Colin Falconer

Zorn der Meere

Roman

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Der Dreimaster Batavia der Ostindien-Kompanie macht sich 1628 mit dreihundert Passagieren an Bord auf den Weg von Holland in die Kolonie Java. Ganze neun Monate soll die Reise dauern, die von Anfang an unter einem schlechten Stern steht. Kapitän Jakobs und Kommandeur Pelsaert sind erbitterte Feinde.

Lucretia van der Mylen, auf dem Weg zu ihrem Ehemann, verdreht den Männern der Besatzung den Kopf. Doch nur die Liebe zu Pelsaert erwidert sie. Beide wissen aber, dass ihre Liebe keine Chance hat.

Trotzdem gönnt ihnen diese zarte Freundschaft niemand. Als die Gelegenheit günstig ist, wird Lucretia brutal überfallen und erleidet unendliche Qualen. Längst denken die Matrosen an Meuterei.

ISBN: 3453187415

Originaltitel: The Kingdom

Aus dem Englischen von Gabriele Weber-Jaric Copyright © 2000 by Colin Falconer

Copyright © 2001 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck

Zu herrschen in der Hölle hier ist mir lieber,

als in dem Himmel nur zu dienen.

John Milton, Das verlorene Paradies (Quelle: Reclam, 1986)

I

Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Der Name tut im Moment nichts zur Sache. Ich bin vermögend, gebildet und eigent lich auch ein Gentleman, obgleich es Stimmen gibt, die Gegenteiliges behaupten.

Ich glaube an Gott. Es wäre auch töricht, das nicht zu tun, denn er hilft mir stets bei meinen Geschäften.

Mein Hauptinteresse gilt jedoch dem Studium der menschlichen Natur - ein Sujet, das mich immer und ewig faszinieren wird. In erster Linie hat es mir dabei das Böse angetan. Nicht die Sünde wohlgemerkt! Sünden sind meist Nichtigkeiten, die sich selten zur Pracht wahrer Finsternis entfalten. Ich meine das Monströse, das Abartige, das, was Sie als obszön bezeichnen würden.

Bitte tun Sie nicht so, als wüssten Sie nicht, wovon ich rede.

Ich war von Anfang an dabei. Ich war schon an Bord, als die Batavia Texel verließ, selbst wenn mein Name nicht auf der Passagierliste erschien, die die feine Companie so säuberlich zusammengetragen hatte.

Ich entsinne mich noch genau meines Gefühls reiner, ungetrübter Vorfreude, als die Matrosen die weißen Segel hissten, die sich aufblähten und donnernd im Wind schlugen.

Ich wurde nicht enttäuscht.

Wundert Sie das?

Nicht doch! Wenn Sie die Menschen nur halb so gut kennen würden wie ich, wüssten Sie, dass die nachfolgenden Ereignisse unumgänglich waren, selbst wenn die braven Holländer später alles taten, um ihr Entsetzen auszudrücken. Wie ihre calvinistischen Pastoren glaubten ja auch sie, Reichtum, Bildung und Frömmigkeit zählten als Beweise für das Gute im

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Menschen, sodass ihnen zuletzt nichts anderes übrig blieb, als mir die Schuld in die Schuhe zu schieben.

Schauen Sie mich an!

Sieht so ein Übeltäter aus? Etwa gar einer von jenen, über die Sie haben munkeln hören?

Doch ich greife vor. Kommen Sie, rücken Sie ein wenig näher! Ich will Ihnen die wahre Geschichte erzählen.

Houtmans Riff

Dreiundvierzig Meilen westlich von Geraldton, Westaustralien Achtundzwanzig Grad und dreißig Minuten südlicher Breite

Der Schädel lag unbedeckt in dem flachen Grab und grinste ihnen aus dem weichen, weißen Sand entgegen - eine dreieinhalb Jahrhunderte alte Grimasse des Todes.

Ein Mann in abgetragenem T-Shirt, auf dem Rücken das ausgeblichene Logo des Fremantle Maritime Museums, hockte neben dem Grab und entfernte mit einem Pinsel den Sand. Die Grube war etwa einen Meter tief. Sorgsam war sie mit Hilfe von Spateln ausgehoben, die Sandschichten Zentimeter für Zentimeter abgetragen worden.

Ein Gitternetz aus Schnüren markierte die Grabstätte. Sie war mit verschlungenen Baumwurzeln und Nestern von Sturmtauchern durchsetzt, was die Ausgrabungen erschwerte.

Zwei Pathologen begleiteten die Expedition, eine Frau und ein Mann. Die Frau trug Handschuhe aus Latex. Sie bückte sich, um einen bereits freigelegten Schädel zu untersuchen, und blies mit einem Strohhalm den Sand aus seinen Knochenhöhlen. Einer der Archäologen beugte sich zu ihr hinab.

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»Weiblich«, teilte sie ihm mit. »Noch sehr jung, nach den Zähnen zu schließen, zum Zeitpunkt des Todes nicht älter als sechs oder sieben.« Sie runzelte die Stirn. »Schauen Sie, dieser Zahn hier ist eingedrückt worden, womöglich durch einen Hieb.

Die Folge davon werden entsetzliche Schmerzen gewesen sein, getötet hat sie das jedoch nicht.« Sie warf einen Blick auf den Rest des Skeletts. »An ihren Armen befinden sich keinerlei Merkmale, die auf Gegenwehr deuten, daher gehe ich davon aus, dass sie gefesselt war, als sie starb. Der Schädel ist noch intakt, ohne erkennbare Frakturen. Schwer zu sagen, was sie umgebracht hat. Gewebeverletzungen hinterlassen ja bekanntlich keine Spuren. Ich hoffe nur, es ging schnell.«

Bis auf das Summen der Fliegen und das Getöse, mit dem die Brandung gegen das Riff klatschte, war für eine Weile nichts mehr zu vernehmen. Das kleine, baumlose Eiland mit den Fischerhütten und Vogelkolonien hatte sich als Massengrab herausgestellt. Bereits acht Skelette hatten sie bisher entdeckt, drei Erwachsene und fünf Kinder. In einem Fall schien der Tod durch den Schuss einer Muskete ausgelöst worden zu sein. In dem nächsten Schädel klaffte eine Lücke, die womöglich durch einen Schlag mit der Axt herbeigeführt worden war. Die Mienen der fünf Männer und drei Frauen, die zu der Gruppe der Archäologen gehörten, wirkten bedrückt. Jeder von ihnen versuchte, sich auf seine Art die Verbrechen vorzustellen, die hier vor langer Zeit begangen worden waren.

Der Schädel im Sand grinste sie an.

Das kleine Mädchen wusste, was geschehen war. Wer immer es auch gewesen sein mochte - es hätte sich an alles erinnert.

Es hätte sich daran erinnert, wie es mit sieben Jahren durch die Kirche von Amsterdam rannte und daran, dass seine Mutter es ausschalt, weil es die Predigt von Pfarrer Bastians störte, der in seinem schwarzen Gewand gegen das Böse in der Welt wetterte.

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Es würde nicht mehr lang dauern, verkündete er, da würde er auf der Batavia zu ihrer Kolonie in Ostindien segeln, um dort dem Herrn und seinem Wort zu dienen. Anschließend warnte er die Gemeinde vor den Fallstricken des Teufels, die dieser in seiner Abwesenheit auslegen würde, um sie ins Verderben zu locken.

Doch der Teufel schien an jenem schönen Amsterdamer Sonntagmorgen, an dem sich die hellen Sonnenstrahlen in den bunten Kirchenfenstern brachen, meilenweit entfernt zu sein.

Waren sie denn nicht alle gottesfürchtige holländische Calvinisten, Auserwählte des Herrn, die das gestrenge Leben der Gerechten führten? Predigte der Herr Pfarrer denn das nicht gerade? Sagte er nicht, dass die göttliche Vergeltung allein auf die Voller, die Schwelger und die Wollüstigen zielte?

Schädel, Stundenglas und Kerze.

Jeronimus vertiefte sich für lange Zeit in den Anblick dieser Gegenstände, ehe er seine Feder in die Tinte eintauchte und in sein Tagebuch zu schreiben begann:

»Der Mensch spricht von gut und böse, als könne man sein Verhalten wie Metalle scheiden, in nieder oder edel. Das ist falsch. Darüber hinaus ist es ein Trugschluss, der eine Folge von Irrtümern zeitigt.

Wenn es wahr ist, dass jede unserer Regungen Gottes Willen entspringt, also einem Wesen entstammt, das gut und gerecht ist, dann kann das, was der Mensch tut, niemals schlecht oder unrecht sein.

Es gibt nur ein Maß, an dem sich ablesen lässt, ob die Menschen stark sind oder schwach, ob sie die Kraft besitzen, Gottes Willen auszuführen, oder...«

Als unten an das Portal geklopft wurde, schreckte Jeronimus auf. Aus seiner Federspitze tropfte ein schwarzer Fleck auf das Papier. Er erhob sich, trat ans Fenster und spähte hinunter in die Gasse.

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»Jeronimus! Mach auf!«

Jeronimus eilte die Treppe hinab, zerrte seinen Besucher in den Hausflur und sperrte das Tor von innen zu.

Drinnen nahm sein Besucher vor dem Kaminfeuer Platz und rieb sich die Hände, teils aus Furcht, teils auch der Kälte wegen.

Jeronimus fü llte zwei Zinnbecher mit Wein.

»Bringst du eine schlechte Nachricht?«

Der Gast schüttelte den Kopf. »Selbst unter der Folter konnten sie ihn nicht brechen. Nicht ein Name ist über seine Lippen gekommen.«

»Gott sei's gelobt und gedankt«, flüsterte Jeronimus.

»Er besitzt noch Freunde bei den Engländern. Man sagt, dass er verbannt werden wird.«

Jeronimus starrte in die Flammen. Die Hälfte seines Gesichtes lag im Schatten verborgen.

»Vielleicht wäre es klug, wenn du Amsterdam für eine Weile verlassen würdest.«

»Soll mir Recht sein«, schnaubte Jeronimus verächtlich. »Ich bin dieser Frömmler längst überdrüssig geworden.«

»Hast du Pläne gemacht?«

Jeronimus nickte. »Ja, ich habe Pläne gemacht.«

Amsterdam

siebenundzwanzigster Tag des Oktober im Jahre des Herrn, 1628

Die Batavia lag vor der friesischen Insel Texel vertäut. Ein prachtvolleres und teureres Retourschiff als sie hatte es in Holland nie gegeben.

Vom Heck bis zum Schiffsschnabel maß die Batavia fünfzig Schritt, und noch einmal hundertfünfzig Schritt vom Kiel bis zur

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Spitze des Großmasts hinauf. Ihre Spanten und Planken entstammten bestem baltischem Eichenholz und waren von den geschicktesten Amsterdamer Schiffszimmerleuten gedrechselt und geschliffen worden. Ihr Schanzkleid war mit grünen und goldenen Streifen und Malereien versehen, und die festen, dicken Leinwände der Segel ragten leuchtend weiß in die Luft.

Die Galionsfiguren, der Schmuck und die Ornamente des Schiffes bestanden aus schön geschnitzten Meerjungfrauen, Meergöttern und Ungeheuern zum Bann böser Geister, aber auch aus den ehrwürdigen Abbildern alter Krieger, wie dem des legendären Claudius Civilis, der den Aufstand gegen das Römische Reich angeführt hatte und von dem die Holländer ihre Herkunft ableiteten. Weitere Schnitzereien schmückten die schneckenförmigen Gewinde um den Pfeilerkopf, der sich am Bug zu Hollands rotgoldenem Löwen erhob.

Die Batavia war zweifellos das Juwel der VOC, der Vereinigten Ostindischen Companie von Holland, deren blaue Flagge ungeduldig im steifen Nordseewind flatterte.

Lucretia van der Mylen war es gewohnt, dass die Männer sie anstarrten. Sie wusste, dass ihre Schönheit wie ein Edelstein war, der bei dem Betrachter den Wunsch auslöste, ihn zu besitzen.

Ihr Mann hatte darauf bestanden, dass sie für ihre Reise eine Dienstmagd anwarb. Das war der zweite Vorzug, der sie von den anderen unterschied. Gewiss, dachte sie, würde man ihr auch diesen Umstand neiden.

Lucretia hatte sich erzählen lassen, dass dort, wo sie hinsegelten, die Welt aus ungeahnten Wundern bestünde und durchtränkt sei vom schweren Geruch fremder Düfte und Gewürze. Doch keine dieser Schilderungen hatte sie zu trösten vermocht. Sie wusste um die Beschwerlichkeit der Reise, die langen, eintönigen Monate an Bord, das beengte Zusammensein mit fremden Menschen, die Belästigungen seitens der Männer

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und die Missgunst, die im Herzen der Frauen entstand. Sie hatte jedoch keine Wahl gehabt: Ihr Mann hatte sie zu sich gerufen, und als Ehefrau hatte sie sich seinem Wunsch zu fügen.

Schau an, das ist also Lucretia van der Mylen, dachte Kapitän Jacobs.

In der Tat ein Prachtweib, musste er zugeben. Pechschwarzes, glänzendes Haar und die Haut in der Farbe des Bernsteins - da waren offenbar auch einige Tropfen spanischen Blutes untergemischt.

Die Seeleute glotzten bereits und schluckten heftig. Sie mussten den Schlag verkraften, eine Frau zu begehren, die nicht zu haben war.

Nun, diese Dame war zweifellos keine beliebige Dirne, denn eine solche erkannte der Kapitän gewöhnlich an der Art, wie sie ging- Nein, Lucretia van der Mylen überquerte das Deck mit der natürlichen Unbefangenheit einer Frau, die sorglos auszuschreiten gewohnt war und längst wusste, dass andere sich um ihr Wohlsein bemühten.

Der Kapitän ließ seinen Kennerblick zu Lucretias Brüsten und ihrem Hinterteil wandern, die unter dem bauschigen Rock und der hochgeschlossenen Jacke nicht ohne weiteres auszumachen waren. Wohl gerundet und voll, stellte er dennoch zufrieden fest. Verführerisch und reizvoll genug, dass man sich über das Schiffsgesetz hinwegsetzen könnte. Neun Monate an Bord waren eine lange Zeit!

Es gab alte Seebären, die behaupteten, eine schöne Frau an Bord bringe Unglück und rufe im Mann den Teufel hervor.

Unfug, dachte der Skipper, als ob da Glück oder Pech eine Rolle spielten! Das war nichts weiter als ein einfaches Rechenexempel: Wenn mehr als dreihundert Mann an Bord mit ein und derselben Frau anbandeln wollten, gab es irgendwann zwangsläufig Ärger. Für einen Moment fragte Jacobs sich, ob er die Liste verkürzen und die Zahl der Bewerber auf seine Person

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beschränken sollte. Vielleicht würde Madame ihm hinterher zweifach dankbar sein.

Besser wäre es gewesen, überlegte Pfarrer Bastians, wenn der Herr in seiner unendlichen Güte und Weisheit ihm eine hässliche Tochter geschenkt hätte. Den Pfarrer beunruhigten die lüsternen Blicke, die seine Judith auf sich zog. Welch ein roher, gottloser Haufen sich da vor ihnen tummelte! Seeleute und niederes Gesindel, das man für ein paar Groschen in den Spelunken und Freudenhäusern des Hafens aufgelesen hatte.

Wenn der Mensch im Herzen sündigt, so stand es im guten Buch der Bibel geschrieben, ist es, als habe er die Tat bereits im Fleische getan. Pfarrer Bastians wollte gar nicht wissen, mit welchen Taten diese wüsten Gesellen seine Judith bereits besudelt hatten.

Mit grimmigen Blicken nach allen Seiten scheuchte er seine Frau und die Kinder unter Deck.

An einem trüben Oktobertag verließen sie Holland. Unter schweren Wolken wogte die Nordsee stürmisch und unfreundlich bis hin zum grauen Dunst des Horizonts.

Die Batavia segelte ganz vorn, an der Spitze der Flotte, mit geblähten Segeln und unter der rot-weiß-blauen Fahne von Holland, die der Wind peitschte. An Bord befanden sich dreihundertsechsundzwanzig Seelen, im Laderaum türmten sich Käselaibe, Weinfässer, Kisten mit Zwieback, Trockenpflaumen und Pökelfleisch - und, wie es hieß, auch Truhen mit kostbaren Schätzen an Silber.

Die Batavia wurde von den Retourschiffen Zandaam und Galias begleitet, von den kleineren Schonern Assendelft, Dordrecht und Cleenen David, und von dem bewaffneten Kriegsschiff Buren.

Doch das Flaggschiff war und blieb die Batavia, vor deren feuerrotem Bugschnabel das Wasser aufgischtete und der Löwe Hollands vor dem Meer die Zähne fletschte.

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Sie hatte den Kurs auf Ostindien gesetzt, mitten hinein in das Herz der Finsternis.

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II

Eine Frau ist doch ein entzückendes Spielzeug, finden Sie nicht? Sie ist nämlich das ideale Instrument, um Wirrwarr und Unheil anzurichten.

Wie ich ihren Schöpfer kenne, dürfte er am Tag ihrer Erschaffung übermütiger Laune gewesen sein, denn kurz darauf ließ er mich dafür sorgen, dass der Mann dieses Spielzeug begehrt.

Den Rest erledigten die Menschen selbst.

Menschen wie die Holländer, die die Treue zum Gesetz erhoben und ihren Männern jeweils nur ein Spielzeug gestatteten.

Was daraus folgte, dürfen Sie sich in etwa so vorstellen: Setzen Sie einen Mann im obersten Stockwerk eines brennenden Hauses fest. Was glauben Sie, wird er tun? Nun, als Erstes stürzt er natürlich zum Fenster, um hinauszuspringen. Dabei würde sein Körper jedoch elendig zerschellen. Er wendet sich also um -

und blickt mitten hinein in das lodernde Höllenmeer.

Er kann dann natürlich noch für eine Weile kopflos hin und her hetzen, doch eines ist gewiss: Er sitzt in der Falle seines Lebens.

Lustig, nicht wahr?

In dieser Geschichte haben wir es nun mit einem ganz besonderen Gottesgeschöpf zu tun. Spanisches Blut, olivfarbener Teint, das Haar rabenschwarz und glänzend. Dazu kommen Männer, die wissen, dass sie in ihrem ganzen Leben nicht einmal das Wort an diese Erscheinung richten dürfen, ganz zu schweigen von anderen Dingen. Sie hängen im Tauwerk der Batavia und malen sich aus, was sich unter dem Samtkleid der schönen Dame verbirgt. Warum auch nicht? Lassen wir ihnen doch den Spaß! Nutzen wird es ihnen nichts.

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Im Moment empfinden sie das allerdings noch nicht als tragisch. Sie kommen ja gerade erst frisch aus den Bordellen. Es wird noch ein, zwei Tage dauern, bis sie erneut in Stimmung sind.

Wir werden uns so lange gedulden.

Um das Süppchen hübsch zum Köcheln zu bringen, möchte ich ohnehin noch ein paar Scheite nachlegen.

Zweiundfünfzig Grad und achtundzwanzig Minuten nördlicher Breite

achtundzwanzigster Tag des Oktober im Jahre des Herrn, 1628

In der Offiziersmesse befand sich der Platz des Kommandeurs an der Stirnseit e der Tafel. Während der Mahlzeiten saßen Lucretia zu seiner Linken und sein Stellvertreter, der Unterkaufmann Jeronimus Cornelius, zu seiner Rechten. Pfarrer Bastians, seine Frau und Angestellte der Companie teilten sich die restlichen Plätze mit den Jonkers, jungen holländischen Edelleuten, die von ihren Familien ausgesandt wurden, damit sie als Kadetten erste Erfahrungen in der Seefahrt und den Geschäften des Ostindienhandels erwarben.

Unter Letzteren war nur einer, der Lucretia bisher aufgefallen war: Conrad van Huyssen, ein schlanker, beinahe schön zu nennender Mann, mit einem Anflug von Verworfenheit um den Mund. Sein Lachen klang stets verächtlich, und bisweilen kam es dabei vor, dass ein Schauder Lucretia überlief.

Der einzige Mensch, in dessen Gesellschaft sich Lucretia wohlfühlte, war Francois Pelsaert, der Kommandeur. Er machte einen ruhigen, besonnenen Eindruck, war zurückhaltend und besaß dennoch Augen, denen nichts entging. Sein langes schwarzes Haar fiel in einer hübschen Welle über seinen weißen

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Spitzenkragen, sein Bart war gepflegt und ordentlich, seine Gesichtszüge bezeugten seine Intelligenz. Lucretia hatte gehört, dass er ein Mann von Bildung war, und sie wusste, dass er es in der VOC im Laufe von nur zehn Jahren vom

Kaufmannsgehilfen bis zu seiner derzeitigen Stellung als Flottenpräsident geschafft hatte. Und das, obwohl er noch nicht einmal fünfunddreißig Jahre alt war. Lucretia hatte auch erfahren, dass es sich bei seinem Schwager um Hendrick Brouwer handelte, einen vormaligen Admiral und gegenwärtigen Mitglied der 17 Herren, dem Direktorium der VOC.

Vom anderen Ende der Tafel spürte Lucretia die Blicke des Kapitäns auf sich haften. Sie wandte den Kopf zu ihm um und erntete ein anzügliches Grinsen. Fast unmerklich hob sie die Brauen und dachte bei sich: Er ist wie stets reichlich zudringlich, der Herr Skipper. Die meisten Männer wagten es aus Respekt vor ihrem Rang und Ehestatus nicht, sie offen anzustarren, doch Kapitän Jacobs kannte diese Regel entweder nicht oder er setzte sich einfach darüber hinweg. Ob er tatsächlich annahm, sie interessiere sich für einen Mann, dessen Tischmanieren erbärmlich waren und dessen Konversation sich in der Beschreibung von Meeresströmungen und Windrichtungen erschöpfte?

»Madame«, begann der Kapitän nun, indem er Lucretia erstmals direkt ansprach, »würdet Ihr mir vielleicht ein Rätsel lösen? Könnt Ihr mir sagen, was eine so schöne Frau wie Euch in eine derart finstere Gegend wie Batavia verschlägt?«

Lucretia runzelte die Stirn. »Mein Mann lebt dort«, erwiderte sie knapp.

»Ach ja? Nun, das ist interessant! Und womit beschäftigt sich der Herr Gemahl dort unten?«

»Er handelt mit Edelsteinen.«

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Auf Jacobs' Miene zeigte sich ein Anflug von Spott. »Ich hoffe, das ist nicht alles, was er kann«, sagte er schmunzelnd.

Lucretia warf einen etwas pikierten Blick in die Runde.

»Ihr solltet Euch zurückhalten, Kapitän«, ertönte eisig die Stimme des Kommandeurs.

Jacobs schoss die Hitze in die Wangen, und seine Hände ballten sich zu Fäusten.

Lucretia blickte zwischen dem Kapitän und dem Kommandeur hin und her. Das nimmt kein gutes Ende, dachte sie. Die beiden können sich offenkundig nicht leiden.

»Ich bitte Euch«, griff sie beschwichtigend ein. »Ich habe keinerlei Anstoß genommen.«

Die beiden Männer starrten sich über die Tafel hinweg weiterhin wortlos an, wie zwei Hunde, die sich umkreisen.

Es war der Unterkaufmann Jeronimus Cornelius, der die Situation rettete. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte, als habe er gerade einen Scherz vernommen. Sein Lächeln war ansteckend, es belebte die Stimmung der Anwesenden umgehend.

»Herr Kommandeur«, hob er gleich darauf an, »warum erzählt Ihr uns nicht ein wenig mehr von den Abenteuern, die Ihr in Indien erlebt habt?« Lucretia schenkte er dabei einen einvernehmlichen Blick, als wolle er sagen: Die Herren sind nur ein wenig gereizt, Überlasst die beiden ruhig mir.

»Ich bin sicher, dass ich alle Anwesenden längst über Gebühr mit meinen Geschichten strapaziert habe«, entgegnete Francois.

»Wie wahr!«, knurrte der Kapitän.

»Ich würde dennoch gern mehr erfahren«, beharrte Jeronimus.

Die anderen nickten eifrig.

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Seitens der Jonkers war das Interesse noch nicht einmal geheuchelt, denn für die meisten unter ihnen war es das erste Mal, dass sie Holland den Rücken kehrten. Infolgedessen gierten sie immerzu nach Berichten über die Reichtümer und Wunder der fernen Länder.

»Hottentotten«, brummte der Kapitän. »Halunken, Lumpenpack!«

»Das finde ich nicht«, widersprach ihm der Kommandeur.

»Vor allem nicht, wenn ich an den Hof von Shah Jahan denke, dessen Pracht alles, was ich kenne, übertrifft. Oder wollt Ihr behaupten, dass es woanders herrlichere Gärten gibt? Auch die Architektur Indiens kann sich meiner Meinung nach durchaus sehen lassen. Nehmt nur die Festungsmauern des Fürsten von Jumna! Habt Ihr den Stein gesehen, aus dem sie geschlagen sind? Wenn die Sonne untergeht, glänzt er blutrot, und bei Sonnenaufgang erglüht er im zartesten Rot der Rose. Man hat sogar verstanden, daraus ein feines Gitterwerk zu gestalten, in dem die Luken mit leuchtendem Blattgold ausgekleidet sind.«

Die anderen in der Tafelrunde hingen mit glänzenden Augen an den Lippen des Kommandeurs, bis auf den Skipper, der sich geräuschvoll seiner Mahlzeit widmete.

»Überdies kultivieren die Inder ihren Sinn für die Zerstreuung«, fuhr der Kommandeur nachdenklich fort, »etwas, das der Holländer in seinem Wesen nicht kennt. Shah Jahan lässt, um sich abzulenken, seine Elefanten gegeneinander antreten, und er hat einen Innenhof mit schwarzen und weißen Marmorfliesen ausgelegt, auf denen seine Diener die Rollen von Schachfiguren übernehmen. Die Spielzüge dirigiert er durch lässige Fingerzeige von seinem Ruhelager aus.«

»Das sind die Werke des Teufels!«, schimpfte Pfarrer Bastians.

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»Woher wollt Ihr das als Gottesmann denn so genau wissen?«, fuhr Conrad van Huyssen ihn an. »Und selbst wenn...«, fügte er bei sich hinzu.

»Der Prediger hat Recht«, warf der Skipper ein. »Das sind ausnahmslos Heiden, die nicht wissen, was sie tun.«

»Vielleicht«, pflichtete der Kommandeur ihm widerwillig bei.

»Vielleicht bleibt ihre Religion uns aber auch lediglich fremd.

Ich gebe zu, dass die Macht des Shahs ruchlos wirkt und dass sie sich von Habgier nährt. Er füllt seine Paläste mit Kostbarkeiten -

und übrigens auch mit schönen Frauen -, doch die Verwaltung seines Reiches kümmert ihn nicht. Das führt dazu, dass seine Beamten nach Gutdünken verfahren und dass sie bestechlich sind. Fraglos entbehren diese Länder unserer moralischen Stärke, und« - er machte eine ungeduldige Handbewegung -

»insofern lässt sich ihre Regierung letztlich mit der unsrigen auch gar nicht vergleichen.«

Einige der Tischgäste warfen ihm erstaunte Blicke zu, zogen es jedoch vor zu schweigen.

Lucretia beobachtete neugierig die Gesichter ringsum. Als sie Pfarrer Bastians' beleidigte Miene sah, musste sie sich ein Lächeln verbeißen.

»Die Leidenschaft für schöne Frauen kann man dem Shah nicht verdenken«, warf der Kapitän genüsslich in die Stille hinein.

»Nach unserem Ermessen trägt ein Fürst vor allem die Verantwortung für seinen Staat«, widersprach Francois ihm.

»Ohne eine vernünftige Regierung laufen wir Gefahr, uns in Tiere zurückzuverwandeln.«

»Es ist Gott, der uns über die Tiere erhöht, nicht die Regierung«, beschied Bastians ihn. »Jede Regierung muss auf Gottes Gesetz beruhen, um zu wirken.«

Der Kapitän leerte seinen Weinbecher in einem Zug. Ein paar Tropfen verfingen sich in seinem Bart, und er wischte sie mit

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dem Handrücken fort. »Das reicht«, verkündete er. »Ich glaube, für mich ist es an der Zeit, auf die Brücke zurückzukehren.«

Jeronimus hatte während der ganzen Zeit unentwegt sein freundliches Lächeln beibehalten.

Ein reizender, aufmerksamer Mensch im Gegensatz zu dem Kapitän, entschied Lucretia. Ein Mann mit artigem Charakter, ein Diplomat.

Der Wind bauschte Jacobs' Umhang auf und zerrte an seinen Rockschössen. Die Batavia richtete sich ächzend auf und schlingerte, als sich übermannshohe Wellen unter ihren Rumpf schoben. Eine lausige Nacht, dachte der Kapitän. Doch im Grunde war das nicht verwunderlich. Auf dieser Seite des Äquators galt es zu der Jahreszeit stets heftigen Stürmen zu trotzen, ehe man in die wärmeren Breiten des Südens geriet.

Allerdings konzentrierte sich nur ein Teil seiner Gedanken auf das Wetter. Der andere Teil befand sich in finsterer Aufruhr und drehte sich um Pelsaert. Die Hände des Skippers schlossen sich fester um den Handlauf der Reling. Dieser lächerliche Angeber, dieser arrogante kleine Wicht, dieser Hundesohn! Wie hatte er es wagen können, ihn vor der Tischgesellschaft zu rügen und ihm sein Verhalten zu diktieren!

»Ich habe den Eindruck«, ertönte eine Stimme neben ihm,

»dass Ihr und der Kommandeur nicht gerade die besten Freunde seid.«

Der Kapitän fuhr herum. Wie aus dem Nichts war der Unterkaufmann an seiner Seite erschienen.

»Was wollt Ihr?«, fragte Jacobs kurz angebunden.

Jeronimus lehnte sich an die Reling, zu dicht, zu vertraut. Der Kapitän konnte den Wein vom Nachtmahl in dem Atem des anderen riechen.

»Mir ist die Art und Weise aufgefallen, in der er Euch bei Tisch behandelt. Ich fürchte, er macht sich nichts aus Euch.«

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»Keine Sorge«, winkte der Kapitän ab. »Ich mache mir aus ihm genauso wenig.« Er hielt für einen Moment inne und schnaubte dann: »Abgesehen davon ficht es mich nicht an, was er von mir denkt.« Und du mit deiner dicken Goldkette auf dem bestickten Wams kannst mir ebenfalls gestohlen bleiben, setzte er bei sich noch hinzu. Er mochte solche Männer nicht, die sich nur auf feine Worte und vornehme Kleidung verstanden. Er konnte sie jederzeit unter den Tisch trinken oder zusammenschlagen, selbst wenn er unterdessen noch eine Schar Huren bediente.

»Nun, ich weiß nicht... der Rat der 17 Herren hält doch wohl große Stücke auf unseren Herrn Kommandeur.«

»Weil er ein Speichellecker ist, sonst nichts. Ich weiß, wovon ich rede - ich kenne ihn schon seit geraume r Zeit.«

»Richtig. Ich glaube, ich habe gehört, dass es zwischen Euch schon länger böses Blut gibt.«

»Hat wieder einer den Mund nicht halten können?«

Everts, dachte der Skipper, sein Bootsmann, der hatte gewiss geplaudert, oder Gerritz, der zweite Steuermann. Die beiden waren an jenem Tag in Surat dabei gewesen, als Pelsaert ihn sich vorgenommen und des Ungehorsams bezichtigt hatte.

Nachher hatte er ihm noch die Heuer um zwei Monate gekürzt.

Und nun hatten das Geschick und irgendein Schafskopf in der VOC es so gewollt, dass sie abermals zusammengewürfelt worden waren und sich für neun lange Monate ertragen mussten, ob sie wollten oder nicht.

»Ich finde es eine Schande, dass Männer wie Ihr Befehle von Schwächeren entgegennehmen müsst«, stichelte Jeronimus.

Was bezweckst du mit deinem Gerede? fragte der Skipper stumm. Soll das eine Falle werden? Es ist doch längst bekannt, dass mich Befehle nicht scheren. »Ich segele das Schiff«, betonte er. »Pelsaert kann die Jankers schikanieren, wenn er das wünscht. Mir kommt er besser kein zweites Mal in die Quere,

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sonst ergeht es ihm schlecht. Das könnt Ihr ihm übrigens ruhig ausrichten, wenn Euch danach ist.«»Mir könnt Ihr trauen, Adriaen. Ich schweige wie ein Grab.«

Adriaen. Schau an, nun sind wir bereits beim Vornamen angelangt, staunte der Kapitän. Pech für den anderen, dass er derlei Zudringlichkeiten nicht schätzte. »Worauf wollt Ihr eigentlich hinaus, Herr Unterkaufmann?«, fragte er mit einem warnenden Unterton.

Jeronimus wirkte jedoch keineswegs eingeschüchtert. Er wich auch nicht zurück, wie mancher es an seiner Stelle getan hätte.

»Männer wie Ihr tun mir Leid«, sinnierte er laut vor sich hin,

»stolze, unabhängige Männer, die vor Federfuchsern Kratzfüße machen müssen - da stimmt doch etwas nicht.«

Er ließ seine Worte viel sagend verhallen, ehe er sich freundlich verneigte und verschwand.

Kapitän Jacobs schaute ihm nach. Merkwürdiger Kauz, dachte er. Hätte geglaubt, dass ich jede Art von Ungeziefer kenne, doch diese Sorte ist mir bislang noch nicht untergekommen. Er spuckte verächtlich aus. Mir könnt Ihr trauen, Adriaen.

Lachhaft. Als ob man heutzutage noch jemandem trauen konnte!

Andererseits wusste man natürlich auch nie, wozu man einen Menschen eines Tages noch brauchte.

Das erhöhte Quarterdeck war ein Aufbau, in dessen Innerem sich die Kajüten des Kommandeurs und der Offiziere befanden.

Weitere Unterkünfte, von denen einige nur durch Vorhänge voneinander getrennt waren, führten davon ab.

Lucretia verfügte über eine Privatkabine am Ende des Hecks, gleich unterhalb der vergoldeten Schiffslaterne. Nach dem Abendessen zog sie sich in der Regel dorthin zurück, um ein wenig für sich zu sein und sich von Zwaantie, ihrem Mädchen, für die Nacht zurechtmachen zu lassen.

Als an ihrer Tür leise geklopft und selbige gleich im Anschluss aufgestoßen wurde, rechnete Lucretia damit,

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Zwaantie eintreten zu sehen. Sie erschrak, als statt ihrer die massige Gestalt des Skippers erschien. Er fixierte Lucretia amüsiert wie eine Amsterdamer Hafenhure. Kapitän Jacobs hatte seine Daumen im Ledergürtel seines Wamses eingehängt, roch inzwischen beträchtlich nach Schnaps und war mit sich und der Welt ganz offenkundig zufrieden.

»Was fällt Euch ein?«, erkundigte Lucretia sich aufgebracht.

»Ich mache Euch bloß einen Anstandsbesuch«, erklärte der Skipper. »Ich muss doch einmal die Qualität Eurer Unterkunft prüfen.«

»Ich will, dass Ihr auf der Stelle verschwindet!«, befahl Lucretia.

»Nun mal sachte, schöne Dame! Ich darf mich doch wohl noch vergewissern, ob die Passagiere zufrieden sind«, entgegnete der Kapitän. Er hielt kurz inne, ehe er fortfuhr: »Nun kommt schon, schaut mich nicht so streng an. Es ist doch nicht so, als hättet Ihr mit meinem Erscheinen nicht gerechnet.«

Für einen Augenblick war Lucretia sprachlos. »Ich fürchte, dass Ihr da etwas missve rstanden habt«, erwiderte sie dann. »Ich war im Begriff, mich zur Ruhe zu begeben.«

»Ein wenig beengt für zwei, findet Ihr nicht?« Jacobs grinste breit. Er bückte sich und machte einen Schritt nach vorn. In der Kabine konnte er nicht aufrecht stehen. »Mir fiel auf, wie Ihr mich bei Tisch gemustert habt«, ergänzte er, »und so dachte ich, Ihr hättet vielleicht etwas Bestimmtes auf dem Herzen.«

Lucretia zwang sich, Ruhe zu bewahren. Sie warf einen Blick zur Tür, um nach Zwaantie Ausschau zu halten. Wo war das Mädchen, wenn man es brauchte?

»In meinem Quartier könntet Ihr es bequemer haben«, fuhr der Kapitän hartnäckig fort.

»Ihr vergesst wohl, wen Ihr vor Euch habt«, versetzte Lucretia. »Ich bin außerdem eine verheiratete Frau.«

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»Ich ließe Euch nicht für neun Minuten aus den Augen, wenn Ihr meine Frau wäret, geschweige denn für Monate oder Jahre«, entgegnete Jacobs. Seine Stimme war weicher geworden.

»Malt den Teufel nicht an die Wand. Wenn ich Eure Frau wäre, würde ich mich in die Fluten stürzen.«

Das Lächeln, das sich auf Jacobs' Miene angedeutet hatte, verschwand. Er streckte die Hand nach Lucretia aus, doch sie wich zurück.

»Verzieht Euch oder ich schreie«, flüsterte sie. »Jedermann auf dem Schiff würde mich hören.«

Jacobs schien sich ihre Drohung für eine Weile durch den Kopf gehen zu lassen.

»Ich habe bisher noch jede Frau rumgekriegt«, murrte er schließlich.

»Nun, diese hier aber nicht.«

Vermutlich würde er mich jetzt am liebsten schütteln und schlagen, dachte Lucretia, als sie bemerkte, dass auf seinen Wangen feuerrote Flecke entstanden. Er schien sich jedoch eines Besseren zu besinnen, machte auf den Hacken kehrt und stapfte davon.

Gleich darauf schlüpfte Zwaantie durch die Tür.

»Wo hast du gesteckt?«, fuhr Lucretia sie an und betrachtete das Mädchen prüfe nd. Ob ihre Dienstmagd draußen gelauscht und sich ins Fäustchen gelacht hatte, während ihre Herrin sich ihres Besuchers erwehrte? Oder ob sie noch weiter gegangen und den Skipper womöglich ermutigt oder gar angestiftet hatte?

»Nun steh nicht so einfältig rum!«, befahl Lucretia barsch.

»Ich will, dass du mir beim Auskleiden hilfst!«

»Ist ja schon gut«, entgegnete Zwaantie mürrisch und bedachte Lucretia mit einem verschlagenen Blick.

Na, das kann ja noch heiter werden, dachte diese. Ich möchte wissen, woher das makellose Zeugnis kommt, das das Mädchen

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mir vorgelegt hat. Wie es aussieht, hatte es da jemand eilig gehabt, die Kleine aus seinen Diensten zu entlassen.

Nachts, wenn die Ratten im Laderaum ihr Unwesen trieben, wälzten die Männer sich in Träumen, in denen die Dämonen der Lust sie plagten. Unter den dicht zusammengedrängten Passagieren, die auf dem Batteriedeck schliefen, weinten vereinzelt Kinder. Dazwischen ertönte das Knarzen der dicken Haltetaue und das Ächzen der hölzernen Planken.

Der Teufel, der über die Wellen strich, sah lächelnd zu, wie sich die Heimatküste der Seefahrer in der Ferne verlor.

Fünfundvierzig Grad und achtundvierzig Minuten nördlicher Breite

vierter Tag des November im Jahre des Herrn, 1628

In der Nacht fegte ein Sturmwind über den Golf von Biskaya und färbte den Himmel schwarz wie Morast. Aus den Rahen drangen die aufgeregten Rufe der Matrosen, die, nur im Licht der Hecklaterne, die Segel bis auf die Sturmsegel refften.

Unterdessen stöhnten die Passagiere auf ihren Lagern unter Deck, wo die verbrauchte Luft von dem Gestank ihres Erbrochenen durchsetzt wurde.

Herr, erbarme dich meiner, betete Judith. Ich halte das keine Stunde mehr aus. Erst seit einer Woche sind wir unterwegs, und ich wünsche mir bereits, ich wäre tot. Die noch fo lgenden acht Monate der Reise dehnten sich wie eine einzige endlose Höllenqual vor ihr aus.

Judith hatte sich an die frische Luft auf dem Quarterdeck gerettet, wo sie sich an der Bordwand fest hielt, wenn sie sich krümmen musste. Anschließend begann sie jedes Mal zu würgen, erbrach jedoch nichts mehr außer gallig schmeckenden Speichelfäden.

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Als sie aufblickte, sah Judith, dass eine haushohe Woge den Bug steil in die Höhe richtete und ihn hernach in den Abgrund eines Wellentals schob. Judith presste die Hände auf ihren Magen und beugte sich abermals vor.

»Ihr dürft den Mut nicht verlieren«, ließ sich eine ruhige Stimme neben ihr vernehmen.

Judith hob den Kopf. Die Stimme gehörte zu einem der Soldaten. Es war ein großer, kräftiger Bursche mit weizenblondem

Haar, der so munter wirkte, als er befände er sich bei einem Morgenspaziergang entlang der holländischen Grachten. Judith hätte ihm am liebsten die Augen ausgekratzt.

»Sobald Ihr seefest seid, ist alles wieder im Lot.«

Judiths Magen krampfte sich zusammen. Tränen rannen ihr über das Gesicht, als sie wieder zu würgen begann.

Geh mir aus den Augen, Soldat, dachte sie. Lass mich einfach in Frieden sterben.

»Haltet durch«, fuhr der Soldat fort. »Später geht es Euch wieder besser.«

Wenn Judith einen Dolch zur Hand gehabt hätte, wäre sie dem Mann damit an die Gurgel gegangen. Im Augenblick schaffte sie es jedoch nicht einmal mehr, ihn auch nur zu verfluchen.

Ermattet lehnte sie sich an die Bordwand zurück. Die Gischt warf einen feinen Sprühregen über sie. Judith schloss dankbar die Lider. Die Wellen sollen über mir zusammenschlagen, dachte sie, mich hinwegspülen und mich dann in die Tiefe tragen.

Jeronimus stand draußen auf dem Quarterdeck und klammerte sich an den Handlauf der Reling. Trotz der Kälte, die dort herrschte, zog er diesen Platz dem Aufenthalt unter Deck vor, denn auf den Gängen lagen die Passagiere in ihrem Erbrochenen, und der Gestank war inzwischen äußerst ekelhaft.

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Die meisten dieser Menschen sind nicht besser als Vieh, fuhr es Jeronimus durch den Kopf, erbärmliches Gesindel, Auswurf der Gesellschaft.

Riesige Wasservorhänge hatten sich vom Himmel herabgesenkt und wehten über den Ozean hinweg. Jeronimus überlief trotz des dicken Mantels, den er trug, ein Schauder. Die Holländer sind eine Nation von hoffnungslosen Dummköpfen, fuhr er in Gedanken fort. Sie brauchen jemanden, der sie leitet, der ihnen das neue Königreich erklärt. Ein Reich, in dem jeder frei ist, auf seine eigene Art zu leben. Der Maler Torrentius hatte das verstanden, er hatte sich seinen Verstand nicht von der Kirche trüben lassen. Dafür hatten die Verblendeten ihn gefoltert und hernach verbannt.

Nun war es an ihm, Jeronimus Cornelius, den großen Plan zur Vollendung zu bringen. Er war der von Gott Erwählte. Dort in der Ferne, jenseits der kalten Fluten, erwartete ihn das Schicksal und harrte des neuen Königs. Bis es so weit war, würde er sich um die Zusammensetzung seiner Gefolgschaft bemühen.

Sechsunddreißig Grad und achtzehn Minuten nördlicher Breite

zwanzigster Tag des November im Jahre des Herrn, 1628

Die Segel der Batavia hatten sich mit frischem Wind gefüllt, so dass sie ihre Bahn schneidig durch die Wellen zog. Zu ihrer Linken hoben sich die dunklen Silhouetten der Assendelft und der Buren vor der glänzenden Meeresoberfläche ab. Die restliche Flotte war im Sturm zurückgefallen und würde ordentlich zulegen müssen, um die Batavia einzuholen.

Inzwischen war ein freundlicher Morgen angebrochen. Der Himmel leuchtete blau und klar, das Meer hatte sich beruhigt.

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Francois Pelsaert lehnte an der Reling. Im Allgemeinen vermied er es, während der Wache des Kapitäns an Deck zu erscheinen - wobei ihm allerdings aufgefallen war, dass der Kapitän ähnlich verfuhr und ihm seinerseits aus dem Weg zu gehen schien.

Francois wusste, dass Jacobs ein fähiger Mann war, doch ihm war auch klar, dass sie niemals Freundschaft schließen würden, schon allein wegen jenes Zwischenfalls nicht, der sich damals in Surat ereignet hatte.

Francois hörte, dass jemand die Tür der Offiziersmesse zuschlug und anschließend das Deck betrat. Es war der Unterkaufmann.

»Ein wundervoller Tag, nicht wahr«, hob Jeronimus an, ehe er verschämt lächelnd hinzufügte: »Wenn ich nur wusste, wo wir sind.«

»Nach Aussage des Kapitäns haben wir Kap Finisterre umrundet«, erwiderte Francois. »Die Küste dort gehört bereits zu Portugal. Wir befinden uns etwa sechsunddreißig Grad nördlich des Äquators.«Jeronimus stützte sich auf der Reling ab.

Er wirkte mit einem Mal nachdenklich. »Herrscht zwischen Euch und dem Kapitän böses Blut?«, fragte er teilnahms voll.

Das scheint sich nicht verbergen zu lassen, dachte Francois.

»Letztes Jahr, als ich aus Indien zurückkehrte«, begann er,

»führte er das Schiff, auf dem ich von Surat aus weitersegelte.

Dabei gab es einen kleinen Streit.« Er hielt kurz inne. »Jacobs machte unter der Hand Geschäfte«, fuhr er leiser fort. »Ich war gezwungen, ihn offiziell zu tadeln.«

»In dem Fall scheint es mir ein äußerst unglückseliger Umstand zu sein, dass die Gesellschaft Euch abermals zusammengebracht hat.«

»Sowohl er als auch ich werden das Beste daraus machen.«

Jeronimus wiegte den Kopf. »Jacobs ist ein schwieriger Mann.«

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»Das halte ich für eine freundliche Untertreibung.«

»Zum Glück wird das, was ihm an Liebenswürdigkeit gebricht, von einer gewissen anderen Person mehr als wettgemacht, nicht wahr?«

»Bezieht Ihr Euch auf Frau van der Mylen?«

»Eine berückende Schönheit, findet Ihr nicht?«

Seltsam, wunderte sich Francois, wie reglos seine Augen bleiben, während sie sich in die Seele seines Gegenübers bohren. Doch vielleicht muss er ja gar nicht bohren, vielleicht bin ich ja durchsichtig geworden, und alle Welt weiß, dass sie mir gefällt. Es wäre dennoch besser, das Thema zu wechseln.

»Was führt Euch eigentlich nach Ostindien?«, erkundigte er sich im unverfänglichen Plauderton.

»Dasselbe wie alle anderen auch. Ich möchte mich verbessern.«

»Ihr seid aber doch ein studierter Mann, oder nicht? Auch mit einem angesehenen Beruf, wenn ich nicht irre.«

»Nun, wie man will. Ich war zuvor Apotheker, also nichts Besonderes.«

»Warum so bescheiden? Diese Art von Wissen dürfte Euch in Ostindien ein gutes Auskommen bescheren.«

»Sofern es Gottes Wille ist«, entgegnete der Unterkaufmann demütig.

Je näher sie dem Äquator kamen, umso wärmer wurden die Tage.

Die Passagiere waren inzwischen seefest geworden und hatten sich an den Wellengang gewöhnt. Sie verbrachten nun einen größeren Teil ihrer Zeit auf dem Oberdeck, wo sie aus Tüchern kleine Segel errichtet hatten, um sich gegen die stärker werdenden Sonnenstrahlen zu schützen.

»Geht es Euch besser?«

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Judith blickte auf. Da war wieder der kräftige Bursche mit dem weizenblonden Haar, der Soldat, den sie am liebsten umgebracht hätte, als sie so schrecklich seekrank gewesen war.

Er stand an der Reling und lächelte freundlich. Seine kornblumenblauen Augen bildeten einen auffälligen Kontrast zu dem hellen Haar und dem blonden Bart.

Eigentlich gefällt er mir ganz gut, dachte Judith, woraufhin sie sogleich erschrak. Solche Gedanken geziemten sich nicht für ein Mädchen, und überdies hatte sie bislang mit Fremden nur gesprochen, wenn ihre Eltern anwesend waren.

Judith wandte den Kopf ab. Ihr Vater würde außer sich geraten, wenn er sie bei einer Unterhaltung mit einem Mann überraschte, vor allem wenn es sich dabei nur um einen gemeinen Soldaten handelte.

»Böse Sache, so eine Seekrankheit«, fuhr der Soldat fort. »Ich habe früher selbst darunter gelitten. Inzwischen muss es schon arg kommen, ehe mir der Appetit vergeht.«

Judith spürte, dass sie errötete. Er sieht wirklich nicht übel aus, dachte sie, wenn auch ein wenig derb.

»Fühlt Ihr Euch nicht wohl? Ihr seid doch hoffentlich nicht krank?«

Judith schüttelte den Kopf. »Vielleicht esse ich nicht genug -

es... schmeckt mir nicht.«

»Sieh an, das Fräulein kann ja sogar etwas sagen! Ich hatte bereits befürchtet, Ihr hättet neulich auch Eure Zunge ausgespuckt.«

Judith lächelte zaghaft. Er war ein lustiger Vogel.

»Nun«, fügte er hinzu, »das Essen an Bord ist immer eine Katastrophe. Aber dabei ist es wie mit dem Wellengang. Nach einer Weile hat man sich daran gewöhnt.«

»Ich will mich aber nicht daran gewöhnen - ich will nur einfach fort«, brach es aus Judith hervor. »Ich will in einen

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saftigen Apfel beißen und schlafen, ohne dass mich das Schnarchen von hundert Nebenschläfern stört!«

»Oho, die Dame führt zu Hause ein feines Leben!«

Er macht gar keinen Spaß, ging es Judith durch den Sinn, er macht sich über mich lustig! Vielleicht drückte er aber auch einfach nur eine Tatsache aus. Im Vergleich zu ihm führte sie wahrscheinlich ein angenehmes Leben. Vermutlich waren die Entbehrungen, die sie beklagte, nichts im Vergleich zu denjenigen, die er auszuhalten hatte.

Judith blickte sich verstohlen nach ihrem Vater um.

Der Soldat hatte ihre Gedanken offenbar erraten.

»Ich nehme an, dem Herrn Prediger wäre es nicht Recht, Euch mit einem einfachen Soldaten plaudern zu sehen.«

Judith senkte die Lider. Warum sollte sie annehmen, dass sie etwas Besseres sei als er? Dieser Mann war der erste Mensch, der ein paar mitfühlende Worte mit ihr wechselte.

»Wart Ihr schon einmal in Ostindien?«, fragte sie mutig.

»Ja, einmal. Ich habe dort in einem Krieg gekämpft.«

»Wollt Ihr deshalb wieder zurück? Um abermals zu -

kämpfen?«

»Warum denn nicht? Das ist alles, worauf ich mich verstehe, und der Sold ist auch nicht schlecht.«

Judith starrte auf die Schaumspur, die das Kielwasser hinter ihnen aufwirbelte.

»Ich vermisse Holland«, murmelte sie.

»Was gibt es denn da zu vermissen?«, fragte der Soldat. »Wo Ihr hinfahrt, ist es längst nicht so grau und kalt.«

Judith hob den Blick zu ihm auf und lächelte dankbar. Der Soldat nickte aufmunternd zurück.

»Judith!«

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Judith fuhr herum und sah das vor Zorn gerötete Gesicht ihres Vaters vor sich. »Du kommst sofort mit mir!«

Sie gehorchte und lief hinter ihrem Vater her. Dabei warf sie jedoch noch einmal einen Blick nach hinten. Der Soldat hatte ihr nachgestarrt und hob nun zum Abschied die Hand.

Zwölf Grad und dreiunddreißig Minuten nördlicher Breite

achtundzwanzigster Tag des Dezember im Jahre des Herrn, 1628

Erst seit zwei Monaten unterwegs, dachte Lucretia, und schon jetzt kommt es mir vor, als ob ich wahnsinnig werden müsste.

Die endlose Eintönigkeit der Tage wurde lediglich von den Mahlzeiten und dem Läuten der Schiffsglocke unterbrochen, wenn der Steuermann die Sanduhr umdrehte und die Stunde ausrief.

Ja, sogar die Abwechslung, zu den Mahlzeiten zu gehen, war ihr inzwischen lieb geworden, selbst wenn sie das Essen abscheulich fand. Morgens wie mittags gab es einen seltsamen Brei mit getrockneten Pflaumen, wohingegen man abends Erbsen, Bohnen, gepökeltes Fleisch oder geräucherten Fisch zu sich nahm. Zwar hatten sich zu Beginn der Reise auch lebende Hühner und Schweine an Bord befunden, doch sie waren inzwischen geschlachtet und verzehrt. In dem Fleisch, dass nun aufgetragen wurde, zeigten sich bereits die ersten Maden, ein Umstand, der auch durch den Gebrauch von Silbertellern nicht besser wurde.

Es gab Tage, an denen Lucretia sich fragte, ob sie die verbleibenden sechs oder sieben Monate überhaupt durchstehen würde, doch gewöhnlich wurde ihr am Ende klar, dass sie gar keine andere Wahl hatte, es sei denn, sie machte allem ein Ende und stürzte sich ins Meer.

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In solchen Momenten zwang Lucretia sich, daran zu denken, dass es ihr besser erging als den meisten anderen Passagieren.

Immerhin zählte sie zu den wenigen, die eine private Kabine besaßen, und konnte sich an Deck frei bewegen. Sie verfügte sogar über einen eigenen Abort mit hölzernem Sitz, selbst wenn sie das lange Tau, das dort hing, als höchst befremdlich empfand. Sein ausgefranstes Ende musste aus dem Meerwasser hochgezogen werden, um einer Dame zur Säuberung zu dienen, ehe es man es wieder losließ und es abermals in den Fluten versank.

Aber bitte, wie konnte sie sich beschweren? Die anderen Passagiere teilten sich auf dem Batteriedeck zwei Abtritte mit den Seeleuten und den Soldaten und lebten im Übrigen eingezwängt wie die Sardinen. Einmal wöchentlich durften sie sich auf dem Läusedeck reinigen, und das auch nur, indem sie ihre Kleidung ausschüttelten. Der Gestank, der von dort unten in Lucretias Nase drang, war mehr als widerwärtig.

Doch das Wetter war wenigstens schöner und die Tage waren milder geworden. Bisweilen konnte man sogar entlang der Linie des Horizontes Umrisse der Küste von Sierra Leone erkennen, die sich wie ein tröstliches Zeichen, dass Land nahe war, hinter dem gischtigen Atem der See verbarg.

Lucretia seufzte, setzte sich an ihr Pult und begann zu schreiben.

Mittlerweile sind wir gerade einmal einen Monat unterwegs, doch mir kommt es bereits wie hundert Jahre vor. Unsere Kost besteht aus dem immer gleichen Einerlei. Nur an seltenen Tagen reicht man am Kapitänstisch ein Bröckchen Gouda zum Nachtisch, was uns jedes Mal freut, denn dergleichen betrachten wir inzwischen als Leckerbissen.

Francois Pelsaert, der Kommandeur, ist ein liebenswürdiger Mann, der kurz davor steht, zum Mitglied des Ostindien-Rats ernannt zu werden. Er hat bereits etliche Jahre in Indien

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verbracht, über die er sehr gefällig zu berichten weiß. Ich wünschte, auch ich könnte mich so für ein fremdes Land erwärmen.

Ich sehne mich sehr nach Baudouin. Ich möchte in den Armen meines Mannes liegen, mich an ihn schmiegen...

Lucretia starrte auf das Geschriebene und strich die letzten Zeilen aus. Was um alles in der Welt war ihr denn da eingefallen? Wieso brachte sie plötzlich derartige Gedanken zu Papier?

Pelgrom und Decker, die Kabinenstewards, trugen Platten mit Bohnen und Schweinefleisch auf. Der Koch hatte die Mahlzeit mit Kardamom, Koriander und einer Hand voll Rosinen gewürzt, doch nach zwei Monaten dieser Einheitskost hätten auch alle Gewürze Indiens nicht ausgereicht, um sie schmackhafter zu machen.

Auf den großen Messingtellern auf dem Tisch türmten sich Scheiben von Schiffszwieback. Lucretias Blick fiel auf einen Tellerrand, um den sich eine Reihe gepunzter Kupferfrüchte wand. Früchte, seufzte sie innerlich. Was gäbe sie nicht für einen Apfel oder eine saftige Birne! Reyndert, der Chefsteward, machte sich daran, den roten Burgunder einzuschenken. Ergeben hielt Lucretia ihm ihren Becher hin. Der Wein ist das Einzige, was noch genießbar ist, dachte sie.

Die Unterhaltung am Tisch hatte abermals die Abenteuer des Kommandeurs in Indien zum Inhalt. Die jungen Edelleute hatten ihn um eine Schilderung der fremdländischen Frauen gebeten und lauschten nun gebannt, als der Kommandeur mit der Beschreibung eines Harems begann.

»Dann stimmt es also«, ließ Herr Deschamps, der jüdische Kaufmannsgehilfe, sich vernehmen. »Selbst einem gewöhnlichen Mann ist mehr als eine Ehefrau vergönnt.«

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»Vorausgesetzt, er kann sie sich leisten«, bestätigte Francois amüsiert. »Einen armen Mann kann bereits eine Frau teuer zu stehen kommen.«

Einige am Tisch brachen daraufhin lauthals in Gelächter aus.

»Warum sollte ein Mann denn überhaupt mehr als einer Frau bedürfen?«, wollte Lucretia wissen.

Sie bemerkte, dass David Zeevanck, der Schreiber, seinem Gehilfen de Vries verstohlen zuzwinkerte, woraufhin dieser den Blick senkte und verlegen vor sich auf seine Hände starrte.

»Manche Männer würden sich tatsächlich mit einer Frau glücklich schätzen«, murmelte Francois. Als sein Blick dem von Lucretia begegnete, sah er eilig fort.

Lucretias Herz begann schneller zu schlagen.

Jeronimus räusperte sich. »Ich habe mir sagen lassen, dass es Fürsten gibt, die sich ganze Paläste voller Frauen halten.«

»Dann möchte ich gern einer von ihnen sein«, bemerkte Zeevanck, was ihm einen tadelnden Blick seitens des Pfarrers eintrug.

»Für fremde Fürsten mag derlei angehen«, antwortete Francois. »Aus unserer Sicht dauern mich allerdings die Frauen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie glücklich sind. Gewiss, sie werden verwöhnt und können in ihren Frauengemächern ein sorgenfreies Leben führen - aber werden sie auch geliebt?«

Deschamps schob unauffällig ein Fleischstück beiseite, in dem er Maden entdeckt hatte. »Und doch scheint es welche zu geben, die ihrem Ehegemahl freiwillig ins Grab folgen«, murmelte er.

»Das stimmt«, pflichtete Francois ihm bei. »Ihr bezieht Euch auf die Sitte des sati.«

»Eine sehr außergewöhnliche Sitte«, warf Jeronimus ein.

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Pfarrer Bastians schüttelte den Kopf. »Ich will davon nichts wissen«, protestierte er. »Sich des Lebens zu berauben ist eine schwere Sünde wider den Herrn.«

Jeronimus hob die Brauen, sagte jedoch nichts.

»Ich würde dennoch gern wissen, worum es eigentlich geht«, beharrte Lucretia, woraufhin der Pfarrer ihr einen vernichtenden Blick zuwarf.

Francois nippte an seinem Burgunder. »Die Frau, die ich sterben sah, war wunderschön und gewiss nicht älter als achtzehn Jahre. In ihren Augen wie auch in denen ihrer heidnischen Götter beging sie eine ehrenvolle Tat.«

Pfarrer Bastians schnaubte verächtlich.

»Sie legte ihr bestes Gewand an und schmückte sich«, fuhr Francois fort, »so, als ginge es zu ihrer Hochzeitsfeier.

Dergestalt überließ sie sich dem Scheiterhaufen, auf dem die Leiche ihres Mannes verbrannte. Dort verzehrten die Flammen sie nach und nach, ohne dass sie den leisesten Klagelaut von sich gab. Ich muss sagen, ich empfand das Ereignis als zutiefst ergreifend, und erst eine ganze Weile später wurde mir klar, dass es zugleich auch äußerst verstörend gewesen war.«

Die Zuhörer schwiegen für eine Weile und warteten wohl darauf, dass er weiterredete.»Ich glaube, dafür könnte ich einen Mann nie genug lieben«, sagte Lucretia in die Stille hinein.

Jeronimus hob den Kopf. »Wie seht Ihr das, Herr Kommandeur«, wollte er wissen, »ob ein Mann wohl sein Leben freiwillig für eine Frau opfern sollte?«

Ehe Francois Pelsaert etwas erwidern konnte, schaltete Pfarrer Bastians sich ein. »Ein Mann sollte ausschließlich dem Herrn sein Leben opfern! Das ist das Einzige, was zählt.«

»Das ist leicht gesagt«, hielt Francois ihm entgegen. »Ich frage mich jedoch, ob wir überhaupt bereit sind, unser Leben zu

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opfern, ganz gleich für wen. Ist es nicht so, dass wir eher dazu neigen, alles zu tun, um unser Leben zu verlängern?«

»Das sind sehr unnütze Überlegungen«, ließ Pfarrer Bastians sich vernehmen. »Ich glaube, es entscheidet immer noch Gott, wann er uns zu sich nimmt -«

»Ach ja?«, unterbrach Jeronimus ihn mit kalter, schneidender Stimme. »Sind wir tatsächlich nur diese treibenden, willenlosen Wesen? Sind wir tatsächlich so schwach - oder führen wir nicht eher sehr überlegt Gottes Willen aus?«

Pfarrer Bastians bedachte ihn mit einem Blick, in dem sich allergrößte Verwunderung mit Zorn und Abscheu vermischten.

Auch Lucretia hatte die heftigen Worte des Unterkaufmannes mit einigem Erstaunen registriert. »Vielleicht wissen wir häufig nicht, was wir wollen, bis wir es unter Beweis stellen müssen«, versuchte sie zu beschwichtigen, wonach die Tischrunde abermals in Schweigen verfiel.

Pfarrer Bastians räusperte sich schließlich. »Diejenigen, die von Gott erwählt sind, werden durch seine Liebe gelenkt«, verkündete er feierlich. »Die anderen fallen der Verdammnis anheim. Dabei gibt es weder etwas zu wollen, noch zu wählen.«

Lucretia sah, dass Deschamps sich anschickte, seine Meinung zu dem Thema zu äußern. Sie warf ihm einen flehenden Blick zu, doch er ließ sich nicht erweichen. »Also, ich muss schon sagen«, begann er gereizt, »das ist ja wohl ein wenig einfältig geredet. Ich entscheide doch als Mensch wohl noch, ob ich auf die Hölle zumarschiere oder nicht!«

Pfarrer Bastians' Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. »Oh, nein, mein Herr«, schleuderte er seinem Gegenüber triumphierend entgegen. »Ihr ganz gewiss nicht! Euch hat Gott einen Glauben beschert, mit dem es schnurstracks in die Hölle geht. Ihr braucht Eure Zeit gar nicht erst mit Entscheidungen zu vertrödeln.«

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Deschamps war dunkelrot angelaufen, und es sah aus, als ob er aufspringen wolle. Er schaffte es jedoch, lediglich mit eisiger Stimme zu entgegnen: »Ganz reize nd und überaus christlich gedacht!«

»Ihr solltet die Worte meines Mannes nicht bezweifeln«, ließ sich Frau Bastians vernehmen. »Er steht den Gedanken des Herrn am nächsten.«

»Wenn dem so wäre, würde ich wohl allmählich am Herrn zweifeln müssen«, beschied sie Deschamps. Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, überlegte es sich dann jedoch anders.

Lucretia richtete ihre Augen bittend auf den Kommandeur, der das Streitgespräch interessiert verfolgt hatte. Sein Blick schweifte zu ihr, und in seinen Augen glomm ein wildes Feuer auf, das indes sogleich wieder erlosch.

Lucretia merkte, dass ihre Wangen zu glühen begannen.

Verwirrt senkte sie die Lider, wobei ihr jedoch nicht entging, dass Jeronimus das kleine Zwischenspiel verfolgt hatte.

Unterdessen hatte Pfarrer Bastians zu einer langatmigen Predigt angesetzt, die Zeevanck veranlasste, Deschamps unter dem Tisch einen Fußtritt zu versetzen. Das verdanken wir dir, formte er dabei lautlos mit den Lippen, woraufhin Deschamps jedoch lediglich die Schulten hob.

Lucretia versuchte, die Stimme des Pfarrers auszublenden.

Herr, betete sie still, entscheide Du das Richtige für mich oder lass, wenn es andersherum ist, mich das Richtige entscheiden.

Lass Du auch mein Herz wieder ruhiger schlagen, und lenke meine Gedanken zurück zu meinem Mann.

Die Jonkers, die sich an Bord befanden, um die Geheimnisse des Ostindienhandels zu erlernen, brachten als Voraussetzungen

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gewöhnlich nicht mehr als Dünkelhaftigkeit mit, die sich auf ihre adlige Herkunft bezog.

Jeronimus lächelte zufrieden, als er Conrad van Huyssen dabei ertappte, wie dieser den Kommandeur auf dem Achterdeck studierte. Hier haben wir ein wahres Prachtstück für meine Sammlung, befand er. Van Huyssen ist vornehm, eitel, seine blauen Augen blicken kalt, er ist lässig auf jene Art, wie der Wohlstand sie beschert, und dennoch gierig. Nicht sehr intelligent, eher seicht.

Er lehnte sich neben den jungen Mann an die Reling. »Gewiss möchtet Ihr eines Tages auch da oben stehen, nicht wahr?«, begann er.

Van Huyssen fuhr herum und starrte Jeronimus abweisend an.

»Liegt das nicht in der Hand Gottes?«, fragte er.

Gewiss doch, höhnte Jeronimus inwendig, tu ausgerechnet du so, als ob dich Gottes Wille interessiert. »Es schadet dennoch nichts, davon zu träumen, oder?«, fragte er zurück.

Dem anderen schoss die Röte ins Gesicht. »Es heißt, Pelsaert habe es in nur zehn Jahren vom Kaufmannsgehilfen zum Kommandeur gebracht«, murmelte er. »Wisst Ihr, ob das stimmt?«

»Ich weiß vor allem, dass sein Schwager zu den Direktoren der Gesellschaft gehört«, erwiderte Jeronimus.

Van Huyssen runzelte die Brauen.

»Dachtet Ihr, Pelsaert hätte sich seinen Posten allein durch seiner Hände Arbeit verdient?«

Van Huyssen schien ihn nicht gehört zu haben. »Die Companie braucht junge Leute wie mich«, erklärte er.

»O ja, unbedingt«, pflichtete Jeronimus ihm bei. »Immerhin überleben in Batavia keine acht von zehn Holländern die ersten fünf Jahre. Vergesst die Palmen und die willigen, glutäugigen

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Frauen! Batavia ist eine Todesgrube, ein Loch - eine Brutstätte für die Ruhr und das Schüttelfieber.«

Auf dem Gesicht seines Gegenübers malte sich Verblüffung ab. »Weshalb zieht es Euch denn dann dorthin?«, fragte er.

»Eine interessante Überlegung, nicht wahr? Nun, ich nehme an, auch mir ist der Aufstieg das Risiko wert.«Van Huyssen schwieg.

Tja, so ist das leider nun einmal, triumphierte Jeronimus.

Niemand verrät diesen albernen Stutzern, wie Batavia in Wirklichkeit ist, denn sonst würden sie den Teufel tun und sich an Bord eines Handelsschiffes begeben.

»Ihr gehört zu einer stolzen und geachteten Familie«, hub Jeronimus abermals an. »Zuweilen tut es mir weh, mit anzusehen, dass man Euch kommandiert und dass Ihr gehorchen müsst. Fühlt Ihr Euch denn im Grunde nicht zu Besserem berufen?«

»Und was wäre das Eurer Meinung nach?« Van Huyssen hatte sich gefasst. Sein Blick war abermals abweisend geworden.

»Oh, ich glaube, Ihr habt mich ganz gut verstanden«, erwiderte Jeronimus, ehe er verschwand.

Die Saat ist gesät, dachte er auf dem Weg in seine Kajüte, nun werde ich sie für eine Weile ruhen lassen und zusehen, wie sie gedeiht.

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III

Folgendes bitte ich Sie zu bedenken:

Genau wie jeder andere Gott bedarf auch der Gott der Christen eines Regelwerkes, nach dem die Gläubigen ihr Leben richten.

Ich nehme an, in diesem Punkt geben Sie mir Recht.

Und je strenger die Vorschriften in diesem Regelwerk sind, desto eingeschränkter sind die Möglichkeiten der individuellen Entscheidung. Das sehen Sie auch ein, nicht wahr?

Die Calvinisten gingen aber noch einen Schritt weiter, denn sie klammerten die menschliche Entscheidung rundweg aus. Ihr Leben war zwar ein Schachspiel, doch dessen Züge und der Ausgang standen dabei angeblich bereits fest.

Es ist demnach kein Wunder, dass Jeronimus aufbegehrt, wenn der Herr Pfarrer seine Lehren verbreitet, denn er will das Spiel ja nach seinem Ermessen lenken. Seiner Meinung nach steht der Herr hinter ihm, anstatt über ihm zu regieren. Das ist ein kleiner Unterschied.

Gewundert hat mich eigentlich, dass Lucretia Pfarrer Bastians nicht widersprach. Sie ist doch sonst nicht schüchtern und kennt durchaus andere Meinungen, wo doch ihre spanische Mutter Katholikin war! Ich erkläre mir das damit, dass sie zu abgelenkt, zu sehr mit sich und Francois beschäftigt war.

Bei Francois liegt die Sache ähnlich, doch das ist es nicht allein. Er kann sich bereits aus Gründen seiner Karriere der herrschenden Meinung nicht widersetzen, wenngleich auch er mütterlicherseits einer katholischen Familie entstammt.

Ich finde Katholiken reizvoller als Calvinisten, denn sie haben zumindest begriffen, dass es der Mensch ist, der sein Leben bestimmt. Sie glauben zwar, dass der Papst im Ernstfall bei Gott

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interveniert, doch dergleichen stört mich nicht. Diesen Gedanken finde ich liebenswert, nahezu rührend.

Doch wenden wir uns leichteren Themen zu. Immerhin befinden wir uns auf einer Reise und möchten unterhalten sein.

Folgen Sie mir deshalb auf das Quarterdeck. Lassen Sie sich die warmen Lüfte um die Nase streichen. Hören Sie das Knarzen der Segeltaue? Fühlen Sie, wie die Batavia sich sanft unter Ihnen wiegt?

Sehen Sie die beiden Gestalten, die an der Reling lehnen?

Ganz recht - das sind Lucretia und der Kommandeur. Sie plaudern gerade unschuldig, wenngleich ihre Gedanken längst bei ihrer verbotenen Zuneigung angelangt sind.

Sechs Grad und siebenundvierzig Minuten südlicher Breite

vierundzwanzigster Tag des Januar im Jahre des Herrn, 1629

Lucretia hatte es sich angewöhnt, Francois morgens auf dem Quarterdeck zu besuchen. Meistens standen sie dann beieinander und begannen ein Gespräch, wobei es allerdings geschehen konnte, dass einer von ihnen plötzlich verstummte und den Faden verlor.

Francois wusste, dass er Lucretia hätte aus dem Weg gehen müssen. Er hatte sich auch bereits hundert Mal geschworen, dies zu tun. An seinen Schwur gehalten hatte er sic h indes nicht.

Als er an diesem Morgen Lucretias leichten Schritt vernahm, spürte Francois, dass sein Herz zuckte und danach zu hämmern begann. Er zwang sich, sich langsam umzudrehen, anstatt wie ein Wilder herumzufahren, und verneigte sich förmlich.

An diesem Morgen trug Lucretia ein goldgelbes Samtkleid mit hochgeschlossenem Mieder, das sich weich um ihre Brüste schmiegte.

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Sie lächelte verhalten. »Irre ich mich, oder ist es tatsächlich wärmer geworden?«, fragte sie.

»Ihr irrt Euch nicht«, versicherte Francois ihr mit einer Stimme, die er als fremd und eigenartig empfand. Das ist das letzte Mal, entschied er bei sich. Dieses Treiben muss ein Ende finden, und sei es nur um meines Seelenfriedens willen und noch einmal einer Nacht mit ruhigem Schlaf.

Andererseits würde sich ein Rückzug schon aus Gründen der Höflichkeit ausgesprochen schwierig gestalten. Mit welchen Worten sollte er ihr sein neues Verhalten erklären? Lucretia suchte seine Gesellschaft, so viel stand fest. Allein über den Grund befand Francois sich noch im Zweifel. Kam sie, weil sie mit ihm zusammen sein wollte, oder war sie lediglich einsam und langweilte sich an Bord?

Ich sollte vorbildlich sein, seufzte Francois. Ich muss mich zurückhalten und mich mit meinem Entsagen abfinden.

Allerdings würde das nicht einfach sein, denn er hatte sich in Indien gern der Gunst schöner Frauen erfreut und wusste, auf was er im Begriff war zu verzichten.

Nein, überlegte Francois, er konnte Lucretia unmöglich zurückstoßen. Er würde sich lediglich zwingen, sie als Freundin zu betrachten, würde beherrscht und liebenswürdig sein. So wird es gehen, ermunterte er sich. So war ihm das ja auch während der ersten Wochen gelungen.

Lucretia hatte sich neben ihm über die Reling gebeugt, sagte jedoch nichts.

Francois beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Er musste an ihr allererstes Gespräch denken.

Wie erstaunt war er gewesen, als Lucretia ihm mit reizender Natürlichkeit schilderte, dass sie einfachen Verhältnissen entstammte und keineswegs, wie angenommen, einer reichen Familie aus der feinen Heerengracht!

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»Mein Vater war nur Tuchhändler«, verkündete sie lachend.

»Im Übrigen habe ich ihn gar nicht gekannt. Er starb noch in dem Jahr, in dem ich geboren wurde.«

Francois war von ihrem Lachen entzückt. »Deshalb kann er doch vermöge nd gewesen sein.« Er schmunzelte.

»Niemals«, erklärte Lucretia. »Wir wohnten in einem Häuschen am Neuen Damm. Wir waren nicht arm, aber reich waren wir auch nicht. Später hat meine Mutter sich dann wieder verheiratet, doch auch meinen Stiefvater kannte ich eigentlich nicht. Er war Kapitän und fuhr zur See. Nein, unser Vermögen verdanken wir einem Onkel, der es meiner Mutter hinterlassen hat. Erst da haben wir uns ein großes Haus an der Leleistraat leisten können.«

»Woraufhin Euer Stiefvater der reichste Kapitän von Amsterdam geworden sein dürfte.«

Lucretia hatte den Kopf geschüttelt. »Er war zuvor schon gestorben. Meine Mutter hat mich allein aufgezogen. Ich habe sie sehr geliebt«, hatte sie gestanden. »Seltsam, nicht wahr, nun ist sie schon seit so vielen Jahren tot, und doch gibt es immer noch Tage, an denen sie mir fehlt.«

Francois beschloss nun, das frühere Gespräch noch einmal aufzugreifen und an eben diesem Punkt anzusetzen.

»Ihr sagtet neulich, Ihr wäret im Grunde als Waise groß geworden«, hub er an, während er Lucretias Mienenspiel studierte. »Habt Ihr Euch denn dadurch nicht manchmal einsam gefühlt?«

»Ich wurde erst mit elf Jahren Waise«, erwiderte Lucretia.

»Danach nahm mich der Bruder meiner Mutter bei sich auf. Er war mein Vormund.« Sie hielt inne. »Ob ich einsam war?«, fuhr sie dann fort. »Ich glaube nicht. Und wenn, hat es mich nicht gestört.« Nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: »Dieser Vormund war es auch, der zusah, dass ich eine gute Verbindung einging.«

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Bei ihren Worten überrieselte Francois ein Hoffnungsschauer, denn Lucretias Aussage ließ zweifellos mehrere Deutungen zu.

Er beschloss, an dieser Stelle einzuhaken und das Gespräch in die Bahn zu lenken, die ihm bereits seit einer Weile am Herzen lag.

»Wie alt wart Ihr bei Eurer Hochzeit?«

»Achtzehn. Ich bin seit neun Jahren verheiratet.«

»Aber Ihr habt keine Kinder, nicht wahr?«

»Das war wohl nicht Gottes Wille.«

Francois entdeckte einen Ausdruck des Bedauerns auf Lucretias Miene und stellte fest, dass er gerade darüber liebend gern mehr erfahren hätte. Litt sie darunter, keine Kinder zu haben, oder bezog sie sich auf eine Schwierigkeit, die in ihrer Ehe begründet lag? Gib nur Acht, was du jetzt sagst, ermahnte er sich. Das ist ein delikater Moment.

»Der göttliche Wille lässt sich nicht immer nachvollziehen«, fing er vorsichtig an.

»Das trifft nicht nur für den göttlichen Willen zu«, entgegnete Lucretia. »Auch das, was die Menschen wollen, ist mir oft rätselhaft.«

»Sprecht Ihr von Eurem Mann?«, fiel Francois ihr ins Wort, wobei er sich für seine Tollpatschigkeit verfluchte. »Ist er denn -

Kindern - abgeneigt?«

Lucretia betrachtete ihn verwundert. »O nein, wieso denn das? Mein Mann sehnt sich nach Kindern. Wo läge denn auch sonst der Sinn einer guten Ehe, wenn es keine Söhne gäbe, die den Namen weitertrügen?«

Francois frohlockte. Das klang ihm nicht nach rauschhafter Leidenschaft. »Ihr Mann muss Euch sehr vermissen.«

Lucretia zögerte. »Auf seine Weise vielleicht schon.«

»Mir an seiner Stelle wäre es unendlich schwer gefallen, Euch

-meine Frau für so lange Zeit zu entbehren.«

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»Nun, er sucht sich in Ostindien zu verbessern. Er möchte sein Leben nicht als Juwelier beenden.«

»Ich wäre schon damit glücklich, Euch zur Frau zu haben.

Das allein wäre mir genug.« So, nun war es heraus! Es war natürlich hastig und unklug gesprochen gewesen - ach was, es war der helle Wahnsinn, er musste verrückt geworden sein.

Lucretia schwieg für lange Zeit, während der sanfte Wind Strähnen unter ihrer Haube hervor zupfte und damit spielte.

Als sie zu sprechen anhub, befürchtete Francois eine Zurechtweisung, doch stattdessen sagte sie nur: »Ich fühle mich nicht recht wohl, Herr Pelsaert. Ich glaube, ich werde mich in meine Kabine begeben.«

»Ich verstehe«, erwiderte Francois leise.

»Ihr wart sehr liebenswürdig, mir Gesellschaft zu leisten«, murmelte Lucretia und berührte flüchtig seine Hand.

Dann war sie verschwunden, hatte sich aufgelöst wie ein Schatten, während Francois vor sich hinstarrte und sich abwechselnd als Ehebrecher und Narr beschimpfte.

Eine Mischung aus verbrauchter Luft und stinkendem Pfeifenrauch waberte wie dicker Nebel durch das Orlopdeck, wo die Soldaten lagen und sich die Zeit damit vertrieben, Dame oder Doppelkopf zu spielen.

Wiebe Hayes hatte sein Spielbrett aufgeschlagen und eine Partie gegen Wouter Loos begonnen, während Zany Maftken sich zu ihren Füßen niedergelassen hatte und an einem Walzahn schnitzte.

Hundert Mann lebten auf diesem Deck beieinander, wobei keiner von ihnen an einer Stelle aufrecht stehen konnte! Alle zwölf Stunden durften sie sich für dreißig Minuten zum Oberdeck begeben, um frische Luft zu schnappen, doch für die restliche Zeit hockten sie dicht gedrängt aufeinander.

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Tagein, tagaus zusammengepfercht zu leben, nie den Kopf in die Höhe recken zu können, nie ungestört schlafen, immerzu das gleiche Essen und stets den Geräuschen und Gerüchen der anderen ausgesetzt - das kroch wie Gift in die Adern, setzte sich fest und verseuchte das Gemüt.

Um dem Schlimmsten vorzubeugen, hatte die Companie bestimmt, jeden, der ein Messer zog, mit der Hand und jenem Messer an den Großmast zu nageln und dort so lange zu belassen, bis er sich von allein wieder zu befreien verstand.

Dennoch kam es fortwährend zu Streit und Reibereien, und oftmals hatte der Steinmetz seine Hand dabei im Spiel.

Der Steinmetz war eigentlich der Obergefreite Jakob Pieters, doch er wurde von den Soldaten nach seinem früheren Handwerksberuf benannt. Er war ein grobschlächtiger Klotz von einem Mann, schwerer und einen Kopf größer als die anderen, und mit einem Gesicht, vor dem sich selbst die abgebrühtesten Hafenhuren fürchteten. Seine Zähne waren schwarz und faulig, die Nase breit zusammengedrückt, das Kinn unsichtbar unter Fleischwülsten begraben. Seine Äußerungen beschränkten sich in der Regel auf das Notwendigste, und nie hatte ihn jemand lächeln gesehen. Alle, bis auf Wiebe Hayes und den stämmigen Bauernburschen Wouter Loos, fürchteten den Steinmetz, selbst der Maat war in seiner Gegenwart stets auf der Hut.

In diesem Moment bewegte sich der Steinmetz auf Wiebe und seine Kameraden zu, stieß Zany mit einem Tritt beiseite und drängte sich wortlos an Wiebe vorbei.

Zany rieb sich die Seite und begann, hinter dem Rücken des Steinmetzen Grimassen zu schneiden.

Wouter Loos fing glucksend an zu lachen.

Der Steinmetz fuhr mit geballter Faust herum.

Beim Anblick seiner böse glitzernden Augen in dem vor Wut verzerrten Gesicht überlief Wiebe ein Schauder.

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»Reiß dich zusammen!«, zischte er Zany warnend an, ehe er seine Aufmerksamkeit abermals dem Spielbrett zuwandte. »Du weißt, dass der Kerl nie etwas vergisst.«

Zany zog ein Gesicht. Nach einer Weile schnupperte er in der Luft. »Ich glaube, der Steinmetz hat heimlich irgendwo in die Ecke gepisst«, kicherte er.

»Du sollst dich zurückhalten, habe ich gesagt!«, fuhr Wiebe ihn an. Gleich darauf zog der Geruch frischen Urins an seiner Nase vorbei. »Das ist zum Kotzen«, erklärte er und klappte sein Spielbrett zu.

»Das sage ich doch die ganze Zeit«, erwiderte Zany.

»Sieh dich trotzdem vor«, ermahnte Wiebe ihn. »Ich muss an Deck - meine Wache beginnt.«

»Sieh du dich lieber vor!« Zany lachte hinter ihm her. »An Bord wird nicht gehurt, und die Pfarrerstochter hat es faustdick hinter den Ohren!«

Sussie Frederix und ihre Schwester Tryntgen hatten es sich auf dem Quarterdeck unter ihren Sonnensegeln bequem gemacht, wo sie, über ihre Näharbeiten gebeugt, dem Geplapper der anderen Frauen lauschten. Aus den Augenwinkeln wurde Sussie indes gewahr, dass der gut aussehende weizenblonde Soldat über ihr das Deck betrat. Wiebe hieß er, Wiebe Hayes, so viel hatte sie inzwische n von Tryntgens Mann herausbekommen, der zu den Soldaten auf dem Orlopdeck gehörte. Von ihm hatte sie auch erfahren, dass dieser Wiebe Hayes mit seinen fünfundzwanzig Jahren noch immer unverheiratet war. Sussie selbst war zwar erst fünfzehn, doch wie sie fand, war das nicht ausschlaggebend. Sie beide würden ein hübsches Paar abgeben - vorausgesetzt, er schaute überhaupt erst einmal zu ihr hin.

Sussie rutschte unter dem Sonnensegel hervor und schielte nach oben.

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Nicht schon wieder! dachte sie. Er soll nicht schon wieder Judith schöne Augen machen. Auf dem ganzen Schiff sprach man bereits davon.

Sussie beobachtete, wie Wiebe sich näher zu Judith an die Reling schob und ihr etwas zuflüsterte. Gott sei Dank war der Herr Pfarrer nicht säumig, sondern bedeutete seiner Frau mit einem ungehaltenen Wink, ihre Tochter zu sich zu rufen.

Warum ausgerechnet Judith? fragte Sussie sich. Was erwartete dieser große, kräftige Kerl von einem Mädchen, das sein Haar züchtig unter der Haube verbarg und errötend zu Boden blickte, wenn er mit ihm sprach?

Na bitte, dachte Sussie. Geschieht ihm recht. Judith hatte sich abgewandt und Wiebe verlassen, noch ehe ihre Mutter Gelegenheit hatte, sie von ihm fortzuzerren.

Na, Herr Soldat, dachte Sussie, war das nun der Mühe wert?

Oder solltet Ihr nicht allmählich anfangen zu begreifen, dass es hier auch noch andere Mädchen gibt? Sie legte ihre Näharbeit ab und murmelte ihrer Schwester zu, sie wolle sich ein wenig die Beine vertreten.

Tryntgen musterte Sussie argwöhnisch, doch sie nickte und sagte nichts.

Als Sussie an die Reling trat, stellte sie fest, dass Wiebe seinen Blick sehnsüchtig auf den dunstigen Horizont geheftet hatte, als suche er dort etwas, das es gar nicht gab. Unauffällig schob sie sich bis zu dem Platz, den Judith gerade verlassen hatte. Da bin ich, dachte sie dann, worauf wartest du also noch?

Eine bessere Gelegenheit kann sich doch gar nicht mehr bieten.

Als Wiebe sie nicht zu bemerken schien, wurde Sussie ungeduldig.

»Schlagt Euch Judith aus dem Kopf«, sagte sie leise.

Wiebe drehte sich zu ihr um.

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Er wirkte belustigt, als er erkannte, dass da ein Mädchen - fast noch ein Kind - bei ihm stand und ihm offenkundig Ratschläge erteilte.

Sussie erriet, was er dachte. Ich bin älter, als du glaubst, entgegnete sie stumm. Ich bin schon so gut wie erwachsen.»Entschuldigt, mein Fräulein, ich glaube, ich habe den Sinn Eurer Worte nicht recht verstanden. Ihr hattet doch etwas gesagt, oder nicht?«

»Ja, ich sagte, dass Ihr Euch Judith aus dem Kopf schlagen sollt.«

»Oh, und warum wohl?«, sagte Wiebe schmunzelnd.

»Weil sie ihr Augenmerk auf den Jonker dort drüben gerichtet hat«, erwiderte Sussie. Sie deutete auf van Huyssen, der mit seinen Kameraden auf dem Deck einherschritt.

»Und woher weiß das ein so kleiner Fratz wie Ihr?«

Sussie runzelte die Stirn. »Ich bin fast so alt wie Judith«, erwiderte sie.

»Sieh einer an«, bemerkte Wiebe, indem er begann, sich seine Pfeife zu stopfen. »Und ich dachte schon, es läge an Judiths Papa. Die Männer Gottes halten nämlich nichts von Soldaten.«

Er grinste schräg und setzte augenzwinkernd hinzu: »Ich fürchte nur, umgekehrt liegt die Sache nicht viel anders.«

Sussie musste kichern. »Wart Ihr schon einmal in Batavia?«, erkundigte sie sich anschließend. »Ist es dort schön?«

»Ja, ich war bereits einmal dort. Vor fünf Jahren. Ob es an einem Ort schön ist, dürft Ihr einen Soldaten jedoch nie fragen.

Wir kennen die Länder ja meist nur aus dem Krieg. Allerdings wäre ich in Batavia um ein Haar an der Ruhr krepiert, so viel steht fest.«

»Habt Ihr in Holland oder sonst wo eine Ehefrau?«, fragte Sussie unverblümt.

»Ihr fragt einem ja Löcher in den Bauch«, scherzte Wiebe.

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»Na ja, ich dachte, da Ihr so gut ausseht, habt Ihr doch gewiss irgendwo eine Frau.«

Wiebe lachte schallend auf. »Nein«, erwiderte er. »Ich habe keine Frau.«

In diesem Moment tauchte Tryntgen hinter ihnen auf.

»Sussie!«, rief sie böse.

Sussie sah nach hinten und rasch wieder fort.

»Da scheint jemand etwas von Euch zu wollen«, bemerkte Wiebe, indem er in Tryntgens Richtung nickte.

»Das ist meine Schwester«, teilte Sussie ihm mit. »Ich glaube, sie möchte, dass ich mit ihr komme.«»Dann gehabt Euch wohl, mein Fräulein. Es war nett, mit Euch zu plaudern.«

»Ich heiße Sussie Frederix«, flüsterte Sussie ihm zu. »Wollt Ihr Euch das merken?«

»Vielleicht«, entgegnete Wiebe gutmütig. »Aber jetzt seid ein braves Mädchen, Sussie Frederix, und folgt Eurer Schwester!«

Er entließ sie mit einem freundlichen Nicken, während sein Blick erneut zu Judith hinüberwanderte.

»Ihr solltet auf das hören, was ich sage«, murmelte Sussie niedergeschlagen. »Judith ist nichts für Euch.«

Elf Grad und dreiundfünfzig Minuten südlicher Breite erster Tag des Februar im Jahre des Herrn, 1629

»Das ist etwas, was ich noch nie verstanden habe«, hub eine sanfte Stimme an. »Ob Ihr es mir wohl erklären könnt?«

Francois' Kopf fuhr herum.

Lucretia. Sie war zu ihm zurückgekommen! Sie hatte auch ihre Haube abgelegt, so dass der Wind an ihrem Haar zauste, das ihr offen bis zur Taille hing. Mit einem kleinen Stirnrunzeln sah sie zu, wie Francois mit dem Astrolabium hantierte.

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Gott möge mir vergeben, dachte Francois, als sich das vertraute Ziehen in seiner Brust einstellte, aber diese Frau ist einfach betörend.

»Das ist nicht schwer«, erwiderte er leise. »Es handelt sich lediglich um ein Instrument, mit dem ich erkenne, wie weit wir nach Süden oder Norden gesegelt sind. Man nennt es Astrolabium. Es misst die Breiten in Graden und Minuten, bis auf etwa eine Seemeile genau.«

»Und woher wisst Ihr, wie weit wir nach Osten oder Westen gesegelt sind?«

»Nun, das zu wissen ist eigentlich die Aufgabe des Kapitäns.

Ich führe "mein Handbuch lediglich zur Kontrolle, weil...«

Francois' Stimme versickerte. Ihre Augen gleichen Saphiren, dachte er, während seine Blicke weiterwanderten und sich in Lucretias Spitzenschal verfingen, der den Ausschnitt ihres Mieders verbarg. Ob dieser Herr van der Mylen wusste, welch ein Glückspilz er war?, fuhr es ihm durch den Sinn. Weiß er, dass er etwas besitzt, das für andere Männer nur in ihren Träumen existiert?

»Verzeiht«, murmelte er. »Ich war fü r einen Moment abgelenkt. Was hattet Ihr mich gefragt?«

»Ich wollte erfahren, woher Ihr - oder der Kapitän - wisst, wie weit wir nach Osten oder Westen gesegelt sind.«

»Oh, das... Nun, das tut der Kapitän mit Hilfe eines Logs«, beeilte Francois sich zu erklären. »Gewiss habt Ihr den Steuermann bereits dabei beobachtet, wie er ein Holzstück über die Reling wirft, das mit einer Seilwinde verbunden ist. Das Seil ist in Knoten unterteilt. Dann misst er die Zeit mit seiner Sanduhr, holt das Seil wieder ein und zählt die Knoten, die sich abgewickelt haben. Daran erkennt er, wie viel Fahrt wir machen.

Es ist keine sehr exakte Methode, fürchte ich, denn die Strömungen wie auch ein schlecht aufgerolltes Seil können bereits Ungenauigkeiten bewirken. Auch die Feuchtigkeit, die

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bisweilen in die Sanduhr dringt, kann zu Abweichungen führen.

Doch, wie dem auch sei, solange wir keine besseren Verfahren kennen, müssen wir mit dem vorlieb nehmen, was wir haben.

Was die Navigation angeht, verlassen wir uns in der Regel auf die Erfahrung eines guten Skippers.« Francois machte eine Pause, um Atem zu schöpfen.

Lucretia lachte leise. »Und?«, fragte sie. »Haben wir einen guten Skipper?«

Francois ließ seinen Blick zur Brücke schweifen, wo der Kapitän stand und sie zu beobachten schien. In Wirklichkeit ist er ein Lump, hätte er am liebsten erklärt, ein Halunke und ein Draufgänger noch dazu, ein unausstehlicher Bursche, den mir das grausame Schicksal ein zweites Mal zugeteilt hat - aber er ist dennoch ein guter Skipper.

»Er zählt zu den Besten«, erwiderte Francois laut.

»Darf ich mir dieses Astrolabium einmal ansehen?«, bat Lucretia.

»Selbstverständlich«, entgegnete Francois, indem er das Gerät am Ring hochhielt und an seinem Daumen pendeln ließ. »Schaut her - die Sonne steht zu meiner Linken. Ich halte das Gerät nun in die Sonne und bewege den Zeiger, bis sie durch diese beiden kleinen Löcher scheint -«

»Darf ich es einmal versuchen?«, unterbrach Lucretia ihn. Sie stand inzwischen dicht neben Francois und beugte sich vor.

»Was sind das für Striche am Rand?«

Francois holte abermals Luft. »Das sind die Winkel, die uns unsere Position nördlich oder südlich des Äquators angeben.«

In diesem Moment hob sich das Deck unter einer kräftigen Woge. Lucretia verlor den Halt und wurde gegen Francois geworfen.

Francois schlang automatisch den Arm um sie, und für einen kurzen Augenblick schmiegten sich ihre Körper aneinander.

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Dann löste Lucretia sich hastig von ihm. Auf ihren Wangen brannte feuerrote Flecke.

»Es tut mir Leid«, murmelte er. »Ich wollte nic ht - ich -«

»Ich danke Euch für den Anschauungsunterricht«, erwiderte Lucretia, indem sie sich fahrig eine Haarsträhne aus der Stirn strich, die der Wind ihr immer wieder in die Augen blies. Die Röte auf ihrem Gesicht hatte sich ausgedehnt und ergoss sich bis hin zu ihrem Dekollete.

Francois sah es und war unfähig, sich zu rühren. Er starrte sie an, als hätte ihn ein Blitzschlag getroffen.

»Ich glaube, ich muss gehen«, murmelte Lucretia. »Der Wind scheint heute ein wenig heftiger zu wehen als sonst.«

Francois schaffte es, sich stumm zu verneigen.

Nachdem Lucretia fort war, stellte er fest, dass seine Hände zitterten. Er schaute sich um, um zu prüfen, ob jemand Zeuge dieses Zwischenfalls geworden war. Als er zum Achterdeck emporspähte, stand dort noch immer der Kapitän, der nun spöttisch salutierte.

Adriaen Jacobs verharrte noch an der Reling, als der Kommandeur unter ihm längst verschwunden war. Um seine Lippen spielte ein verächtliches Lächeln. Bei Gott und allen Teufeln, dachte er, das war zum Brüllen! Dieses kleine, feine Bürschchen, das das Astrolabium wie ein Damentäschchen schlenkert, um sich vor dieser aufgeplusterten Gans aufzuspielen, die nicht einmal kapiert, wer ein richtiger Mann ist und wer nicht! Was musste der Kerl für einen Unsinn verzapft haben, als er mit käseweißem Gesicht einen endlosen Vortrag vom Stapel ließ.

Da hatte er die beiden also ertappt - Himmelherrgott, wie sie sich angeschmachtet hatten! Aber den Arm hatte der Hund doch potzblitz um sie gehabt, alle Achtung. Kleine Kostprobe geno mmen, wie? War auch zuerst gar nicht so abgeneigt gewesen, die Dame, aber dann plötzlich davongeflattert wie ein

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aufgescheuchtes Huhn. Und der Schafskopf starrte glotzäugig in die Runde, anstatt die Beine in die Hand zu nehmen und wie der Wind hinterher zu sein. Sicher, zuerst hätte sie sich ein wenig geziert, doch gleich darauf wäre diesem Herrn Leisetreter vermutlich Hören und Sehen vergangen.

Jacobs starrte nachdenklich vor sich hin. Na gut, sagte er sich zum Schluss, jetzt weiß ich, woran ich bin. Ihr Blicke haben niemals mir gegolten, sie hatte etwas Besseres im Sinn.

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IV

Ich muss Sie um Nachsicht bitten.

Es hat etwas länger gedauert, das Luder aufzuspüren.

Nein, ich rede nicht von Lucretia. Wo denken Sie hin?

Lucretia gehört zu den Frauen, die die Fantasie eines Mannes entzünden, ohne es zu wissen. Ich habe gegen die Art nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil, sie ist mir häufig dienlich.

Frauen wie Eva zählen ebenso dazu. Auch Eva hat ja nicht von sich aus gesündigt.

In der Regel muss man sich mit dem zufrieden geben, was man bekommt.

Und dann läuft einem plötzlich eine Frau wie Zwaantie Hendricks über den Weg. Die ist natürlich etwas anderes. Das ist ein Weibsbild nach meinem Geschmack.

Mit ihr werde ich mich zusammentun.

Siebzehn Grad und drei Minuten südlicher Breite elfter Tag des Februar im Jahre des Herrn, 1629

Da schau her, dachte der Kapitän. Madame Kommandeur mit ihrem Mädchen im Gefolge. Rauscht über Deck wie eine Königin. Nun, meine Schöne, hattet Ihr Gelegenheit, Euch Euren Kavalier ein wenig genauer anzusehen? Ist Euch nun klar geworden, dass dieser Jämmerling nichts taugt?

»Haltet Ihr etwa nach dem Kommandeur Ausschau?«, begrüßte Jacobs Lucretia. »In dem Fall werdet Ihr enttäuscht sein, denn er fühlt sich nicht wohl. Er ruht in seiner Kajüte.«

Lucretia wurde blass.

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»Kein Grund, sich Sorgen zu machen«, versicherte Jacobs ihr.

»Ich bin der Herr auf diesem Schiff. Der Kommandeur mag sich zwar als Flottenpräsident aufspielen, doch nach Batavia schafft er Euch nicht.«

»Was soll die Belehrung?«, fragte Lucretia spitz. »Ich denke, ich kenne mich in der Gewalten Verteilung des Schiffes aus.«

Ja, sei nur schnippisch, dachte der Kapitän, mir ist das inzwischen fast einerlei. Ich halte mich besser an die Kleine, die mir hinter deinem Rücken schöne Auge n macht. Wahrscheinlich kennt sie sich in noch ganz anderen Dingen aus.

»Besten Dank, Madame«, antwortete Jacobs mit einer leichten Verbeugung. »Das war charmant gesagt und äußerst freundlich.«

»Herrn Pelsaert fehlt aber doch nichts Ernstes, oder?«, lenkte Lucretia ein wenig ein.

»Keine Sorge, der kommt schon wieder auf die Beine«, erklärte Jacobs. »Doch wenn Ihr Lust auf Gesellschaft habt, werde ich mir die größte Mühe geben, ihn zu ersetzen.«

Nun, das hatte ihr offenbar nicht geschmeckt. Madame rümpfte die Nase und bedachte ihn mit einem Blick, bei dem einem das Blut in den Adern gefror.

»Vielleicht könntet Ihr mir ein wenig Gesellschaft leisten«, schlug das Mädchen rasch vor. »Ihr könntet mir doch einmal alles zeigen! Ich lerne gern noch etwas dazu.«

»Ich fürchte, du wärest dem Kapitän nur im Weg«, zischte Lucretia die Kleine an.

»Aber nicht doch«, widersprach der Kapitän und weidete sich an Lucretias Ärger. »Ich wüsste das Fräulein durchaus zu unterhalten.«

Das Mädchen warf ihm unter halb gesenkten Wimpern einen herausfordernden Blick zu und sagte: »Da bin ich sehr gespannt.«

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Der Tag hat sich bereits gelohnt, fand Jacobs, als er sah, dass Lucretia nun abwechselnd rot und blass wurde. Er zwinkerte dem Mädchen zu.

»Du kommst sofort mit mir unter Deck«, herrschte Lucretia die Kleine an, die ihr maulend folgte.

Der Skipper grinste hinter ihnen her. Na bitte, dachte er. Da hatte er es ihr gezeigt. Zukünftig würde sie ihn nicht mehr wie einen dummen Jungen behandeln.

Die Kleine allerdings, die würde er sich bei nächster Gelegenheit einmal genauer ansehen.

Lucretia hatte Zwaanties Arm ergriffen, zerrte sie in die Kabine und warf die Tür hinter ihnen ins Schloss.

»Was um alles in der Welt ist da eben in dich gefahren?«, fuhr sie das Mädchen an, das daraufhin tatsächlich die Frechheit besaß, gelangweilt die Decke zu beäugen.

»Du hast offen mit dem Kapitän geschäkert, ist dir das klar?

Jeder, der wollte, konnte dich hören. Willst du, dass das ganze Schiff über dich herzieht? Der Kapitän ist immerhin ein verheirateter Mann.«

»Ich kann tun und lassen, was ich will«, erklärte Zwaantie aufsässig.

»O nein, mein Fräulein, das kannst du nicht! Nicht, solange du in meinen Diensten stehst. Du wirst kein Wort mehr mit ihm wechseln!«, befahl Lucretia. »Du wirst ihn noch nicht einmal mehr ansehen. Hast du verstanden?«

Zwaantie blickte trotzig zu Boden.

Wenn sie nicht aufpasst, dachte Lucretia, beendet sie ihre Tage in irgendeinem Hafen, wo sie ihr Hinterteil für ein paar Dukaten schwingt.

»Ich fragte, ob du verstanden hast?«

Ein unwillig gemurmeltes »Jawohl, Madame«, war die Antwort.

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Nun, dachte Lucretia, damit wäre die Angelegenheit wohl ein für allemal geklärt.

Während des Tages und auch wenn abends das Speisegeschirr abgetragen war, diente die Tafel in der Offiziersmesse Männern wie Deschamps, Zeevanck und den anderen Schreibern und Kaufmannsgehilfen als Arbeitstisch.

Dort kopierte Zeevanck in seiner steifen Handschrift beim Schein der Öllampe einen Brief des Kommandeurs. Die Buchstaben flössen ihm nicht mit der Leichtigkeit der anderen Kaufmannsgehilfen aus der Feder, und schon gewiss nicht mit der Eleganz des jüngsten Schreibers, de Andries.

Außer Zeevanck befand sich lediglich Jeronimus in der Messe.

Zeevanck spürte, dass der Unterkaufmann ihn beobachtete. Er setzte die Feder ab.

»Ist etwas, Herr Cornelius?«, erkundigte er sich.

»Macht Euch die Arbeit Spaß, Zeevanck?«

»Gewiss, Herr Cornelius«, log Zeevanck, wobei er sich fragte, ob er Jeronimus Grund zur Unzufriedenheit geliefert hatte.

Jeronimus betrachtete ihn abwägend. »Und was bewegt Euch, nach Ostindien zu gehen?«, fragte er.

Zeevanck hielt seine Augen auf das Dokument gerichtet und schrieb weiter. »Vermutlich lockt mich das Abenteuer«, murmelte

er.

Jeronimus lachte schallend auf.

Zeevanck war zusammengezuckt. Missmutig betrachtete er den Klecks, der auf dem Papier entstanden war. Nun würde er abermals von vorn beginnen müssen, und es würde ihn eine weitere Stunde kosten, bis er sich schlafen legen konnte.

»Abenteuer!«, wiederholte Jeronimus amüsiert. »Glaubt Ihr tatsächlich, dass Ihr in Batavia Abenteuer erlebt? Ihr werdet froh

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sein, wenn Ihr da überhaupt einmal das Sonnenlicht erblickt. Die meisten Kaufmannsgehilfen und Schreiber verbringen ihr Leben dort in einem muffigen Kontor.«

Zeevanck warf ihm einen gekränkten Blick zu. Was will er von mir? fragte er sich. Was hat er davon, mir mein bisschen Vorfreude zu schmälern?

»Wie seid Ihr an diese Stelle geraten?«, bohrte Jeronimus weiter.

»Es war der Wunsch meines Vaters -«

»Dachte ich es mir doch«, unterbrach Jeronimus ihn.

Nachdem sie für eine Weile geschwiegen hatten, hob Zeevanck unsicher an: »Seid Ihr unzufrieden, was meine Arbeit

Jeronimus fiel ihm abermals ins Wort. »Ich bitte Euch, Zeevanck!«, erklärte er ungeduldig. »Hier gibt es nichts, was mich zufrieden oder unzufrieden macht. Eure Arbeit ist mir einerlei. Ich habe mich lediglich gewundert, wie Ihr Euer Dasein aushaltet. Da sitzt Ihr brav und fertigt Kopien von Briefen an, schreibt langweilige Listen über Vorräte und Frachten, verfasst später am Schreibtisch Kriegsberichte, seid, kurz gesagt, nichts weiter als ein stummer, treuer Diener. Niemand entbietet Euch Achtung, und kein Mensch hat Furcht vor Euch. Soll das immer so weitergehen? Wie lange wollt Ihr Euch damit noch begnügen? Wir segeln um die Welt, doch vor Euren Augen befindet sich stets nur ein Stück Papier und ein Tintenfass. In Eurem Innern müsste es doch schwelen, Ihr müsstet rastlos sein, müsstet wissen, dass Euch Besseres gebührt! Ist es nicht so, Zeevanck?«, schloss Jeronimus, ehe er sich erhob und den Raum verließ.

Fünfundzwanzig Grad und dreiundvierzig Minuten südlicher Breite

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zwanzigster Tag des März im Jahre des Herrn, 1629

Lucretia blätterte ihr Tagebuch auf und betrachtete die leeren Seiten. Als sie die Reise antrat, war sie davon ausgegangen, dass sie auf jeder von ihnen täglich neue Begebenheiten festhalten würde, doch stattdessen hatten sich die Tage aufgelöst und waren zu einem formlosen Einerlei verschmolzen.

Lucretia zündete die Öllampe an, die über ihr an den Kardanringen befestigt war, sodass kein Öl herausfloss, wenn der Seegang unruhig wurde. Sie taucht die Feder in ihr Tintenfass und schrieb:

So gefällig der Unterkaufmann Jeronimus Cornelius auch sein mag, so ist ihm doch etwas Beunruhigendes zu Eigen, denn bisweilen stiehlt sich ein Ausdruck in seinen Blick, der mich erschreckt. Der Kommandeur indes, der sich auf Menschen versteht, hat eine hohe Meinung von ihm, sodass ich nicht weiß, ob ich mir nur etwas einbilde. Was den Kommandeur betrifft, gibt es hingegen keinerlei Zweifel: Er ist ein wundervoller Mann, von tadellosem Wesen. Das darf auch nicht anders sein, weil auf einer Reise wie dieser die unterschiedlichsten Charaktere zusammengewürfelt werden und die einzelnen Gruppen sich nicht immer wohlgesinnt sind. Die Seeleute verachten die Passagiere, die wiederum begegnen den Kaufleuten nur widerwillig mit Respekt, während die Soldaten mit niemandem etwas zu tun haben wollen und unter sich bleiben. Da bedarf es einer starken Persönlichkeit, damit die Ordnung aufrecht erhalten bleibt.

Lucretia hielt inne. Stimmte das, was sie da schrieb? Gab es tatsächlich Spannungen an Bord?

Sie hörte, dass die Schiffsglocke das Mittagsmahl einläutete, erhob sich seufzend und schickte sich an, in die Offiziersmesse zu gehen.

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Francois hatte von Anfang an geahnt, dass er sich auf diese Fahrt nie hätte einlassen dürfen, denn als sie begann, war er erst seit kurzem aus Indien zurückgekehrt, wo das feuchte, schwüle Klima seine Gesundheit angegriffen hatte. Zuletzt hatte jedoch sein Ehrgeiz gesiegt. Wie hätte er auch nein sagen können, wenn man ihn zum Flottenpräsidenten ernannte und ihm dadurch die Möglichkeit in Aussicht stellte, Mitglied des Rates der Companie zu werden und Ruhm und Reichtum zu ernten, also genau das, worauf er seit zehn Jahren hingearbeitet hatte?

Dennoch hatte er anfänglich gezaudert. Den Ausschlag hatte schließlich sein Schwager gegeben, einer der 17 Herren der Companie, der ihn gedrängt und auf das Einmalige dieser Gelegenheit hingewiesen hatte. Doch als Francois an Bord der Batavia stieg und sein Auge auf Kapitän Jacobs fiel, war ihm klar geworden, dass seine Entscheidung ein Fehler gewesen war.

Oder war das in dem Moment geschehen, als er Lucretia erblickte?

Francois tat mittlerweile sein Bestes, um Lucretia aus dem Weg zu gehen, doch bei den Mahlzeiten ließ sich ihr Zusammentreffen nicht immer vermeiden.

Natürlich zwang er sich auch da, den Blick von ihr abzuwenden, doch das war schwer, da sie direkt an seiner Seite saß.

Wenn es allein wegen ihrer Schönheit wäre, sagte sich Francois, könnte er sein Verlangen nach einer Weile wohl verwinden, doch es war mehr als das, was ihn zu ihr zog. Es war auch mehr als ihre Klugheit und Bildung. Es lag an dem Funken, der in ihren Augen glühte, der, wie Francois glaubte, demselben Feuer entsprang, das auch in ihm brannte. Es war die Verbundenheit ihrer Seelen, die sie jeweils die feinen Schwingungen im anderen erkennen ließen, ganz gleich, ob sie sich in Worten ausdrückten oder in Gesten.

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Es war dieses Wissen, das Francois' Leidenschaft zu einem Ausmaß trieb, das die Form einer Obsession, einer Krankheit angenommen hatte.

Zuweilen versuchte er bei Tisch, sich mit irgendeiner belanglosen Unterhaltung abzulenken, doch auch das half ihm nichts. Bereits nach kürzester Zeit irrten seine Augen abermals zu Lucretia, saugten sich an einem Stück Haut fest, an ihrem Halsband oder an der Ader, die darunter pochte.

Wie konnte es angehen, fragte sich Francois dann, dass diese außergewöhnliche Frau einem simplen Juwelier angehörte?

Manchmal dachte er sogar noch einen Schritt weiter und überlegte, ob nicht gerade dieser Umstand dazu diente, ihm die Sinnlosigkeit seines Strebens vor Augen zu führen.

An anderen Tagen bemühte sich Francois, Fehler an Lucretia zu entdecken, und hielt sich vor Augen, dass sie zu frei ihre Meinung kundtat, dass es ihr überhaupt an Strenge und Zurückhaltung gebrach. Hie und da ging er sogar so weit, sie für die Macht, die sie über ihn ausübte, zu hassen, und bestrafte sie, indem er das, was sie zu ihm sagte, achtlos überging. Doch auf Dauer gelang ihm das ebenso wenig wie alle anderen Versuche zu seiner Rettung.

Am schlimmsten waren die Augenblicke, in denen Lucretia ihm Blicke zuwarf, die sich für eine verheiratete Frau nicht ziemten, und anschließend fortsah und dann wieder zu ihm hin.

Später fragte sich Francois, ob er diese Blicke womöglich nur erfunden hatte, weil er sie sich wünschte oder weil seine Eitelkeit sie ihm vorzugaukeln schien.

So geht das nicht weiter, beschwor er sich tausend und abertausend Mal. So darf das nicht weitergehen.

In den za hlreichen Nächten, in denen Francois nicht schlafen konnte, begab er sich an Deck und verlor sich in der Betrachtung der Wasserspur des Schiffes, die im Mondlicht aussah wie ein langer Streifen aus gläsernen Splittern. Doch

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auch dann ging es wieder los, und es dauerte nicht lang, bis Lucretias Bild aus den Wellen trat.

Welcher Wahn hat mich befallen? schoss es Francois durch den Kopf, während er still immer wieder hilf mir flehte. Hilf mir, Allmächtiger, denn allein kann ich dagegen nicht an.

Lucretia schaute dem Skipper zu, der seine Befehle von der Brücke zu den Masten hochbrüllte, wo die Dunkelheit die Männer verschluckte.

»Sehr eindrucksvoll, ihn bei der Arbeit zu beobachten, nicht wahr?«

Lucretia blickte sich um. Dicht neben ihr stand der Unterkaufmann Cornelius.

»Der Steuermann lenkt zwar das Ruder, doch Schiffe dieser Größe werden vornehmlich durch Besan- und Sprietsegel vorangetrieben. Das erfordert größtes Geschick seitens des Kapitäns.«

»Oh, ich glaube, unser Kapitän ist trotz seiner schlechten Manieren äußerst geschickt.«

»Es heißt, er sei der beste Skipper der Gesellschaft. Deswegen sieht man ihm seine Manieren wohl nach.«

»Schon möglich«, entgegnete Lucretia unwillig. »Richtig ist das aber nicht.«

Jeronimus strich sich über die Haare, die der Wind aufrecht gestellt hatte.

Lucretia musterte ihn nachdenklich. Ich mag es nicht, wie selbstverliebt er mit seinem Äußeren umgeht, fuhr es ihr durch den Sinn. Die Art, in der er sich die Haare glattzupft, bin ich eigentlich eher von Frauen gewohnt.

Nachdem sie für eine Weile geschwiegen hatten, ergriff Jeronimus abermals das Wort. »Erscheint es Euch nicht auch faszinierend, bis ans Ende der Welt zu segeln, ohne sich darüber

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großartig den Kopf zu zerbrechen? Ich finde, wir leben in erstaunlichen Zeiten.«

»Ich hätte es vorgezogen, in Holland zu bleiben«, entgegnete Lucretia unwirsch.

»Sehnt Ihr Euch denn nicht nach dem Wiedersehen mit Eurem Herrn Gemahl?«

»Natürlich tue ich das«, erwiderte Lucretia scharf. Sie wurde rot. Er hatte sie verwirrt.

»Ihr müsst mich entschuldigen«, murmelte sie hastig. »Es ist spät. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Madame«, hallte es spöttisch hinter Lucretia her, während sie zu ihrer Kabine eilte.

Ich hätte damals mit Baudouin reisen sollen, dachte sie unterwegs. Warum musste ich mich auch an seiner statt um die Familiengeschäfte kümmern? Sie seufzte bei dem Gedanken an die mangelnde Geldkenntnis ihres Mannes. Baudouin entstammte einer vornehmen Familie, in der man die Dukaten nicht einzunehmen, sondern lediglich auszugeben verstand.

Nun hatte sie ihre nächste Pflicht in Angriff genommen und begab sich nach Java an seine Seite. Sie wünschte jedoch, sie würde ihrer Wiederbegegnung freudiger entgegensehen.

Tryntgen hatte nicht bemerkt, dass Sussie sich davongestohlen hatte. Gewiss wäre sie außer sich, wenn sie mir auf die Schliche käme, dachte Sussie. Sie tat also besser daran, sich zu sputen.

Sussie klopfte an die Tür und hörte eine Stimme, die ihr Einlass gewährte.

Jeronimus warf ihr einen kurzen Blick zu und bedeutete ihr mit einem Nicken, sich zu setzen. Danach widmete er sich erneut seiner Lektüre.

Sussie blickte sich neugierig um. Die Kajüte war winzig, besaß jedoch den Vorzug, dass Jeronimus sie mit niemandem

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teilen musste, was an Bord der Batavia ein Luxus war.

Außerdem hatte ihr Besitzer sie wohnlich gemacht. Die Wände waren hübsch mit Behängen" geschmückt, von der Decke hing eine kunstvoll geschmiedete Schiffslampe herab, es gab einen fein geschnitzten Schreibtisch und einen weichen Sessel mit Samtbezug. Hier lässt es sich leben, dachte Sussie - abgesehen von dem eigenartigen Geruch, der die Luft durchtränkt. Ihre Augen wanderten zu einem Regal, auf dem sich kleine Fläschchen befanden. Geheime Tränke aus Kräutern, vermutete sie. Ihr Blick glitt über die aufgestapelten Bücherberge hinweg.

Alles so, wie es sich für einen studierten Mann und Apotheker gehört, entschied Sussie.

Jeronimus klappte sein Buch mit einem Knall zu, und Sussie zuckte zusammen. Auf seinem Gesicht malte sich ein kleines Lächeln ab.

»Mit wem habe ich das Vergnügen?«, erkundigte er sich.

»Ich bin Sussie Frederix«, entgegnete sie ein wenig eingeschüchtert.

»Was kann ich für Euch tun?« Jeronimus senkte die Stimme.

»Ihr wollt mir doch hoffentlich kein Geheimnis preisgeben und zugeben, dass Ihr in Schwierigkeiten seid?«

»Nein, Herr Unterkaufmann«, stammelte Sussie errötend.

»Nein, das ist es nicht.«

Unterdessen wurde Sussies Blick von einem Messingmörser angezogen, auf dem Worte eingraviert waren.

Jeronimus war ihrem Blick gefolgt. »Amor vincit omnia«, las er. »Wisst Ihr, was das bedeutet?«

Sussie schüttelte den Kopf.

»Das ist Lateinisch. Es bedeutet, dass die Liebe alles besiegt.

Was meint Ihr dazu? Glaubt Ihr, dass dem so ist?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Sussie leise.

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»Natürlich nicht. Welch eine dumme Frage! So, und nun teilt mir bitte Euer Anliegen mit.«

Unter seinem eindringlichen Blick senkte Sussie die Lider. Ihr war, als würde er bereits alles über sie wissen.

»Sucht Ihr nicht doch nach einem Mittelchen, das Eure Leibesfrucht abtötet?«, hörte sie Jeronimus flüstern.

Sussie schüttelte den Kopf noch heftiger als zuvor. Was hatte er da gesagt? Warum starrte er sie derart eigentümlich an? Sie hatte doch nichts Unrechtes vor - sie wollte lediglich einen bestimmten Mann zum Ehemann haben. »Es gibt jemanden...

einen Soldaten... den ich mag.«

»Oh, Ihr sucht nach einem Liebestrank?« Jeronimus lächelte genüsslich.

»Ja, bitte.« Sussie nickte.

»Aber Ihr seid doch noch ein halbes Kind!«

»Ich bin sechzehn Jahre alt«, log Sussie. Beinahe jedenfalls, fügte sie im Stillen hinzu.

»Was? Schon sechzehn Jahre!«, wiederholte Jeronimus amüsiert. »Und dann auch noch so ansehnlich! Glaubt mir, in ein, zwei Jahren werdet Ihr für das, was Ihr erreichen wollt, keinen Trank mehr nötig haben.«

Sussie hielt Jeronimus einen silbernen Reichstaler entgege n.

»Das ist alles, was ich habe«, murmelte sie.

Jeronimus schien für einen Moment zu zögern. Dann ergriff er die Münze und ließ sie in seine Tasche gleiten. »Ich will sehen, was sich machen lässt«, verabschiedete er Sussie.

Wie schön und sanft das Meer sein kann, dachte Lucretia, während sie dem leisen Knarzen der Taue lauschte, das sanfte Wiegen des Schiffes unter sich spürte und zu den fremden Sternen emporblickte, die hoch über ihr in den Masten blinkten.

Sie zog ihren Umhang enger um die Schultern. Bereits seit Wochen nagte eine bislang unbekannte Rastlosigkeit an ihr, die

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sie nachts nicht schlafen ließ und tagsüber schwer und bleiern machte.

Als Lucretia hinter sich Schritte vernahm, wandte sie sich um.

Aus der Dunkelheit löste sich die Gestalt des Kommandeurs.

»Frau van der Mylen«, murmelte er steif und versuchte, die Freude zu verbergen, die ihn durchströmte. »Was tut Ihr so spät noch hier?«

»Ich - ich bewundere die Sterne«, antwortete Lucretia verlegen.

»Sie sind heute sehr klar, nicht wahr?«, sagte Francois und ließ seine Blicke wachsam in die Runde gleiten.

Niemand war in der Nähe, um zu lauschen.

»Wir haben uns länger nicht unterhalten«, hub Francois vorsichtig an. Er bemühte sich, beiläufig zu klingen. »Gefällt es Euch noch an Bord meines Schiffes?« Angeber, schalt er sich, Einfaltspinsel. Kommt dir nichts Besseres in den Sinn?

»Das waren bisher die drei längsten Monate meines Lebens«, erwiderte Lucretia unbehaglich. »Ich weiß noch nicht, was schlimmer ist: das Essen oder die Langeweile.«

»Der Reiz des Abenteuers verflüchtigt sich rasch«, gab Francois zu. »Doch tröstet Euch, wir erreichen bald das Kap der Guten Hoffnung.« Er hielt kurz inne, ehe er sich erkundigte:

»Ich nehme jedoch an, Ihr könnt es kaum erwarten, endlich in Batavia anzukommen?«

Zum Teil ist das richtig, dachte Lucretia, doch andererseits harrt meiner dort lediglich eine andere Form der Langeweile.

»Wie ist es in Batavia?«, fragte sie ausweichend.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Francois. »Es soll wohl ähnlich wie in Indien sein. Das hieße also, sehr reizvoll aufgrund der Fremdartigkeiten. Vielleicht ist die Luft für uns nicht immer ganz gesund...« Seine Stimme verebbte.

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Lucretia betrachtete ihn besorgt. Dann ergriff sie das Wort:

»Der Skipper behauptet, dort sei es heiß wie in der Hölle, und die meisten Menschen stürben im ersten Jahr.«

Ein feinfühliger Mensch, unser Skipper, dachte Francois. »Er übertreibt«, beschwichtigte er sie. »Wie Ihr seht, lebe ich noch.«

»Ich glaube, ich werde Holland vermissen.«

»Es wird Dinge geben, die Euch versöhnen. Ich nehme an, Langeweile werdet Ihr dort nicht verspüren.«

»Zieht es Euch deshalb zurück?«, fragte Lucretia.

»Nein«, bekannte Francois, »ich fürchte, ich werde von meinem Ehrgeiz getrieben.«

»Seit wann fürchtet ein Mann denn seinen Ehrgeiz?«, wollte Lucretia wissen.

»Nun, zuweilen stellt sich der Ehrgeiz als harter Meister heraus.«

»Gibt es denn keine Frau, die Euch mit Eurem Schicksal versöhnt?«

»Mein Leben gehört der Gesellschaft. Ich habe wohl zu spät erkannt, was mir dabei entgeht. Das war mein Fehler, und nun erleide ich den Verlust.«

»Es gibt Männer, die sich ihren Pflichten widmen und dennoch eine Ehefrau haben.«

»Vielleicht bin ich nicht der Mann, der sich allein aus Gottesfurcht und um der Nachkommen willen vermählt.«»Und welcher wäre Euer Grund?«

»Die Liebe«, erwiderte Francois. Er schwieg für einen Moment, ehe er hinzufügte: »Ihr mögt das als seltsam empfinden, doch ich halte sie für den einzigen Grund.«

»Seid Ihr ihr noch nie begegnet?«

»Nein.«

Lucretia stellte fest, dass seine Antwort ihr nicht gefiel.

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»Und Ihr?«, hörte sie Francois sagen. »Habt Ihr aus Liebe geheiratet?«

So bittend darf er mich dabei nicht anschauen, dachte sie mit klopfendem Herzen. Sie senkte die Lider. »Manchmal nimmt der Mensch einfach das, was er bekommt.«

»Bezieht Ihr das auf Euch?«, fragte Francois erregt. »Ist es Euch auf diese Weise ergangen?« Als Lucretia schwieg, fasste er das als Zustimmung auf.

»Lucretia«, hub er nun sehr entschlossen an. »Ihr habt mich von den Frauenpalästen reden hören, wo die indischen Fürsten sich die schönsten Frauen ihres Landes halten. Gelegentlich wurde es mir gestattet, sie zu bewundern. Doch ganz gleich, wie bezaubernd ich sie fand, keine von ihnen könnte sich jemals mit Euch messen.«

Lucretia starrte in die dunklen Fluten zu ihren Füßen. Auf diese Weise hat Baudouin nie mit mir gesprochen, dachte sie.

Wie traurig, dass es nun viel zu spät für die Werbung eines anderen ist. Dabei hätte ich jemanden heiraten können, der das, was ich bin, zu schätzen weiß. Lucretia spürte, dass ihr schwindelte, so dass sie Halt suchend nach der Reling griff.

»Ich habe mir abermals eine zu große Freiheit herausgenommen, nicht wahr?«, murmelte Francois. »Bitte verzeiht mir, aber ich will es jetzt einfach sagen. »Ich bin einsam, Lucretia, ich sehne -«

»Nein!«, wehrte sie ab. »Es wird genug Frauen geben, die sich glücklich schätzen, an Eurer Seite zu sein.«

Francois lachte auf. »Glaubt Ihr denn, eine Glücksritterin böte Abhilfe gegen die Einsamkeit?« Als Lucretia keine Antwort gab, setzte er fast ungeduldig hinzu: »Gewiss stünden mir Frauen zur Verfügung. Es muss also wohl an mir liegen, denn ich betrachte Ruhm und Reichtum nicht als Garanten für die Liebe.« Er machte eine Pause, ehe er mit neuer Heftigkeit

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fragte: »Warum sagt Ihr mir nicht endlich offen, ob Ihr Euren Mann liebt oder nicht?«

»Weil das Gesagte für heute genügen muss, Francois«, erklärte Lucretia, ehe sie ihm den Rücken kehrte und in der Dunkelheit verschwand.

Zwaantie blickte Lucretia neugierig entgegen, als diese ihr über den Gang entgegengestürmt kam. Hol mich der Teufel!, dachte sie. Die frische Nachtluft allein wird ihr die Röte wohl nicht in die Wangen getrieben haben!

»Ist es zum Lustwandeln nicht ein wenig zu spät?«, fragte sie spöttisch.

»Was tust du hier?«, fuhr Lucretia sie an.

Ja, funkele mich nur wütend an, triumphierte Zwaantie. Ich bin dir auf die Schliche gekommen.

»Ich musste den Abort aufsuchen«, entgegnete sie, indem sie zum Deck hochspähte. »Wie ich sehe, konnte der Herr Kommandeur auch nicht schlafen.«

»Nimm deine Zunge in Acht«, befahl Lucretia ihr. »Der Kommandeur und ich sind uns rein zufällig begegnet.«

Zwaantie freute sich. Das würde dem Skipper gefallen, stellte sie fest. Er schätzte kleine Tratschgeschichten. Der Kommandeur und ich sind uns rein zufällig begegnet! Wie es aussah, hatte der Kommandeur diesen Zufall weidlich ausgenutzt.

»Ich bin mir nicht bewusst, etwas Erheiterndes geäußert zu haben«, bemerkte Lucretia.

Zwaantie musste sich zwingen, nicht laut loszuprusten.

»Entschuldigt, Madame«, murmelte sie ernst. »Wenn Ihr möchtet, werde ich Euch jetzt beim Auskleiden helfen.« Dabei kann ich gleich prüfen, ob in der Hast nicht rein zufällig ein Knopf im falschen Knopfloch gelandet ist, dachte sie. Sie musste sich abermals das Lachen verbeißen, als sie sich

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vorstellte, wie der hölzerne Herr Kommandeur diese steife Eiskönigin geschmolzen hatte.

Niemals findet man hier ein ungestörtes Plätzchen, dachte Sussie, immer ist mindestens einer da, der hört und sieht, was man tut. Auf diese Weise hatte sie zum Beispiel mitbekommen, dass Tryntgen und ihr Mann Claas die Dunkelheit nutzten, um beieinander zu liegen. Es begann mit dem Rascheln von Kleidungsstücken. Wenig später ertönten Tryntgens Seufzer, kam ihr stoßweiser Atem, und schließlich das Grunzen von Claas, wenn er sich über sie warf.

Das war jedoch alles, was Sussie erfuhr. Die Einzelheiten solcher Begegnungen blieben ihr verborgen. Manchmal stellte sie sich vor, diesbezüglich von Wiebe Hayes eingeweiht zu werden. Sie entsann sich des Bullen zu Hause auf dem Bauernhof, der die Kühe bestieg. Was aber hatte das den Kühen bedeutet? fragte sie sich. Wenn sie sich recht erinnerte, hatten sie stets reichlich unbeteiligt gewirkt.

Eines Morgens saß Sussie mit Tryntgen allein unter ihrem Sonnensegel. In der vergangenen Nacht war es abermals zu jenen sonderbaren Geräuschen gekommen. In Gedanken versuchte Sussie, Claas mit denselben Hodensäcken auszustatten, die sie an dem Bullen zu Hause gesehen hatte. Es gelang ihr nicht. Sie passten einfach nicht zu Claasens rosigen Wangen und seinem einfältigen Gesicht.

»Wie ist das so?«, flüsterte Sussie ihrer Schwester zu.

Tryntgen sah von ihrer Handarbeit auf. »Wie ist was? Wovon redest du?«

»Na, du weißt schon... mit einem Mann zusammen zu sein.«

Sussie warf einen Blick zur Seite. Tryntgen hatte die Lippen zusammengekniffen und machte ein empörtes Gesicht.

»Ich bin für dich verantwortlich, Sussie. Glaubst du, ich hätte Lust, dich in Schwierigkeiten zu sehen?«

»Es war doch nur eine Frage! Ich bin einfach neugierig.«

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»Das ist mir keineswegs entgangen. Ich habe die Blicke gesehen, die du diesem Soldaten zuwirfst. Knüpf dir doch gleich dein Mieder auf, dann weiß er wenigstens, was du willst!«

Sussie spürte, dass ihre Wangen plötzlich glühten. »Ich schaue ihn doch nur manchmal an«, murmelte sie.

»Ha!«, schnaubte Tryntgen. »Das ganze Schiff weiß, dass du hinter ihm her bist.«

Sie hat meine Frage nicht beantwortet, dachte Sussie, und nun macht es mir keinen Spaß mehr, das Thema von mir aus noch einmal anzuschneiden.

»Am Anfang tut es weh«, hörte sie Tryntgen sagen.

»Wenn er es in dich hineinsteckt?«

Tryntgen nickte. »Beim nächsten Mal ist es aber schon nicht mehr so schlimm«, fuhr sie fort. »Und nach einer Weile gefällt es auch dem Mädchen.«

»Ich habe Pieter Koepers Ding einmal gesehen«, gestand Sussie. »Wir schwammen im Kanal, und hinterher wollte er mich... da unten sehen. Ich habe ihm gesagt, erst müsse er sich zeigen. Es war winzig, nicht größer als eine Eichelnuss.«

Tryntgen sah Sussie fassungslos an. »Willst du damit sagen, du hast deinen Rock vor ihm gehoben?«

»Nein.« Sussie schüttelte den Kopf. »Ich bin fortgelaufen, nachdem ich alles gesehen hatte.«

Tryntgen hatte die Brauen zusammengezogen.

»Wie kann es denn wehtun, wenn das Ding so klein ist?«, fragte Sussie.

»Es wächst, Sussie«, seufzte Tryntgen ergeben. »Das hast du doch bereits bei Pferden gesehen, oder nicht?«

»Wenn jemand ein Ding wie ein Pferd hätte, ließe ich ihn nicht bei mir liegen«, entgegnete Sussie.

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Tryntgen senkte die Stimme, da sich einige der anderen Frauen näherten. »Es wird etwa so groß«, erklärte sie und machte eine hastige Bewegung mit den Händen.

Sussie blinzelte. Das war ihr zu schnell gegangen.

»Wann wird es denn so groß?«, erkundigte sie sich. »Bei Pieter Koepers sah es aus, als würde das noch Jahre dauern.«

»Du kannst nachhelfen«, wisperte Tryntgen errötend. »Es ist einerlei, wie klein es zu Anfang ist. Wenn du es berührst, wird es größer.«

Sussie lauschte ihrer Schwester sehr aufmerksam. Allmählich begann sie die Zusammenhänge zu erahnen. »Wie macht man das?«, flüsterte sie.

»Das geht dich erst etwas an, wenn du verheiratet bist«, murmelte Tryntgen. »Ich sage es dir noch einmal, Sussie, halte dich bloß von dem Soldaten fern! Mach mir keine Schande!«

»Du liebe Zeit, Tryntgen, ich habe einmal mit ihm gesprochen, sonst nichts.«

»Einmal sprechen reicht bei einem Soldaten«, erwiderte Tryntgen. »Was glaubst du, was er beim zweiten Mal tut?«

Sussie starrte ihrer Schwester verdrossen ins Gesicht.

Tryntgen hat gut reden, dachte sie, ihr Mann hat offenbar mehr als eine Eichelnuss zu bieten.

Von seinem Platz aus schaute der Skipper Lucretia nach, die mit Zwaantie im Gefolge das Achterdeck überquerte. Sein Blick blieb an Lucretias feingliedrigen Fingern haften, die an ihren flatternden Haarsträhnen nestelten.

Wie kann sie es wagen, so schön zu sein? dachte der Kapitän.

Wie lange, glaubt sie, vermag ich mein Verlangen noch zu zügeln? Es nutzt mir nichts zu wissen, dass sie mich nicht will.

Vielmehr spüre ich, das dies meine Lust auf sie nur noch stärker macht.

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Jacobs zwang sich, seinen Blick von Lucretia abzuwenden. Er schaute zu Zwaantie hin, die ihm zuzwinkerte. Ja, setzte er seine Gedanken fort, bei dir ist das leicht. Du machst es umsonst oder für einen Taler. Er nickte Zwaantie unmerklich zu. Zwaantie bedeutete ihm mit einem unauffälligen Wink, dass sie verstanden hatte.

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V

Wir hatten vorhin von dem Regelwerk gesprochen, das unsere Holländer leitet und ihnen ihre Entscheidungen diktiert. Sie erinnern sich?

Nun kommt es jedoch zu einem interessanten Phänomen: Je weiter Holland sich nämlich in der Ferne verliert, desto lockerer werden mit einem Mal die Zügel, die zuvor noch so bändigend wirkten.

Das bedeutet natürlich, ich habe jetzt leichteres Spiel.

Noch etwas. Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass unsere Freunde in Sünde geboren sind. Das ist gewissermaßen die Überschrift des vorgenannten Werkes.

Welche Sünde? werden Sie mich fragen. Immerhin gibt es deren unendlich viele.

Ich glaube, man muss die Sünde hier als Sammelbegriff betrachten, die jeder nach seinem Gutdünken auslegt. Für die einen können es die Frauen sein, für andere Habgier, die Sucht nach Geltung, Neid - oder irgendein anderer glitzernder Splitter, den man sich aus dem Diamanten des Lebens bricht.

Jedenfalls muss ich mir nicht groß den Kopf zerbrechen, wenn ich arme Seelen versuc hen will.

Wie wäre es mit den Frauen? Warum nicht? Beginnen wir doch mit der Fleischeslust. Wir nehmen eine Frau, warm, weich, verführerisch und verheißungsvoll.

Wie sagt es der Herr Pfarrer immer so schön? Der Mann soll stets die Folgen seiner Taten bedenken! Ein guter Ratschlag. Er hat dabei leider die große Ausnahme vergessen, denn Männer werden zwischen weiblichen Schenkeln alles Mögliche tun, aber gewiss nicht denken.

Also dann, auf zur nächsten Tat!

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Siebenundzwanzig Grad und sechsunddreißig Minuten südlicher Breite

dreiundzwanzigster Tag des März im Jahre des Herrn, 1629

Während Lucretia ihre Abendmahlzeit zu sich nahm, huschte Zwaantie über die Gänge und kletterte wenig später den Aufgang zur Kapitänsbrücke empor.

»Na, Zwaantie«, begrüßte Jacobs sie. »Hat deine Herrin dich ausgehen lassen? Wo steckt sie denn unterdessen?«

Zwaantie zog eine Schnute. »Sie speist mit den Herren und wirft dem Kommandeur glühende Blicke zu«, entgegnete sie.

»Warum interessiert Euch das?«

»Aus keinem besonderen Grund.«

»Ach nein?«, fragte Zwaantie pikiert. »Glaubt Ihr, ich sehe nicht, wie Ihr ihr nachschaut?«

»Ist das denn ein Wunder, da sie sich neuerdings wie eine Hure aufführt?«

»Da könnt Ihr aber lange warten, Herr Kapitän. Lucretia hat ihren Freier schon gefunden.«

Der Kapitän starrte missmutig vor sich hin.

»Dass sie in der vergangenen Nacht mit dem Kommandeur zusammen war, wisst Ihr doch, oder nicht?«

Jacobs wurde dunkelrot und spuckte aus.

»Ein armes Mädchen wie ich kommt gegen die wohl nicht an, wie?«, schmollte Zwaantie.

»Du kannst Dinge, von denen sie nicht einmal weiß, dass es sie gibt«, erwiderte der Kapitän.

»Das sagt Ihr doch nur so.«

»Nein«, versicherte der Kapitän, »das meine ich auch. Wenn ich

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dir schöne Kleider und Juwelen schenkte, würden sich alle den Hals nach dir verrenken, nicht nach ihr.«

Zwaantie schmiegte sich an ihn. »Haben verheiratete Kapitäne Kleider und Juwelen zu verschenken?«, flüsterte sie.

Als Jacobs die Arme um sie legen wollte, stieß sie ihn fort.

So ist das also, dachte der Kapitän. Sie träumt von einem feinen Leben, zu dem ich ihr verhelfen soll.

Zwaantie trat einen Schritt zurück und ließ ihren Umhang auffallen, um Jacobs einen Blick auf ihr offenes Mieder zu gewähren. »Der Kommandeur«, begann sie einschmeichelnd,

»hat sicherlich jede Menge an Geschmeide zu vergeben.«

»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte der Kapitän. »Ich bin auch ein reicher Mann. Komm zu mir, Zwaantie - oder willst du, dass ich dich hole?«

Zwaantie tat, als wolle sie ihm den Rücken kehren, doch der Kapitän packte sie beim Handgelenk und riss sie an sich. Für einen Moment dachte er, sie hätte tatsächlich vor, sich zu wehren, doch gleich darauf gab sie nach und rieb ihren Schenkel an seinem Glied. Götter und alle Teufel, fuhr es Jacobs durch den Sinn, das Mädchen versteht sein Handwerk wirklich! Er presste seine Lippen auf ihren Hals.

Zwaantie schob ihn zurück. »Denkt Ihr nie an Eure Frau in Holland?«, flüsterte sie.

»Nicht, wenn ich dich habe.«

»Ihr habt mich aber noch nicht«, kicherte Zwaantie, befreite sich aus seinem Griff und flüchtete in Richtung des Niedergangs.

Dieses kleine Luder wird mich doch jetzt nicht im Stich lassen, dachte Jacobs verärgert.

Er hörte Zwaantie lachen. »Bis später!«, rief sie ihm zu, ehe sie verschwand.

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Die Schiffsbauer hatten auf der Batavia die Heckgalerie überdacht und dort die Aborte für den Kommandeur und die Offiziere eingerichtet.

Als der Kapitän seine Wache beendet hatte, wartete Zwaantie auf dieser Galerie bereits auf ihn.

Wortlos zog Jacobs sie in eins der Kabinette und knöpfte seine Hose auf. Dann schob er ihr die Röcke empor und drang grob in sie ein. Zwaantie biss ihm in die Schulter, um einen Schmerzensschrei zu ersticken.

»Komm, Süße«, murmelte der Kapitän. »Ich werde eine feine Dame aus dir machen.«

Er hob Zwaantie hoch, und sie schla ng ihre Beine um seinen Rücken. Gleich darauf stöhnte der Kapitän auf. Dann war es vorbei.

Zweiunddreißig Grad und achtundzwanzig Minuten südlicher Breite

zweiter Tag des April im Jahre des Herrn, 1629

Jacobs stand auf der Brücke und schnupperte in den Wind. Es roch bereits nach Land, stellte er fest.

Nach einer Weile erkannte er dünne Flechten aus Seetang, die auf den Wellen trieben. Er hob den Blick. Über ihm kreisten vereinzelte Möwen.

Na also, dachte er. Höchstens zwei Tage würde es noch dauern, bis sie die holländische Kolonie am Kap der Guten Hoffnung erreichten.

Wie an jedem Sonntagmorgen hatten die Menschen auf der Batavia sich unter dem Großmast versammelt, um der Predigt von Pfarrer Bastians zu lauschen, wobei es bisweilen auch vorkommen konnte, dass er Judith aus der Bibel vorzulesen bat.

Beendet wurde der Gottesdienst stets mit einem Loblied und

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einem Gebet, in dem der Pfarrer den Herrn um das Gelingen ihrer Reise anflehte.

An diesem Sonntagmorgen trat Pfarrer Bastians nach seinem Schlussgebet auf Conrad van Huyssen zu und begann ein Gespräch mit ihm.

Judith ging ein paar Schritte weiter. Dann blieb sie stehen und musterte den Jonker aus den Augenwinkeln. Als sie bemerkte, dass van Huyssen zu ihr herübersah, senkte sie rasch den Blick.

Es dauerte nicht lange, bis ihr Vater van Huyssen zu ihr führte. »Dieser junge Herr hier«, hub er freudig an, »hat dich für dein heutiges Vorlesen gelobt. Er fand es sehr ergreifend.«

»Ich danke Euch«, murmelte Judith verlegen.

»Er ist auch zutiefst beeindruckt von der Art, in der ich Gottes Wort auslege«, fuhr ihr Vater mit unverkennbarem Stolz in der Stimme fort.

Van Huyssen blickte Judith an. »Ich mag es, wenn Gottes Wort von einer süßen Stimme verbreitet wird«, sagte er leise.

»Dem Menschen sollte Gottes Wort stets süß erscheinen«, bemerkte Pfarrer Bastians mit nachsichtigem Tadel. »Dabei ist es einerlei, welche Stimme es verbreitet.«

Ich kann die Gedanken meines Vaters von seinen Augen ablesen, ging es Judith durch den Sinn. Er fühlt sich geschmeichelt, weil ihm ein Edelmann Aufmerksamkeit zollt.

Aber war es nicht so, dass es ihr ähnlich erging?

Nachdem die beiden Männer noch einige Worte gewechselt hatten, verabschiedete van Huyssen sich mit einer Verneigung.

Judith verspürte einen sanften Schauer über ihren Rücken fahren.

»Ein feiner junger Mann«, verkündete Pfarrer Bastians, nachdem van Huyssen verschwunden war.

»Ich glaube schon«, erwiderte Judith kaum vernehmbar.

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»Seine Bewunderung kann nichts schaden«, erklärte ihr Vater.

»Das ist etwas anderes, als die Zeit mit gemeinen Soldaten zu vertun.«

»Ich denke, vor den Augen des Herrn sind alle Menschen gleich«, entgegnete Judith.

Pfarrer Bastians schüttelte verwundert den Kopf. »Wie kommst du denn auf diese Idee?«, fragte er. »Da musst du etwas falsch verstanden haben.«

Jeronimus* Blicke folgten Lucretia verstohlen. Er wusste, dass er sich in Acht nehmen musste. Niemand durfte etwas von den wilden Begierden ahnen, die in seinem Körper tobten.

Als Lucretia sich umwandte, lächelte Jeronimus freundlich und nickte ihr zu.

Er war jedoch nicht der Einzige, der Lucretia beobachtete, denn oben von der Brücke aus starrte auch der Kapitän hinter ihr her, wobei seine Hände sich so fest um das Geländer krallten, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Unten auf dem Boden des Schiffes schwammen die Ratten derweil im Bilgewasser und sättigten sich an dem Abfall, der ihnen entgegentrieb. An den Wänden über ihnen huschten Kakerlaken entlang und ernährten sich von dem, was für sie übrig blieb.

Bald würden alle, die auf diesem Schiff versammelt waren, das Kap der Guten Hoffnung umrunden.

Danach würde ihre Fahrt in den Untergang zügiger vonstatten gehen.

Tafelbucht, Kap der Guten Hoffnung

sechzehnter Tag des April im Jahre des Herrn, 1629

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Die Flotte lag in der Tafelbucht vor Anker. Die holländischen Fahnen hingen reglos an den Masten, denn obgleich der Tag nun zur Neige ging, bewegte sich noch immer kein Lüftchen.

An der Küste schimmerte die stumpfe Spitze des Tafelberges rötlich im Licht der untergehenden Sonne. Von dort aus zog sich ein schwerer, unbekannter Geruch bis zu den Schiffen hin.

Der Kommandeur und die Kaufmannsgehilfen waren bereits an Land gegangen, um die Vorräte für den zweiten Teil ihrer Reise einzukaufen.

Der Kapitän war an Bord zurückgeblieben. Nicht ein Wort des Dankes von diesem aufgeblasenen Wicht, fluchte er grimmig vor sich hin. Nicht eine Silbe der Anerkennung dafür, dass wir dem Zeitplan um einen Monat vorausgeeilt sind.

Dann riss er sich zusammen und spuckte aus. Auch gut, sagte er sich, umso weniger schuldig würde er sich fühlen, wenn er sich nun die Kehle mit etwas Stärkerem als Wasser anfeuchten ging. Zwaantie stand neben dem Kapitän und verfolgte mit weit aufgerissenen Augen das geschäftige Treiben auf den zahllosen Barkassen, die um die Schiffe kreisten und auf denen Waren feilgeboten wurden.

Als über der Reling ein Dingi zu Wasser gelassen wurde, warf Jacobs sich seinen Umhang über, erteilte seinem Steuermann die letzten Befehle und überquerte mit weit ausholenden Schritten das Deck.

»Kommst du, Zwaantie?«, rief er.

»Frau van der Mylen hat gesagt, ich dürfe das Schiff nicht verlassen.«

»Sie soll sagen, was sie will«, erwiderte der Kapitän. »An Bord gilt immer noch mein Befehl.«

Er stapfte weiter geradeaus. An der Reling wandte er sich um.

»Was ist nun?«, schrie er ungeduldig.

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Zwaantie zögerte für einen Augenblick. Dann raffte sie ihre Röcke zusammen und rannte hinter ihm her.

Männer haben stets etwas Unberechenbares an sich, dachte Zwaantie, denn nie weiß man im Voraus, was sie im nächsten Augenblick tun.

Wenn der Skipper zum Beispiel lächelte, konnte es sein, dass er sie gleich darauf an sich zog, um sie zu umarmen, doch ebenso gut war es möglich, dass er sie von sich stieß, um sie auszulachen.

Nicht, dass dergleichen sie störte. Sie gab sich keinen sanften und freundlichen Männern hin. Lieber war ihr, wenn einer zuzupacken wusste, und wenn es dabei zuweilen Schläge setzte, dann nahm sie das ebenso hin, verstand es als Männerart, Frauen in die Schranken zu weisen, ganz gleich, um was es im Einzelnen ging.

Und da war noch etwas, das ihr an dem Skipper gefiel. Sie mochte die Art, in der die anderen Männer ihn betrachteten. Sie hatten Angst vor ihm. Noch mehr genoss sie, dass diese selben Männer wussten, dass sie des Kapitäns Geliebte war, und dass sie besser ihre Lust auf sie verbargen.

An diesem Abend trank der Kapitän reichlich. Er kippte sich den Genever hinunter, als tränke er an einem heißen Tag Wasser.

Zwaantie selbst genehmigte sich lediglich ein Gläschen davon, doch das reichte, um ihre Kehle brennen zu lassen und ihr Tränen in die Augen zu treiben.

Dass der Skipper sich nach einer Weile in einer äußerst gefährlichen Stimmung befand, war inzwischen jedermann klar.

Zwaantie spürte, dass die Erregung in ihr wuchs. Prickelnde Schauer krochen über ihre Glieder, und wo hlige Hitzewellen stauten sich in ihrem Leib. Sie schloss die Augen, als sie sich vorstellte, wie hart und rücksichtslos er sie später nähme.

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Es war eine kleine Runde, die sich auf der Zandaam am Tisch des dortigen Kapitäns eingefunden hatte. Die Männer tranken und würfelten.

Alle kannten Jacobs, manch einer war sogar früher schon auf einem seiner Schiffe gefahren.

Zwaantie war die einzige Frau am Tisch. Jacobs hatte seinen Arm um sie gelegt. Seine Hand stahl sich in ihr Mieder.

Mit diebischem Vergnügen erkannte Zwaantie, was er den anderen Männern auf diese Weise antat, wie sie fortschauten und schluckten. Sie war überzeugt, dass der Skipper sich an ihren Qualen ebenso ergötzte.

Als sie die Zandaam verließen, war der Kapitän betrunken.

Jan Everts, sein Bootsmann, schlug ihm vor, auf die Batavia zurückzukehren, doch Jacobs wollte davon nichts wissen.

»Zuerst müssen wir noch auf die Buren«, verkündete er. »Da steht noch eine Spielschuld offen.«

Jan Everts wusste, dass es keinen Sinn hatte, dem Kapitän in seine m Zustand zu widersprechen. Wortlos begleitete er den Skipper und Zwaantie zurück in ihr Dingi und ruderte sie zur Buren hinüber.

Jacobs rückte sich zufrieden auf seinem Sitz zurecht und drückte einen frischen Krug mit Genever an sich. Seinen anderen Arm legte er um Zwaantie.

So betrunken der Kapitän auch war, schaffte er es doch ohne Schwierigkeiten, am Fallreep der Buren hochzusteigen.

Zwaantie in ihren langen Röcken benötigte hingegen Hilfe, die Jan Everts ihr umgehend gewährte, indem er mit einem zielstrebigen Griff zwischen ihre Beine griff und Zwaantie nach oben stemmte. Zwaantie kicherte und ließ ihm seinen Spaß.

Der Kapitän der Buren wirkte nicht erfreut, als er seine Besucher erkannte, doch Jacobs schien das nicht zu stören.

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Auch auf der Buren schien es, als würde er die meisten Männer kennen, und so dauerte es nicht lange, bis er mit einigen von ihnen ein neues Würfelspiel begann.

Währenddessen trank er weiterhin Genever oder mit großen Zügen aus einem Krug Wein, den er von einem der Matrosen ergattert hatte. Zwaantie hatte sich erneut an Jacobs' Seite geschmiegt. Sie kicherte, als er derbe Witze riss und sie vor jedermann seine »Zunderbüchse« nannte.

»Wie läuft es denn nun so zwischen Euch und Pelsaert?«, erkundigte sich einer der Männer im Verlauf ihres Spieles.

»Pah, dieser Hanswurst«, dröhnte der Kapitän. »Dieser hochgestochene Geck!«

Zwaantie sah, dass Jan Everts dem Kapitän Zeichen machte und ihm mit einem Kopf schütteln zu schweigen bedeutete.

Jacobs beachtete Everts nicht. »Der Schafskopf denkt, dass ich nur sein Schiffsjunge bin«, polterte er unbeirrt weiter.

»Dabei schafft er es noch nicht einmal in einem Ruderboot über eine Gracht.«

»Solltet Ihr Eure Zunge nicht besser hüten?«, ließ sich einer der Männer vernehmen. »Pelsaert könnte Euch eine Menge Schwierigkeiten bereiten.«

»Der soll besser zusehen, dass ich ihm keine Schwierigkeiten bereite«, tönte Jacobs zurück.

»Gib nicht so an!«, stichelte Barrel, der Oberbootsmann der Buren.

Zwaantie spürte, dass sich die Muskeln des Skippers spannten. Er wollte sich erheben, doch Everts legte ihm seine Hand auf den Arm. Jacbos ergriff den Krug mit dem Genever und beugte sich zurück. Als er ihn absetzte, loderte in seinen Augen ein zorniges Feuer.

Zwaantie merkte, dass Jacobs seinen Arm fester um sie schlang. Im nächsten Moment fuhr seine Hand in ihren

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Ausschnitt und er kniff sie in die Brust. Als Zwaantie zischend die Luft einsog, lachte der Skipper.

»Weiß der Kommandeur von der Frau, die Ihr Euch da haltet?«, fragte Barrel weiter.

»Geht ihn das etwas an?«, erkundigte sich Zwaantie. Sie sah, dass einige der Männer sich zuzwinkerten.

»Der hält besser seinen Mund«, erklärte Jacobs aufgebracht.

»Sonst erfährt jeder, mit wem er sich nachts die Zeit vertreibt.

Oder stimmt das etwa nicht? - Jan?«

Everts wirkte entsetzt. »Lasst es nun gut sein, Skipper«, mahnte er.

»Der kleine Hanswurst treibt es mit ihrer Herrin«, fuhr Jacobs unangefochten fort und machte eine Kopfbewegung zu Zwaantie hin. »Mit einer verheirateten Frau! Mit Madame Hochwohlgeboren, die Geld und ein Haus auf der Heerengracht besitzt.« Er stieß Zwaantie in die Seite. »Du hast es doch gesehen! Sag ihnen, dass es stimmt.«

Zwaantie warf Everts einen unsicheren Blick zu. Sie bemerkte die lauernden Blicke der anderen. »Stimmt, ich habe sie erwischt«, erklärte sie. Jacobs drückte sie kurz an sich und gab ihr zur Belohnung einen Kuss.

Van Schenk, der Kapitän der Euren, erhob sich abrupt. »Du machst dich besser von meinem Schiff, Adriaen«, forderte er Jacobs auf. »Bei derartigem Gerede kommt nur Unheil heraus.«

»Du kannst mich mal«, erwiderte der Skipper.

Jetzt werden sie sich schlagen, dachte Zwaantie und verspürte abermals einen leisen Kitzel.

Stattdessen wandte van Schenck sich jedoch brüsk ab und verließ das Deck in Richtung seiner Kajüte.

Der Skipper grinste. Er setzte erneut seinen Krug mit dem Genever an und trank mit gierigen Schlucken. Den Schnaps, der

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ihm dabei über das Kinn rann, wischte er mit dem Handrücken fort.

»Los, lasst uns weiterwürfeln«, befahl er danach ungeduldig.

Der Mond hing bereits tie f über der dunklen Küste, als die Männer ihre letzte Runde begannen. Der Einsatz belief sich inzwischen auf vierzig Gulden. Das war etwa die halbe monatliche Heuer des Kapitäns. Zum Schluss hatte nur Barrel noch mitgehalten.

Der Kapitän würfelte zwei Fünfen, legte den Kopf in den Nacken und lachte triumphierend.

Barrel würfelte zwei Sechsen.

Für einen Moment war es totenstill. Als Barrel nach dem Geldtopf griff, packte der Skipper seine Hand.»Deine Würfel sind gezinkt«, knurrte er.

»Nimm deine Finger weg, Hurenbock!«, warnte ihn Barrel.

Die beiden starrten sich aus blutunterlaufenen Augen an.

Mit einem Mal sprang der Skipper auf. Seine Hand schloss sich um die Kehle des anderen. Er hob ihn hoch wie ein Kind und schleuderte ihn gegen die Wand. Zwaantie hörte, dass etwas in Barrels Schädel knackte, und sah den Mann zu Boden stürzen. Der Skipper fiel über ihn her und schlug mit den Fäusten auf ihn ein, links, rechts, links, rechts, links. Roter Sprühregen stob auf und senkte sich auf die Planken des Schiffes nieder.

Als zwei der anderen Männer auf Jacobs' Rücken sprangen, schüttelte er sie wie Hunde ab. Gleich darauf wälzten sich drei ineinander verkeilte Leiber auf dem Boden.

Erst als van Schenck herbeigeeilt kam, Alarm schlug und brüllte, er würde den Schiffsmarschall holen, ließ Jacobs von den anderen ab.

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Keuchend kam er auf die Beine. Dann zückte er ein Messer, das er sich aus dem Stiefel gerissen hatte, und knurrte: »Bring mir den Marschall, Freundchen! Nur zu!«

Danach stand er schwer atmend da, warf einen verächtlichen Blick in die Runde und bedeutete Jan Everts mit einem herrischen Wink, das Dingi klarzumachen.

Als Everts wenig später Jacobs und Zwaantie zu der Batavia zurückruderte, begann der Kapitän zu lachen. Er öffnete Zwaanties Mieder und befreite ihre Brüste. Dann bog er ihren Hals zurück und küsste ihre Kehle. Zwaantie gluckste innerlich, als sie sich die hervorquellenden Augen von Jan Everts vorstellte, der ihnen gegenübersaß. Sie würde dem Skipper alles erlauben, ging es ihr durch den Kopf. Nun erst recht.

Zwaantie hörte, dass Jan Everts vor sich hin brummte:

»Deswegen wird es Ärger geben, Kapitän.«

Zwaantie achtete nicht auf ihn. Sie merkte, dass der Skipper nun schwer an ihrer Brust lehnte, und tat ihr Bestes, um ihn wach zuhalten, zumindest bis sie an der Heckgalerie angelangt waren.

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VI

Man sagt, der Mensch vergäße sich im Trunk. Ich glaube hingegen, dass er sich erst dann auf sein wahres Ich besinnt.

Der Zorn, die Begierden, die Meinungen, die in diesem Zustand an die Oberfläche steigen, das sind die echten Spiegelbilder seines Wesens.

Später kommt dann die Reue. Verständlich. Denn nun hat der Mensch sich allen offenbart. Dann muss der Alkohol als Schuldiger dienen. Der hat sein Opfer zum Ungeheuer gemacht.

Das ist natürlich angenehmer, als sich einzugestehen, dass man selbst das Ungeheuer ist.

Gewöhnlich schläft dieses Ungeheuer. Doch wehe, es schlägt die Augen auf und wird wach!

Die Geschichte des Menschen ist keine Geschichte, in der das Gute über das Böse siegt, sondern es ist die der unterdrückten Begierden.

Sehen Sie sich nur die Reisenden auf der Batavia an!

Ich könnte ihnen allen ihr inneres Wesen offenbaren, aber sie sträuben sich ja dagegen, mir zuzuhören.

Sie finden, ich sollte mir größere Mühe geben?

Ich will tun, was ich kann. Wir werden sehen, ob es mir gelingt.

Tafelbucht, Kap der Guten Hoffnung

siebzehnter Tag des April im Jahre des Herrn, 1629

Grundgütiger Himmel, dachte Jeronimus, der Kapitän sieht schrecklich aus! Schneeweiß im Gesicht und grünlich angelaufen, wie Fleisch, das in der Sonne verdirbt. Aus seinen

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Poren dringt der Schnapsgeruch, als hätte er sich mit dem Zeug übergössen. Gib Acht, dass du nicht deine Galle dem Kommandeur auf den teuren Teppich spuckst, riet er Jacobs im Stillen, denn in dem Fall brauchtest du schon gar nicht mehr auf Gnade zu spekulieren.

Das Aufsichtskomitee des Schiffes hatte sich in der Offiziersmesse versammelt: ein grimmig dreinschauender Pfarrer Bastians, Aris Janz, der Arzt, der Marschall, der Kommandeur natürlich, und als Zeuge der Bootsmann Jan Everts, der wie ein verängstigter Schulbub zu Boden blickte und darauf wartete, dass er aufgerufen wurde.

Der Kommandeur schäumte vor Wut. Typisch, dachte Jeronimus, nichts empört einen Scheinheiligen mehr als der Frevel eines anderen.

Jeronimus beobachtete amüsiert, wie die feingliedrigen Finger des Kommandeurs auf den Stützen seines Sessels ungeduldig Trommelwirbel schlugen. Das dürfte für ihn nicht einfach sein, sagte er sich, zwischen den eigenen Gewissensbissen und dem Durst nach Rache zu entscheiden. Er hatte inzwischen ja vermutlich erfahren, was der Skipper hinter seinem Rücken über ihn und die vornehme Frau van der Mylen erzählt hatte. Nun, es würde zumindest interessant und lehrreich sein, hier zu sitzen und den Ablauf des Geschehens zu verfolgen.

»Also«, begann Pelsaert mit schneidender Stimme, »was habt Ihr zu Eurer Verteidigung vorzutragen?«

Auf dem Gesicht des Skippers glänzte kalter Schweiß.

Ein Kater enormen Ausmaßes, stellte Jeronimus fest. Pech, sich in diesem Zustand vor Meister Unerbittlich rechtfertigen zu müssen.

»Kommt nicht wieder vor«, brummte der Kapitän undeutlich vor sich hin, hob den Blick zu einem der Fenster und blinzelte ins Licht.

Daraufhin entstand ein längeres Schweigen.

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»Ist das alles?«, erkundigte sich der Kommandeur schließlich.

Er beugte sich vor und nahm zwei Bogen Papier auf, die auf dem Tisch vor ihm lagen.

»Dann darf ich Euch vielleicht ein wenig auf die Sprünge helfen«, fuhr er fort. »Heute Morgen besuchte mich noch im ersten Tagesgrauen Herr van Dommelen, der Kommandeur der Zandaam. Er erzählte mir, Ihr wäret gestern Nacht bei ihm an Bord gewesen, deutlich angetrunken, und hättet Euch vor aller Augen der Fleischeslust mit einer - einer jungen Frau hingegeben. Herr van Dommelen hatte sich kaum verabschiedet, als der Kommandeur der Buren meine Kajüte betrat, um mir zu berichten, dass Ihr in selbiger Nacht auch ihn samt nämlicher junger Frau mit Eurem Kommen beehrtet. Später habt Ihr einen Kampf angezettelt und dabei einen seiner Männer schwer verletzt. Danach wolltet Ihr zu einer Messerstecherei übergehen, die der Kapitän glücklicherweise zu verhindern wusste. Zuvor hattet Ihr jedoch die Zeit genutzt, um vor mehreren Zeugen Ungeheuerlichkeiten über mich zu verbreiten.«

»Ich war betrunken«, erklärte der Kapitän mit versteinerter Miene. »Worte, die man im Rausch äußert, gelten nicht.«

»Ihr seid der Kapitän der Batavia, mein Herr, nicht irgendein hergelaufener Matrose, auf dessen Wort kein Mensch etwas gibt.«

Der Kapitän erwiderte nichts. Auf seinen Wangen breiteten sich jedoch rote Flecke aus.

Lange hält er das nicht mehr durch, dachte Jeronimus. Sein Stolz wird es nicht zulassen, dass er vor aller Augen und Ohren abgekanzelt wird.

»Ich fürchte, das ist ein Fall für den Rat der ganzen Flotte«, fuhr der Kommandeur ungerührt fort.

Die Kinnmuskeln des Kapitäns begannen zu mahlen. Er wusste, was das bedeuten konnte. Der Rat der Flotte setzte sich aus hohen Offizieren zusammen und tagte nur bei schwersten

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Disziplin verstoßen. Die Beschlüsse, die er fasste, waren unwiderruflich. Sollte der Kommandeur den Rat um eine Entscheidung ersuchen, konnte es sein, dass der Kapitän den letzten Teil der Reise als Gefangener im Bauch des Schiffes mitfuhr. Die Entbehrungen würden ihm dabei zwar wenig zu schaffen machen, die Demütigung brächte ihn indes um den Verstand.

Jeronimus erkannte den Anflug von Angst im Blick des Kapitäns.

Jacobs nahm einen Anlauf, um das Wort zu ergreifen. »Denkt an die Zeit, für die Ihr mich noch braucht«, hielt er Pelsaert vor Augen.

Da schau einer an, wunderte sich Jeronimus, der Skipper kriecht zu Kreuze. »War doch nur Spaß«, hörte er den Kapitän danach brummen. »Wird nicht wieder vorkommen.«

Der Sünder bittet um Vergebung, dachte Jeronimus. Sofern der Kommandeur Verstand hat, lässt er die Sache nun auf sich beruhen. Offenbar war dessen Verstand jedoch durch den Hass getrübt, den er für den Skipper empfand, so dass er der Versuchung, den anderen noch einmal zu ducken, nicht widerstehen konnte.

»Ich werde bis Batavia warten«, verkündete der Kommandeur. »Dort wird der Rat der Gesellschaft entscheiden, ob Ihr Euer Patent behaltet oder nicht. Sollte Euer Verhalten bis dahin abermals zu wünschen übrig lassen, wird uns der Erste Steuermann weiternavigieren.«

Armer Adriaen, fuhr es Jeronimus durch den Kopf, während er zusah, wie Jacobs die Worte seines Feindes schluckte. Nun weißt du nicht, ob du kuschen oder losbrüllen sollst. Er überlegte, ob der Kommandeur tatsächlich den Mumm besäße, die Angelegenheit weiterzumelden, denn sollte es eine Verhandlung geben, müsste wohl notgedrungen auch seine Beziehung zu Frau van der Mylen zur Sprache kommen.

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»Ich bitte Euch offiziell um Entschuldigung«, murmelte der Skipper. »Es lag nicht in meiner Absicht, Euch zu kränken.«

»Schlaft Euren Rausch in Eurer Kajüte aus«, befahl Pelsaert kalt. »Ich will Euch erst wieder sehen, wenn wir die Segel setzen.« Er winkte den Kapitän mit einer knappen Handbewegung fort.

Jacobs erhob sich schwerfällig und stolperte aus dem Raum.

Es verstrichen zähe Minuten des Schweigens.

Wer hätte das gedacht? sinnierte Jeronimus. Der kleine Hanswurst, wie der Skipper ihn nennt, kann durchaus seine Zähne zeigen.

Jeronimus ließ seinen Blick zu einem der Fenster gleiten und schaute zu, wie sich über dem Tafelberg Wolken auftürmten.

Nun habt Ihr es vollbracht, Herr Kommandeur, dachte er. Ihr habt ihn in die Schranken gewiesen, habt ihn erniedrigt, habt endlich das getan, was Ihr schon lange tun wolltet. Er hat es verdient, darin sind sich alle einig.

Die Frage ist nur, was er tut, nachdem er zu sich gekommen ist und auf Vergeltung sinnt.

Das war keine Meisterleistung, überlegte Francois hinterher.

Der Kapitän ist nichts weiter als ein großspuriger Maulheld, doch nun habe ich ihn zum zweiten Mal verprellt und ihm Nahrung für seinen Hass geliefert. Ich hätte entweder früher schweigen oder kurzen Prozess mit ihm machen und ihn noch auf der Stelle als Skipper ablösen sollen. Wie kam ich nur dazu, ihm mit einer Verhandlung vor dem Rat der Flotte zu drohen?

Spätestens da hätte jeder angenommen, ich könne die Probleme an Bord nicht aus eigener Kraft regeln. Die Geschichte hätte in Batavia sofort die Runde gemacht. Das wäre eine großartige Einführung bei dem Gouverneur gewesen.

Gewiss, versuchte er sich zu trösten, der Skipper hatte die Abreibung verdient. Er brauchte einen Denkzettel, um zu begreifen, wer von ihnen beiden das Sagen hatte. Jacobs hatte

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den Aufstand geprobt und verloren - mehr war es im Grunde nicht.

Dennoch wusste Francois, dass die Erinnerung an diesen Zwischenfall ihn wie ein Schatten verfolgen würde. Er verspürte ein Unwohlsein, ein Ziehen im Magen, ein Prickeln auf der Haut, während er sich die langen Tage und Nächte auf dem Meer ausmalte, die bis Batavia noch vor ihnen lagen.

Jacobs hatte sich auf dem Quarterdeck über die Reling gebeugt und übergab sich ins Meer. Als er Schritte hinter sich vernahm, drehte er sich um und wischte sich mit seinem Hemdsärmel über den Mund. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als er Jeronimus erblickte - einer von jenen Feiglingen, die stumm dabeigesessen hatten, als Pelsaert ihn peinigte.

»Was sucht Ihr hier?«, fragte er.

»Ich wollte nur nachsehen, wie es Euch geht.«

Jacobs schwieg verdrossen.

»Der Kommandeur hat Euch ungerecht behandelt«, fuhr Jeronimus fort. »Ihr seid dabei ein wenig blass um die Nase geworden, hatte ich den Eindruck.«

»Das lag am Schnaps.«

Jeronimus lächelte. Du Tölpel, dachte er, du dummer, einfältiger Bock, du verstehst doch wirklich nichts außer deiner Seefahrt. Du merkst höchstens noch auf, wenn es dich zwischen den Beinen juckt. Glotz mich ruhig an, als wolltest du mich zerfetzen. Es wird nicht mehr lang dauern, bis du einsiehst, wie sehr du mich brauchst.

»Was glaubt er eigentlich, wer er ist?«, murmelte der Skipper vor sich hin. »Er kann von Glück sagen, dass die Buren längsseits liegt. Ich könnte dafür sorgen, dass er für Tage nicht mehr aus seiner Kajüte kriecht. Ich könnte ihn fertig machen -

bis Schluss ist.«

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Großartig, dachte Jeronimus, verkünde deine Meinung ruhig jedem, der sie hören will.

»Habt Ihr das schon einmal getan?«, fragte er interessiert. Der Skipper ist noch dümmer, als ich dachte, ging ihm unterdessen durch den Kopf. Er kennt mich kaum und steht doch kurz davor, mir seine größten Geheimnisse zu offenbaren. Vermutlich hat ihm der Schnaps sein Hirn zersetzt.

Der Kapitän war jedoch einsilbig geworden. »Tut nichts zur Sache«, brummte er.

»Eines Tages antwortet Ihr mir vielleicht«, bemerkte Jeronimus.

Als Antwort spuckte der Skipper in die Wellen und wandte sich ab.

Meinetwegen, dachte Jeronimus. Gottes Mühlen mahlen langsam.

Vierunddreißig Grad und achtundfünfzig Minuten südlicher Breite

zweiundzwanzigster Tag des April im Jahre des Herrn, 1629

Nach einer einwöchigen Pause, in der die Flotte sich mit frischern Proviant versorgte, verließ die Batavia die Tafelbucht und stach zum letzten Teil ihrer Reise in See.

Nach der Umrundung des Kaps würde sie sich mit den Passatwinden im Rücken über fünftausend Seemeilen hinweg in Richtung Osten halten. Sobald sie das Große Südland erreichte, würde sie sich nach Norden drehen. Danach wäre Java nicht mehr weit.

Kurz bevor die Batavia Holland verlassen hatte, war eine Warnung des Gouverneurs von Java eingegangen, die besagte, dass die bisherigen Messungen der Strecke ungenau seien, dass

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womöglich gar ein Unterschied von neunhundert Seemeilen bestand.

Das hatte jedoch niemanden besonders angefochten. Sowohl die Mannschaft als auch die Passagiere vertrauten den Kenntnissen des Kapitäns. Jacobs war immerhin der erfahrenste Skipper der Companie. Deshalb hat der Kommandeur ihm schließlich auch sein skandalöses Be nehmen in der Tafelbucht nachgesehen, dachten sie. Nicht mehr als einen Tadel und einen Brummschädel hatte es ihm eingetragen, und das musste doch einwandfrei heißen, dass er etwas Besonderes war. Andere wären dafür in den Kerker gewandert.

Infolgedessen war die Stimmung an Bord frohgemut, als das Schiff aus der Tafelbucht glitt. Noch zwei Monate galt es durchzuhalten, doch im Grunde war das Ende der Reise fast schon in Sicht.

Es war das erste Mal, dass Francois und Lucretia sich seit dem Aufbruch aus der Tafelbucht allein an Deck befanden.

Vor ihnen glitzerte die endlose Fläche des Meeres in der Sonne. Das Schiff durchschnitt zügig die Wellen, die hellen Segel waren voll aufgebläht - doch plötzlich erfasste Francois ein jähes, ungeahntes Gefühl der Traurigkeit.

Was ist das nur, das mich so heftig bewegt? fragte er sich, während er diese unendlich liebliche Frau an seiner Seite betrachtete. Welchen Anlass habe ich, mit einem Mal derart unglücklich zu sein?

Gleich darauf wurde ihm bewusst, dass es bereits der Verlust war, der ihn quälte. Seltsam, dachte er, wie kann man den Verlust von etwas bedauern, das man nie besessen hat?

»Ich muss Euch etwas Merkwürdiges sagen«, begann er, zu Lucretia gewandt.

Lucretia lächelte kaum merklich vor sich hin.

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Ihre Schönheit zerreißt mir das Herz, schoss es Francois mit der ganzen Macht seiner Schwermut durch den Sinn.

»Dann sagt es auch«, ermunterte ihn Lucretia.

Francois holte tief Luft. »Ich glaube«, hub er an, »dass wir uns in diesem Moment zum letzten Mal als Freunde begegnen.«

Er sah, dass ihr Gesicht alle Farbe verlor.

»Ich weiß nicht, ob ich Euch verstehe«, murmelte sie.

»Deshalb will ich es erklären«, erwiderte Francois. Er musste abermals Atem holen. »Ich kann nie aufhören, an Euch zu denken, Lucretia, doch dieser Umstand macht mich nicht froh.

Ich weiß nicht, ob Ihr Euren Mann liebt, doch ganz gleich, wie es ist, er ist dennoch Euer Gemahl. Alles, was ich ersehne, verstößt gegen die Sitte, ich musste im Grunde sogar schweigen, doch das geht nun nicht mehr. Ich werde Eure Verachtung riskieren.«

Für eine Sekunde schloss Lucretia die Augen. »Ich verachte Euch nicht«, entgegnete sie leise. »Aber Ihr verlangt das Unmögliche.«

»Darüber bin ich mir im Klaren«, bestätigte Francois. »Ich fand lediglich, Ihr solltet es wissen.«

Lucretia strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Haltet Ihr mich für leichtfertig?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete Francois.

Lucretia senkte den Kopf. Nachdem sie für eine Weile geschwiegen hatte, begann sie: »Ich habe versucht, meinen Mann zu lieben. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist.« Als sie den Blick hob, sah Francois, dass sie weinte.

Er streckte die Hand nach ihr aus. Für einen Moment sah es aus, als wolle Lucretia sie ergreifen, doch stattdessen wandte sie sich ab und eilte davon.

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Die Seeleute und die Soldaten waren getrennt voneinander auf dem Orlopdeck und dem Batteriedeck untergebracht. Es war bekannt, dass diese beiden Gruppen sich nicht vertrugen.

Auf dem Batteriedeck war der Raum besonders knapp bemessen, so dass die Soldaten kaum über ausreichenden Platz für ihr Lager und die Truhe mit ihren Habseligkeiten verfügten.

Eines Tages kehrte Allert Janz, einer der Kanoniere, aufgebracht von einem kurzen Ausflug an Deck zurück.

Er ließ sich mürrisch auf den Boden fallen.

Hendricks, Wouter Loos und van der Ende, drei seiner Kameraden, die mit ihrem Kartenspiel auf ihn gewartet hatten, blickten ihn verwundert an.

»So gut möchte ich's auch mal haben«, stieß Janz hervor.

»Während wir uns in diesem stinkenden Loch wie Ratten auf der Pelle hocken, tändelt der Kommandeur in aller Ruhe mit seiner Schönen.«

»Hast du die beiden ertappt?«, fragte Wouter.

»Stehen auf dem Achterdeck und glotzen sich an«, brummte Janz. »Ringsum könnte die Welt untergehen, und sie merkten es nicht.«

»Ich könnte ihm zeigen, wie man noch etwas anderes tut als glotzen.« Hendricks lachte.

»Der braucht von dir keine Unterweisung«, höhnte Janz. »Der hat die Hure längst rumgekriegt.«

Van der Ende schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das hast du nur geträumt.«

»Von wegen geträumt!«, versetzte Janz. »Das hat mir der Steinmetz gesteckt, und der weiß es vom Kapitän. Mit eigenen Augen hat der Skipper sie in der Heckgalerie erw-«

»Pass besser auf, was du sagst«, fiel Hendricks ihm warnend ins Wort.

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Janz ging darüber hinweg. »Ich wette, die Hure kriegt nie genug«, sagte er grinsend.

Die anderen feixten vor sich hin.

Van der Ende runzelte die Stirn. »Es sollten keine Frauen an Bord sein«, erklärte er. »Das bringt Unglück.«

Ich möchte wissen, was Wouter Loos sich da ausheckt, ging es Wiebe Hayes dur ch den Kopf. Irgendetwas führt der Bursche schon seit Tagen im Schilde.

Wouter war ein eigenartiger Mensch. Er besaß ein frisches Bauerngesicht, mit runden, roten Wangen, so dass man ihn für offen und gutmütig hielt. Erst nach einer Weile stellte man fest, dass Wouter im Grunde verschlagen und undurchsichtig war.

Man wusste nicht, was er dachte, noch auf wessen Seite er stand. Dem Steinmetz begegnete er zum Beispiel freundlich, doch hinter seinem Rücken lachte er über ihn. Darüber hinaus hatte Wiebe noch zwei weitere Dinge herausgefunden: Wouter betrog beim Kartenspiel und er borgte sich gern Geld, ohne es zurückzuzahlen.

Wiebe lag in der Dunkelheit und starrte vor sich hin. Er hörte den Steinmetz schnarchen. Er klingt, als wäre er dabei, den Großmast durchzusägen, dachte er.

»Schläfst du?«, hörte er Wouter neben sich flüstern.

Wiebe schloss die Augen und blieb stumm.

Ihm war nicht danach zu Mute, sich mit Wouter zu unterhalten, denn ihn "beschäftigten seine eigenen Gedanken.

Vor kurzem hatte er entdeckt, dass Judith sich gelegentlich mit dem blonden Jonker unterhielt. Wie hieß er gleich? Van Huyssen, richtig. Warum macht mir dieser Anblick derart zu schaffen? fragte Wiebe sich. Judith würde sich ohnehin nie mit ihm einlassen. Selbst wenn sie es wollte, wäre ihr Vater rasch zur Stelle, um dergleichen zu unterbinden. Der gute Herr Pfarrer träumte offenbar davon, einen Kadetten mit einer Zukunft als Unterkaufmann zum Schwiegersohn zu bekommen.

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Wouter stieß Wiebe an.

»Hast du vorhin die Geschichte von dem Kommandeur gehört?«, fragte er leise.

Wiebe öffnete die Augen. »Dergleichen höre ich mir grundsätzlich nicht an«, brummte er.

»Was ist, wenn es stimmt?«

»Wenn es stimmt, hat der Kommandeur Glück gehabt. Dann gibt es wenigstens einen, dem es an Bord gefällt. Oder meinetwegen auch zwei.«

»Du hast also doch zugehört.«

»Lass mich zufrieden, Wouter.«

»Weißt du, was ich jetzt für eine Frau gäbe?«, fragte Wouter.

»Das geht uns allen so«, antwortete Wiebe. »Vergiss es einfach, das ist am besten.«

»Ich wäre aber lieber an der Stelle des Kommandeurs.«

»Dann schlaf und träum davon«, empfahl Wiebe.

Wouter hat nicht ganz Unrecht, dachte Wiebe.

Flottenpräsident zu sein wäre nicht übel. Zumindest besäße er dann eine eigene Kajüte, in der die schöne Frau van der Mylen anstelle von Wouter Loos ihn am Schlafen hinderte.

Ehe er sich der Gesellschaft angeschlossen hatte, war Jeronimus Apotheker gewesen, hieß es. Das kann man noch immer sehen, dachte Zwaantie.

Sie ließ ihre Blicke über die Gläschen und Fläschchen gleiten.

Als sie die Bücherberge erspähte, bekam sie einen Schreck. Er ist Alchimist, überlegte sie, wahrscheinlich liest er sogar die verbotenen Bücher der Mauren. Dann stimmte es wahrscheinlich auch, was die anderen über ihn sagten. Er hatte sich finsteren Mächten angeschlossen. Sogar dem Frevler Torrentius sollte er angehangen haben. Nur der Kapitän behauptete, derlei Geschwätz sei Unfug. Er hielt Jeronimus für einen Mann, der es lieber mit Männern trieb als mit Frauen.

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Als Zwaantie in Jeronimus' Augen las, erkannte sie, dass der Kapitän sich in diesem Punkt ausnahmsweise einmal irrte.

Jeronimus hatte offenkundig Lust auf ein Hinterteil, doch gewiss nicht auf das eines Knaben.

»Was willst du von mir?«, hub Jeronimus an. Er lehnte sich im Stuhl zurück und taxierte Zwaantie von oben bis unten.

»Der Skipper schickt mich«, erwiderte sie. »Er will, dass Ihr mir etwas gebt.«

Jeronimus grinste hämisch. »Wird es dir langsam bange?«, fragte er.

Als er Zwaanties Schmollmund sah, lachte er schallend auf.

»Du führst ein recht munteres Leben, nicht wahr? Was würde wohl deine Herrin sagen, wenn sie wüsste, was du von mir willst?«

Zwaantie nagte trotzig an ihrer Unterlippe.

»Ist schon gut«, bemerkte Jeronimus. »Ich kann schweigen.«

Er wandte sich um, zog an seiner Reisetruhe eine Lade auf und entnahm ihr ein Fläschchen.

»Das trinkt man am besten gleich nach der Vereinigung«, erklärte er. »Später ist immer zu spät.«

Nach der Vereinigung*., dachte Zwaantie verächtlich. Er sollte ihr nur nicht so hochgestochen kommen mit seinem lüsternen Blick.

»Ich habe kein Geld«, erwiderte sie finster.

Jeronimus machte eine wegwerfende Geste. »Es ehrt mich, dem Kapitän zu Diensten zu sein. Vergiss aber nicht, ihm dies auch zu auszurichten. Vielleicht kommt der Tag, an dem er sich revanchiert.«

Zwaantie zuckte die Achseln. Der Skipper war reichlich knauserig. Da konnte er einem anderen ruhig einen Dienst für sie schulden. "Es wunderte sie allerdings, dass sich selbst dieser eigenartige Jeronimus um Jacobs' Wohlwollen bemühte.

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Zwaantie wollte sich bereits abwenden, als Jeronimus ihr mit einem Fingerzeig zu bleiben gebot.

»Einen Moment, mein undankbares Fräulein«, hub er an.

»Eines interessiert mich noch, ehe du wegrennst. Weiß Madame van der Mylen eigentlich, was du hinter ihrem Rücken treibst, oder nicht?«

Zwaanties Augen funkelten wütend. »Geht sie das denn etwas an?«, fragte sie.

»Ich denke schon«, entgegnete Jeronimus.

Zwaantie studierte seine Miene. Der Kapitän könnte ihm mit einer Hand den Hals brechen, dachte sie. Wie kam es nur, dass sie wusste, dass er das dennoch nicht wagen würde?

»Sie will nicht einmal, dass ich mit ihm rede«, antwortete sie widerwillig.

»Eine gestrenge Dame«, meinte Jeronimus. »Was sagt denn der Kapitän zu diesem Verbot?«

»Er sagt, ich solle mich widersetzen.«

Jeronimus erhob sich und trat auf Zwaantie zu.

Als er seinen Arm um ihre Taille legte, glaubte sie, er wolle sich nun doch die Bezahlung für sein Arzneifläschchen holen.

Jeronimus führte jedoch lediglich seine Lippen an ihr Ohr und flüsterte: »Bist du es nicht leid, einer feinen Dame zu dienen?«

Er schaute sie prüfend an. »Du kämmst ihr die Haare«, fuhr er fort, »du kleidest sie an, legst ihr die Perlen um... Wie sieht es denn mit deinen Kleidern aus, Zwaantie? Hast du schon jemals Perlenketten besessen?«

»Ich bin ja auch keine feine Dame«, erwiderte Zwaantie grollend.

»Und wieso nicht?«, hakte Jeronimus nach. »Ist das nicht nur eine Frage des Zufalls? Eure Herrin stammt von einem einfachen Tuchhändler ab. Sie ist über Nacht reich geworden.

Durch einen Akt des Schicksals gewissermaßen.«

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»Aber ich bin schöner als sie«, trumpfte Zwaantie auf. »Das hat der Skipper geschworen.«

»Wie Recht er hat! Er wird dich eines Tages zu einer feinen Dame machen, Zwaantie. Das hat er mir nämlich anvertraut.«

Zwaantie blinzelte verwirrt. Bisher hatte sie angenommen, der Skipper verspräche ihr das nur, weil er sie haben wollte, doch wenn er auch anderen davon erzählte, war vielleicht etwas Wahres daran.

Jeronimus gab Zwaantie einen kleinen Klaps auf ihr Hinterteil. »Auf dich warten große Dinge«, versprach er, während er die Tür öffnete.

Er muss etwas wissen, was ich nicht weiß, dachte Zwaantie im Hinausgehen. Seine Worte klingen fast wie eine Verheißung, die sich bald erfüllt.

Andries de Vries war einer jener bleichen

Kaufmannsgehilfen, die ihre Tage meist unter Deck verbrachten, wo sie damit beschäftigt waren, die Dokumente der Companie je achtmal sorgfältig zu kopieren.

Lucretia war deshalb erstaunt, den jungen Mann ins Freie taumeln zu sehen. Er rieb sich die Augen und blinzelte mehrmals, um sich an das Sonnenlicht zu gewöhnen.

Sie hatte bisher nur selten mit ihm gesprochen, und wenn, so war ihr hauptsächlich aufgefallen, wie verlegen er war.

Nun stellte sie fest, dass Andries jemanden zu suchen schien.

Als er sie erblickte, wurde er feuerrot.

»Madame«, murmelte er, und trat mit gesenktem Kopf vor sie hin. »Ob ich Euch wohl für einen Moment sprechen dürfte?«

Wie ein geprügelter Hund steht er da, dachte Lucretia.

»Natürlich, Andries, um was geht es denn?«, erkundigte sie sich mitleidig.

Andries schluckte und mahlte heftig mit dem Kiefer.

»Nun, heraus mit der Sprache«, ermunterte Lucretia ihn.

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»Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll, Madame«, stammelte Andries, noch stärker errötend.

»Hat dir jemand ein Leid zugefügt? Benötigst du meine Hilfe?«

Er schüttelte den Kopf.

Lucretia ermahnte sich zur Geduld.

»Mir fehlen die rechten Worte«, hub Andries an. »Ich habe zudem Angst, dass Ihr mir zürnen werdet.«

Lucretia spürte, dass ihr unbehaglich zumute wurde. Offenbar hatte er etwas auf dem Herzen, das auf unangenehme Weise sie selbst betraf.

»Auf dem Schiff... auf dem Schiff wird geredet«, stotterte Andries. »Ich fand, Ihr solltet das wissen.«

»Bezieht sich dieses Gerede denn auf mich?«

Andries nickte.

»Und worum dreht es sich dabei?«

Andries' Gesicht leuchtete in tiefstem Scharlachrot. »Es geht um Euch und den Kommandeur.«

Lucretia stockte der Atem. »Wie bitte?«, fragte sie leise. »Das kann nicht - darf doch nicht sein!«

Andries versuchte, ihrem Blick auszuweichen. »Sie sagen, dass Ihr zu viel Zeit mit ihm verbringt.«

Lucretia wollte im ersten Moment aufbrausen und wütend werden, doch dann verbiss sie sich ihre Worte. Andries kann ja nichts dafür, dachte sie, und außerdem steckt in jeder Lüge ein Körnchen Wahrheit. Gewiss, sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, und dennoch - gänzlich unschuldig war sie nicht. Sie hatte Francois' Gesellschaft gesucht, vertraulich mit ihm gesprochen, ihn ermutigt und seine Geständnisse zugelassen. Und wenn sie nun schon dabei war, ehrlich zu sein, warum sich dann nicht auch eingestehe n, dass auch die andere Frage sie beschäftigt hatte? Zwar hatte sie nicht direkt Pläne

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geschmiedet, jedoch ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Wie töricht sie gewesen war zu glauben, dass ihr Verhalten unbeobachtet bliebe! Das hatte sie nun davon. Wahrscheinlich war sie bis hinunter zum untersten Deck Gegenstand von Klatschgeschichten geworden.

»Wo hast du denn von diesem Gerede erfahren?«, erkundigte Lucretia sich.

»Von David Zeevanck, Madame«, erklärte Andries nun eifrig.

»Ich bat ihn, sich zurückzuhalten, doch er sagte, er wiederhole nur, was sich die Jonkers erzählen.«

Lucretia schloss die Augen.

»Es tut mir Leid, Madame«, hörte sie Andries murmeln. »Ihr dürft mir nicht böse sein. Ich wollte Euch nicht bekümmern. Ich wollte Euch lediglich - warnen.«

»Ich bin dir nicht böse, Andries«, erwiderte Lucretia.

»Vielmehr danke ich dir. Du warst sehr mutig, wirklich.«

Andries sah sie mit untröstlicher Miene an.

»Geh jetzt«, befahl Lucretia freundlich.

Andries tat wie ihm geheißen und verschwand.

Lucretia starrte für eine Weile zu Boden. Als sie den Blick hob, entdeckte sie, dass der Skipper von seiner Brücke aus zu ihr heruntersah. Ob er das ausgeheckt hatte? Er und seine kleine Freundin Zwaantie? Wie um zuzustimmen, lächelte der Kapitän und nickte ihr zu.

Fünfunddreißig Grad und fünfundvierzig Minuten südlicher Breite

dreiundzwanzigster Tag des April im Jahre des Herrn, 1629

Als Lucretia wieder in ihrer Kabine war, holte sie tief Luft und setzte sich auf die Kante ihres Bettes. Mir schwirrt der

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Kopf, stellte sie fest. Ich muss mich besinnen, muss mir meine nächsten Schritte sorgfältig überlegen.

Es dauerte nicht lang, bis Zwaantie die Tür aufstieß und sich grußlos an ihrer kleinen Reisetruhe zu schaffen machte.

Für eine Weile beobachtete Lucretia das Mädchen schweigend.

»Du hast dich mir widersetzt«, sagte sie dann.

Zwaantie hielt kurz mit ihren Verrichtungen inne, entgegnete jedoch nichts.

»Ich hatte dir bereits einmal aufgetragen, dich von Adriaen Jacobs fernzuhalten«, fuhr Lucretia fort. »Doch wie es aussieht, ficht dich das nicht an.«

Zwaantie blieb weiterhin stumm.

»Hast du nichts dazu zu sagen?«, erkundigte Lucretia sich.

Zwaantie schüttelte den Kopf.

»Auch gut«, bemerkte Lucretia. »Dann werde ich mich an Herrn Pelsaert wenden. Er wird deinen Fall dem Marscha ll übergeben.«

So etwas wie Furcht stahl sich in Zwaanties Blick. Sie wusste, dass der Marschall sie für ihr Benehmen auspeitschen lassen konnte, sogar öffentlich am Mast.

»Ich verstehe aber nicht -«, begann sie, doch dann brach sie ab.

»Was verstehst du nicht?«

Zwaantie grinste verschlagen. »Na ja«, hub sie erneut an, »ich bin ja nicht die einzige Frau an Bord, die sich unsittlich benimmt.«

Lucretia erkannte die Schadenfreude in Zwaanties Augen.

Was habe ich ihr nur getan, dass sie mich so hasst? fragte sie sich.

»Möchtest du mir das vielleicht näher erläutern?«

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»Tut doch nicht so scheinheilig!«, sprudelte es aus Zwaantie hervor. »Das ganze Schiff weiß längst Bescheid. Alle Welt redet über Euch und den Kommandeur.«

»Das habe ich inzwischen auch vernommen«, entgegnete Lucretia. »Der Unterschied ist lediglich, dass das Gerede über Herrn Pelsaert und mich niederträchtig und grundlos ist.«

»Grundlos!«, höhnte Zwaantie. »Natürlich! Feine Leute stehen ja über dem Gesetz! Fragt doch einmal die Leute auf den Unterdecks! Die erklären Euch die Gründe.«

»Das reicht!«, versetzte Lucretia. »Ich hatte nicht vor, mit dir zu debattieren. Das, was ich dir sage, ist ein Befehl. Ab sofort kein Wort mehr zu dem Kapitän! Hast du mich verstanden?«

»Ich verstehe Euch besser, als Ihr denkt«, gab Zwaantie zurück, ehe sie auf dem Absatz kehrt machte und aus der Kabine stürzte.

Lucretia starrte ihr nach. Ich habe die Kontrolle über meine Dienstmagd verloren, dachte sie. Ich brauche die Hilfe von Francois.

Jacobs blickte zu dem hohen Mast empor, dessen Spitze in der Dunkelheit nicht zu sehen war. Er spürte den Druck der Wellen unter sich und konnte den Sturm riechen, der sich irgendwo am Rande des Horizonts zusammenbraute.

Als er Schritte hörte, wandte er sich um. Sein Herz begann heftige r zu schlagen, da er eine Frauengestalt ausmachte, die die Kapuze ihres Umhanges bis tief in die Stirn gezogen hatte. Erst als sich eine rundliche Hand um das Geländer der Reling legte, erkannte der Skipper Zwaantie.

»Was willst du?«, fragte er enttäuscht.

»Ich habe mich mit der dummen Ziege gestritten«, murmelte Zwaantie. »Sie hat mir verboten, dich wieder zu sehen.«

»Seit wann sind ihre Verbote für uns von Belang?«, fragte der Kapitän, noch immer verdrossen.

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»Sie behandelt mich wie eine Sklavin«, maulte Zwaantie.

»Na und?«

»Sie droht damit, mich öffentlich auspeitschen zu lassen, und zuvor will sie sich beim Kommandeur über uns beschweren.«

Jacobs' Mundwinkel zuckten unwillkürlich. Da schau an, dachte er, selbst für jemanden wie Zwaantie scheint es Grenzen des Schmerzes zu geben.

»Tröste dich«, beschwichtigte er sie. »Der feine Kavalier tut dir nichts zu Leide. Er ist krank.«

»Er wird auch wieder gesund.«

»Na, komm schon, Zwaantie«, ermunterte der Kapitän sie, indem er sie an sich zog. »Mach nicht solch ein böses Gesicht!

Niemand legt Hand an dich, solange ich hier das Sagen habe, und erst recht nicht Madame Hochnäsig.«

Auf der Suche nach Francois kam Lucretia an der Offiziersmesse vorbei, wo sie dem Bordarzt Aris Janz und Jeronimus begegnete. Die beiden unterhielten sich leise und schienen ebenfalls auf dem Weg zur Kajüte des Kommandeurs zu sein. Bei Lucretias Anblick verstummten sie und tauschten seltsame Blicke.

»Was ist geschehen?«, wollte Lucretia wissen.

»Oh, nichts«, begann Jeronimus, »wir -«

»Ich will zum Kommandeur«, fiel Lucretia ihm ins Wort. »Ich muss ihn dringend sprechen.«

»Das wird nicht möglich sein«, erwiderte Janz.

»Und warum nicht?«, rief Lucretia ungeduldig.

Der Arzt wechselte abermals einen Blick mit Jeronimus, ehe er erklärte: »Der Kommandeur leidet an seinem Fieber, Madame. Das ist eine Krankheit, die er aus Indien mitgebracht hat. Sie überfällt ihn in gewissen Abständen.«

»Bedeutet sie denn etwas Ernstes?«, fragte Lucretia.

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Als der Arzt ihr die Antwort schuldig blieb, erschrak Lucretia.

Demnach ist sie ernst, dachte sie und begann, sich umgehend Vorwürfe zu machen. Das ist meine Schuld, sagte sie sich. Ich habe seine Leidenschaft entfacht, und deshalb ist seine Krankheit wieder ausgebrochen. Dies ist gewiss ein Zeichen von Gott, der uns bestrafen will.

»Kann ich zu ihm?«, erkundigte sich Lucretia und redete sich bereits ein, Gott könne sich in Ausnahmefällen durchaus auch als nachgiebig erweisen.

Der Arzt schien zu zögern. »Madame«, mahnte er. »Bitte bedenkt, was Ihr tut. Ihr könnt ihm nicht helfen.«

Lucretia richtete den Kopf trotzig in die Höhe. »Ich will ihn dennoch sehen«, beharrte sie.

Janz hob ergeben die Schultern und nickte.

Es war das erste Mal, dass Lucretia Francois' Kajüte betrat.

Die dunklen, holzverkleideten Wände waren in ein sanftes, gedämpftes Licht getaucht, so dass Lucretia als Erstes die leuchtende rotgoldene Brokatdecke auffiel, die über Francois gebreitet war. Mit einem Aufschrei war sie an seiner Seite.

Francois starrte sie mit fiebrig glänzenden Augen an, schien sie jedoch nicht zu erkennen.

Bestürzt stellte Lucretia fest, dass er vor Kälte zu zittern schien, wohingegen sich an seinen Schläfen Schweißperlen bildeten.

»Ich werde ihn noch einmal zur Ader lassen müssen«, hörte Lucretia den Arzt hinter sich sagen.

Etwas anderes fällt ihnen offenbar nie ein, dachte sie.

»Danach werde ich ihn mit einem Kräutertrank stärken«, fuhr der Arzt fort, als hätte er ihre Gedanken erraten. »Doch nachdem das getan ist, müssen wir für ihn beten.«

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Der Sturm, der sich zusammengebraut hatte, schäumte die Wellen auf und jagte Gischtfontänen über den Bug, die sich mit den tosenden Regenfluten vermischten.

Oben auf dem Quarterdeck wurde das Toben und Heulen des Windes und das Ächzen der Holzplanken von den gebrüllten Befehlen des Kapitäns durchsetzt.

Lucretia griff Halt suchend nach den Wänden des langen Ganges, während der Boden unter ihr schwankte und sie von einer Seite auf die andere geworfen wurde.

Sie war auf dem Weg zu Jeronimus, der den Kommandeur während dessen Krankheit vertrat.

Als sie vor seiner Tür angelangt war, klopfte Lucretia und glaubte eine schwache Antwort zu vernehmen.

Sie öffnete die Tür und erblickte Jeronimus, der starr wie eine Statue in seinem Sessel saß, dabei jedoch lautlos vor sich hin zu murmeln schien.

Lucretia sah ihn verblüfft an. Sie hatte den Eindruck, als sei ihm gar nicht bewusst, dass sie bei ihm eingetreten war, geschweige denn, dass sie etwas von ihm wollte. Als sie ihn genauer betrachtete, bemerkte sie den glänzenden Schweiß auf seiner Oberlippe und Stirn und stellte fest, dass sein Blick flackernd mal hierhin, mal dorthin huschte.

Für einen Moment nahm Lucretia an, der Unterkaufmann zähle zu den Elenden, die abermals seekrank geworden waren, doch gleich darauf wurde ihr bewusst, dass er vor Angst schier außer sich war.

Jeronimus erhob sich und machte ein paar zaghafte Schritte auf sein Lager zu. Dort ließ er sich mit einem Aufstöhnen niedersinken.

Mit einem matten Winken bat er Lucretia zu sich heran.

»Womit kann ich Euch dienen?«, flüsterte er.

»Es geht um meine Dienstmagd«, erklärte Lucretia.

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»Ich verstehe«, erwiderte Jeronimus leidend. »Ihr wollt Euch über Zwaantie Hendricks beschweren.«

»Jemand muss mit ihr reden, Herr Unterkaufmann«, betonte Lucretia.

Über ihnen schlug eine Woge mit lautem Klatschen zusammen.

Jeronimus wurde bleich und rang nach Luft.

»Glaubt Ihr, das sei der richtige Augenblick, um sich über eine Dienstmagd zu unterhalten?«

»Der Sturm wird sich verziehen«, versetzte Lucretia scharf,

»Zwaanties Treiben hingegen setzt sich fort.«

»Und was soll ich Eurer Meinung nach tun?«

»Ihr Einhalt gebieten. Ihr seid doch gewiss nicht blind und habt wie alle anderen mitbekommen, dass sie sich sittenlos aufführt.«

»Müsste in diesem Fall nicht der Marschall die übliche Strafe verhängen?«

»Vielleicht lässt sich das vermeiden, wenn Ihr ihr ins Gewissen redet.«

Von einem Augenblick zum anderen erlosch der gehetzte Ausdruck auf Jeronimus' Gesicht. Er lehnte sich zurück und spitzte vergnügt die Lippen. »Habt Ihr die Sache schon dem Kommandeur vorgetragen?«, fragte er. »Ihr steht Euch doch so gut mit ihm.«

Was nahm dieser Mensch - dieser Feigling, dieser Jammerlappen - sich heraus? dachte Lucretia. Wie konnte er ihr gegenüber derart unverblümt Anspielungen wagen?

»Bisher hatte ich leider keine Gelegenheit dazu«, erklärte sie kalt.

Jeronimus lächelte genießerisch. »Dann macht Euch bitte keine Sorgen mehr, Madame«, bemerkte er. »Für Euch tue ich schlichtweg alles.«

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Lucretia starrte ihn sprachlos an.

Sein Lächeln erstarb, als sich die nächsten Wogen gegen die Schiffswände warfen und der Boden der Kabine bebte.

»Gehabt Euch wohl, Herr Unterkaufmann«, bemerkte Lucretia spöttisch. »Und sobald Ihr Euch wieder erholt habt, denkt bitte an Eure Pflicht.«

Anschließend machte sie kehrt und kämpfte sich über den schlingernden Gang zu ihrer Kabine zurück.

Vierzig Grad und drei Minuten südlicher Breite fünfundzwanzigster Tag des April im Jahre des Herrn, 1629

Jeronimus lag auf seinem Lager ausgestreckt und überdachte seine Pläne. Welches Entzücken es mir bereitet, mit anzusehen, wie andere hilflos im Strudel ihrer Leidenschaften treiben, fuhr es ihm durch den Sinn. Mein Genuss übertrifft tatsächlich noch jede Form des fleischlichen Vergnügens. Er entsann sich, dass er in der Tafelbucht kurz davor gewesen war, den Kapitän allzu heftig zu bedrängen. Das war hastig und unüberlegt gewesen, tadelte er sich. Besser ließ man sein Opfer schmoren und wartete, bis sich ein günstiger Moment auftat.

Es gab Menschen, sinnierte Jeronimus, bei denen die Zeit ihre Wunden heilte, doch Adriaen Jacobs gehörte nicht dazu. Er zählte zu jenen, deren Wunden schwärten und immer wieder aufbrachen, wenn man sie reizte.

In der vergangenen Nacht war der Kapitän besonders schlecht gelaunt gewesen. Wie ein wütender Bulle war er über das Deck gestapft, hatte Befehle gebrüllt und seinen Leuten wegen Nichtigkeiten die Peitsche übergezogen. Vermutlich würde er sich zusammenreißen, sobald der Kommandeur wieder in der Nähe war, doch dieser befand sich unglücklicherweise in seiner Kajüte und litt.

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Der Herr ist mit den Seinen, dachte Jeronimus wohlig schaudernd. Er weist mir den Weg in mein Königreich.

An jenem Abend war der Himmel klar. Eine schmale Mondsichel hing über dem dunklen Horizont im Osten. Das Kap der Guten Hoffnung lag nun bereits seit fünf Tagen hinter der Batavia.

Der Skipper stank nach Schnaps und nach Zwaanties billigem Duftwasser.

Jeronimus rümpfte die Nase.

»Noch immer nichts von der Buren in Sicht?«, fragte er leutselig.

»Nein«, erwiderte der Skipper barsch. »Der Sturm hat uns auseinander gerissen.«

Ein bedauerliches Missgeschick, dachte Jeronimus frohlockend. Auch von den anderen Schiffen war schon seit geraumer Zeit nichts mehr zu sehen. Er begriff nicht, dass einem erfahrenen Navigator die Begleitschiffe verloren gehen konnten.

Ohne die Kanonen der Buren war die Batavia fast schutzlos feindlichen Schiffen ausgeliefert. Ob das bereits Gottes Zeichen für ihn war, das Schicksal nun selbst in die Hand zu nehmen?

»Wisst Ihr, wie es um den Kommandeur bestellt ist?«

»Interessiert mich nicht.«

»Der Arzt behauptet, sein Zustand verschlechtere sich. Er fürchtet um Pelsaerts Leben.«

In das entstehende Schweigen drang das rhythmische Klatschen der Wellen, die sich am Rumpf des Schiffes brachen.

Jeronimus studierte Jacobs' Gesicht.

»Wenn er stirbt, werdet Ihr das Kommando übernehmen«, bemerkte der Kapitän.

»So wird es sein.«

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»Das wäre doch eine Ehre für Euch, oder nicht? Die Batavia hat überaus wertvolle Fracht an Bord.«

»Das würde für uns beide eine große Verantwortung bedeuten«, hob Jeronimus hervor. »Wie viel zahlt man Euch eigentlich für Eure Dienste? Fünfzig, achtzig Gulden?«

»Ein Einkommen lässt sich verbessern«, brummte der Kapitän.

»Mit Geschäften, die unter der Hand vonstatten gehen?«

»Darüber redet man nicht.«

»Es ist trotzdem kein Geheimnis geblieben. Das war doch der Anlass Eures Streits mit dem Kommandeur, wenn mich nicht alles trügt.«

Der Kapitän nickte widerstrebend. »Dabei ist der Bastard selbst keinen Deut besser«, knurrte er. »Er verhökert mehr als ich.«

»Wusstet Ihr, dass er dieses Mal für Rubens eine Brosche und andere kostbare Stücke aus dessen Sammlung transportiert? Das bringt eine ganz schöne Kommission, glaubt Ihr nicht?«

»Wir werden eben mit zweierlei Maß gemessen«, erwiderte der Kapitän.

»Das ließe sich ändern.«

Jeronimus beobachtete Jacobs' Miene äußerst gespannt. Dann spähte er um sich. Sie waren allein.

»Bezieht Ihr Euch auf etwas Bestimmtes?«

»Schon möglich«, entgegnete Jeronimus vorsichtig. »Wenn der Kommandeur stirbt, hätten wir beide Gelegenheit, ein Vermögen zumachen.«

»Das sind gefähr liche Überlegungen, Herr Unterkaufmann.«

»Wollt Ihr behaupten, sie wären Euch noch nicht gekommen?«

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»Warum druckst Ihr um die Sache herum? Was schlagt Ihr vor?«

»Zuerst will ich wissen, ob wir einer Meinung sind.«

»Dazu müsstet Ihr erst einmal Eure Absichten darlegen.«

»Dargelegte Absichten kosten bisweilen den Hals.«

»Nun redet schon! Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich Euren Hals Pelsaert ausliefere!«

Jeronimus rückte näher. »Sollten wir Batavia nicht erreichen«, begann er flüsternd, »würde man dort annehmen, wir wären gesunken. Zusammen mit zwölf Kisten Dukaten. Das ist aber noch nicht alles, denn wir könnten noch reicher werden. Wir haben genug Gewehre an Bord, um andere Schiffe zu kapern. Es würde eine Weile dauern, bis man in Java dahinter käme, von Amsterdam ganz zu schweigen.«

»Nanu!«, spöttelte der Kapitän. »Wer hätte gedacht, dass in Euch ein verkappter Pirat steckt.«

»Ha!«, lachte Jeronimus auf. »Was glaubt Ihr denn, was die Kaufleute der Gesellschaft sind? Sie besitzen lediglich den Segen der Kirche für ihr Tun. Außerdem stört es sie nicht, wenn wir Engländer und Portugiesen ermorden. Der Handel wurde schon immer mit Waffen ausgetragen; das ist ein Krieg wie jeder andere auch.«Der Kapitän war Jeronimus' Worten aufmerksam gefolgt. Nun schüttelte er langsam den Kopf. »Das ist ein dicker Brocken«, erklärte er. »Das müsste man sich sorgfältig durch den Kopf gehen lassen.«

»Reichen zwei Tage dafür?«, fragte Jeronimus verständnisvoll. »Das ist in etwa die Frist, die der Arzt Pelsaert noch lässt. Sobald er in seinem Seemannsgrab ruht, wäre ich der Kommandeur. Dann will ich natürlich gern wissen, wer zu mir hält und wer nicht. Das ist doch zu verstehen, findet Ihr nicht?«

Sussie hatte sich im Schatten ihres Sonnenschutzes zurückgelehnt und träumte vor sich hin. Immer wieder wurden

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ihre Gedanken jedoch von dem Geplapper der anderen Frauen abgelenkt.

Sussie wünschte sich, sie würden schweigen, wünschte sich, auf festem Boden zu stehen, wünschte sich, in den Armen eines ganz bestimmten Mannes zu liegen...

»Habt Ihr schon gehört, wie häufig Frau van der Mylen die Kajüte des Kommandeurs besucht?«

Sussie erkannte die Stimme von Annie Janz.

Sie blickte zu ihr hin und sah, dass ihre Augen funkelten.

»Woher will sie das wissen?«, erkundigte sie sich flüsternd bei Tryntgen, die ihr jedoch mit einem ungeduldigen Wink zu schweigen gebot.

»Ich denke, der Kommandeur leidet an einem Fieber«, ergriff Tryntgen nun das Wort.

»Genau«, kicherte Annie. Danach wurde sie wieder ernst. »Er wurde schon etliche Male zur Ader gelassen. Trotzdem ist es nicht recht, dass sie bei ihm ist. Sie ist doch eine verheiratete Frau. Ich finde ihr Verhalten schändlich.«

»Was kann der Mann ihr denn tun, wenn er krank ist?«, wollte Sussie wissen.

Tryntgen stieß sie in die Rippen.

»Hört Euch diese Unschuld an!«, sagte Annie lachend. »Was kann der Mann ihr denn tun, wenn er krank ist?«

Die anderen Frauen begannen zu glucksen.

Sussie schaute unglücklich zu Boden. Es stimmte zwar, was Annie sagte, dennoch war es ungerecht. Schließlich lag es nicht an ihr, dass sie noch unschuldig war.

Seit der Tafelbucht hatte Sussie Wiebe nur selten zu Gesicht bekommen. Er schien die meiste Zeit unter Deck zu verbringen, und selbst wenn sie ihn einmal erspähte, stellte sie fest, dass er seinerseits kein Interesse an ihr zeigte. Wie sollte sie ihm unter

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solchen Bedingungen den Liebestrank verabreichen, den Jeronimus ihr zugesteckt hatte?

Die Mahlzeiten für die Menschen an Bord wurden in der großen Schiffskombüse unten auf dem Batteriedeck gekocht.

Dort war es heiß wie im Vorhof der Hölle, denn die Feuer unter den dreibeinigen Kupferkesseln wurden unentwegt geschürt.

Auch der Lärm, der dort herrschte, schien niemals nachzulassen, denn selbst wenn der Koch einmal nicht brüllte, hörte man außer dem Klappern von Deckeln, Besteck und Geschirr das Kindergeschrei aus den umliegenden Unterkünften, das Schwatzen der Erwachsenen oder auch nur das fortwährende Rumoren, das entstand, wenn sich zu viele Menschen auf zu engem Raum bewegten.

Da ist die Offiziersmesse doch etwas anderes, dachte Jan Pelgrom, der als Kabinenjunge auf dem Achterdeck seinen Dienst versah. Er hielt sich die weiße Leinendecke auf der Tafel des Kommandeurs vor Augen und die Zinn- und Silberschalen, aus denen man dort speiste, anstatt der hölzernen Näpfe, die dem niederen Volk genügen mussten.

Ich hätte auch nichts dagegen, eines Tages zum Offizier aufzusteigen, dachte Pelgrom. Dann wäre ich derjenige, dem man die Speisen anreicht und dunkelroten Wein in die schweren Pokale einschenkt.

Pelgrom ergriff eine Platte mit gepökeltem Schweinefleisch und schickte sich an, das Batteriedeck zu durchqueren. Sein Blick fiel auf Sussie Frederix. Er versuchte vergeblich, sie auf sich aufmerksam zu machen. Das Mädchen war ihm bereits des Öfteren aufgefallen, ein blutjunges Ding mit Haube und Schürze. Anfänglich hatte er sie für züchtig und fromm gehalten, bis er eines

Tages das Aufblitzen in ihren Augenwinkeln bemerkt hatte.

Seitdem dachte er unentwegt an sie.

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Wäre ich Offizier, grübelte Pelgrom, könnte ich auch dieses kleine Luder bekommen - und ihre dicke, träge Schwester noch dazu.

Er spürte, dass sein Blut in Wallung geriet.

Wer weiß, was noch alles geschieht, dachte er. Vielleicht tritt ein Wunder ein, vielleicht wendet sich das Schicksal zu meinen Gunsten, vielleicht werde auch ich einmal leben wie ein Herr.

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VII

Ich glaube, ich ahne, welche Frage Sie beschäftigt.

Kann es denn wirklich sein, überlegen Sie, dass der feine, kluge Herr Kommandeur sich unsauberer Machenschaften bedient? Tätigt so jemand krumme Geschäfte?

Verzeihen Sie, wenn ich lache. Ich weiß, er ist Ihnen ans Herz gewachsen.

Deshalb werden wir uns der Einfachheit halber einmal die Reisetruhe dieses Herrn vornehmen. Auf geht's.

So, da wären wir in seiner Kajüte, und dort hinten steht die Truhe. Ich schlage den Deckel auf.

Na, sehen Sie? Ganz zuunterst, unter allem anderen verborgen, befindet sich ein kleines Kästchen.

Ich öffne es. Es ist mit rotem Samt ausgekleidet. Und nun, tatsächlich... auf seinem Grund liegt die berühmte Kamee aus dem Besitz des Malers Rubens. Sie hat einmal Kaiser Konstantin gehört und ist etwa zwölfhundert Jahre alt. Ihr Wert dürfte sich auf achttausend holländische Gulden belaufen.

Der Kommandeur hat sie von Rubens erhalten, um sie auf eigene Rechnung einem der östlichen Potentaten zu verkaufen.

Allerdings ist die Companie darüber unterrichtet. Von Pelsaerts Gewinn erwartet sie sich eine Provision.

Da staunen Sie, was?

Wie es aussieht, wird in der Tat mit zweierlei Maß gemessen.

Und was haben wir hier? Ist in der Truhe etwa noch ein zweiter Schatz verborgen! Sieht beinahe so aus.

Alle Achtung! Das ist ja ein prächtiges Objekt! Eine äußerst kostbare Vase, offenbar aus einem einzigen Stück Achat geschlagen. Sehen Sie einmal, wie ihr Honigton sich zum Fuße

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hin zu cremigem Weiß verdickt! Die Henkel sind ebenfalls ganz entzückend. Sie sind dem ziegenfüßigen Gott Pan nachgestaltet, bis hin zu den kleinen Hörnern und dem lüsternen Grinsen.

Diese Vase entstammt übrigens auch Rubens' Sammlung. Ihr Wert lässt sich nicht ermessen.

Von dieser Vase weiß die Companie indes nichts.

Ein schlauer Bursche, unser Kommandeur, finden Sie nicht?

Einundvierzig Grad und vierzig Minuten südlicher Breite achtundzwanzigster Tag des April im Jahre des Herrn, 1629

Lucretia betrachtete Francois' schweißglänzendes Gesicht.

Die Krankheit hatte ihn ausgezehrt. Seine Schädelknochen traten scharf hervor.

Das Nachthemd klebte Francois auf der Brust, während er sich in seinen Fieberträumen wälzte und unsichtbare Dämonen zu bekämpfen schien. Dann wieder packte ihn der Schüttelfrost so heftig, dass seine Zähne aufeinander schlugen.

Lucretia wusste, dass Aris Janz ihn aufgegeben hatte.

Sie erhob sich, um feuchte Tücher zu holen und Francois'

heiße Stirn zu kühlen.

»Ich weiß, dass du nicht stirbst«, ermutigte sie ihn leise, nachdem sie sich wieder bei ihm niedergelassen hatte. »Du gibst nicht auf, nicht wahr? Du bist stark und wirst um dein Leben kämpfen... Francois!« Sie strich ihm über die Hand.

An manchen Tagen las Lucretia Francois auch aus der Bibel vor, wobei ihr allerdings nicht ganz klar war, ob sie auf diese Weise ihm oder sich selbst Trost spenden wollte. Sie ahnte jedoch, dass die Bibel ihr auch als Ausrede diente, denn niemand konnte etwas dagegen einzuwenden haben, dass sie Francois daraus vorlas. Sie war einfach eine gute Christin und tat ihre Pflicht.

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Die kleine Tochter der Hardens stellte an Bord jedermanns Geduld auf die Probe. Während andere Kinder auf dem Boden mit ihren Klötzchen und Windmühlen spielten, gebärdete Hilletje sich wie eine Wilde und tollte lärmend über das Deck.

Einzig und allein ihre Mutter schien ihr Verhalten nicht zu stören. Sie verfolgte das Treiben ihres Kindes mit andächtigem Blick.

Judith hatte sich zu den anderen Frauen unter die Sonnensegel begeben, von wo aus sie die Jonkers, die an Bord herumspazierten, heimlich beobachten konnte. Wenn ihr Blick dabei auf den von Conrad van Huyssen traf, blieb er für einen Moment haften, und zuweilen fiel es ihr richtig schwer, ihn wieder abzuwenden.

Aus den Augenwinkeln wurde Judith nun gewahr, dass Hilletje mit gesenktem Kopf auf Conrad van Huyssen zustürmte und in vollem Lauf mit ihm zusammenstieß. Der junge Mann verzog das Gesicht. Seine Hand war an seinen Schritt gefahren.

Die Kadetten neben ihm lachten laut.

Bei dem Zusammenprall hatte Hilletje ihren Kreisel verloren, ein buntes Holzstück, das sie seit dem Kap der Guten Hoffnung besaß. Er war ihr Lieblingsspielzeug.

Conrad bückte sich und hob den Kreisel auf.

Hilletje sprang hoch, um danach zu haschen, doch er hielt ihn außerhalb ihrer Reichweite in die Luft.

»Ei, was haben wir denn hier Schönes?«, fragte er leise.

»Gebt ihn zurück!«, brüllte Hilletje, indem sie wie eine Besessene in die Höhe sprang. »Ich will ihn wieder haben.«

»Du hast gar nichts zu wollen«, beschied Conrad sie.

»Ich will aber meinen Kreisel!«, heulte Hilletje.

Wenn das Kind ihn artig gebeten oder still abgewartet hätte, hätte Conrad womöglich anders reagiert. Doch ihr Geschrei und ihr Gehüpfe versetzten ihn in Wut.

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Judith warf einen Blick zu Hilletjes Mutter hinüber, die den Vorfall mit steinerner Miene beobachtete.

»Meine Güte, nun gib ihr den Kreisel schon zurück!«, murmelte Judith vor sich hin, wenngleich sie bereits wusste, dass Conrad sich anders entscheiden würde.

»Findest du nicht, die kleinen Fische sollten auch ein bisschen mit deinem Kreisel spielen können«, hänselte Conrad die Kleine.

Hilletje starrte ihn an. Dann wurde ihr die Bedeutung seiner Worte bewusst, und sie schrie, als würde sie gehenkt.

Mittlerweile waren auch einige Offiziere aufmerksam geworden und beobachteten das Geschehen aus der Ferne.

Judith warf ihrem Vater einen auffordernden Blick zu, doch er schaute weg.

Conrad war inzwischen dazu übergegangen, dem Kind den Kreisel abwechselnd hinzuhalten und ihn wieder wegzureißen, wenn es danach schnappte.

Die Jankers schütteten sich aus vor Lachen, wenn Hilletje ins Leere griff.

Mit einem Mal bog Conrad sich zurück und tat so, als würde er den Kreisel weit hinaus in die Fluten werfen.

Hilletje heulte abermals laut auf und begann, wie verrückt vor ihm auf und ab zu springen.

Nach einer Weile wurde den Jonkers die Angelegenheit leid.

»Das reicht nun, van Huyssen«, sagte einer. »Gib ihr das elende Ding zurück.«

Conrad schüttelte den Kopf. Sein Gesicht hatte sich gerötet, und in seinen Augen glomm ein eigentümliches Licht.

»Gebt dem Kind sein Spielzeug zurück!«, ließ sich eine neue Stimme vernehmen.

Conrad fuhr herum. Er erkannte einen Soldaten mit weizenblondem Haar.

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»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte er abfällig. »Hast du Lust auf eine Tracht Prügel?«

»Ich habe Lust, dem Kommandeur zu erzählen, dass Ihr gern kleine Kinder quält.«

»Das wird ihn im Moment ganz besonders interessieren.«

Conrad lachte spöttisch.

In diesem Augenblick setzte Hilletje abermals zu einem Sprung an und schaffte es, ihr Spielzeug zu berühren.

»Du widerliche kleine Göre«, zischte van Huyssen. Dann holte er aus und schleuderte den Kreisel ins Meer.

Judith beobachtete, wie das bunte Holzstückchen auf den Wellen auftraf und noch für eine Weile hin und her schaukelte, ehe es nicht mehr zu sehen war. Hinter sich hörte sie Hilletje fassungslos weinen.

Conrad schlenderte mit zufriedener Miene zu seinen Kameraden zurück.

Wiebe Hayes drehte sich um und verschwand.

Frau Hardens hatte Hilletje in die Arme geschlossen und versuchte, ihr Kind zu trösten.

Die anderen Frauen sahen sich betreten an.

»Warum hat der Unterkaufmann nicht eingegriffen?«, hörte Judith Sussie fragen. »Er hat doch alles mitangesehen. Warum hat er zum Schluss gelacht?«

Lucretia bemerkte, dass Francois aufgehört hatte, sich von einer Seite auf die andere zu werfen. Stattdessen lag er ganz still da und starrte sie an, als hätte er eine Vision.

»Was habt Ihr denn?«, murmelte sie. »Wo schaut Ihr hin?«

»Da ist der Teufel«, flüsterte er.

»Schsch«, machte Lucretia und tupfte die Schweißperlen ab, die Francois über die Schläfen rannen.

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»Ihr habt den Teufel an Bord gebracht«, stieß er plötzlich hervor.

»Bitte, beruhigt Euch«, bat Lucretia. »Hier ist weit und breit kein Teufel in Sicht.«

»Ich habe... gesündigt«, stöhnte Francois. »Der Teufel ergötzt sich an meiner Schuld.«

Er verstummte. Nach einer Weile murmelte er verwundert:

»Ich glaube, es ist nur die Liebe, die mich quält.«

Francois seufzte. Mit einem Mal sah er Lucretia ganz klar an.

»Ich bete dich an«, flüsterte er.

Als Lucretia später ihre Kabine betrat, fand sie Zwaantie an ihrem kleinen Schreibpult vor, wo das Mädchen in ihrem Tagebuch blätterte.

»Seit wann kannst du lesen?«, fragte Lucretia und lehnte sich müde an den Türrahmen.

»Ich habe auf Euch gewartet und mir dabei ein wenig die Zeit vertrieben«, entgegnete Zwantie unbeteiligt. »Aber ich lese nur sehr schlecht.«

»Das Tagebuch eines Menschen ist etwas äußerst Privates.

Wusstest du das nicht?«

Zwaantie schob das Buch beiseite.

»Möchtest du, dass ich mich abermals an den Unterkaufmann wende?«

Die Drohung schien Zwaantie zu belustigen.

»Was gibt es da zu lachen?«

»Interessiert er sich neuerdings für Eure Meinung?«

Lucretia holte tief Luft. »Vielleicht interessiert sich der Marschall dafür.«

»Den schert sie ebenso wenig.«

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Seit wann ist sie sich ihrer Sache so sicher? überlegte Lucretia. Offenbar weiß sie etwas, von dem ich keine Ahnung habe.

»Wie geht es dem Kommandeur?«, fragte Zwaantie.

Lucretia rieb sich die Schläfen. »Ich weiß es nicht«, murmelte sie.

»Wart Ihr zu sehr mit ihm beschäftigt, um ihn danach zu fragen?«

Dieses Mal holte Lucretia aus und schlug zu.

Für einen Moment sah es aus, als würde Zwaantie sich auf sie stürzen, doch dann besann sie sich, legte ihre Hand auf ihre gerötete Wange und sagte lediglich: »Das wird Euch noch Leid tun, das verspreche ich Euch.«

»Verschwinde, Zwaantie!«, befahl Lucretia. »Und zwar auf der Stelle!«

»Ich bin schon weg«, versetzte das Mädchen. »Und glaubt bloß nicht, ich käme jemals zu Euch zurück.«

Mit diesen Worten stieß es Lucretia zur Seite, riss die Tür auf und rannte über den Gang davon.

Lucretia ließ sich auf ihr Lager sinken. Was geht auf diesem Schiff vor? fragte sie sich. Sind wirklich alle verrückt geworden? Oder war es so, wie Francois in seinem Wahn angenommen hatte? War tatsächlich der Teufel an Bord?

Sechsundvierzig Grad und zehn Minuten südlicher Breite zehnter Tag des Mai im Jahre des Herrn, 1629

Jedermann wartete auf Nachricht über das Befinden des Kommandeurs.

Die Frauen, die unter den Sonnensegeln nähten und stickten, waren stiller geworden und lachten nur noch selten. Ständig

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wurden neue Gerüchte laut, die entweder besagten, Pelsaert ginge es besser, Pelsaert ginge es schlechter oder Pelsaert sei tot.

Judith saß im Kreise der anderen und starrte vor sich hin. Seit dem Zwischenfall mit Hilletje wich sie van Huyssens Blicken aus. Mit halbem Ohr hörte sie die gebrüllten Befehle des Kapitäns, die vom Achterdeck zu ihnen herunter schallten.

Plötzlich merkte sie, dass die Frauen ihre Arbeiten hatten sinken lassen. Judith blickte auf.

»Was, zum Teuf-«, zischte Anneken Hardens, indem sie mit dem Kopf nach oben deutete. »Das ist doch Zwaantie Hendricks, oder nicht?«

Judiths Blick folgte ihrer Kopfbewegung. Da oben blitzen Röcke auf, wehten helle Haare im Wind.

Judiths Mutter wich die Farbe aus dem Gesic ht. »Sie macht sich der Todsünde schuldig«, murmelte sie.

»Er hat den Arm um sie gelegt«, teilte Frau Hardens allen mit.

»Wie man hört, schläft sie auch bei ihm.«

»Und Madame van der Mylen? Sagt sie nichts dazu?«, wollte eine der Frauen wissen.

»Der Pfarrer muss mit Madame van der Mylen reden!«, rief eine andere.

Frau Bastians richtete sich auf. »Das hat er bereits getan«, erklärte sie wichtigtuerisch. »Und er hat auch kein Blatt vor den Mund genommen. Das sei nun eine Sache zwischen dem Marschall und dem Kapitän, hat sie ihm indes verkündet. Als ob hier einer wagte, sich mit Jacobs anzulegen!«

Die Frauen stießen Laute der Entrüstung aus.

»Das geht nicht gut aus«, sagte eine.

Entlang des Orlopdecks waren auf einer Seite mehrere kleine Räume abgetrennt worden. In einem davon hatte sich eine Gruppe von Männern zu einer Runde Genever eingefunden.

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Jeronimus war dabei, Conrad van Huyssen, der Bootsmann Jan Everts, Abraham Dericks, der Marschall, David Zeevanck, der Schreiber, und der Obergefreite mit dem abstoßenden Gesicht, der, den man allgemein Steinmetz nannte.

Während die anderen am Tisch hockten und die Flasche kreisen ließen, hielt Jan Everts Wache und beobachtete durch ein Astloch in der Tür, ob sich von draußen jemand näherte.

Für eine Weile sagte niemand etwas, allenfalls schnalzte der eine oder andere genießerisch mit der Zunge.

»Ich glaube, er macht es nicht mehr lange«, erklärte Jeronimus plötzlich.

»Doch sicher seid Ihr Euch nicht«, stichelte van Huyssen.

»Ich wiederhole nur, was der Bordarzt gesagt hat«, entgegnete Jeronimus. »Noch ein Tag, höchstens zwei. Als ich eben in seiner Kajüte war, wirkte er bereits wie tot.«

Wenig später hub Jeronimus abermals an: »Kennt eigentlich jemand den Wert der Fracht, die wir transportieren?«

Alle blickten ihn an. Jeronimus lächelte. Nun besaß er ihre volle Aufmerksamkeit.

»Sie entspricht dem Vermögen eines Fürsten«, fuhr Jeronimus fort. »In den Kisten lagern Silbermünzen im Wert von einer Viertelmillion Gulden. Dazu kommt noch die Truhe des Kommandeurs in dessen Kajüte. Er versteckt dort Juwelen, die für Shah Jahan vorgesehen sind. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.«

»Worauf wollt Ihr hinaus?«, erkundigte sich Zeevanck.

»Auf nichts Bestimmtes, David«, erwiderte Jeronimus sanft.

»Die Entscheidung liegt bei Euch. Ich weiß lediglich, dass ich so viel Reichtum kein zweites Mal begegnen werde. Ihr übrigens auch nicht, Conrad, trotz Eurer vornehmen Abstammung.«

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Jeronimus richtete seinen Blick auf den Steinmetz. »Was zahlt man Euch denn im Monat, dass Ihr Euer Leben riskiert? Wollt Ihr irgendwo in einem giftigen Sumpf mit einem Dolch in den Rippen enden?«

Jeronimus warf einen raschen Blick in die Runde. Es war offenkundig: Sie hatten Blut geleckt.

»Die Wichtigsten von uns sind hier versammelt«, begann er noch einmal. »Wir sollten diesen Anlass nutzen, um nachzudenken. Wenn Pelsaert stirbt, werde ich Kommandeur.

Dann möchte ich erfahren, was euch lieber ist: weiter nach Batavia zu segeln oder ein Leben zu beginnen, das ihr bislang nur aus euren Träumen kennt.«

»Was ist mit dem Kapitän?«, fragte Jan Everts.

»Den überlasst ruhig mir«, entgegnete Jeronimus. »Der steht auf unserer Seite.«

Die Männer warfen sich heimlich Blicke zu. Jeder fragte sich, wie weit er dem anderen trauen konnte und was ihm geschähe, wenn der Plan misslang. Bei Meuterei gab es nämlich keine Gnade - auf Meuterei stand der Tod. Andererseits leuchtete ihnen ein, was der Unterkaufmann hervorgehoben hatte: Eine Gelegenheit wie diese böte sich nie wieder.

»Ihr habt doch einen Plan! Also heraus mit der Sprache«

forderte Dericks Jeronimus schließlich auf.

Jeronimus richtete sich in die Höhe. »Wenn die Batavia Java nicht erreicht«, erklärte er, »dauert es ein Jahr, bis die Herren in Amsterdam das herausbekommen.«

»Mindestens«, pflichtete Everts ihm bei. »Wahrscheinlich eher zwei.«

»Demnach genug Zeit, um noch mehr Geld anzuhäufen.«

»Wie stellt Ihr Euch das vor?«, fragte van Huyssen.

»Die Fahne der Gesellschaft wird uns gute Dienste leisten. Da schöpfen die anderen Schiffe zunächst keinen Verdacht. Und

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wenn sie dann misstrauisch werden, haben sie längst verspielt.

Wie viele Geschütze haben wir an Bord, Abraham?«

Der dicke Marschall warf sich in die Brust. »Achtundzwanzig Geschütze. Sieben davon sind schwere Bronzekanonen. Sie können Festungsmauern durchschlagen.«

Jeronimus pfiff anerkennend durch die Zähne.

»Dazu kämen noch die Musketen, die Entermesser und die Spieße aus dem Waffenarsenal«, ergänzte der Marschall.

»Wir könnten uns vor Madagaskar und an der Koromandel-Küste auf die Lauer legen«, schlug Jeronimus vor. »Später lassen wir uns in Afrika nieder. Dort gründen wir ein Königreich und leben nach unserem Geschmack.«

Der Steinmetz und Dericks nickten beifällig.

»Was machen wir mit dem Rest der Mannschaft?«, erkundigte sich Zeevanck.

»Das ist an Euch«, entschied Jeronimus. »Ihr wisst am besten, wem man trauen kann und wem nicht. Erzählt aber niemandem etwas von unseren Plänen. Seht einfach nur zu, dass sie im entscheidenden Moment gehorchen. Der Marschall kümmert sich um die Kanoniere, Jan um die Matrosen, der Steinmetz um die Soldaten auf dem Orlopdeck.«

Van Huyssen wandte sich an Everts. »Ist das zu schaffen?«, fragte er. »Wir sind nur eine Hand voll gegen dreihundert.«

Jan winkte ab. »Kein Grund zur Sorge«, erwiderte er. »Die einfachen Matrosen stammen von irgendwelchen Hafenhuren ab. Sie tun alles für Geld, genau wie ihre Mütter. Die Soldaten sind angeworbene Söldner, da versteht es sich von selbst, dass sie käuflich sind. Sie werden sich dem neuen Kommandeur fügen.«

Für eine Weile schwiegen alle und hingen ihren Träumen nach.

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Nie mehr fauliges Fleisch, nie mehr endlos auf See. Kein Schreibtisch in einer düsteren Stube, keine Angst, in einem Krieg zu sterben, nie mehr Abscheu erregen, von den Frauen begehrt werden, durch Reichtum verschönt...

Die Flasche Genever machte erneut die Runde.

Danach schwor jeder einen Eid.

Nun musste nur noch der Tod des Kommandeurs abgewartet werden.

Judith spitzte die Ohren, als ihre Eltern auf der anderen Seite des Vorhanges zu flüstern begannen.

»Ich habe mit dem Unterkaufmann gesprochen«, hub ihr Vater an. »Ich habe ihm angekündigt, dass ich die Vorkommnisse an Bord in Batavia melden werde.«

»Hast du auch Frau van der Mylen erwähnt?«

»O ja. In diesem Punkt hatte der Unterkaufmann größtes Verständnis. Er ist empört. Sie verbringt nun auch ihre Nächte mit Pelsaert.«

»Das ist nicht wahr!«

»Er kann aber leider nichts unternehmen. Noch ist ja Pelsaert Kommandeur.«