn er glaubt, es sei besser, das Südland anzusegeln? Oder aber gebe ich ihm aus den falschen Beweggründen Recht und mache mir etwas vor? Will

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ich im Grunde meines Herzens nicht auch nur meine eigene Haut retten?

Zuletzt gab Francois seine Überlegungen auf. Ich werde im Moment nicht erkennen, was richtig ist und was nicht, sagte er sich. Allenfalls werde ich im Rückblick begreifen, wenn es die falsche Entscheidung war. Bis dahin, beschloss er, würde er die nagende Stimme in seinem Kopf zum Schweigen verdammen oder sie überhören, wenn sie sich regte. Auch seine Seele wollte er nunmehr nicht weiter durchforsten, denn sie erschien ihm ebenso kalt und unheimlich zu sein wie das Meer mit seinen kreischenden Möwen und den steinern aufragenden Klippen.

Auf dem Friedhof

So musste es ja kommen, fuhr es Wiebe durch den Sinn.

Zuerst tollwütige Wut, dann sinnloses Rasen und nun zum Schluss die Einsicht und die ohnmächtige, bittere Reue.

Er betrachtete die Menschen, die erschöpft auf dem nackten Boden lagen oder immer noch lautstark den Kommandeur und den Kapitän verfluchten.

Eins hatte Wiebe während seiner Kämpfe gelernt: Geschlagen war erst der, der sich geschlagen gab. Bis dahin galt es auszuharren, nicht die Waffen zu strecken, auf einen günstigen Moment zu lauern und dann die nächste Attacke zu planen. Nur derjenige, der das vermochte, war ein richtiger Mann und Soldat. Der Steinmetz war das offenkundig nicht, sinnierte Wiebe, denn er hatte zu den Ersten gehört, die aufgaben. Nun hockte er am Ufer und wimmerte erbärmlich. Hin und wieder richtete er sich jedoch auf und geiferte Unverständliches in Richtung des entschwundenen Kommandeurs.

Wiebe trat zur Familie des Pfarrers, die sich in den Schutz eines Felsens zurückgezogen hatte. Frau Bastians hatte ihr Jüngstes auf dem Schoß und wiegte es sachte hin und her. Ihr Mann lag auf den Knien und betete um ein Wunder.

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Vielleicht tut Gott ihm ja den Gefallen, dachte Wiebe. Er hatte schon häufig erlebt, dass der Herr die erstaunlichsten Dinge vollbrachte.

Pfarrer Bastians verstummte, sobald Wiebes Schatten über ihn fiel. Für einen Augenblick schien er ihn für einen Engel zu halten und lächelte beglückt. Dann jedoch erkannte er Wiebe, und sein Blick wurde kalt.

»Es gibt für alles eine Lösung«, bemerkte Wiebe, indem er mitleidig die aufgeplatzten Lippen des Pfarrers betrachtete.

»Der Herr wird sie mir weisen«, beschied Pfarrer Bastians ihn frostig.

»Der Herr hilft denen, die sich selbst zu helfen wissen«, erwiderte Wiebe. »Wo lasst Ihr Euer Wasser?«

Pfarrer Bastians kam schwerfällig auf die Beine. »Was fällt Euch ein...«, begann er, doch Wiebe fiel ihm ins Wort: »Ihr müsst Euer Wasser trinken, wenn Ihr überleben wollt.«

»Schert Euch fort mit Eurem widernatürlichen Geschwätz!«, krächzte Pfarrer Bastians erbost.

»Wenn man die Augen dabei schließt, ist es zu schaffen«, fuhr Wiebe unbeirrt fort. »Und es schmeckt nicht schlechter als das Bier, das man uns auf dem Schiff anbot.«

»Wie die Tiere«, flüsterte Pfarrer Bastians angewidert.

»Unser Leben gleicht ja nun auch dem der Tiere! Warum sollten wir uns ihnen dann nicht auch anpassen?«

»Eher sterbe ich, als dass ich mich vor Gott unwürdig erweise«, erklärte Pfarrer Bastians und ließ sich erneut zu Boden sinken.

»Wie Ihr wollt«, antwortete Wiebe. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel empor. Über ihnen hing eine undurchdringliche graue Wolkendecke. Der Wind wirbelte trockenen Kalkstaub auf. Auf Regen würden sie noch eine Weile warten müssen.

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»Als ob ich mein eigenes Wasser trinken würde«, murmelte der Pfarrer vor sich hin.

»Nun, meines bekommt Ihr mit Sicherheit nicht.« Wiebe lachte. Danach wurde er wieder ernst. »Ihr trinkt doch auch das Blut des Gekreuzigten«, ermunterte er Pfarrer Bastians abermals. »Was ist denn dann gegen Euren eigenen Körpersaft einzuwenden?«

»Geht mir aus den Augen! Solche Gedanken sind des Teufels.«

»Dann werdet Ihr sterben, Herr Prediger. Gehabt Euch wohl.«

Wiebe wandte sich ab.

»Ich vertraue auf die Kraft meines Gebetes!«, rief der Pfarrer ihm nach.

Ja, tu das nur, dachte Wiebe. Vielleicht spendet dir das ein wenig Trost. Mindestens zwei Monate würde es dauern, bis der Kommandeur und Jacobs Batavia erreichten. Einen weiteren würden sie benötigen, um zu ihnen zurückzukehren -

vorausgesetzt, sie schafften die Reise überhaupt. Sie hingegen würden höchstens drei Tage brauchen, bis sie verdurstet waren.

Während der Nacht hörte Wiebe, wie der Pfarrer stöhnte und seine Gebete immer wieder von vo rn begann, bis er schließlich heiser wurde und zuletzt verstummte.

Auf dem Wrack

Jeronimus befand sich noch immer in der Kajüte des Kommandeurs. Alle anderen waren inzwischen verschwunden.

Er hatte sich in dem roten Sessel zurückgelehnt und ließ seine Blicke umherwandern. Die aufgerissenen Schubladen des Schreibtisches, deren Inhalt sich auf dem Boden befand, die schiefe Lage des Raums, die zur Wand gerutschten Möbel -

nichts davon nahm er wahr. Stattdessen malte er sich aus, er

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würde die Flotte befehligen und sei auf dem Weg zu einem Posten als Gouverneur.

»Du da hinten!«, rief Jeronimus einem Dienstboten zu.

»Besorg mir auf der Stelle einen Becher Wein!« Er sah die geduckte Gestalt forthuschen und trommelte ungeduldig auf die Armstützen.

»Frau van der Mylen«, begann er danach. »Ihr würdet staunen, wenn Ihr wüsstet, was ich in Indien erlebt habe.«

Jeronimus bückte sich und hob einen Bogen Papier vom Fußboden auf. Es handelte sich um eine Proviantliste, notiert in der feinen, säuberlichen Schrift des Kommandeurs. »De Vries, hopp, hopp! Acht Kopien bitte und zwar ein bisschen plötzlich!«, herrschte Jeronimus den imaginären Schreiber an.

Von draußen schlug ein wuchtiger Brecher gegen die Bordwand. Jeronimus schrie auf. Dann glitt er langsam zu Boden.

»Solch ein unrühmliches Ende kannst du nicht für mich vorgesehen haben, Herr!«, rief er gen Himmel, ehe er abermals in eine dunkle Ecke kroch und sich dort zusammenkrümmte.

Später schleppte Jeronimus sich auf das Lager des Kommandeurs, rollte sich wie ein Fötus ein und verbarg sich unter den schweren Decken. Die meiste Zeit über zitterte und weinte er, doch hie und da rappelte er sich hoch und spie Verwünschungen gegen die zahllosen Ungeheuer aus, die wie schwarze Nachtvögel durch seine Träume flatterten.

Auf dem Friedhof

Tryntgen hatte sich auf einen der Felsen zurückgezogen und den Kopf in den Armen geborgen. Zu ihren Füßen gurgelte und schäumte die Brandung. Über ihr zogen Möwenschwärme unruhige Kreise und warfen flirrende Schattenbilder auf die Wellen.

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Sussie näherte sich Tryntgen. Behutsam legte sie ihr eine Hand auf die Schulter.

»Tryntgen«, sagte Sussie leise.

Sie sah, dass Tryntgens Körper von Schluchzern geschüttelt wurde, doch sie wusste, dass ihrer Schwester kein Trostwort helfen würde.

Gewisse Dinge sollte man von Männern erwarten können, fand Sussie. Zum Beispiel blieben gute Männer ihren Frauen treu, wenngleich ihre Schwester erklärt hatte, es sei besser, sich nicht darauf zu verlassen, sondern sich darauf einzustellen, verzeihen zu müssen. Das Mindeste, dachte Sussie, war jedoch, dass einen der Ehemann ausreichend liebte, um einem in Notzeiten beizustehen. Oder musste man etwa hinnehmen, dass er sich heimlich davonstahl, um seine Haut zu retten, und seine Frau auf einem gottverlassenen Stück Erde dem Tod überließ?

Die Untreue, deren Claas sich schuldig gemacht hatte, war nach Sussies Meinung schlimmer als Ehebruch. Sie fand nicht einmal ein Wort, um sie zu benennen. Wenigstens wird Tryntgen nicht lange "hadern müssen, sagte sich Sussie, doch ihre letzten Gedanken würden vermutlich bitter sein.

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XIV

An dieser Stelle ließe sich spekulieren, welche Art von Leben Claas noch beschieden ist - sofern er Java jemals erreicht. Ein langes Leben wird er nicht mehr vor sich haben. Damit ist bei einem Mann seines Standes grundsätzlich nicht zu rechnen. Er hat sich lediglich ein wenig zusätzliche Zeit gestohlen. Was glauben Sie? Ob sie ihn süß ankommt?

Mir gefällt es, wenn ein Mann Gewissensbisse hat. Alle anderen sind uninteressant. Solche Menschen ziehen gewöhnlich nur stumpfsinnig ihrer Wege. Mir liegen eher diejenigen am Herzen, die gut sind, dann jedoch straucheln.

Wenn Sie möchten, denken Sie sich Claasens zukünftige Geschichte aus. Vergessen Sie dabei jedoch nicht, dass er das Ausmaß seiner Missetat begreift und dass sie ihn für immer quälen wird. Malen Sie sich sein Ende ruhig in der Hölle aus, denn dort wird er landen, so viel kann ich Ihnen jetzt schon verraten.

Auf dem Friedhof

Bereits seit einer geraumen Weile klang Judith ein Scharren und Kratzen in den Ohren. Als sie sich umblickte, sah sie Füße aus einem Wasserfass ragen und begriff, woher die Geräusche stammten. Ein Mann war in das Fass gekrochen und versuchte den letzten Rest Feuchtigkeit zusammenzuschaben.

Die Sonne, die bisweilen durch den grauen Himmel brach, verströmte ein milchig gleißendes Licht, das Judiths Augen tränen ließ. Ihre Kehle hingegen war ausgedörrt und fühlte sich ledrig an. Schon seit Stunden vermochte Judith nicht mehr zu sprechen.

Am Ufer wälzte sich ein kleiner Junge wimmernd in den auslaufenden Fluten. Er hatte Meerwasser getrunken. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er starb. Niemand besaß die Kraft,

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sich zu ihm zu schleppen, um zu helfen, niemanden berührte noch, was mit dem Kind geschah.

Judith blickte zu ihrem Vater hinüber. Er konnte sich längst nicht mehr auf den Knien halten, sondern lag bäuchlings auf dem Erdboden und röchelte Gebete vor sich hin. Einer ihrer kleinen Brüder schluchzte. Judith wunderte sich über seine Energie.

Im seichten Meerwasser trieb der stinkende, unförmige Leichnam eines Mannes. Er hatte vergeblich versucht, von der Batavia aus zu ihnen zu schwimmen. Der hat es wenigstens hinter sich, hatte Judiths Mutter gesagt.

Stechende Schmerzen bohrten sich in Judiths Schläfen und breiteten sich über ihre Schädeldecke aus. Sie schloss die Augen und legte sich zurück. Der Wunsch zu sterben stahl sich wie ein Dieb in ihre Seele. Sie wehrte ihn nicht ab. Sein Besuch war ihr willkommen.

Die leeren Wasserfässer ragten wie Zeichen des Hohns vor ihnen auf. Es gab keinen Grund mehr, sie zu bewachen.

Stattdessen hatten die Soldaten aus Überresten von Segelleinwand und angespülten Planken behelfsmäßige Zelte errichtet. Anfänglich bauten sie diese noch nach Vorschrift auf und stellten sie in Reih und Glied, doch in dem Maße, in dem ihre Kraft schwand, verließ sie auch ihr Sinn für Ordnung und Disziplin.

Wiebe lag mit aufgesprungenen, blutenden Lippen unter einem aufgespannten Stück Segeltuch. Er war zu schwach, um sich zu bewegen. Nur seine Blicke folgten noch dem Tanz eines schimmernden Wasserbechers, der sich vor seinen Augen auf den Wellen drehte.

Neben Wiebe ließ Mattys Beer seinen Urin in einen Becher tröpfeln und führte ihn dann mit zittrigen Händen zum Mund.

An seiner Kehle sah man die Schluckbewegungen, doch dann spie er die Flüssigkeit aus und schleuderte den Becher fort.

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Würgend und hustend ließ er sich auf den Erdboden sinken und blieb dort zuckend liegen, wie ein gestrandeter Fisch.

Der bullige Steinmetz war auf dem Strand

zusammengebrochen. Ab und zu stemmte er sich noch ein wenig hoch und versuchte, auf die Wellen zuzukriechen. Wiebe erkannte schemenhaft, dass jemand ihm Einhalt gebot.

Es gibt so viele Arten des Sterbens, fuhr es Wiebe durch den Sinn. Man konnte ertrinken, verdursten, am Fieber eingehen, erfrieren, am Rad mit gebrochenen Gliedmaßen enden und in der Schlacht einer Kugel erliegen. Doch einerlei, wie man aus dem Leben schied, ein Sinn lag nie darin, ganz gleich, was die Kirchenmänner behaupteten.

Am besten nimmt man es, wie es kommt, dachte Wiebe. Eine Wahl hat der Mensch ohnehin nicht. Warum sich also dagegen wehren?

Lucretia hatte sich bis unter eine Segelbahn geschleppt, ehe die Kraft sie verließ. Nun lag sie ausgestreckt da, unfähig sich zu rühren. Hie und da, wenn ein Strandkrebs sich raschelnd zwischen den Korallenschalen versteckte oder die Schatten der Seevögel über ihr Gesicht glitten, lief ein Schauer über ihre Glieder. Dann dachte sie flüchtig an jene anderen Geräusche und Schatten auf dem langen Gang der Batavia. Für einen Moment entsann sie sich daraufhin des Grauens, bäumte sich ein wenig auf und glaubte, fauligen Atem zu riechen, so als fielen Leichen über sie her.

»Madame van der Mylen«, hörte Lucretia eine Stimme sagen.

Die Stimme klang freundlich und führte sie zurück nach Amsterdam. Gewiss handelte es sich um eine Dienerin in ihrem Haus an der Heerengracht, die sie am Morgen sanft aus dem Schlummer weckte.

»Madame van der Mylen«, wiederholte die Stimme. »Ich habe Euch etwas zu trinken gebracht.«

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Lucretia spürte Tropfen auf ihren Lippen und öffnete den Mund. Sie trank den winzigen Schluck Wasser, den man ihr in einer Schöpfkelle reichte, und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes. Lucretia runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern, wer er war.

»Ich bin es, Andries«, erklärte der junge Mann.

Der Name sagte Lucretia nichts. Sie schmatzte mit den Lippen, beschwor den Geschmack des Wassers neu herauf. Der junge Mann bettete ihren Kopf fürsorglich auf die Erde zurück.

Lucretia versank wieder in ihrem Alptraum, in dem sie sich seltsam lebloser Hände erwehrte. Andries aber kroch zum Strand, um sich einen Platz zum Sterben zu suchen.

Fünfundzwanzig Grad und sechsunddreißig Minuten südlicher Breite

Gott muss sich vorgenommen haben, meinen Lebensmut zu vernichten, dachte Francois. Er will mich nicht einfach nur strafen, sondern er unternimmt regelrecht einen Kreuzzug gegen mich.

Über die dünne Mondsichel rasten dunkle Wolken. Die Flut hatte eingesetzt. Von Nordwesten fegten Sturmböen über das Meer, die schwere Brecher über das Langboot peitschten und seine Insassen unter sich begruben.

Der Skipper hatte die Segel einholen und den Bug auf das offene Meer richten lassen. Trotz des heulenden Sturms stand er hochaufgerichtet da, trieb die Männer an und brüllte ihnen zu, sich ins Zeug zu legen.

Francois war einmal schwankend aufgestanden, um Jacobs zuzurufen, das sei der helle Wahnsinn, sie müssten andersherum steuern, die sichere Insel aufsuchen und nicht das uferlose Meer.

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Als Erwiderung hatte der Kapitän geschrien, wenn er mit der Brandung gegen die Klippen geschleudert werden wolle, sei ihm das recht, er möge in dem Fall einfach nur springen.

Francois ließ sich kleinlaut auf seinen Sitz zurückfallen. Jedes Mal, wenn eine Welle über ihn geschwappt war, holte er keuchend Luft. Er sah, dass sich das Boot bedrohlich mit Wasser füllte, und nach einer Weile begann er, den Matrosen zu helfen, es mit Bechern und Näpfen aufzuschöpfen. Wen interessiert noch, ob mein Rang dergleichen erlaubt? fragte er sich stumpf. Alles ist vorüber, die Regeln gelten nicht mehr.

Es war ein Sturm, wie Francois ihn noch nie erlebt hatte. Die See und der Himmel hatten sich verbündet und waren zu einem einzigen Feind geworden, der ringsum tobte und ihnen mit undurchdringlicher Schwärze die Sicht nahm.

Das Beiboot, das sie im Schlepp mit sich führten, war bis an den Rand voll Wasser gelaufen. Es zog das Langboot wie ein Anker nach unten.

»Kappt das Tau!«, schrie der Skipper durch den tosenden Wind.

Halfwaack machte Anstalten zu gehorchen, hielt jedoch im letzten Moment inne.

»Du sollst das verdammte Tau durchtrennen!«, brüllte Jacobs noch einmal.

Halfwaack hieb seine Axt in den dicken Verbindungsstrang.

Das kleine Boot drehte sich ein-, zweimal im Kreis, und danach war es verschwunden, vom Meer verschluckt.

Der Wasserpegel im Langboot kletterte trotzdem weiter in die Höhe.

»Die Wasserfässer über Bord!«, schrie Jacobs.

Francois richtete sich abermals auf. »Was soll das?«, rief er erschrocken.

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»Wir sind zu viele. Das Boot ist zu schwer!«, brüllte der Kapitän. »Der Ballast geht über Bord. Entweder der oder wir.«

Francois klammerte sich an der Bordwand fest und sah zu, wie ihre Vorräte kurz darauf auf den aufgewühlten Wellen forttrieben.

Dann setzte der Regen ein.

In den niederprasselnden Fluten legten sie die Köpfe in den Nacken, öffneten die Münder, streckten die Zungen dem Nass entgegen und leckten gierig nach mehr.

Großer, allmächtiger Gott, betete Francois, lass es auch auf der Insel regnen! Gib den Menschen dort genug Wasser, damit sie überleben.

Als er seinen ersten Durst gestillt hatte, ließ Francois sich auf den Boden sinken und betrachtete den Kapitän. Wie eine Statue saß dieser nun am Heck, die Augen auf den Wellengang gerichtet, die Hand an der Ruderpinne, die Nase im eisigen Wind. Er hat sich nicht für einen Augenblick gefürchtet, erkannte Francois. Jacobs mochte ein Maulheld sein, ein grobschlächtiger Flegel, doch alles, was recht war, ein Angsthase war er nicht. Auch in einer

nahezu aussichtslosen Lage wie dieser behielt er seinen Mut, stemmte sich gegen den Sturm und die See und kämpfte wie ein Löwe. Selbst nachdem er das beste Schiff der Gesellschaft - ach was, das beste Schiff der Welt! - in den Untergang gesteuert hatte, blieb sein Selbstvertrauen unangefochten. Die Schuld an unserem Unglück wird er zwangsläufig anderen in die Schuhe schieben, überlegte Francois, denn den Gedanken, versagt zu haben, erträgt so jemand nicht, dafür ist er zu unbeugsam, zu stolz.

Francois nahm sich vor, diesen Umstand niemals zu vergessen, vor allem nicht in Java vor dem Gouverneur. Er zog seinen Umhang enger um sich. Dann rollte er sich auf dem Boden zusammen. Er spürte das Fieber in sich wüten. Soll

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Jacobs doch kämpfen, wenn er sich so gut darauf versteht, dachte er. Er, Francois, konnte nichts mehr tun, er wollte nur noch schlafen, im Nichts versinken, vergessen.

Auf dem Friedhof

Anfänglich glaubte Judith, sie würde von der Gischt besprüht, doch dann platschte ein dicker, schwerer Tropfen auf ihre Wange. Sie öffnete die Augen. Über ihr hing noch immer derselbe bleierne Himmel wie zuvor. Gleich darauf spürte sie die nächsten Tropfen. Sie vernahm das leise Stöhnen, das sich ihrer Kehle entrang, und legte den Kopf in den Nacken. Wie von selbst schob sich die Zunge aus ihrem Mund hervor und verharrte ungeduldig zitternd in der Luft.

Ein eiskalter Wind erhob sich, und dann endlich brach der Regen los.

Judith schrie auf. Ein Wunder war geschehen, ganz wie ihr Vater es vorausgesehen hatte. Mit seinem Strafgericht hatte der Herr sie lediglich prüfen wollen, doch nun hatte er ihre Treue erkannt und wollte sie belohnen. Er ließ seine Herde nicht im Stich.

Immer neue graue Regenvorhänge bildeten sich über dem Meer und zogen auf die Insel zu, wo sie sich in Sturzbächen ergossen. Die Vertiefungen in den Felsen füllten sich mit Wasser. Auf dem Friedhof sah es aus, als erhöben sich Tote aus ihren Gräbern. Menschen, die gerade noch reglose Hügel gewesen waren, richteten sich auf, kamen taumelnd auf die Beine und irrten mit ausgestreckten Armen umher. Dann boten sie ihr Gesicht dem Himmel dar und begannen zu schmatzen und zu lecken, bis sie schließlich die Hände zu Kuhlen formten und das Wasser daraus schlürften.

Die Soldaten waren die Ersten, die umsichtig reagierten.

Nachdem sie ihren ersten Durst gestillt hatten, hielten sie die

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Segeltücher wie Trichter auf und leiteten die Wasserbäche in die Fässer.

Judith krabbelte auf allen vieren über die Felsen und schleckte an den frisch entstandenen Pfützen. Sie erkannte ihre Mutter, die das Gleiche tat, und ihren Vater, der abwechselnd betete und trank.

Judith riss sich ihre Haube vom Kopf, wrang sie aus und ließ sich auch dieses Nass in die Kehle rinnen. Sie hatte zu weinen begonnen. Wie kostbar das Leben wird, dachte sie, wenn man Angst hat, es würde einem genommen!

Auf dem Wrack

Jeronimus hatte die Kajüte des Kommandeurs verlassen und war Stück für Stück vorwärtsgeschlichen, um nach dem Verbleib der anderen zu forschen. Doch als der Sturm losbrach, der Wind gegen die Schiffswand donnerte und sich ein schwerer Brecher nach dem anderen über die Bordwand ergoss, flüchtete er sich in den Stauraum unter dem Bug. Dort zog er ein Stück Segelleinwand über sich und hielt sich die Ohren zu, um dem Tosen und Brausen zu entrinnen. Doch der Geruch nach Salz und Tang zwang sich wie eine Schraube um seine Brust.

In den vergangenen Tagen hatte Jeronimus mitbekommen, dass die Zahl der Menschen auf dem Wrack stetig kleiner geworden war. Der Grund dafür war ihm klar. Sie sprangen über Bord und versuchten, schwimmend die Insel zu erreichen.

Einmal hatte Jeronimus sich ermannt und von der Kajüte des Kommandeurs aus durchs Fenster gelinst. Dabei hatte er einige von ihnen untergehen sehen. Er entsann sich noch der gellenden Hilferufe des dicken Marschalls, den die Kraft bereits nach wenigen Stößen verließ, woraufhin er noch einmal verzweifelt um sich schlug, ehe er versank.

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Van Huyssen und der Jonker van Os waren gemeinsam über Bord gesprungen und hatten sich an einem umhertreibenden Balken festgehalten. Etliche hatten es ihnen nachgetan, waren entweder allein oder zu zweit auf treibende Holzteile zugekrault und entfernten sich Wasser tretend.

Zu trinken und zu essen hatte Jeronimus nichts mehr. Ihm war auch bewusst, dass weder der Kommandeur noch der Kapitän zurückkommen würden, um ihn zu holen. Was Jacobs betraf, wunderte es Jeronimus nicht. Zum einen hatte er ihm nie getraut und zum anderen wäre er selbst nicht anders verfahren.

Vermutlich hatte Jacobs dem Kommandeur inzwischen die Kehle durchgeschnitten und segelte in Richtung Molukken.

Vom Kommandeur kam Jeronimus sich indes verraten vor.

Der Mann hatte kein Recht, seinen Unterkaufmann zurückzulassen. Im Geist sah er sich auf dem Überrest der Batavia hocken, bis der Tod nach ihm griff und ihn mit sich in sein Schattenreich zog.

Jeronimus kroch tiefer in sich hinein und weinte vor Wut und Furcht.

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XV

Ist es nicht eigentümlich, dass die Menschen so wenig Vertrauen in ihren Glauben haben, wenn es hart auf hart kommt?

Nehmen wir einmal an, ein Mensch glaubt, nach dem Ende seines Lebens erwarte ihn ein liebender Gott mit seinen himmlischen Heerscharen an der Pforte des Paradieses. Warum, frage ich Sie, klammert er sich dann derart verzweifelt an sein Leben, wenn es im Vergleich zu dem, was danach folgt, doch nur armselig ist?

Oder nehmen wir Jeronimus! Er war doch von seinem erhabenen Schicksal überzeugt, oder etwa nicht? Warum also beutelt ihn der Kleinmut, sobald er auf ein Hindernis trifft?

Ich gebe zu, dass Jeronimus mich ein wenig enttäuscht. Wie kann er denken, ich gäbe ihn auf, nachdem ich ihn so weit kommen ließ und noch so vieles mit ihm plane?

Ich könnte ihn beruhigen. Ich bin mit ihm noch längst nicht fertig.

Auf dem Wrack

An diesem Tag war das Meer so ruhig wie ein stiller See. Der blaue Himmel spiegelte sich in den glatten Wellen, die sich sanft um das Wrack kräuselten. Jeronimus schob sich langsam aus seinem Unterschlupf hervor und spähte aufmerksam nach allen Seiten.

Die gesplitterten Masten und das Gewirr der Taue und Leinen war nach wie vor vorhanden, doch das furchtbare Kratzen und Schaben des Kiels war verstummt. Die Bohlen und Planken des

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Schiffes ächzten nur noch leise. Die gestrandete Batavia lag verlassen da.

Über Jeronimus segelte eine einsame Möwe hinweg und stieß einen heiseren Schrei aus.

»Ist da jemand?«, rief Jeronimus. »Ich bin es! Der Unterkaufmann.«

Es war in der Tat noch jemand da. Ein Matrose. Er lag bäuchlings auf dem Deck, halb unter dem umgestürzten Mast begraben. Seine Glieder standen seltsam verdreht von ihm ab, und um seinen Kopf hatte sich eine dunkle Lache ausgebreitet, die getrocknet war und nun verklumpte.

Jeronimus hielt sich an der Reling fest und hangelte sich über das schräg stehende Deck weiter vor. Es sah aus, als taste er sich an einem steilen Hang entlang. Dann vernahm er ein raschelndes, knisterndes Geräusch. Es stammte von den Taschenkrebsen, die mittlerweile an Bord gelangt waren. Sie hatten die Augen und einen Teil des Hirns des Toten weggenagt und huschten fort, als Jeronimus sich näherte.

Beim Anblick der leeren Augenhöhlen und des offenen Schädels krampfte sich Jeronimus' Magen zusammen. Der Unterkaufmann presste sich die Hände auf den Leib und gab Würgelaute von sich. Grünliche Galle sickerte ihm aus dem Mund und rann über sein Kinn.

Der Geldtruhen waren noch immer festgezurrt, stellte er kurz darauf fest. Niemand hatte sich an ihnen vergriffen. Das ist unser Lösegeld, ging es ihm durch den Kopf. Damit bezahlen wir später die Fische.

In den Mulden der Segelleinwand, die aufgebauscht in einer Ecke lag, hatte sich Wasser gesammelt. Jeronimus tauchte einen Finger hinein und lutschte ihn ab. Rege nwasser. Er ließ sich auf die Knie nieder und trank wie ein Hund aus seinem Napf.

Nicht weit entfernt ragte ein Fels aus dem Wasser, der sich zwischen dem Wrack und der großen Insel befand. Jeronimus

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beobachtete, wie ein Fass darauf zutrieb. Ich sollte die Gelegenheit nutzen, sagte er sich, am besten jetzt gleich, ohne nachzudenken. Er gab sich einen Ruck. Doch es half nichts. Er schaffte es nicht, die Brüstung loszulassen. Seine Gliedmaßen verweigerten ihm den Dienst.

Wenn ich nicht springe, sterbe ich, überlegte Jeronimus, während er auf seine Finger starrte, die sich widerborstig um den Handlauf schlossen. Lasst los! befahl er ihnen. Ich bin Gottes Auserwählter. Es darf nicht sein, dass ich einsam und verlassen bei einem Toten und lauernden Aasfressern ve rende.

Auf dem Friedhof

Judiths Gefühl der Dankbarkeit war gekommen und gegangen. Bereits wenige Tage nach den Regengüssen plagte sie wieder die Niedergeschlagenheit, die mit langen, schwarzen Krakenarmen nach ihrer Seele griff und ihr Gemüt mit ihrem Gift durchsetzte.

Das hat Gott also für uns vorgesehen, dachte Judith, den Friedhof der Batavia. Ein ödes Koralleneiland, mit dürrem, zerzaustem Gestrüpp, Heimat von Vögeln und kleinem Seegetier.

Wenn die Flut kam, versank der Strand. Dann wurde die Insel von steilen Klippen gesäumt, die sich mit scharfen Zacken und Kanten aus dem Meerboden erhoben.

Ringsum befanden sich weitere Inseln. Ein langgestreckter Felsen war durch einen breiten Kanal von ihnen getrennt, durch den eilig die Strömung trieb und Strudel bildete. Im Norden sah man die Insel liegen, von der der Skipper und der Kommandeur verschwunden waren. Sie wurde Verräterinsel genannt.

Je nach Einfall des Lichts nahmen die umliegenden Inseln das Aussehen einer düsteren Pilzkolonie an und wirkten unheimlich.

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Anneken Hardens war der Überzeugung, es handele sich um eine Geisterwelt, in der böse Mächte ihr Unwesen trieben.

Seit dem großen Regen besaßen sie genügend Wasser.

Infolgedessen hatten die Menschen Mut gefasst, hatten sich an die Arbeit gemacht, versuchten zu überleben. Aus Felsbrocken, Buschwerk und angespültem Holz wurden weitere Hütten und Zelte errichtet, an denen Segeltuchreste als Vordächer dienten.

Am Strand bauten Zimmerleute aus angeschwemmten Planken Flöße zusammen, mit denen sie durch die seichteren Gewässer ruderten, um die umherschwimmenden Fässer und Kisten aufzufischen.

Die Fässer wurden erneut von einer Wache gehütet. Von ihr bekam jeder täglich drei Becher Wasser zugeteilt. Mit diesen Rationen würden sie für eine Weile durchhalten.

Die Sturmtaucher auf der Friedhofsinsel schliefen zwischen den Felsen auf sandigen Flecken. Dort erlegten die Männer sie nachts, wenn sie, vom Fackellicht geblendet, starr und steif auf ihren Nestern hockten. Wenn man sie rupfte und über verkohlten Holzstücken briet, erhielt man einen Bissen zähen, nach Fisch schmeckenden Fleisches. Außer diesen Vögeln nistete in den Sträuchern eine Seeschwalbenart, deren Fleisch zwar ungenießbar war, deren winzige Eier sich jedoch kochen oder schlürfen ließen.

Ob die Anzahl der Vögel stets für alle ausreichen würde, vermochte Judith nicht abzuschätzen, doch so weit dachte zurzeit niemand. Für den Moment waren sie versorgt. Das war ihnen genug.

Judiths Vater versammelte die Menschen allmorgendlich zur Andacht, um sie in ihrem Glauben an Gott zu bestärken. »Der Herr ist mein Hirte«, hörte Judith ihn bisweilen auch für sich murmeln, »mir wird es nicht mangeln.«

Bei derartigen Gelegenheiten lächelte Judith abfällig. Ja, ja, dachte sie dann, und du bewahrst ihn davor, säumig zu werden.

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Ihr Vater hatte gut für sich gesorgt. Er und seine Familie lebten in der größten und besten Unterkunft, wohingegen die Kranken und Verletzten notdürftig unter Sträuchern untergebracht waren.

Zuweilen fragte Judith sich, warum sie ihren Vater nicht an seine Christenpflicht gemahnte und sich erkundigte, was aus seinen strengen Grundsätzen geworden war, deren er sich sonst so gern und ausgiebig bediente. Ihr fehlte jedoch der Mut.

Allerdings stellte sie grübelnd fest, dass ihr Vertrauen in ihren Vater schwand. Dieser Prozess hatte bereits auf der Batavia begonnen, als sie seine Unterwürfigkeit gegenüber van Huyssen erkannte. Später, beim Verlassen der Batavia, hatte seine Brutalität sie abgestoßen. Allein vor der Konsequenz, ihn nämlich als selbstsüchtigen und heuchlerischen Menschen zu brandmarken, scheute Judith noch zurück.

Judith ließ die Blicke über den glatten, blauen Ozean wandern, dessen Wellen den Strand mit zarten Spitzenbändern benetzten.

Der Geruch eines Feuers stieg ihr in die Nase, vermischt mit dem Duft von gebratenem Fisch. Judiths Magen gab knurrende Laute von sich. So wird es bleiben, dachte sie resigniert. Ich werde wie Vieh existieren, entweder Hunger oder Durst leiden, mich abwechselnd vor der eisigen Kälte oder der glühenden Sonne verkriechen und mich fortwährend erbärmlich und elend fühlen. Darüber hinaus wird nichts mehr geschehen. Das wird mein Leben sein.

Judiths Blick glitt zur Batavia hinüber. Dort gab es kein Lebenszeichen mehr. Während des vergangenen Sturms hatte das Wrack sich weiter zur Seite geneigt und war inzwischen fast gänzlich unter der Wasseroberfläche verschwunden.

»Judith«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Judith fuhr herum.

Conrad. Er hatte überlebt!

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Conrads Äußeres hatte ein wenig gelitten, fand sie. Seine blasse Haut wies wässrige Hitzebläschen auf, seine Lippen waren rau, und auf seinem feinen Umhang malten sich hässliche weiße Salzränder ab. Sein Haar war indes noch blonder geworden, und auf den hellen Strähnen tanzten kleine goldene Lichter in der Sonne.

»Ich bin sehr froh, Euch wohlbehalten anzutreffen«, begrüßte Conrad sie.

Sein Lächeln strömte Judith wie Lava durch die Glieder. Es war aufreizend und innig zugleich.

Judith schoss die Röte in die Wangen. »Ich freue mich auch, dass Ihr noch lebt«, murmelte sie.

Conrads Lächeln vertiefte sich. Er trat einen Schritt auf sie zu.

Judith blickte ihn wachsam an. Für einen Moment fragte sie sich, ob er sie in die Arme nehmen - und ob sie dann nachgeben und sich an ihn schmiegen würde.

Doch Conrad tat nichts dergleichen. »Welch ein trostloser Ort für ein Wiedersehen«, bemerkte er mit jäher Verdrossenheit.

Sein Lächeln war erloschen.

»Ich dachte, wir würden alle sterben«, gestand Judith leise.

»Etliche Menschen sind tatsächlich verdurstet. Die anderen rettete ein Wunder des Herrn.«

»Wenn der Herr sein Wunder früher vollbracht hätte, wären womöglich noch mehr gerettet worden«, entgegnete Conrad heftig.

Judith hob die Hand, als wolle sie seine Worte abwehren.

»Entschuldigt, Judith«, lenkte er ein. »Gewiss sind nur die Sünder umgekommen.«

Judith betrachtete ihn nachdenklich. Wie leicht ihm die Gotteslästerung über die Lippen geht! wunderte sie sich.

»Mein Vater glaubt, dass seine Gebete notwendig waren, um Gottes Aufmerksamkeit auf uns zu richten.«

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»So wird es gewesen sein.«

Ob er sic h über uns lustig macht? überlegte Judith. Bei Conrads unbewegter Miene fiel es schwer, seine Gedanken zu lesen.

»Euer Vater kann seine Gebete allerdings langsam einstellen«, fuhr Conrad ein wenig gereizt fort. »Ich glaube nicht, dass Gott sich längerfristig für dieses karge Eiland interessiert.«

»O doch«, beharrte Judith. »Mein Vater ist der Ansicht, dass wir bald gerettet werden.«

Conrad zuckte die Achseln. »Irgendwann werden sie wohl auftauchen, um nach uns zu suchen. Immerhin befinden sich die Kisten mit dem Silber noch im Wrack. Der ein oder andere von uns wird diesen Tag womöglich sogar erleben.«

»Warum nicht alle?«, fragte Judith. »Verlasst Ihr Euch denn gar nicht auf den Herrn?«

»Ich finde, dass wir uns bereits lange genug auf ihn verlassen haben. Sehr viel hat uns das nicht eingebracht - oder? Deshalb sollten wir uns zukünftig vielleicht lieber auf uns selbst verlassen.«

»Ihr möchtet mich aus der Fassung bringen, nicht wahr?«

Conrad stutzte. Dann lächelte er spitzbübisch. Seine Blicke glitten von Jud iths Gesicht über ihren Hals zu ihrem Mieder. Als er sah, dass Judith heftiger zu atmen begann, lächelte er triumphierend.

»Du Schöne«, bemerkte Conrad leise. »Du magst mich, nicht wahr?«

Judith nickte gegen ihren Willen.

Conrad führte seine Lippen an Judiths Ohr. »Keine Bange, mein Schatz, wir werden uns bald wieder sehen«, flüsterte er.

Dann wandte er sich um und verschwand.

Judith schaute ihm mit klopfendem Herzen nach.

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Ich mag ihn wirklich, gestand sie sich beklommen ein. Er gefällt mir sogar, wenn er gotteslästerlich spricht.

Lucretia hatte in der Nacht kaum geschlafen. Jedes Mal wenn der Schlaf sie zu übermannen drohte, war sie hochgefahren und hatte sich furchtsam umgeblickt. So verhielt sie sich bereits seit der Nacht des Überfalls. Es war indes nicht allein die Angst vor einem neuerlichen Angriff, die sie beherrschte, sondern sie schreckte auch vor ihren Träumen zurück, dunklen, schweren Träumen, in denen sie diese eine entsetzliche Nacht wieder und wieder durchlebte.

Wenn Lucretia aus solchen Träume n erwachte, begann sie sich zu quälen, indem sie sich vorhielt, sie hätte sich mutiger wehren, hätte entschlossener kämpfen müssen, um das, was man ihr antat, zu verhindern. Dann stiegen ihr auch die Gerüche wieder in die Nase: der stinkende Atem und der Schweiß, das Gemisch aus Kot und Teer.

Seit Beginn der Reise war Lucretia isoliert gewesen, doch mittlerweile fühlte sie sich ausgestoßen. Sie war gezeichnet, wie aussätzig. Sie gehörte nicht mehr dazu. Dabei wusste Lucretia nicht einmal, ob man sie aus Verachtung oder Unbehagen mied.

Doch eigentlich spielte das auch keine Rolle, sagte sie sich. Im Grunde wollte sie ja für sich bleiben und den Blicken der anderen ausweichen, denn der Gedanke, dass ein Mann - dass einer von denen - sie ansah, war ihr unerträglich.

Seit wie vielen Tagen sie sich auf dieser Felseninsel befand, wusste Lucretia nicht. Auch ihr Gefühl für Zeit hatte sie in jener Nacht verloren. Ihr war zudem nicht klar, wann sie zuletzt gegessen hatte, doch Hunger verspürte sie nicht. Wasser trank sie, wenn man es ihr reichte. Ob sie überleben würde, fragte Lucretia sich nie. Sie kam sich vor wie in einem Theaterstück; sie war die traurige Gestalt, wegen der man seufzte und weinte.

Nur gelegentlich, wenn Lucretia einmal den Blick über ihre Umgebung wandern ließ, empfand sie, dass sie in einer heillosen

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Landschaft namens Niemehrland angekommen war. Bisweilen zupfte sie eine der armseligen Blumen aus, die unscheinbare Blüten entfalteten. Sie drehte sie abwesend zwischen den Fingern hin und her, ehe sie ihr wieder entglitten. In dieser Welt gibt es keine Schönheit, ging es Lucretia dann durch den Sinn.

Sie ist erloschen, fort, abgewandert.

Vierundzwanzig Grad und drei Minuten südlicher Breite Eine lang gezogene, schaumbekränzte Woge hob sie empor und rückte sie ein Stückchen weiter auf das Große Südland zu, das wie ein schwarzer Schatten am Horizont lag.

Francois' Herz zuckte und zog sich zusammen. Erregung übermannte ihn. Vielleicht gab es dort in dem Schattenland tatsächlich eine Möglichkeit, Wasser zu finden. Vielleicht schaffte er es danach, den Kapitän zu überreden, zu dem Wrack und der Insel zurückzurudern.

»Seltsam«, begann Halfwaack, indem er seinen Blick auf Jacobs richtete, »wir sind kaum mehr als fünfzig Meilen von der Batavia entfernt.«

Der Kapitän erwiderte nichts.

Francois schaute zu Jacobs hinüber. »Wenn dem so ist«, stichelte er, »ist die Geschichte von den sechshundert Meilen Unsinn gewesen.«

Jacobs zuckte die Achseln.

»Damit wäre endgültig bewiesen, dass Ihr auf das Houtmans Riff aufgelaufen seid«, fuhr Francois unnachgiebig fort.

»Meint Ihr nicht, das Thema wäre erschöpft?«, erwiderte Jacobs kalt.

»Welches war unsere letzte Position?«, wandte Francois sich an Claas Gerritz, der daraufhin Halfwaack fragend anschaute.

»Dreißig Grad«, knurrte dieser. »Nordnordost.«

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»Die Anweisung des Gouverneurs lautete, nicht weiter als tausend Meilen nach Osten zu segeln, ehe wir uns nach Norden wenden«, erklärte Francois. »Ihr seid zu weit vorgedrungen, Jacobs, und deshalb sind wir auf dem Riff gelandet.«

»Das reicht!«, knurrte Jacobs ungehalten. »Ich lasse mich von Euch nicht eines Besseren belehren.«

»Das mag ja sein«, gab Francois zurück, »doch war es auch klug, dieselbe Haltung gegenüber dem Befehl des Gouverneurs einzunehmen?«

»Eines Tages«, hub Jacobs seufzend an, »wenn wir die Entfernung zwischen Osten und Westen so sicher zu messen wissen wie die zwischen Norden und Süden, könnt Ihr die Rolle des Kapitäns übernehmen und die Schiffe höchstpersönlich nach Java steuern, Herr Kommandeur. Bis dahin wäre es schön, Ihr behieltet das, was Ihr denkt, für Euch.«

Halfwaack schüttelte den Kopf und machte hinter Jacobs'

Rücken abfällige Gesten. Die anderen Männer im Boot blieben stumm.

Als der Säugling zu weinen begann, brauste Jacobs auf. »Seht zu, dass Ihr Euer Balg zum Schweigen bringt!«, fuhr er die Mutter an.

Zwaantie berührte besänftigend Jacobs' Knie, woraufhin er sie so grob zur Seite stieß, dass sie aufschrie und um ihr Gleichgewicht rang.

Die Liebe der beiden hat offenbar nicht sehr lang gehalten, dachte Francois hämisch, ehe er sich seiner Liebe zu Lucretia entsann und den Gedanken verjagte, dass auch ihn nicht nur sein Herz getrieben hatte.

Die Gedanken des Kapitäns folgten einer ähnlichen Richtung, selbst wenn der Begriff der Liebe darin nicht vorkam.

Eine Frau ist wie die andere, überlegte er mürrisch. Man ließ sich mit ihnen ein, und schon wurden sie lästig und machten

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Ansprüche geltend. Aber sollten sie ruhig! An ihm hatte sich bislang noch jede die Zähne ausgebissen. Gut, auf dem Schiff hatte Zwaantie ihre Reize gehabt, doch von denen war mittlerweile nicht das Geringste mehr übrig. Ihr Haar war verfilzt und verkrustet, ihr Gesicht verbrannt, die Lippen aufgesprungen - und sie stank. Ab Batavia, beschloss Jacobs, würde Zwaantie zusehen müssen, wie sie sich fürderhin durchschlug.

Er hoffte, sie liebäugelte nicht noch immer mit dem Gedanken, er käme für sie auf und präsentiere sie womöglich dem Gouverneur.

An dieser Stelle schweiften Jacobs' Gedanken ab. Wäre es denn überhaupt angeraten, dass er den Gouverneur besuchte?

grübelte er. Oder wäre es nicht klüger, diesen ehrenwerten Vertreter der Companie von vornherein zu meiden?

Kommt Zeit kommt Rat, sagte Jacobs sich. Erst einmal musste er Java erreichen, denn selbst das war noch längst nicht garantiert. Bis dahin galt es zudem, zu prüfen, wo der Kommandeur mit seiner Meinung stand. Anschließend würde er entscheiden, ob er, Jacobs, in Batavia landete oder sich vorher auf den Molukken absetzte und für eine Weile untertauchte.

Der Kapitän hatte begonnen, nach einem Platz zum Anlegen Ausschau zu halten. Ein leichtes Unterfangen würde das nicht, denn hinter der aufbrandenden Gischt ragten ockerfarbene Felswände auf, denen wabenförmig Riffe vorgelagert waren.

Francois' Hoffnung sank. Kein Mensch kann diese hoch aufschäumenden Wellenkämme überwinden, dachte er, und selbst wenn dieser Teufelskerl Jacobs es schaffte, würden sie anschließend an den Klippen zerschellen. Ein Strand war jedenfalls nirgendwo in Sicht.

Später erhob sich ein stürmischer Wind, der kurz darauf Regenschauer über sie hinwegfegte. Diejenigen, die nicht am Ruder saßen, sammelten den Regen vorsorglich in Bechern auf,

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ehe sie sich frierend in ihren nassen Umhängen verkrochen und mutlos auf die graue Wasserlandschaft stierten.

Francois' Blicke wanderten suchend über die dunklen Felsumrisse, die sich starr und abweisend erhoben. Als die Wolken unversehens aufrissen und die Sonne an einem winzigen Fleck blauen Himmels erschien, bildete sich ein Regenbogen. Er wirkte wie eine Verheißung. Als er verblasste und schließlich erlosch, stöhnte jedermann unwillkürlich auf.

Einzig der Kapitän blieb unbeeindruckt und suchte mit zusammengekniffenen Augen die Küste ab. Nach einer Weile zuckte er mit den Schultern und richtete das Boot auf das Meer zurück, um sich für die Nacht von den Felswänden zu entfernen.

Francois hüllte sich in seinen Umhang ein und taumelte frierend dem Schlaf entgegen. Morgen finden wir einen Hafen und Wasser, dachte er verworren. Morgen haben wir Glück.

Auf dem Friedhof

Die Weinfässer, die aus der Lagune gefischt worden waren, erwiesen sich als zweifelhafte Errungenschaft, denn die Männer machten sich augenblicklich darüber her und waren nach kürzester Zeit betrunken.

In der Nacht hörte Lucretia sie grölen. Sie schauderte vor Entsetzen und vergrub sich tief unter ihren Decken.

Eine Gruppe von Trinkern hatte sich in unmittelbarer Nähe von Lucretias Zelt bei einem Feuer niedergelassen.

Lucretia hörte ihre Zoten und wie sie sich brüllend Heldentaten erzählten, die sich entweder in Kriegen oder in Bordellen abgespielt hatten.

Lucretia presste sich die Hände auf die Ohren, doch die Fetzen des Geschreis drangen dennoch zu ihr hin.

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»... so viel also zu dem großartigen Skipper«, krakeelte einer in der Runde. »Der soll noch mal auftauchen - den bringe ich um...«

»Halt die Klappe, Ryckert! Du hättest an seiner Stelle doch das Gleiche getan.«

»Ich habe die Klappe gehalten, als es drauf ankam. Ihr wisst, wovon die Rede ist. Everts hat gesagt, wir hingen alle mit drin.«

»Dann lass dein Maul auch weiter zu!« Das war die Stimme von Zeevanck. Er hörte sich drohend an.

»Du hast mir gar nichts zu sagen, Schreiberling!«

»Das gilt es noch abzuwarten.«

»Jedenfalls lässt er uns hier verrotten«, maulte die betrunkene Stimme. »Ist mit dem feinen Pinkel abgehauen... Mit dem würden wir die Haie füttern, hat er gesagt... ein Schubs, und der wäre fort... und dann hat er sich mit ihm aus dem Staub gemacht...«

»Offizierspack hält immer zusammen«, schaltete sich ein Dritter ein.

Etliche im Kreis grunzten zustimmend, andere versuchten, beschwichtigend einzugreifen.

Lucretia wagte kaum zu atmen. Hatte Jacobs vorgehabt, Francois zu töten? Und die Seeleute? Hätten sie mitgemacht?

Andererseits, warum zweifelte sie daran? Menschen, die das taten, was man ihr zugefügt hatte, schreckten vor nichts zurück.

»Ihr Schlappschwänze könnt mich mal!«, fuhr die erste Stimme lallend fort. »Wir kratzen hier ab. Wen schert denn noch, wer etwas erfährt?«

»Nehmt ihm die Flasche ab!«, befahl einer.

»Hände weg... Außerdem stimmt das, was ich sage.«

»Der Skipper ist fort, um Hilfe zu holen. Wenn das jemand schaffen kann, dann er.«

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»Träum weiter! Der Skipper macht Pelsaert kalt und sieht zu, dass er die Molukken erreicht. Ich hätte für ihn gebaumelt - und was habe ich nun davon?« Die Stimme wurde weinerlich. »Alle kratzen wir ab... alle.«

»Hör doch endlich auf, drauflos zu schwadronieren, Ryckert!«

»Ihr könnt mich alle mal«, wiederholte der Genannte.

Lucretia hörte, dass sich jemand hochrappelte und sich schlurfend entfernte. Gleich darauf plätscherte ein nicht enden wollender Wasserstrahl in den Sand.

Lucretia kroch bis an den äußersten Rand ihres Zeltes. Die Männer schwatzten und schimpften noch eine Zeit lang vor sich hin, doch dann brachen sie auf und verzogen sich nach und nach.

Ganz in der Nähe begann jemand zu schnarchen. Das wird jener Ryckert sein, dachte Lucretia angewidert. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Dunkelheit und wagte nicht, sich zu bewegen. Bis auf die röchelnden, gurgelnden Schnarchtöne blieb es jedoch still.

Lucretia versuchte, sich all das in Erinnerung zu rufen, was sie über Adriaen Jacobs wusste. Wäre er fähig gewesen, Francois umzubringen? Aber warum? Was hätte er davon gehabt?

Dann wanderten Lucretias Gedanken in eine andere Richtung.

Dieser Ryckert hatte Recht. Niemand würde kommen, um sie zu holen. Nicht einmal Francois. Sie würden auf dieser Insel hilflos darauf warten, dass eines Tages der Tod erschien und sie befreite.

Als der nächste Tag anbrach, kroch Lucretia lautlos zum Zelteingang und lugte hinaus.

Der schna rchende Schläfer war fort.

Später am Tag begannen ein paar Männer, nach Ryckert zu suchen. Zeevanck brummte etwas wie: Ryckert müsse im wirren

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Kopf ins Meer gestolpert und ertrunken sein, was jedoch nicht schade sei, denn auf Säufer wie ihn könne man verzichten.

Auf dem Wrack

Ein kleiner Teil des Vordecks ragte noch aus dem Wasser. Ein aufgedunsener Leichnam trieb vorbei, danach ein Fass und mehrere Planken. Darüber kreisten Seemöwen, den Blick starr auf die Gestalt gerichtet, die unter ihnen lag und sich nicht von der Stelle rührte. Jeronimus zuckte zusammen. Das Vordeck hatte sich bewegt und war abermals um mehrere Fuß gesunken.

Er kroch auf den Bugspriet zu und krallte sich daran fest, schnappte nach Luft und schrie, während seine Beine Wasser traten. Als sein Kopf von einer Welle überspült wurde, dauerte es einen Moment, bis er hustend und schnaubend wieder an die Oberfläche kam.

Dann brach der Bugspriet, und Jeronimus schrie aus Leibeskräften. Verzweifelt schlang er seine Arme um den Überrest und ließ sich treiben. Seine Gedanken waren erloschen.

Er war wie ein Insekt, das an einem Grashalm klebte. Nur einem blinden Instinkt folgend hielt Jeronimus durch, um die Aufgabe seines Schicksals zu erfüllen.

Auf dem Friedhof

In der Nacht hatten Wiebe und Mattys Beer sich aufgemacht, um Sturmtaucher zu jagen. Die Vögel waren leicht zu fangen, denn sie fürchteten das Licht, und wenn sie sich aus ihrer Panik gelöst hatten, flatterten sie wie Hühner umher. Auch die anderen Soldaten gingen zu zweit vor: Einer hielt die Fackel hoch, der andere packte die Tiere mit bloßen Händen, brach ihnen das Genick und warf sie in einen mitgebrachten Sack.

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»Hast du das Geschwätz von Ryckert neulich ernst genommen?«, erkundigte sich Wiebe bei seinem Kameraden.

»Der war doch besoffen«, erwiderte Mattys.

»Es hat mir trotzdem zu denken gegeben. Glaubst du, er war bei dem Überfall auf Frau van der Mylen dabei?«

Mattys schwieg. Wiebe hörte seine Schritte auf den Korallen knirschen.

»Ich hatte den Eindruck, er hat auch von einer Meuterei gefaselt«, fuhr Wiebe nachdenklich fort.

»Tja, den Rest seiner Geschichte erfährt wohl keiner mehr«, bemerkte Mattys grinsend. »Ryckert schweigt jetzt wie ein Grab.«

»Weißt du, was mit ihm geschehen ist?«, erkundigte sich Wiebe.

Mattys überging seine Frage. »Die Sache mit der Meuterei hast du dir nur eingebildet«, erklärte er leichthin. »Wer hätte denn dazu den Mut?«

»Jeder, der dämlich genug ist«, brummte Wiebe.

Er wurde von wildem Flügelschlagen abgelenkt. Ein Sturmtaucher hatte sich in einem Strauch verfangen. Wiebe sprang vor und packte ihn. Für den Augenblick hatte er die Meuterer vergessen.

Als Sussie aufblickte, sah sie Wiebe Hayes vor sich stehen.

An seiner Hand baumelten zwei winzige Vögel, die vom Feuer geschwärzt waren. Sussie schluckte den Speichel herunter, der sich unwillkürlich in ihrem Mund sammelte, und versuchte, nicht gar zu gierig auf die verkohlten Tiere zu starren.

»Ich habe Euch etwas zu essen gebracht«, sagte Wiebe.

»Tryntgen, schau, wer da ist«, forderte Sussie ihre Schwester auf, die neben ihr saß und auf das Meer hinausblickte. Tryntgen zuckte zusammen und fuhr herum. Für einen Moment war

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Hoffnung in ihren Augen aufgeblitzt - sie erlosch jedoch, als sie Wiebe erkannte.

Sussie hatte bereits einen der beiden Vögel ergriffen und machte sich darüber her. Ich bin zum Tier geworden, dachte sie, indem sie das Vogelfleisch verschlang. Der Hunger raubt dem Menschen die Würde, und plötzlich hat man vergessen, wie man sich sittsam benimmt.

Wiebe hatte Tryntgen einen Bissen hingehalten, an dem sie nun teilnahmslos knabberte.

Sussie zerrte das zarte Vogelskelett auseinander und saugte an den Knochen. Zwischendurch leckte sie sich schmatzend die Finger ab. Mit einem Mal hielt sie inne. Sie hatte gemerkt, dass Wiebe sie beobachtete.

»Ich danke Euch«, murmelte Sussie verlegen. »Ihr wart sehr nett.«

Wiebe zuckte die Achseln. »Nicht der Rede wert. Ist ja nur ein kleiner Happen.«

»Ich war unglaublich hungrig«, entschuldigte Sussie sich.

»Ich... ich esse sonst nicht so... unbeherrscht.«

Wiebe ging darüber hinweg. »Kann ich noch etwas für Euch tun?«, fragte er.

Sussie schüttelte stumm den Kopf.

Wiebe blickte in die Runde. »Machen die anderen Männer Euch Kummer?«

Sussie verneinte verwundert, doch erst dann wurde ihr klar, worauf sich seine Frage bezog. Er dachte daran, was Frau van der Mylen zugestoßen war. Die Schuldigen befanden sich gewiss noch unter ihnen.

»Wenn einer von ihnen zudringlich wird«, fuhr Wiebe unterdessen fort, »dann kommt zu mir. Ich werde dafür sorgen, dass Euch nichts geschieht.«

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Wiebes Blick ruhte auf Tryntgen. Sie hielt den gebratenen Vogelleib halb aufgegessen in der Hand. Sussie strengte sich an, ihren Blick davon abzuwenden.

»Es hat sie arg getroffen«, bemerkte Wiebe.

»Ist das ein Wunder?«, gab Sussie zurück. »Ich hätte es verstanden, wenn er mich zurückgelassen hätte. Aber sie ist doch seine Frau!«

»Aus Angst tun die Menschen oftmals schreckliche Dinge«, erklärte Wiebe.

»Hättet Ihr denn auch so gehandelt?«, fragte Sussie.

»Dergleichen weiß man erst, nachdem man in so einer Lage war«, erwiderte Wiebe.

»Ich würde gemeinsam mit meinem Mann sterben wollen.«

Wiebe lächelte. »Das glaube ich Euch sogar, Sussie.«

Sussie erkannte, dass er sie erstmals mit dem Blick bedachte, auf den sie so lang gewartet hatte. Er erfasste nicht nur ihr Gesicht und ihren Körper, sondern schien bis in ihr Inneres zu dringen.

»Vergesst nicht, was ich Euch gesagt habe«, mahnte Wiebe im Fortgehen. »Wenn jemand Ärger macht, sagt Ihr mir Bescheid.«

Ob ich nun sein Schatz geworden bin? fragte Sussie sich, während sie sehnsüchtig seiner kräftigen Gestalt nachblickte.

Am Strand wurden aufgeregte Rufe und Schreie laut. Judith vernahm darunter die Stimme ihres Vaters, die allen herbeizukommen befahl. Sie erhob sich widerstrebend.

Drei Männer waren in die niedrigen Fluten hinausgewatet, streckten die Hände nach einem Stück Strandgut aus und zogen es an Land.

»Das ist ja der Unterkaufmann«, sagte einer von ihnen.

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»Ein Zeichen des Herrn«, verkündete Pfarrer Bastians.

»Demnach gehört er zu den Erwählten.«

Jeronimus begann sich zu regen und spie keuchend Wasser aus Mund und Nase.

Wiebe und Mattys Beer befanden sich unter denen, die sich am Strand versammelt hatten. Judith sah, dass sie Blicke wechselten, in denen sich Erstaunen und Belustigung vermischten.

Der Steinmetz spuckte aus. »Der Teufel lässt die Seinen nicht im Stich«, brummte er.

In diesem Moment rollte Jeronimus sich auf die Seite und erbrach Galle.

»Der Herr sei gepriesen!«, rief Pfarrer Bastians und hob seine gefalteten Hände zum Himmel. »Er hat den Unterkaufmann auserkoren, auf dass er uns aus der Not erlöst.«

Zweiundzwanzig Grad und zweiundvierzig Minuten südlicher Breite

fünfzehnter Tag des Juni im Jahre des Herrn, 1629

Das ist zweifellos der einsamste Ort, den es auf der Welt gibt, dachte Zwaantie. Welch eine glorreiche Idee des Skippers, hier zu landen.

Zwaanties Mund fühlte sich klebrig an, ihre Haut war von getrocknetem Salz wie mit einer Schicht Puderzucker überzogen, und ihr Rock stand steif wie eine Baumrinde ab.

Was gäbe ich nicht für einen Schluck von dem fauligen Wasser und meine harte Pritsche auf der Batavia, seufzte sie bei sich.

Oder für einen Löffel von dem ekelhaften Brei, den der Koch dort zubereitet hat - und was gäbe ich erst recht dafür, Holland niemals verlassen zu haben!

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Die Küste dehnte sich endlos aus und verschwand im Nichts.

Es gab keine Siedlung, keine Bewohner, kein Anzeichen irgendeines Lebewesens.

Zwaantie wandte den Blick ab. Vor ihr lag das endlos weite Meer. Sie schauderte. Die Leere der Landschaft erfasste ihr Gemüt. Sie schlang die Arme um sich und wiegte sich tröstend hin und her.

Der Skipper hatte stolz verkündet, vor ihnen hätte noch kein weißer Mann diesen Boden betreten. Auf dem Südland existiere lediglich Sand, Gestein und Kriechgestrüpp. Richtig, dachte Zwaantie, allerdings wissen wir nun auch, dass es dort Fliegen gibt, und zwar keineswegs die behäbige Sorte, die man in Holland kennt, sondern tückische, angriffslustige Schwärme, die sich in Ohren, Augen und Nasenlöcher setzen und jedes Fitzelchen Haut zerstechen und zerbeißen.

Weit und breit war keine Wasserstelle zu entdecken. Die sandigen Dünen hinter dem Strand gingen in rostfarbene Ebenen über, die sich bis zum Horizont erstreckten. Hier und da waren kleine Erhebungen zu sehen, die sie anfänglich für Hütten von Eingeborenen hielten. Bei näherem Betrachten stellten sie sich indes als riesige Ameisenhügel heraus.

Nachdem sie die Umgebung erkundet hatten, kehrten sie zum Strand zurück. Dort trug der Kommandeur den Männern auf, Gruben auszuheben, in der Hoffnung, Wasserlöcher zu finden.

Nach einer Weile legten sie tatsächlich winzige Lachen frei, doch darin hatte sich Meerwasser gesammelt. Die Männer hatten davon gekostet und es nach einem Schluck ausgespuckt und Gott so bösartig verflucht, das selbst Zwaantie erschrak.

Mit einem Mal wurde wildes Triumphgeschrei laut. Zwaantie blickte sich um und erkannte mehrere Männer, die am Fuß der Kalksteinklippen standen und winkten. Zwaantie eilte mit den anderen zu ihnen hinüber. Im Näherkommen sah sie, dass die Männer auf Tümpel deuteten und sich gleich darauf

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niederließen, um wie Tiere zu trinken. Zwaantie begann zu rennen. Kaum war sie bei dem ersten Tümpel angelangt, kniete sie sich auf den Boden, besprengte sich mit Wasser, tauchte ihr Gesicht in das Nass und öffnete den Mund.

Später entfachten sie aus dürrem Reisig am Strand ein Feuer, in dem sie die Fische brieten, die sie von den Klippen aus geangelt hatten. Der Fang reichte nicht aus, um sie zu sättigen, doch es war besser als nichts.

Zwaantie hörte, dass der Kommandeur abermals bei seinem Lieblingsthema angelangt war. »Hier müssen sich noch weitere Wasserquellen befinden«, erklärte er gerade. »Der Unterkaufmann Jacon Remessens vermutet in seinem Handbuch

»An diesem gottverlassenen Ort gibt es so wenig Wasser, wie es im Kloster Huren gibt«, fiel der Skipper ihm ins Wort. Die Männer begannen zu glucksen, woraufhin der Kommandeur Jacobs einen missbilligenden Blick zuwarf. »Dann gehen die Menschen auf der Insel zugrunde«, murmelte er.

»Gute Güte!«, schnaubte der Kapitän. »Das ist doch lä ngst geschehen. Hört auf, an sie zu denken!«

Als der Kommandeur nichts erwiderte, fuhr Jacobs fort:

»Andererseits dürfte der Sturm auch über der Insel niedergegangen sein. Demnach könnten sie noch für Wochen Wasser haben. In dem Fall ist es erst recht angeraten, nach Batavia zu segeln. Wenn der Wind in Richtung Nordosten dreht, erreichen wir Java in zehn Tagen.«

»Ich würde mich dennoch gern von ihrem Zustand überzeugen«, beharrte der Kommandeur. »Und ich möchte auch wissen, was aus der Fracht geworden ist«, setzte er hinzu.

Der Kapitän verdrehte die Augen und wandte sich ab.

Mach ihn doch einfach fertig, ermunterte Zwaantie ihn stumm. Sieh zu, dass er ein für alle Mal seine Klappe hält. Er erliegt doch ohnehin bald seinem Fieber. Verächtlich blickte sie

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Pelsaert an, der mit hängenden Schultern dastand und zu Boden sah. Welch ein jämmerlicher Wicht! dachte Zwaantie. Was hat Madame Hochnäsig an dem nur gefunden?

Auf dem Friedhof

Als Jeronimus aufsah, erkannte er zwei Gestalten, die sich aus der Dunkelheit lösten und sich neben ihm am Feuer niederließen. Van Huyssen und Zeevanck teilen sich brüderlich vereint eine Flasche Rotwein, stellte er fest. Wer hätte das gedacht?

»Offenbar habt Ihr Euch ein wenig erholt, Jeronimus«, begann van Huyssen.

»Wir hatten große Angst, Ihr wäret tot«, setzte Zeevanck hinzu.

»Welch rührende Sorge«, entgegnete Jeronimus spöttisch.

»Aber ich kann Euch trösten. Ein derart schmähliches Ende hat Gott für mich nicht im Sinn.«

»Wie käme er auch dazu«, murmelte van Huyssen.

Jeronimus musterte ihn prüfend, sagte jedoch nichts.

Zeevanck setzte die Weinflasche an den Mund, trank gierig und stieß auf. Danach blickte er die beiden anderen erwartungsvoll an.

Für eine Weile herrschte gespanntes Schweigen.

»Ich muss fortwährend an das Silber auf der Batavia denken«, ergriff Jeronimus schließlich das Wort. »Es bekümmert mich, dass es für immer auf dem Meeresgrund ruhen soll.«

»Der Kummer hat Euch am Leben gehalten, vermute ich«, sagte van Huyssen grinsend.

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Jeronimus richtete sich auf. »Das reicht«, bemerkte er scharf.

»Wenn der Skipper sein Handwerk besser verstanden hätte, könnten wir uns inzwischen schon auf den Molukken befinden.«

»Ja, schade«, versetzte van Huyssen gleichmütig, »aber stattdessen müssen wir uns vorerst mit dem Houtmans Riff begnüge n.« Jeronimus blickte ihn warnend an.

Zeevanck beugte sich schwerfällig vor. »Hört auf rumzuzanken, van Huyssen!« Er wandte sich an Jeronimus.

»Unser Plan ist entdeckt worden«, erklärte er.

Jeronimus runzelte die Stirn. »Wer hat nicht dichtgehalten?«

»Ryckert«, antwortete van Huyssen. »Er hat sich eines Abends betrunken und von unseren Plänen erzählt. Inzwischen weiß jeder Bescheid.«

»Ryckert war nicht eingeweiht.«

»Er hatte genug mitbekommen, um sich den Rest zusammenzureimen... hat geglaubt, der Skipper hängt mit drin...« Zeevancks Stimme war schleppend geworden.

»Hat er unsere Namen erwähnt?«