Kapitel 10

Laguna de Maracaibo, Sommer 1666

 

Weißer Küstennebel hüllte die bunten Häuser ein, die längs am Ufer des dunklen Sees aufragten. Die acht Schiffe näherten sich ihnen unheilvoll. Ihre dicken Bäuche hoben sich anmaßend aus dem Wasser, und außer dem Gluckern der Wellen und dem Schlagen der Ruder waren keinerlei Laute zu vernehmen. Seit die Flibustier tags zuvor das Fort an der Meerenge eingenommen hatten, war der Wind versiegt und sie mussten sich durch die Nacht mit der Flut gen Maracaibo treiben lassen. Noch stand der Mond am verblassenden Nachthimmel, und vereinzelte Wolken nutzten die Gelegenheit, sich zu sammeln, bevor die anschwellende Sonne sie wie jeden Tag versengen würde.

Die Männer schwiegen. Anspannung hatte sich in ihren Gesichtern festgesetzt. Stürmisches Wetter hatte die Überfahrt nach Nueva Venezuela geprägt und die Truppe der Flibustier fast auseinandergerissen. Doch die Kaperfahrt stand augenscheinlich unter einem guten Stern, denn die Schiffe trafen beinahe zeitgleich im Golf von Maracaibo ein, wo sie verharrten bis die Nacht einsetzte. Daraufhin segelten sie bis zu der Sandbank an der Meerenge und gingen dort vor Anker. Michel Le Basque und Moïse Vauquelin begaben sich mit ihren Mannschaften an Land, um das Fort zu erstürmen. Schneller als erwartet schalteten sie die wachhabenden Soldaten aus. Nur wenigen glückte die Flucht und kein Einziger drang bis zur Festung durch, um die Männer zu warnen. Auf diese Weise gelang den Flibustier ein überraschender Angriff, und die spanischen Schützen waren innerhalb von nur drei Stunden geschlagen. Nachdem die Brüder ihre Flagge auf dem Fort gehisst hatten, verbrachten sie den restlichen Tag damit, die Befestigungen niederzureißen und abzubrennen, ihre Toten zu begraben und Verwundete sowie erbeutete Kanonen auf die Schiffe zu verladen. Anschließend brachen sie nach Maracaibo auf.

Jacquotte stand am Bug der La Poudrière und beobachtete den nahen Küstenstreifen. Sie vernahm die meckernden Laute der Ziegen, die auf der Isla Borica gehalten wurden, die sie gerade passiert hatten, und roch das Ufer mit seinem schlammigen Grund, der durch die Ebbe freigelegt wurde. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder wohl in ihrer Haut. François L’Olonnais befand sich auf seinem erbeuteten Schiff, und sie konnte nachts die Augen zutun, auch wenn sie erst nach Tagen in der Lage gewesen war, ruhig zu schlafen. Zu tief saß die Wachsamkeit. Allmählich bewegte sie sich entspannt, ohne dass sie ständig vorsichtige Blicke über ihre Schultern warf. Ihre Stimmung wurde mit jedem Tag befreiter und sie begriff, dass sie endlich am Ziel dessen war, was sie all die Jahre ersehnt hatte. Beinahe zärtlich strich sie über das Holz der Reling und sah zur Belle Rouge hinüber, die sich wie stets backbord der La Poudrière befand. Nicht einmal im Sturm hatte Pierre den Anschluss verloren. Jacquotte wusste nicht, was sie davon halten sollte. Er hatte sie erkannt. Es war ihr unbegreiflich, wie ihm das gelungen war, denn sie vermochte sogar Jan zu täuschen. Die Einzige, die sie immer durchschauen würde, war Fayola, die von den Männern Morelle genannt wurde. Doch selbst sie hatte Zeit gebraucht, um zu erkennen, wer hinter der Verkleidung steckte. Zu intensiv war Antoine Du Puits zu einem Teil ihres Wesens geworden. Er bewegte sich anders, er sprach anders und dennoch atmete er ihre Persönlichkeit. Dank ihm war ihr ein Leben möglich, dessen Freiheiten einer Frau verwehrt blieben. Nur dank ihm konnte sie ein Bruder der Küste sein. Jacquotte reckte ihr Kinn. Sie hatte viel geopfert, um unerkannt zu bleiben. Das Rasiermesser führte sie mittlerweile geschickter als jeder Barbier, ihre Notdurft bezwang sie bis zum Schutz der Dunkelheit, in der sie sich inzwischen wie ein Schatten bewegte, und den Druck ihrer eingeschnürten Brüste sowie den kratzenden Schmutz hatte sie über die Jahre zu ertragen gelernt. Selbst ihre Monatsblutungen schnürte sie mit Leinen ab, ganz so wie Fayola es ihr gezeigt hatte. Ihr Wille war stark. Sie gab nicht vor, Antoine Du Puits zu sein, sie war Antoine Du Puits. Andächtig berührte sie das goldene Kreuz mit der stürzenden Taube um ihren Hals, das ihr tagtäglich Kraft schenkte.

»Die Stadt ist wie ausgestorben«, flüsterte ein Schiffsjunge neben ihr.

»Aye! Entweder das oder die Einwohner lauern uns auf.« Sie reckte das Kinn, um den vorgelagerten Hafen zu erkennen. Zäher Nebel waberte über das Schilf, das die großzügigen Mauern umgab. Kein einziger Mast ragte aus dem Dunst.

»Es sind keine Barken oder Schiffe zu sehen.« Jacquotte runzelte die Stirn. »Es heißt, die Stadt beherbergt an die viertausend Seelen, die meisten davon Sklaven. Vielleicht wurden sie gewarnt.« Sie hob die Hand, um die Aufmerksamkeit ihrer Mannschaft zu erlangen. Das Schiff von L’Olonnais drehte bei und ging längsseits der Häuser in Stellung.

»Hart steuerbord! Segel einluven! Kanonen auf Backbordseite bereit machen!«, befahl sie und schritt über das Deck in Richtung Heck, um den Steuermann zu überwachen.

Es kam Bewegung in die erstarrte Besatzung. Die Männer waren müde und hungrig. Jacquotte wusste um ihren Zustand. Sie hoffte, dass Maracaibo genug Schätze barg, an denen sich die ausgezehrte Mannschaft laben konnte. In der Stadt war es zu ruhig. Das bedeutete, dass ihnen entweder ein harter Kampf bevorstand oder die Einwohner alles aufgegeben hatten. Letzteres würde L’Olonnais in Aufruhr versetzen und ihn augenblicklich ausschwärmen lassen, um die Flüchtigen niederzustrecken. Jacquotte wünschte sich, dass es dazu kam. L’Olonnais gegenüberzutreten war etwas, das ihr beinahe die Sinne schwinden ließ. Aber es war nicht an der Zeit, unnötige Gedanken daran zu verschwenden. Sie übernahm das Ruder und richtete das Schiff zum Kampf aus.

»Kanonen bereit«, meldete der Maat. Jacquotte nickte und blickte zum Olonnaisen hinüber. Trügerische Ruhe lag über der Flotte. Kein Windhauch zerrte an den Segeln und der Nebel legte sich schützend vor die Häuserfront von Maracaibo. Jacquotte starrte angestrengt durch ihr Fernrohr. Der Olonnaise hob die Hand.

»Feuer«, schrie sie, und mit kurzer Verzögerung vernahm sie das Krachen der Neunpfünder. Das Deck erzitterte, und die Masten knarrten. Wie ein Echo feuerten auch die anderen Schiffe ihre zerstörerische Ladung ab. Mit dumpfem Dröhnen schlugen die Kugeln in die Häuser jenseits des Hafens ein. Ein Dach knickte ein und riss das erste Stockwerk mit sich in die Tiefe. Jacquotte sah es im Nebel verschwinden und lauschte. Fenster splitterten, Ziegelsteine stürzten ins Wasser. Staub vermischte sich mit dem Dunst und verstärkte die undurchsichtige Wand. Die Schiffe ihrerseits verschwanden unter einem Schleier aus Pulverdampf. Die Männer gingen in Deckung, aber der Gegenangriff blieb aus. Kein Kanonenschuss, keine Musketensalve waren zu hören. Maracaibo wartete stumm.

»Zum Teufel«, entfuhr es Jacquotte. Sie rannte über das Deck, um das Schiff des Olonnaisen auszumachen und weitere Anweisungen zu empfangen. Erstickte Stimmen drangen zu ihr vor, doch sie konnte lediglich die Umrisse des spanischen Handelsfahrers erkennen.

»An Land! Boote bereit machen!«, erreichte sie schließlich der klare Befehl von L’Olonnais‘ Schiff.

»Boote bereit!«, rief sie ihrer Besatzung zu. »Wir setzen über. Die Männer an den Kanonen bleiben, wo sie sind!« Jacquotte wusste, dass die Kanonen noch einmal feuern würden, wenn die Flibustier auf halbem Weg an die Küste waren. Das sollte ihr Herannahen vertuschen. Außerdem würden die Bukaniere in den Booten das Feuer auf das schützende Gebüsch der Uferböschung eröffnen, um lauernden Spaniern den Garaus zu machen, bevor auch nur ein Mann seinen Fuß in die Stadt setzte.

Sorgfältig verfolgte sie das Abfieren der Beiboote. Sie hatten genug Boote dabei, um die gesamte Mannschaft an Land zu bringen. Ein Umstand, der notwendig war, um Maracaibo zügig zu erstürmen. Jacquotte erteilte ihrem ersten Maat genaue Befehle über das weitere Vorgehen, bevor sie sich mit dem Großteil der Männer über Bord schwang, um in den Beibooten überzusetzen.

Kurze Zeit später durchzogen die Ruder das graue Wasser. Je näher sie der Stadt kamen, umso mehr streckte der feuchte Nebel seine düsteren Klauen nach ihnen aus. Die Augen der Brüder blickten krampfhaft in das bleiche Nichts, das langsam von der Flotte Besitz ergriff. Jacquotte erkannte die Schatten der anderen Boote, während sie wie eine Armee hungriger Ameisen auf das Festland zuhielten. Jeder Laut wurde von dem zähen Dunst geschluckt, der sie bedächtig einhüllte. Sie legte beide Hände an die Pistolen, die am schwarzen Seidentuch um ihren Hals baumelten.

»Seid unbesorgt, Brüder. Die Spanier sind nicht klug genug, um uns derart lange hinzuhalten«, flüsterte sie beruhigend. »Wenn ihr mich fragt, sind die feigen Hunde bereits auf und davon.«

Die Männer grinsten. Jacquotte sah jeden von ihnen kurz an. Sie wusste, dass das Vertrauen der Besatzung wuchs. Hatte sie sie anfangs noch misstrauisch beäugt, fügte sie sich mittlerweile vertrauensvoll ihren Befehlen. Immer öfter kam es vor, dass die Schiffsjungen während der Arbeit Lieder anstimmten oder miteinander scherzten. Die Tyrannei, der sie unter L’Olonnais‘ Kommando ausgeliefert gewesen waren, verflog mit dem Wind, der sie vorantrieb.

»Denkt daran, die Kirche in der Stadtmitte wird unser Befehlslager. Was ihr in Maracaibo findet, schafft ihr dorthin«, sagte sie eindringlich. Die Männer nickten.

»Möge das Glück mit euch sein.« Jacquotte vernahm das Grollen der Kanonen und hörte die Kugeln bedrohlich über ihre Köpfe zischen. Die Schiffe hatten ihre zweite Ladung abgefeuert. Kreischend gingen Häuser im weißen Nichts zu Bruch, entließen ihre steinernen Wände ins Meer. Aufgewühlte Wellen prallten an den Beibooten ab, und feiner Staub bedeckte die Haare der Männer, die sich in ihre Boote duckten, bereit, den Konter abzuwehren. Wieder blieb es ruhig.

»Feuer frei«, erscholl es aus den Tiefen des Nebels.

»Feuer frei«, wiederholte Jacquotte, und die Bukaniere legten ihre Musketen an. Mit knisterndem Funkenregen knallten die Schüsse und fanden ihren Weg in unwegsames Gebüsch. Blätter und Äste flogen umher, aber von Spaniern fehlte jede Spur. L’Olonnais ließ noch zwei weitere Salven abfeuern, doch die erwartete Reaktion blieb aus.

Wachsam begaben sich die Männer an Land. Leblos breitete sich die weitläufige Stadt vor ihnen aus. Die Flibustier warteten kurz, bevor sie Haustüren aufstießen und Fenster einschlugen. Schnell stellten sie fest, dass die Einwohner geflohen waren. Einzig Hühner und Schweine streiften verlassen durch die Straßen, und bald frönten die ersten Brüder der Völlerei. Die entvölkerten Häuser boten eine reiche Auswahl an Wein, Selbstgebranntem, Brot, Kohl und Früchten. Die Bürger hatten Maracaibo anscheinend in großer Eile aufgegeben und lediglich mitgenommen, was von Wert war und sie zu tragen vermochten. Eine derart mühelose Inbesitznahme hatten sich die Flibustier nicht ausgemalt, und innerhalb einer Stunde herrschten Chaos und Verwüstung in der Stadt.

Der Baske übernahm das Kommando und entsandte Brüder in die entlegeneren Stadtteile. Auch Jacquotte drang mit einigen ihrer Männer bis in die hintersten Gassen vor, um sicherzustellen, dass sich niemand mehr verschanzte. Gerade, als sie sich auf dem Rückzug befand, wurden zwei ihrer Schiffsjungen durch Schüsse aus dem Hinterhalt niedergestreckt. Eilig suchten die Übrigen Deckung hinter den provisorischen Holzhütten, deren Zahl zunahm, je weiter man sich vom Stadtkern entfernte.

»Eine große Gruppe Sklaven«, zischte Jacquotte und erspähte die Mohren durch eine Ritze in den grob zusammen gezimmerten Wänden.

Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Die meisten trugen außer Waffen kaum etwas am Leib und zogen lärmend die Straße entlang. Offensichtlich hatte man sie zurückgelassen, und sie nutzten die Gelegenheit, um zu vergelten, was man ihnen angetan hatte oder gedachte, ihnen erneut anzutun. Jacquotte sondierte die Lage. Auf einen von ihren Männern kamen fünf Sklaven. Sie waren deutlich in der Überzahl und hielten zügig und mit grimmigen Mienen auf die Flibustier zu. Es gab keine Rückzugsmöglichkeiten, sie mussten kämpfen! Eilig überprüfte sie ihren Vorrat an Pulver und Kugeln. Mit glänzenden Augen erwarteten die Männer ihre Befehle. Der Wein, den sie in den Häusern vorgefunden hatten, machte sie heißblütig.

»Eröffnet das Feuer und dann stürzt euch auf sie! Sie mögen schießen können, aber im Nahkampf sind wir ihnen überlegen.« Jacquotte nickte den Männern zu, umklammerte ihre Waffen und sprang vor das schützende Hauseck, die Brüder dicht hinter sich.

Ihre kurz hintereinander abgefeuerten Pistolen rissen eine Lücke in die vorderste Front und trieben den ebenholzfarbenen Männern ungezügelte Wut ins Gesicht. Bösartig fletschten sie ihre Zähne. Die Sonne ließ den Schweiß auf ihrer nackten Haut angriffslustig aufleuchten, als sie in die Offensive gingen. Einige feuerten ebenfalls ihre Pistolen ab, während andere wuchtige navajas schwangen und lärmend auf die Flibustier zurannten. Einer schwarzen Mauer gleich prallten sie gegen die zahlenmäßig unterlegenen Brüder und verkeilten sich ineinander. Jacquotte stach, hieb und kämpfte wie besessen. Sie durchschnitt Fleisch, sah Blut spritzen und brüllte die dunklen Angreifer an, die mit dem Mut fochten, der nur Verzweifelten zu eigen war. Worte einer rätselhaften Sprache hingen in der Luft und vermischten sich mit den gequälten Schreien der Verwundeten. Ein mächtiger Mohr, stämmig wie eine Palme und massig wie ein alter Eber, schlug ihr die Machete aus der Hand und brachte sie mit einem Stoß seines Ellbogens zu Fall. Jacquotte keuchte auf und drehte sich, um seinem drängenden Säbel auszuweichen, den er leidlich, aber mit großem Eifer führte. Wie ein hungriger Fregattenvogel stieß er immer wieder hinab, um seine Beute aufzuspießen, doch Jacquotte wand sich geschickt zwischen den Beinen der Kämpfenden. Erst, als sie eingekeilt war, und er seine Stichwaffe in ihre Hüfte bohrte, holte sie instinktiv aus und durchschnitt ihm mit ihrem Dolch die Wade. Wie ein gefällter Baum brach der Mohr zusammen, und sie sprang auf die Füße. Ihre Wunde schmerzte, aber sie war gezwungen, den nächsten Angriff zu parieren. Sie konnte keinen ihrer Männer mehr ausmachen.

Panik erfasste sie, bevor sie sich im Kampf mit zwei weiteren Sklaven wiederfand. Erneut traf sie eine scharfe Klinge. Sie stöhnte auf und versuchte, sich aus der Gefahrenzone zu bringen. Doch die Mohren hatten Blut gewittert. Wie Spürhunde setzten sie ihrem verwundeten Opfer nach. Jacquotte blickte in ihre pechschwarzen Augen und wusste um ihr Schicksal. Sie würden sie in Stücke reißen, wenn sie sie zu fassen bekamen. Bedrohlich zog sie ihre Säbel durch die Luft, um sich Freiraum zu erkämpfen. Ein Stein traf ihre Schulter und ließ sie taumeln. Die Männer lachten höhnisch. Jacquotte sah sich um. Sie war alleine. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie hörte das Klicken eines Pistolenschlosses. Die Menge teilte sich und machte den Blick auf den großen Mohren frei, der in einer Blutlache am Boden saß, seinen zahnlosen Mund enthüllte und entschlossen auf sie zielte. Sie schluckte und ihre Gedanken überschlugen sich. Aus den Augenwinkeln sah sie ein einsames Schwein an sich vorüberrennen, vernahm das gurgelnde Gelächter der Männer und spürte ihr Blut heiß aus mehreren Wunden ihren Körper verlassen. Sie sehnte sich nicht nach dem Tod, jetzt wo er nahe war. Aber sie würde ihn mit hocherhobenem Haupt annehmen.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Grinsen. Sie hob die Arme und kreuzte die Säbel über ihrem Kopf. Der Mohr stutzte. In diesem Moment kam Bewegung in die Menge. Der Schuss krachte, doch er traf einen Sklaven, der sich ins Mündungsfeuer hatte drängen lassen. Die Kugel durchschlug ihm den Bauch und ließ ihn zusammensacken. Jacquotte sah sich um und erblickte weitere Flibustier, die die Straße hinabstürmten. Pierre! Sie erkannte sein unnachgiebiges Gesicht, mit dem er die Männer anführte. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er sich in die Menge stürzte. Sie folgte ihm. Seine Bewegungen waren ihr vertraut. Er kämpfte wie einst, auch wenn er grausamer geworden war. Besaß er früher noch die Gnade, seinen Gegnern einen raschen Tod zu bescheren, so verletzte er sie heute nur, bis sie wehrlos vor ihm am Boden lagen und ihn anflehten, sie zu töten. Jacquotte beobachtete ihn gespannt und hielt ihm den Rücken frei. Überdeutlich spürte sie die Hitze seines Körpers. Vergessen geglaubte Gefühle stiegen in ihr auf, und das Blut trieb sie mit der Anspannung durch ihre Adern.

Die Flibustier bekamen Oberhand. Der große Mohr starb durch Pierres Säbel. Jacquotte sah das Licht in seinen Augen schwinden, als sein Leib hintenüberfiel. Sie starrte ihn an. Beinahe hätte er ihr das Leben genommen, doch nun hatte Pierre beglichen, was ihre Aufgabe gewesen wäre. Sie wehrte einen weiteren Angriff ab und sah endlich, dass die restlichen Sklaven die Flucht ergriffen. Einige Flibustier setzten ihnen nach, aber die meisten hielten inne, um Atem zu schöpfen. Pierre drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich. Jacquotte bemerkte Blut, das ihm von seiner aufgeplatzten Lippe über das markante Kinn lief. Seine Gesichtszüge entspannten sich für einen Moment, als er ihr die Machete reichte, die sie während des Kampfs verloren hatte. Sie nahm sie entgegen. Pierre fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Ein letztes Mal studierte er ihr Gesicht, bevor er seinen Männern mit einer kurzen Drehung seines Kopfes zu verstehen gab, dass es an der Zeit war, sich zurückzuziehen.

Jacquotte blieb zurück. Ihre Männer waren tot. Sie stieg über ihre leblosen Körper und blickte in starre Augen. Schuldgefühle nagten an ihr, doch sie rang sie nieder. Das Leben der Flibustier war eine Reise mit dem Tod. Er erwartete einen jeden Tag, auf dem Meer ebenso wie an Land. Die Männer hatten ihn gekannt. Sie setzten ihre Reise nun in seiner Begleitung fort. Es war das alte Lied.

Sie beschloss, unverzüglich den Rest ihrer Mannschaft aufzusuchen und ihnen von dem Überfall zu berichten. Später würden sie gemeinsam zurückkehren, um ihre Brüder zu beerdigen. Energisch hob sie den Kopf und setzte hinter Pierre her. Als sie Anschluss an seine Gruppe gefunden hatte, verlangsamte sie ihr Tempo. Ihre Wunden pochten, doch noch war es nicht an der Zeit, sich darum zu kümmern. Je näher sie dem Hafen kamen, desto größer wurde der Lärm. Plündernde Horden schleppten in Richtung Kirche, was sie zu tragen vermochten. Manch Flibustier wankte bereits unter dem Rausch des Alkohols. Einige hatten sich Frauenkleider angelegt und taumelten begleitet von Gelächter durch die Straßen, während andere sie aus den oberen Stockwerken mit faulem Obst bewarfen. Jacquotte drängelte sich bis zur Kirche vor, in deren Innerem die eingesammelte Beute aufgeschichtet wurde. Feuer, über denen Hühner brieten, brannten vor dem Altar. Weinfässer waren vor die Sakristei gerollt worden und entzündeten die Kehlen und die Stimmung der Männer. Mittendrin hielt der Baske Hof, die Hände herrisch vor der kräftigen Brust verschränkt. Er starrte Jacquotte entgegen.

»Was habt Ihr zu vermelden, Antoine Du Puits?«, rief er gegen den Lärm an, den die steinernen Wände zurückwarfen.

»Wir sind überfallen worden, großer Baske«, berichtete sie mit fester Stimme. »Marodierende Sklaven treiben am Stadtrand ihr Unwesen. Meine Männer wurden alle dahingemetzelt.«

Michel Le Basque zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Wo steckt Kapitän L’Olonnais? Er sollte dieser Sklaven habhaft werden! Vielleicht berichten sie uns, wohin ihre Herren gezogen sind.«

»Ihr befehlt die Truppen an Land«, konterte Jacquotte. »Ihr solltet den Aufenthaltsort Eurer Männer besser kennen als meine Wenigkeit.« Sie wich zwei streitlustigen Raufbolden aus.

»Hah!« Der Baske warf seinen Kopf zurück. »Mäßigt Euch, Kapitän Du Puits! Wart Ihr es nicht, der sich für den Olonnaisen verbürgt hat?«

»In der Tat. Aber ich bin nicht in der Lage, ihm Befehle zu erteilen!« Sie fixierten sich über das Getümmel hinweg. Ärgerlich langte der Baske nach einem der Schläger. Es sah aus, als wolle er eine lästige Fliege abwehren. Seine Faust traf den Mann versehentlich an der Schläfe, und er ging zu Boden. Der Baske schnaubte und trat an Jacquotte heran.

»Wem folgt Ihr, Du Puits? Mir oder dem Olonnaisen?« Er musterte sie eindringlich.

»Ich folge dem Kodex und mir selbst!« Sie sah ihm in die Augen.

»Findet den Olonnaisen für mich, und ich werde dafür sorgen, dass er seine Pflicht tut«, erwiderte der Baske mit unbewegtem Gesicht. Jacquotte verharrte kurz, nickte dann und wandte sich ab.

Während sie sich durch die Menge kämpfte, begegnete sie Pierres Blick. Sie hielt inne. Er war offenbar auf dem Weg zum Basken, doch er blieb stehen. Für einen flüchtigen Moment sahen sie sich an.

»Picard!« Die Stimme von Michel Le Basque duldete keinen weiteren Aufschub. Pierre senkte den Blick und setzte seinen Weg fort. Sie sah ihm nicht nach.

Als sich die Nacht über die brodelnde Stadt senkte und das Grölen der betrunkenen Männer die Laute der Gefolterten übertönte, saß Jacquotte am Fenster eines verlassenen Hauses abseits der Prachtbauten. Brände, entzündet aus feinstem Mobiliar, erhellten die zerschundenen Fassaden. Zerbrochene Krüge pflasterten die Straßen, Milch und Mehl vermischten sich mit Blut, Federn und Innereien eilig geschlachteter Hühner. Die Schweine verschonte man für die Gelage der nächsten Tage und hatte sie in Pferchen um die Kirche zusammengetrieben. Ihr Grunzen hallte durch die Dunkelheit. Die Flibustier schöpften aus dem Vollen, zerstörten spanischen Besitz und spuckten auf alles, was sich nicht zu Geld machen ließ. Sie hatte sich dem Treiben lange genug hingegeben und war froh, den lüsternen Blicken des Olonnaisen entkommen zu sein, die sie bis in den letzten Winkel von Maracaibo verfolgten. Erst die gefangenen Sklaven lenkten seinen Trieb auf andere Dinge, und Jacquotte fühlte sich schuldig, dass deren Qual ihr zur Flucht verholfen hatte. Ihre Männer waren begraben worden, der Rest ihrer Mannschaft hatte gute Beute gemacht, und auf ihren ersten Maat war Verlass. Er überwachte alles in ihrem Sinne, sodass sie sich schließlich mit der Entschuldigung hatte zurückziehen können, ihre Wunden versorgen zu müssen. Der einzige Arzt, den sie ausfindig machen konnte, war jedoch zu betrunken gewesen, um seiner Aufgabe nachzukommen und so hatte Jacquotte selbst Hand angelegt. Der spanische Wein beruhigte sie und das Alleinsein tat ihr gut. Sie lehnte sich gegen das zertrümmerte Fenster und dachte an Pierre. Er hatte ihr am heutigen Tag das Leben gerettet. Es war sonderbar, nach so langer Zeit wieder an seiner Seite zu kämpfen. Das Wiedersehen mit ihm vor einigen Wochen war aufwühlend gewesen. Besonders, als er ihr versichert hatte, sie nicht verraten zu haben. Obwohl diesbezüglich noch Zweifel an ihr nagten, war sie mit einem Mal gewillter denn je, ihm zu glauben. Nervös über diese ungewohnten Gedanken stützte sie ihre Stirn gegen das zersplitterte Holz. Ihre Gefühle spielten ihr offenbar einen Streich. Jacquotte rief sich zur Ruhe. Sie durfte nicht zulassen, dass er zerstörte, was sie sich mühsam aufgebaut hatte!

Eine knarrende Treppenstufe ließ sie herumfahren und Deckung hinter einem umgestürzten Schrank suchen. Sofort lud sie ihre Pistole. Die Flammen unter dem Fenster warfen tanzende Punkte an die massive Holzdecke. Jacquotte gab keinen Laut von sich. Wenn einer der Sklaven glaubte, sich in diesem Haus zu verstecken zu können, würde sie ihn töten und damit Rache für ihre gefallenen Brüder nehmen. Die Geräusche verstummten, und sie hielt den Atem an. Vorsichtig spähte sie in den dunklen Raum. Minuten vergingen. Dann bewegte sich ein Schatten in Richtung Fenster. Jacquotte spannte das Schloss, und die Gestalt fuhr herum. Sie erkannte die Umrisse und fragte sich, ob es ihre Gedanken gewesen waren, die ihn angelockt hatten.

»Was willst du hier?«, murrte sie und legte das Schloss zurück.

»Ich wollte dir die Gelegenheit geben, dich zu bedanken«, erwiderte Pierre.

Sie steckte die Pistole weg und trat an ihn heran. »Ich habe dich gerade verschont. Ist das nicht Dank genug?«

»Nur zu, die meisten Narben an meinem Körper sind ohnehin von dir.«

Er beobachtete sie aufmerksam und löste Unbehagen in ihr aus. Wachsam sah sie aus dem Fenster, aber außer dem üblichen Treiben war nichts Verdächtiges zu erkennen.

»Der Baske gab mir den Auftrag, dich auszuspionieren. Dein Auftreten missfällt ihm, und er fragt sich, warum er deine Vergangenheit nicht kennt«, erklärte Pierre ohne weitere Umschweife.

»Weshalb erzählst du mir das?«

»Nur weil wir Fremde sind, macht uns das nicht zu Feinden.« Er senkte seine Stimme. »Ich weiß inzwischen, dass der Baske den Plan hatte, dich zu töten. Er sagte es mir selbst vor unserer Abreise nach Maracaibo. Du hast eine mutige Entscheidung getroffen.«

Jacquotte warf den Kopf zurück. »Hör auf, Verständnis zu heucheln, Pierre! Es ist viel geschehen in den letzten Jahren. Ich fürchte mich nicht mehr vor dem Basken oder L’Olonnais! Ich habe endlich mein eigenes Schiff. Etwas anderes wollte ich nie.«

Pierre knirschte derart mit den Zähnen, dass sie es hörte. Er war wütend auf sie. Sie musste lächeln und war froh, dass die Dunkelheit ihr Gesicht verbarg. Sie sah den Jungen ihrer Kindheit vor sich, mit dem sie sich ebenfalls ständig gezankt hatte. Ohne es zu wollen, überflutete sie eine Welle der Erinnerungen. Émile, Manuel, ihre Siedlung unter den Limonenbäumen, ihre Höhle über dem Meer. Jacquotte schloss kurz die Augen, um die Gedanken zu verscheuchen.

»Als ich Tierra Grande verließ, tat ich es in dem Glauben, dass ich dir nichts bedeute.« Seine Stimme klang heiser.

»Sei still! Die Vergangenheit ist ohne Belang«, wies sie ihn zurecht.

Pierre verstummte. Lange Zeit verharrten sie nebeneinander und blickten aus dem Fenster.

„Weißt du, woher mein Name stammt?“ fragte sie, um sich abzulenken. Seine Nähe war befremdlich.

Pierre sah auf und sie erkannte, dass er mit dem Jungen ihrer Kindheit nicht mehr viel gemein hatte. Sein Körper war angespannt, die Augen lauernd, eine Hand ruhte am Waffengürtel. Er war durch und durch ein Flibustier.

»Antoine wählte ich nach deinem Vater. Du Puits nach dem Geburtsort von Émile, La Haye du Puits, einer Stadt in der Normandie. Als Antoine Du Puits erzähle ich jedoch allen, dass ich aus Nantes stamme. Von dort kam der Arzt, der mich nach L’Olonnais‘ Überfall heilte.«

»Ein guter Name«, befand Pierre. »Derart belanglos ist die Vergangenheit gar nicht.« Seine Augen streiften sie kurz.

»Was will der Baske?« Sie wollte nicht auf die Anspielung eingehen.

»Der Baske sucht nach Verbündeten. Ich schätze, er braucht dich auf seiner Seite, um L’Olonnais auszuschalten. Verbünde dich mit dem, der den Feind am besten kennt. Diese Idee hat er von mir.« Pierre klang verbittert.

Jacquotte sah ihn an. Sie spürte, dass er sich für ihr Schicksal verantwortlich fühlte. Der Gedanke störte sie.

»Die La Poudrière bedeutet meine Freiheit. Ich werde der Bruderschaft den Rücken kehren.«

»Kehrst du zum Totenkopf zurück? Ich nehme an, er ist ebenso wenig ertrunken wie du.«

Es war ausgesprochen. Sie hörte seinen Ärger und sah, dass er die Arme vor der Brust verschränkte. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihm keine Rechenschaft schuldete, aber sie schluckte den Vorwurf hinunter.

»Wir verließen das Schiff noch vor seinem Untergang im Hafenbecken. Tête-de-Mort schwamm an Land und zog mich mit sich. Ohne seine Hilfe wäre ich gewiss ertrunken. Dann warteten wir das Ende des Sturms ab und setzten mit einem Fischer auf die Île de la Gonaïve über.«

»Niemand erkannte euch?«

»Keiner lebte lange genug, um davon zu berichten. Wir verbargen uns mehr als ein Jahr auf der Nordseite der Insel.«

Sie sah, dass ihm ihre Worte missfielen. Aber er hatte gefragt und nun musste er mit der Antwort leben.

»Er ermutigte mich zu meiner neuen Identität, lehrte mich, mich wie ein Mann zu bewegen und zu sprechen. Er rasierte mir den Schädel und brachte mir bei, wie man dies jeden Tag selber tat. Als er starb, war ich darauf vorbereitet, zurückzukehren.«

Ihre Blicke trafen sich, doch seine offensichtliche Erleichterung traf sie. Schnell wandte sie den Kopf ab und fasste nach der Kette. Die Taube um ihren Hals erinnerte sie an den Mann, der ihr nicht den Tod, sondern das Leben geschenkt hatte. Ihre gemeinsame Zeit war ein Geschenk, das sie nicht zu teilen bereit war. Jacquotte stieß sich vom Fenster ab und drehte Pierre den Rücken zu.

»Willst du keine Rache nehmen?«, hörte sie ihn fragen und war froh, dass er nicht weiter in sie drang.

»Hast du von Henry Morgan gehört, Pierre? Es heißt, er habe die Regeln des Kodex übernommen und nennt sie nun articles of agreement. Seine Zeit wird kommen, wenn es soweit ist. Das, was wir Rache nennen, wird sich dann von selbst erledigen.«

»Ich meinte nicht nur den Basken, sondern auch L‘Olonnais.«

Sie starrte sein verschwommenes Spiegelbild in einer der Glasscherben an. Wie sollte sie ihm erklären, was sie antrieb? Er hatte ihre Beweggründe nie verstanden.

»L‘Olonnais ist sich selbst der größte Feind.«

Mit seinem Schulterzucken bestätigte er ihr sein Unverständnis. »Dann wirst du für den Rest deines Lebens Antoine Du Puits bleiben?«

Sie drehte sich wieder zu ihm um und sagte: »Nur als Mann kann ich so leben, wie ich es mir vorstelle.«

Sie erwartete, dass er sich aufregte, wie es seine Art war, aber er schwieg. Das war ungewöhnlich, und sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass ihr ein Streit mit ihm lieber gewesen wäre. So kämpfte sie wortlos gegen das verstörende Gefühl an, das sich seit seiner Ankunft in ihr ausbreitete. Er brachte ihr zu Bewusstsein, wie sehr die letzten Jahre an ihr gezehrt hatten. Ständig kampfbereit, bemüht, ihre Verkleidung aufrecht zu erhalten, wachsam gegenüber L’Olonnais, begierig nach einem eigenen Schiff und getrieben von ihrer Suche nach Freiheit. Sie war müde und einsam. Ihr gewähltes Leben forderte seinen Preis.

»Du hast erreicht, was du dir immer gewünscht hast«, erwiderte Pierre schließlich. Jacquotte nickte. Mehr gab es nicht zu sagen.

Die Dämmerung brach an, und mit ihr breitete sich das Schweigen aus, erfasste sie beide und gewann an Intensität. Sie hatten die ganze Nacht in der anonymen Dunkelheit geredet, doch der anbrechende Tag brachte sie zurück in die Realität. Unsicher standen sie sich gegenüber, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Jacquotte kam es vor, als hätte ihnen jemand ihre Augenbinde abgenommen.

»Wenn du schlafen willst, dann bleibe ich hier«, sagte Pierre. Es war ein ernst gemeintes Angebot und sie nickte dankbar. Die Wunden raubten ihr die Kraft und sie rollte sich schläfrig auf ihrem Umhang zusammen.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als L’Olonnais mit Steinen nach einigen Ratten warf, die sich an den Innereien der Hühner labten. Ausgelaugt hockte er zwischen seinen Männern vor einer Häuserwand und versuchte, seinen Durst zu stillen. Gierig leerte er einen Becher Rum. Der braune Saft lief ihm aus den Mundwinkeln und tropfte auf das zerrissene Hemd, das seine von Schweiß und Blut glänzende Brust enthüllte. Alle Sklaven waren seiner Folter erlegen. Sie hatten eine bemerkenswert robuste Konstitution bewiesen, doch kurz bevor die Sonne über den Horizont schielte, war der Letzte der Mohren gestorben. L’Olonnais war bester Laune, denn es war ihm gelungen, ihnen die Marschroute ihrer Herren zu entlocken. Er würde sich auf den Weg machen, sobald seine Männer ihren Rausch ausgeschlafen hatten. Ein Rülpsen entschlüpfte seiner Kehle, und er trank einen weiteren Schluck. Alkohol konnte ihm nichts anhaben. Sein Wille war stärker als jeder Rum. L’Olonnais hielt mitten in der Bewegung inne. War das Antoine, der dort aus dem Haus trat? Er versuchte, seine schweren Lider anzuheben. In der Tat! Sein feiner Maat hatte sich dünngemacht, kaum dass er ein eigenes Schiff besaß. Das würde er ihm nicht durchgehen lassen. Er knurrte. Picard! War es möglich? L’Olonnais riss die Augen auf. Was er sah, schürte seine Eifersucht. Nur mühsam gelang es ihm, sich zu beherrschen. Antoine und Picard in trauter Zweisamkeit. Sie sahen einander nicht an und gingen in verschiedene Richtungen davon. Dennoch war es diese Selbstverständlichkeit, die L’Olonnais vor Wut erzittern ließ. Die Freude über die stundenlange Folter war wie fortgewischt. Er schlug einem seiner schnarchenden Männer kurzerhand die Nase blutig, doch in seiner Trunkenheit stöhnte dieser nur kurz auf. L’Olonnais sprang auf. Er musste Vorkehrungen treffen!

Zwei Wochen später brachen die Schiffe auf. Jacquotte atmete die frische Luft ein, die aus den schneebedeckten Gipfeln zu ihnen hinüberwehte. Je weiter sie südwärts segelten, desto reizvoller wurde die Landschaft. Der Maracaibo-See mit seinem schwarzen Wasser breitete sich vor der Flotte aus. Die Uferzone wechselte von trockenem Braun in ein intensives Grün, und man erkannte die hohen Berge, deren Spitzen in den Wolken verschwanden. Entlang der Küste siedelten Indianer, die ihre Häuser auf Bäumen errichteten. Sie hatten Kundschafter auf Piraguas zu den Schiffen der Flibustier entsandt und waren bereit, gemeinsam mit ihnen gegen die Spanier zu ziehen. Aus diesem Grund war die La Poudrière von zahlreichen Booten umzingelt, deren Marssegel sich im Wind blähten, und deren Besatzung aus dunkelhäutigen Männern mit fein geschliffenen Gesichtern bestand. Die Spanier nannten sie indios bravos, und Jacquotte fand den Namen treffend, denn in ihrer stolzen Körperhaltung lagen Mut und Unbeugsamkeit.

Es kam Jacquotte wie eine Ewigkeit vor, seit die Flibustier Maracaibo widerstandslos eingenommen hatten. In den vergangenen Wochen wurde geplündert und gebrandschatzt, was die Stadt an der Westküste des Sees herzugeben vermochte. Doch trotz Folterungen einiger aufgespürter Bewohner war es nicht geglückt, erlesene Habseligkeiten aufzuspüren. Der Baske vermutete, dass es den meisten Einwohnern gelungen war, ihre Wertsachen rechtzeitig zu vergraben. Selbst L’Olonnais‘ Gabe, auf vielerlei Arten zu foltern, brachte sie nicht weiter. Als die Männer schließlich anfingen, sich zu langweilen, beschloss Michel Le Basque, einzig eine Garnison von dreißig Mann in den Ruinen der Stadt zurückzulassen, sämtliche Beute sowie alle Gefangenen auf die Schiffe zu verfrachten und mit dem Rest der Brüder Segel gen Gibraltar zu setzen. Eine Aufgabe, die er ursprünglich dem Olonnaisen hatte überlassen wollen. Doch einer der spanischen Verbündeten riet ihm dazu, so viele Brüder wie möglich mitzunehmen. Er war der Meinung, dass die Einwohner von Gibraltar längst Unterstützung bei Gabriel Guerrero de Sandoval, dem Gouverneur der Stadt Mérida, angefordert hatten. So kam es, dass die gesamte Flotte den See in Richtung Süden querte, um nach Gibraltar zu gelangen, welches sich vierzig Meilen südöstlich von Maracaibo befand.

Jacquotte beobachtete prüfend den Himmel. Sie war froh, wieder auf der La Poudrière zu sein. Das erste Mal seit dem Tod von Tête-de-Mort erlaubte sie sich eine Gefühlsregung. Ihr betäubtes Wesen, das sie die vergangenen Jahre durch die Inselwelt und schließlich auf das Schiff des Olonnaisen getrieben hatte, wich einem Hauch von Vorfreude. Dies war ihre letzte Kaperfahrt im Zeichen der Bruderschaft. Sie hoffte auf eine gewaltige Prise in Gibraltar, die ihr gemeinsam mit der bisher eingefahrenen zusätzliche Sicherheit schenken würde. Weder L’Olonnais noch der Baske oder Pierre sollten je wieder Macht über sie gewinnen. Um sie zu meiden, hatte sie sich mit ihrer Mannschaft freiwillig zu einer Erkundung der Außenbezirke von Maracaibo gemeldet. Das gab ihr nicht nur Gelegenheit, unangenehme Begegnungen zu vermeiden, sondern auch mit den Männern ihres Schiffs zusammenzuwachsen. In Zukunft würde deren Loyalität über ihren Status als Kapitän entscheiden. Jacquotte war sich dessen bewusster denn je.

L’Olonnais ließ die Flotte beidrehen. Es war zu gefährlich, näher an die Stadt heranzusegeln. Der Tag neigte sich seinem Ende entgegen, und man konnte bereits die Masten der Schiffe ausmachen, die im Hafen von Gibraltar ankerten. Sie schimmerten im schwindenden Licht. Die Flibustier mussten unterhalb der Sichtweite zur Küste bleiben, um unentdeckt zu ankern und die Nacht abzuwarten. Jacquotte erteilte ihrem Maat Befehle zur Nachtwache und ließ sich kurz nach Einbruch der Dunkelheit zum Schiff des Basken rudern. Die Kapitäne hatten vor Aufbruch Anweisungen erhalten, sich auf der La Providence einzufinden, um den bevorstehenden Angriff zu besprechen. Kaum setzte sie jedoch ihren Fuß über die Reling der mit sechzehn Kanonen bestückten Fregatte, wurde sie auch schon brutal in eine dunkle Ecke gezerrt.

»Ist das deine Art, Dankbarkeit zu zeigen, Antoine?«, vernahm sie L’Olonnais‘ Stimme und blickte in sein vor Wut verzerrtes Gesicht. »Du versteckst dich vor mir!« Sein Atem legte sich heiß und faulig über sie, als er näher rückte.

»Mir kam es vor, als fehle dir meine Anwesenheit nicht im Geringsten. Ich hörte, du hacktest eine Mutter und deren beide Kinder in Stücke, um zu erfahren, wohin ihr Ehemann geflohen ist«, setzte sie ihm entgegen.

»Planst du einen Hinterhalt, Antoine? Ich habe dich im vertrauten Gespräch mit Picard gesehen. Was verschweigst du mir? Sprich!« Ein Messer drückte sich gegen Jacquottes Kehle. Sie zuckte nicht zurück.

»Wenn du mir nicht vertraust, dann ist es wohl besser, du tötest mich«, flüsterte sie.

L’Olonnais‘ Hand bewegte sich kurz, und sie spürte ein Aufwallen an ihrem Hals, wo die Klinge sie geritzt hatte. Er berührte die Wunde. Jacquotte atmete aus.

»Du kennst keine Angst, nicht wahr, Antoine?«, zischte L’Olonnais und leckte sich das Blut vom Finger. Sie lächelte ihn an, während sie ihre Faust um den einsatzbereiten Dolch ballte. Es hätte nur eines gezielten Stoßes bedurft, um den Olonnaisen auszulöschen. Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

»Mein Leben liegt in deiner Hand«, erwiderte sie ruhig. L‘Olonnais erkannte Furcht wie kein anderer. Die Zeit an seiner Seite hatte sie gelehrt, sich zu kontrollieren.

»Du spielst mit mir, Antoine! Ich gab dir ein Schiff, ich gab dir mein Herz. Was forderst du noch?«

»Außer dem Schiff habe ich nie etwas gefordert. Mein Zusammentreffen mit Picard war rein geschäftlich. Als Kapitän bin ich nun ein wertvolles Mitglied für die Bruderschaft.«

L’Olonnais spuckte aus, dann steckte er sein Messer ein und nickte.

»Ich kenne deine Schwäche für den Kodex, doch du gehörst zu mir«, er sagte es nebenbei, aber Jacquotte erkannte die Botschaft in seinen Augen. Verflucht wollte sie sein! Sie war zu unvorsichtig gewesen und hatte zugelassen, dass L’Olonnais sie gemeinsam mit Pierre sah. In jener Nacht war sie ihren Erinnerungen erlegen und hatte Pierres Gesellschaft genossen. Das durfte nie wieder passieren.

»Der Weg der Bruderschaft ist nicht der meine.«

»Ich erinnere dich nur noch dieses eine Mal daran, dass ich mein Versprechen erfüllt habe«, murmelte er, und sie ließ zu, dass er ihre Wange streichelte.

»Wenn wir siegreich aus dieser Kaperfahrt hervorgehen, dann werde ich darüber nachdenken, nicht nur meine Prise mit dir zu teilen.« Jacquotte sprach die Worte freimütig aus. Sie hatte nicht vor, lange genug in Cayone zu bleiben, damit es L‘Olonnais gelang, seinen Preis einzufordern.

»Gibraltar ist nicht Maracaibo«, sagte er.

»Deshalb müssen wir hart sein. Nur ein Überraschungsangriff wird uns die Stadt sichern.«

»Bist du schon derart einflussreich, um die Kapitäne davon zu überzeugen?« bemerkte L’Olonnais süffisant.

»Ich nicht. Aber du.« Sie sahen einander an.

L’Olonnais verzog die Mundwinkel zu einem diabolischen Grinsen. »Mein verschlagener Antoine«, lobte er. »Verzeih mir, dass ich an dir zweifelte!«

»Lass uns zu den anderen Kapitänen gehen«, lenkte Jacquotte ein und führte ihn aus der verborgenen Ecke in den belebteren Teil des Schiffes. L’Olonnais folgte ihr.

Als die anderen Männer in Sicht kamen, hob sie stolz das Kinn und trat in den Schein der Öllampen, die eine große Landkarte erhellten. Die anwesenden Kapitäne studierten die feinen Linien, die sich über das grobe Leinen zogen, und augenscheinlich die Küstenlinie von Gibraltar sowie die Stadt selbst darstellten. Die beiden spanischen Verbündeten besprachen sich miteinander, während die drei abgesandte Indios sie mit ausdruckslosen Gesichtern beobachteten. Sie trugen lange Pfeile in ledernen Köchern nebst mannshohen Bögen bei sich und kauten etwas, das sie beizeiten auf den Boden spuckten. Unter ihrer glatten, tiefbraunen Haut war das Spiel sehniger Muskeln zu erkennen, und ihre gutturale Sprache erinnerte Jacquotte an die Wörter, die sie einst gelernt hatte. Sie verstand, dass sie den See conquibacao nannten, wusste mit dem Begriff jedoch nichts anzufangen.

Als sie aufblickte, sah sie direkt in Pierres Augen und stellte fest, dass ihm ihre blutende Wunde nicht entgangen war. Misstrauisch verengten sich seine Pupillen in der Art der Indios und Jacquotte erkannte, dass er mit ihnen verwandt war. Vielleicht nicht mit diesem Stamm, aber gewiss mit einem anderen. Er überragte die dunkelhäutigen Männer und wirkte in seiner Kleidung zivilisierter, doch dieses innere Glühen, das Jacquotte bei den Eingeborenen des Sees bemerkt hatte, war auch Pierres ständiger Begleiter. Sie kannte die Intensität, mit der er seit jeher nach seiner Herkunft suchte. Durch seinen Namen gab er vor, Franzose zu sein, wohl wissend, dass er der Bruderschaft damit etwas vormachte. Darin sind wir uns ähnlich, dachte sie und wich seinem forschenden Blick aus. Sie hasste ihn dafür, dass er Zweifel in ihr gesät hatte. Seine Frage, ob sie auf ewig Antoine bleiben wollte, nagte an ihr. Doch wenn sie nicht Antoine sein wollte, wer wollte sie dann sein?

Bigford legte die Faust an seinen Mund und beobachtete die Kapitäne. Er hatte gesehen, dass sich L’Olonnais und Du Puits zurückzogen hatten und Du Puits später mit einer blutenden Wunde am Hals in den Kreis der Umstehenden getreten war. Seine Instinkte schlugen Alarm. Es lag etwas in der Luft, das er noch nicht zu greifen vermochte. Erst kurz vor dem Auslaufen war er zufällig Zeuge eines Übergriffs geworden. Während er sich seinen Weg durch die mit Unrat verschmutzten Straßen von Maracaibo bahnte, hatte er Remi, den Gefolgsbruder von Pierre Le Picard, mit heruntergelassenen Hosen an einer Straßenecke erblickt. Zuerst erschien ihm die Situation befremdlich, bis er L’Olonnais bemerkte, der sich in Hundemanier an dem Flibustier verging. Bigfords erster Impuls war, sich angewidert abzuwenden, doch seine Neugier siegte. Das Feuer in seinen Lenden, das mit jedem Tag, an dem er Frauen entbehren musste, leichter entflammbar war, schürte seine Aufgeschlossenheit. Aus sicherer Entfernung, versteckt hinter zertrümmerten Weinfässern, verfolgte er den Akt. Mit jedem Stoß schien der Olonnaise seinem Opfer Befehle zu erteilen, die dieses willig annahm. Als L’Olonnais seinen Höhepunkt erreicht hatte, zückte er ein Messer, ritzte dem aufschreienden Remi die empfindsame Stelle hinter dem Ohr und saugte an der zugefügten Wunde, während sein Becken heftig erzitterte. Bigford verzog angeekelt den Mund, als L’Olonnais sich aufrichtete, Remi von sich stieß und seine blutverschmierten Zähne zu einem Lachen enthüllte. Er wagte kaum, sich zu bewegen und sah zu, wie Remi dem Olonnaisen die Hose zuknöpfte und ihm in demütiger Haltung etwas zuflüsterte. L’Olonnais streichelte den Unterwürfigen mit dem Messer und ließ ihn schließlich stehen. Diesen Moment nutzte Bigford, um sich davonzumachen. Die Schwellung in seiner Hose war noch präsent, und er verdammte L’Olonnais, der es gewagt hatte, die einzigen weiblichen Gefangenen, derer sie in den zwei Wochen habhaft werden konnten, zu töten. Sie hätten anderweitig von Nutzen sein können. Aber das verstand ein Mann mit der Gesinnung eines L’Olonnais freilich nicht. Bigford schnaubte und brachte sich in die Gegenwart zurück. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Pierre Le Picard den Olonnaisen hasserfüllt anstarrte. Wusste er etwa Bescheid?

Bigford gab vor, den Worten des Basken zu lauschen und schielte zu Antoine Du Puits hinüber. Im Gegensatz zu Remi erschien er ihm in keiner Weise kriecherisch oder fügsam. Im Gegenteil, seine Körperhaltung war selbstbewusst, beinahe arrogant. Bigford konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er die Spielchen von L’Olonnais mitmachte. Er schien zu wissen, was er wollte. Dennoch war er L‘Olonnais ergeben. Lag der Grund dafür einzig in seinem Ehrgeiz, ein Schiff anzuführen? Heutzutage war es nicht einfach, Kapitän zu werden. Zu viele Männer strömten in die Inseln, alle begierig darauf, Macht zu erlangen. Nur den wenigsten gelang es, ein Schiff zu übernehmen und noch wenigeren, es anschließend zu halten. Bigford traute Du Puits diese Verschlagenheit zu. Er grübelte. Der Baske hatte Picard ausgesandt, um Du Puits zu beschatten. Er wollte ihn für sich gewinnen, denn er erkannte die Stärke, die in Du Puits schlummerte, und die er lieber für sich und seine Angelegenheiten genutzt hätte, als sie dem Olonnaisen zu überlassen. Doch Picard kam mit seiner Mission nicht voran. Es hieß, Du Puits sei ein misstrauischer Geselle. Nicht zum ersten Mal hegte Bigford jedoch den Verdacht, dass Picard neuerdings Gefühle zuließ, die er lange Zeit tief in sich begraben trug und die ihn nun, da sie einen Weg an die Oberfläche gefunden hatten, daran hinderten, seiner Aufgabe zufriedenstellend nachzukommen. Der Wolf verfolgte eine Fährte, und Bigford konnte sich nicht erklären, was diese Veränderung ausgelöst haben mochte.

»Den letzten Zählungen zufolge ist unsere Truppe dreihundertachtzig Mann stark«, resümierte der Baske in diesem Moment. »Wenn wir davon ausgehen, dass Gibraltar zwischenzeitlich Verstärkung aus Mérida erhalten hat, dann liegt die Zahl der wehrhaften Männer dort inzwischen über vierhundert. Wir müssen vorsichtig sein, Brüder! Die Bewohner hatten lange genug Zeit, sich auf den Überfall einzustellen. Leichtes Spiel wie in Maracaibo dürfen wir nicht erwarten!«

Die Kapitäne brummten.

»Wir werden sie niederrennen!«, zischte L’Olonnais und starrte die beiden spanischen Verbündeten verächtlich an.

Der Baske tat einen Schritt zwischen ihn und die schwarzhaarigen Männer. »Mit Wut allein ist die Stadt nicht einzunehmen. Wir brauchen etwas mehr, um die Brüder gegen eine Übermacht anzuführen.«

»Gibraltar scheint von Wert zu sein, wenn es sich lohnt, sie derart zu verteidigen«, gab Jan Willems zu bedenken.

»Aye! Es gibt dort reichlich Sklaven, die auf dem Markt in Port Royal gutes Geld bringen, wenn man sie nicht zu Tode foltert«, bestätigte Pierre. Bigford erlaubte sich ein Grinsen.

»Umso größere Beute haben wir zu erwarten«, entgegnete L’Olonnais kühl. »Wir lassen die Gefangenen Lösegeld zahlen und erpressen sie damit, ihre Stadt und ihre Plantagen niederzubrennen. Sie werden darauf eingehen, aber wir dürfen nicht zaghaft sein.«

Die Kapitäne sahen überrascht auf. Derartige Worte waren sie von dem Olonnaisen nicht gewohnt. Selbst durch Picards Provokation ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Der Baske zwinkerte unruhig.

»Ich stimme Kapitän L’Olonnais zu«, erklärte Moïse Vauquelin. »Wir müssen aggressiv vorgehen. Wir kennen die Wehranlagen nicht, die uns die Spanier entgegenzusetzen haben, daher sehe ich die einzige Chance darin, sie mit all unseren Männern anzugreifen und auf diese Weise zu überraschen.«

Bigford sah, wie der Baske zusammenzuckte. Als Anführer der Truppen an Land erwartete er, dass man ihn anhörte und ihm folgte. Doch offenkundig schätzten die Kapitäne das angriffslustige Vorgehen von L’Olonnais in diesem Fall mehr als das zurückhaltende Kalkül des Basken. Bigford war hin- und hergerissen. Seine Gier nach Reichtum kämpfte mit seinem strategischen Denken, das er sich in der britischen Armee angeeignet hatte. Es erschien irrsinnig, mit knapp vierhundert Mann gegen eine vermutlich doppelt so große Gegenwehr, die sich hinter zuverlässigen Mauern verschanzen und Kanonen ihr eigen nennen konnte, anzutreten.

»Aye!« Jan Willems nickte. »Wir müssen Druck machen. Ein gezielter Angriff lässt sie glauben, dass wir in der Überzahl sind. Diese Verunsicherung kann sich als Vorteil erweisen.«

»Auch ich stimme Kapitän L’Olonnais zu. Die zu erwartende Prise erhitzt die Gemüter der Männer. Sie werden über sich hinauswachsen“, äußerte sich Kapitän Aymé. Sein Gesicht zierte eine frische Narbe, und er humpelte. Marodierende Sklaven hatten ihm zugesetzt.

»Kapitän L’Olonnais hat Recht«, sprach sich Antoine Du Puits aus. »Wir sollten den Feind wie eine gewaltige Welle überrollen. Setzt er uns massiv zu, ziehen wir uns zurück, um ihn aus seinen Schlupflöchern zu locken. Ist er erst vor den Toren der Stadt, zwingen wir ihn in die Knie!«

»Aye!« Pierre Le Picard erhob seine Stimme. »Es ist besser, die Spanier in einem guten Kampf zu schlagen, als sie später auf die Folterbank zu legen, um die Verstecke ihrer Wertsachen zu erfahren. Wir sollten dieses Mal vermeiden, dass die Einwohner mit ihrem Hab und Gut fliehen. Das gelingt einzig, wenn wir sie überraschen und die Stadt überrennen.«

Bigford glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Was brachte Le Picard zu einer derartigen Aussage? Er hasste L’Olonnais und intrigierte mit dem Basken gegen ihn, und doch war er bereit, ihm zu folgen? Diesem Tatendrang hatte Bigford nichts entgegenzusetzen.

Er nickte spontan. »Aye! Ich unterstütze diesen Vorschlag.«

Der Baske senkte den Kopf. L’Olonnais‘ siegessicheres Grinsen, das sich allmählich auf sein Gesicht gestohlen hatte, vertiefte sich.

»Ich werde diesen Angriff anführen«, sprach er und versetzte dem Basken damit den Todesstoß. »Aber merkt Euch eins: Den Ersten, der sich im Gefecht nicht mutig zeigt, erschieße ich!« Er lachte, und Bigfords Magen zog sich unangenehm zusammen. Der Baske gab sich geschlagen und nickte. Es war besiegelt.

Bigford fing den Blick von Pierre Le Picard auf und stutzte, als sich dessen Gesicht verfinsterte. Irritiert sah Bigford, dass er L’Olonnais und Du Puits beobachtete, die zufriedene Worte miteinander wechselten. Die Erkenntnis überraschte ihn. Es ging Picard nicht um L’Olonnais! Er verabscheute ihn nach wie vor. Bigford trat zurück, um Picard besser beobachten zu können. Es war Antoine Du Puits, den er zu unterstützen gedachte. Aber weshalb? Bigford fand keine Erklärung. Er wusste nichts über die Beziehung zwischen Picard und Remi, doch soweit er es beurteilen konnte, war Picard Frauen mehr zugetan als Männern. Er lebte mit Jérômes Witwe unter einem Dach, und dabei hatte er vermutlich nicht nur ihren Schutz im Sinn. Was also zog Picard zu diesem widerwärtigen, ungepflegten Antoine Du Puits? War es eine Verschwörung?

Bigford musterte den kahlen Schädel mit den hohen Wangenknochen. Du Puits war ungehobelt, gab sich abweisend und selbstgefällig, trug zu jeder Zeit einen dunkelroten Umhang über seinen zerschlissenen, schwarzbraunen Gewändern und war bewaffnet wie eine Kriegsgaleone. Seine Augen blickten stechend, der Mund war hart, das Kinn fein, aber halsstarrig vorgeschoben. Bigford hielt inne und ihm war, als ob er einer Spur folgte, von der er noch nicht wusste, wohin sie ihn führte. Das trotzige Kinn, Widerworte, ein unbezähmbarer Wille. Er wurde nervös. Es kam ihm vor, als wäre des Rätsels Lösung zum Greifen nahe, doch er kam nicht darauf. Ärgerlich versuchte er, sich zu konzentrieren. Sein Blick flog zwischen Picard und Du Puits hin und her. Die übrigen Kapitäne zerstreuten sich und Bigford jonglierte mit seinen Erinnerungen. Pierre Hantot, Jérôme, das entstellte Kind. War es möglich, dass dieser Du Puits Jacquottes Bruder war? Stand ihm Picard deshalb zur Seite? Unmöglich! Bigford verdrängte den Gedanken wieder. Niemals hätte der Zwerg eine derartige Entwicklung durchmachen können. Auch wenn Du Puits Art bisweilen etwas von der Glut anhaftete, welche der roten Jacquotte zu eigen gewesen war. Er stockte. Yanis le Jouteur. Sie hatte es bereits einmal getan! Wagte sie, sich ein zweites Mal als Mann auszugeben? Bigford erlaubte sich nicht, seine fixe Idee fortzuführen. Zu abwegig erschien ihm diese Möglichkeit. Es erforderte nicht allein Mut, die Bruderschaft erneut zu täuschen, sondern eine gewisse Besessenheit. Bigford wollte sich abwenden, doch die Gedanken ließen ihn nicht los. War es ihr tatsächlich gelungen, sämtlichen Brüdern den Blick für die Wahrheit zu verschleiern? War Antoine Du Puits in Wirklichkeit die rote Jacquotte? Er schnappte aufgeregt nach Luft.

Zu dem Zeitpunkt, an dem sich am nächsten Morgen die Besatzungen der acht Schiffe bereits vor Sonnenaufgang an Land begaben, hatte Bigford seine Gedanken geordnet. Ohne Hast brachte er seine Männer in Position, bevor er unauffällig zu Pierre Le Picard aufschloss. Die Dunkelheit schirmte ihn vor neugierigen Blicken ab, was er sehr begrüßte. L’Olonnais führte den finsteren Trupp an, der sich beinahe lautlos durch das ufernahe Gebüsch kämpfte. Die beiden spanischen Verbündeten flankierten den Basken, der dem Olonnaisen auf dem Fuß folgte. Offensichtlich war ihr Vertrauen in den neuen Anführer nicht besonders groß. Die Indianer begleiteten sie in weitläufigerem Abstand. Sie zogen ihre Kreise um die Männer und waren nur als flüchtige Schatten zu erkennen. Moïse Vauquelin bildete die Nachhut.

Bigford inhalierte die feuchte Luft. Er war angespannt wie vor jedem Kampf. Doch an diesem Tag hatte er noch eine weitere Aufgabe zu erfüllen. Verstohlen stahl er sich an die Seite von Pierre Le Picard. Soweit es im aufkeimenden Licht auszumachen war, weilte Remi nicht in seiner Nähe. Bigford räusperte sich.

»Wer hätte gedacht, dass wir einmal dem Olonnaisen folgen werden?«, murmelte er in die Stille hinein, die nur durch die saugenden Geräusche, die ihre Schritte im zähen Schlamm verursachten, durchbrochen wurde.

Pierre musterte Bigford. Das Misstrauen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Es ist in der Tat ein denkwürdiger Tag«, erwiderte er in gedämpftem Tonfall. »Ich hoffe, unser Vertrauen in ihn bringt uns den erhofften Erfolg.«

Bigford hüstelte. »Ihr folgt ihm nicht aus freien Stücken«, stellte er fest. Als Pierre schwieg, fügte er hinzu: »Das tue ich ebenso wenig.«

»Welche Unterstellungen darf ich dieser Aussage entnehmen?«, fragte Pierre und seine Anspannung war spürbar.

»Verzeiht, falls ich Euch beleidigt habe«, sagte Bigford rasch. »Ich bin nicht Euer Feind. Ich wollte nur, dass Ihr das wisst.«

Pierre starrte ihn an. »Was sind Eure Absichten, Bigford, wollt Ihr mich für Eure Zwecke ködern? Dann pariere ich einzig mit Waffen. Worte sind nicht meine Welt.«

Bigford grinste. »Spart Eure Waffen für den Feind auf«, flüsterte er und rang mit sich selbst. Er wusste, dass er sich mit dem, was er zu sagen hatte, noch unbeliebter machen konnte.

»Hört mir zu, Picard«, raunte er. »Ich verstehe Euren Argwohn. Wir galten bisher nicht als Freunde. Dennoch glaube ich, wir sorgen uns um dieselbe Person.« Er hielt inne, als der Angesprochene nach seinem Säbel griff.

»Haltet ein«, brummte er erschrocken. »Es besteht kein Grund, Eure Worte von vorhin zu untermauern.« Er beobachtete den Mann, der sich mit dem Scharfsinn eines Tieres seinen Weg durch das undurchdringliche Gestrüpp bahnte. Beruhigenderweise benutzte er seine Waffe nun dazu, den Pfad von störrischem Blattwerk zu befreien. Bigford atmete erleichtert auf.

»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht«, sagte Picard und beschleunigte seine Schritte.

»Ihr wisst es, und ich verstehe, dass Ihr derart auf meine Worte reagiert. Doch wenn Euch etwas an der Unversehrtheit dieser Person liegt, dann behaltet Euren Gefolgsbruder im Auge!« Bigford ließ sich zurückfallen. Er hatte seinem Gewissen genüge getan. Es war nicht so, dass sein zunehmendes Alter ihn verweichlichte. Das Verlangen nach der roten Jacquotte erfüllte ihn so stark wie eh und je. In der zurückliegenden Nacht hatte er jedoch entdeckt, dass es nicht mehr nur Begehren war, das ihn überkam, wenn er an sie dachte. Sie rang ihm Achtung ab. Diese für ihn unerwartete Empfindung hatte ihn zu Pierre Le Picard getrieben. Zum ersten Mal war ihm nicht daran gelegen, sein Wissen zum eigenen Vorteil zu nutzen. Er wollte ihre Tarnung schützen, selbst wenn das bedeutete, dass er dem Mann zur Seite stehen musste, in dessen Armen sie am Ende liegen würde. Bigford schnaubte. Es war an der Zeit, dass der Kampf begann!

Keuchend drangen die Flibustier in Richtung Stadt vor. Der Weg, den die spanischen Verbündeten ihnen gezeigt hatten, war von den Einwohnern mit gefällten Bäumen unpassierbar gemacht worden, und dem Trupp blieb nichts anderes übrig, als durch den Morast vorzurücken. Eifrig schlugen die Männer Äste von den umliegenden Sträuchern und legten sie auf den Schlamm, um nicht einzusinken und der Gruppe das Vorankommen zu erleichtern. Mit dem Anbruch des Tages wurden die Einwohner von Gibraltar jedoch der Streitmacht gewahr, die sich vor ihren Toren zusammenballte, und sie antworteten mit Kanonenfeuer.

»Es geht los, meine Brüder!«, schrie L’Olonnais, als die ersten Kugeln einschlugen. »Folgt mir, und seid bereit zu sterben! Kämpft, als säße euch der Teufel im Nacken!«

Die Flibustier fielen in sein Gebrüll ein, obwohl Rauch und Getöse ihnen die Sinne raubten. Tapfer rangen sie mit dem weichen Untergrund und arbeiteten sich voran, während die unberechenbaren Geschosse ihre Reihen lichteten und große Löcher in den wehrhaften Trupp rissen.

Jacquotte bemerkte Pierre, der sich zu ihr durchgekämpft hatte und neben ihr in Deckung ging. Er fluchte.

»Wenn er die Männer weiter derart vorantreibt, dann kann er die Stadt mit den Seelen der Gefallenen einnehmen.« Er zog den Kopf ein, als eine Kugel durch das Gebüsch pfiff und unmittelbar zu ihrer Rechten einschlug. Erde rieselte auf ihre Schultern.

»Er wird sich bald zurückziehen«, erwiderte sie und gab ihren Männern ein Zeichen, nicht weiterzugehen.

»Wer sagt das?«

»Ich sage das.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Es ist mein Plan. Er kundschaftet die Kanonen aus. Wenn er weiß, wo sich die Schanzkörbe befinden, wird er den Trupp zurückrufen. Die Einwohner sollen denken, dass wir aufgeben. Sobald sie aus ihren Löchern kriechen, werden die Indianer ihnen mit einem Pfeilhagel in den Rücken fallen, der ihnen den Rückweg abschneidet. Dann schlagen wir erneut zu.«

»Wer sagt dir, dass er deinen Plan befolgen wird?«, murrte Pierre.

Jacquotte lachte. »Er wird es tun. Nur sein Wahnsinn wird uns in diese Stadt bringen, ohne, dass wir alle unser Leben verlieren. Kein anderer wäre dazu fähig gewesen.«

»Du findest das amüsant? Das ist kein Spiel«, mahnte Pierre. Sie ignorierte ihn. Die Prise war alles, was sie interessierte.

»Es geht los!« Sie entdeckte vorsichtig zurückweichende Männer. Noch immer feuerten die spanischen Kanonen ihre tödliche Mischung aus Schrot und Musketengeschossen ab, gefolgt von vereinzelten großkalibrigen Kugeln, die geräuschlos durch die Luft segelten, bevor ihr Gewicht sie mit zerstörerischer Wirkung der Erde entgegendrückte.

»Zurück! Zieht euch zurück«, wisperten die Männer ihren verstreuten Brüdern zu. Ein Befehl, dem die meisten nur zu gerne nachkamen. Jacquotte folgte ihnen in gebückter Haltung. Je weiter sie den Abstand zur Stadt vergrößerten, desto mehr ließ der Beschuss nach. L’Olonnais versammelte die Kapitäne um sich.

»Die Bewohner halten sich hinter den gefällten Bäumen versteckt und feuern. Die Kanonen stehen geschützt hinter Erdwällen postiert. Ich kann nicht sagen, wie viele Spanier uns gegenüberstehen, aber wir müssen rasch handeln, um die Geschütze in unsere Gewalt zu bekommen«, erklärte er die Situation.

»Da wir die Nachhut gebildet haben, gab es in meiner Mannschaft bisher keine Verluste«, meldete sich Moïse Vauquelin zu Wort. »Ich werde den Stoßtrupp gerne anführen. Meine Männer sind ausgeruht und versessen auf die Reichtümer, die in Gibraltar auf sie warten.«

»Aye!« L’Olonnais fixierte Michel Le Basque. »Wie ist es um Eure Männer bestellt?«

»Ich zählte zehn Tote.« Sein Gesicht war bleich, der Atem ging stoßweise. Jacquotte beobachtete ihn aufmerksam.

»Dann begebt Euch auf Vauquelins Position!« L’Olonnais‘ Stimme klang schneidend. »Wenn wir die Spanier auseinandertreiben, müsst Ihr dafür sorgen, dass sie nicht in den Busch flüchten. Metzelt sie nieder. Jeden Einzelnen von ihnen. Wir werden in der Stadt noch genug Gefangene machen!«

Sein Blick suchte den ihren. Sie bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln und war sich bewusst, dass Pierre sie dabei beobachtete. Seine ständigen Nachstellungen behagten ihr nicht.

»Haltet euch im Schutz der Bäume verborgen! Die Indianer geben Signal, wenn die Spanier ihre Verstecke verlassen. Dann brecht los. Ich will keine Feiglinge sehen« befahl L‘Olonnais.

Die Kapitäne nickten und versammelten erneut ihre Männer um sich. Die Schwerverletzten wurden zurückgelassen. Sie erhielten Befehl, erst zur Stadt vorzudringen, wenn die Lage unter Kontrolle war. Andernfalls hatten sie sich rechtzeitig zurück zu den Schiffen zu begeben.

Jacquotte folgte L’Olonnais, der in vorderster Front Stellung bezog. Der Qualm des abgefeuerten Pulvers verzog sich und ließ Sonnenstrahlen auf den feuchten Boden fallen, der in der Wärme zu dampfen begann. Morsche Bäume enthüllten ihre moosbedeckte Rinde, und bunte Vögel erfreuten sich mit glockenklaren Lauten am anbrechenden Tag. Die Ruhe war trügerisch. Jacquotte zwang sich, ihre Gedanken auf das bevorstehende Unterfangen zu richten. Hinter grotesk in den Himmel ragenden, abgestorbenen Baumriesen hatten sich die Bukaniere aufgebaut, gefolgt von einigen Pulverratten, die weitere geladene Musketen bei sich trugen. So war ein schnell aufeinanderfolgender Beschuss garantiert. Mit wachsender Ungeduld verharrten die Brüder in ihren Verstecken. Langsam erwärmte sich die Luft. Jacquotte spürte, wie ihr der Schweiß über Hals und Rücken lief. In der Ferne waren die Stimmen der Spanier auszumachen. Sie spannte ihre Muskeln. Die ersten Soldaten wagten sich aus den schützenden Wällen, um die Leichen der Angreifer zu begutachten. Weitere Minuten vergingen, bis endlich das Signal der Indianer zu ihnen vordrang. Tierähnliche Laute brachten Bewegung in die Truppe. Aufgeregte Rufe und Schmerzensschreie der Spanier untermalten L’Olonnais‘ Handzeichen, mit dem er die Brüder aufforderte, ihm zu folgen. Das Vorankommen gestaltete sich bei Tageslicht einfacher, da die behelfsmäßigen Wegbefestigungen inzwischen festgetreten und besser zu erkennen waren. Flink drangen die Flibustier bis zu jenem Punkt vor, der ihnen noch vor einer Stunde beinahe zum Verhängnis geworden wäre.

Diesmal empfing sie kein Kanonenfeuer, sondern eine große Anzahl panisch umherlaufender Männer, die sich vor den Pfeilen zu verstecken suchten, die aus uneinsehbaren Winkeln des Waldes auf sie abgeschossen wurden. Mitten in dieses Chaos stürzten sich die brüllenden Flibustier. Sie erschossen die Umherirrenden und gingen schließlich mit ihren Säbeln und Macheten auf diejenigen los, die sich hinter die Schutzwälle zurückziehen wollten. Es folgte ein unerbittlicher Kampf, der unzählige Tote auf der grünen Lichtung zurückließ. Die Strategie des Überraschungsangriffs versprach aufzugehen. Die Spanier fanden nicht mehr zu ihrer vorherigen Kampfformation zurück und flüchteten sich in den Wald, ihre gnadenlosen Verfolger dicht hinter sich. Kaum waren die Schutzwälle eingenommen, schwappte die Welle der Angreifer in die verheißungsvolle Stadt.

Gemeinsam mit L’Olonnais war Jacquotte eine der Ersten, die ins Innere von Gibraltar vordrang, während sich die übrigen Brüder noch bemühten, die annektierten Kanonen umzudrehen und gegen die vorderste Häuserreihe zu richten. Die Kirchenglocken schlugen Alarm. Der Tumult in den Straßen erreichte seinen Höhepunkt. Frauen und Kinder schrien und rannten mit quiekenden Mauleseln um die Wette, auf denen in aller Eile wertvoller Hausrat festgezurrt worden war. Sklaven nutzten das Durcheinander und plünderten verlassene Häuser. Hunde hatten sich winselnd in Hausecken zurückgezogen und schnappten wütend nach den Flüchtenden. Hühner flatterten aufgeregt umher. Aus verbarrikadierten Fenstern wurde auf die Eindringlinge geschossen. L’Olonnais und Jacquotte trennten sich, um die Männer anzuführen, die ihnen folgten. Noch war es nicht an der Zeit, Gefangene zu machen, und die Brüder meuchelten jeden Einwohner nieder, der ihren Weg kreuzte. Schnell war klar, dass die Bewohner durch das rückwärtige Stadttor zu fliehen versuchten, und Jacquotte schickte ihre Männer aus, um sie zurückzuholen. Die weiß getünchte Kirche in der Stadtmitte wurde, wie bereits in Maracaibo, zum Stützpunkt der Flibustier ernannt. Kaum waren die Glocken verklungen, holte man die spanische Flagge herunter und verbrannte sie unter Jubelrufen am Marktplatz, während immer mehr Einwohner von ihren unbarmherzigen Verfolgern in die Stadt zurückgetrieben wurden. Jacquotte überblickte die Situation und zog erneut los, um dabei zu helfen, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Ihre hitzköpfige Mannschaft war bereits ausgeschwärmt, um die Häuser zu plündern, und sie fand sich allein im Gemenge der Gassen wieder. Entschlossen kämpfte sie sich voran, schnitt Fliehenden den Weg ab, überwältigte zwei Scharfschützen in einem Eingang und gelangte schließlich zum Hafen, der verlassen dalag. Das Geschrei, das die Übernahme einer Stadt mit sich brachte, verhallte an den Kaimauern, und die Wellen schluckten das Gewehr- und Kanonenfeuer. Jacquotte erlaubte sich, kurz innezuhalten und Atem zu schöpfen. Die Anspannung machte ihre Sinne besonders empfindsam, daher hörte sie die herannahenden Schritte bereits, als sie noch weit entfernt waren.

Sie lauschte, spürte das rasche Näherkommen des Feindes und wirbelte entschlossen herum. Sie hatte ihre Machete über den Kopf erhoben, den Säbel im Anschlag, bereit, abzuwehren, wer immer sich ihr in den Weg stellen würde. Wütend fixierte sie ihren Angreifer. Pierre! Er nutzte das Überraschungsmoment, packte ihren Arm und schob sie rückwärts. Brutal drückte er sie gegen eine Wand. Der Stoß presste ihr die Luft aus den Lungen. Sein Körper schirmte sie ab, bevor eine gewaltige Detonation den Hafen erschütterte. Das Haus hinter ihnen erzitterte. Trümmerteile regneten auf sie herab, eine Staubwolke hüllte sie ein. Jacquotte hustete. Pierres roher Griff schnürte ihr das Blut ab. Sie begriff nicht, was geschehen war. Pierre nahm ihr den Blick auf die Umgebung. Ärgerlich wollte sie sich befreien, doch er ließ nicht locker. Herausfordernd sah er sie an.

Der Nebel war dabei, sich zu lichten, und man hörte Geräusche. Männer rannten in ihre Richtung. Jacquotte fluchte kurz, als Pierre sie von sich stieß. Gemeinsam hielten sie den spanischen Kämpfern stand, die mit Messern und Knüppeln gegen sie vorgingen. Angelockt durch die Erschütterungen strömten immer mehr Flibustier aus den Seitenstraßen herbei, während eine spanische Kriegsgaleone im Hafenbecken ihre Ladung auf die eigenen Leute abfeuerte, in der Hoffnung, dabei auch den Feind zu treffen. Dröhnend fiel ein Warenlager in sich zusammen, und ein überspringender Funke entzündete mehrere Fässer mit Schießpulver, die in seinem Inneren lagerten. Die Warnrufe der Umstehenden kamen zu spät, als mit zitternder Explosion eine rotglühende Wolke in den blassblauen Himmel stieg. Durch die Druckwelle wurde Jacquotte auf den Rücken geschleudert. Ihr Kopf dröhnte und sie spürte die Hitze, die in ihre Haut biss. Keuchend kroch sie rückwärts, während schreiende Männer wie lebende Fackeln an ihr vorüberrannten und ins rettende Wasser des Hafens sprangen, um die Flammen zu löschen. Ehe sie sich versah, packte Pierre sie am Kragen ihres Umhangs und zog sie hinter sich her. Sie ließ ihn gewähren. Die Explosion hatte sie geschwächt, das Atmen fiel ihr schwer. Erst in der Nähe der Kirche setzte er sie ab. Sein Gesicht war rußgeschwärzt.

»Du solltest vorsichtiger sein, sonst ist das Spiel zu Ende, ehe es begonnen hat«, bemerkte er trocken.

»Was habe ich zu verlieren?«, krächzte sie und konnte nicht verhindern, dass sie lächelte. Die Aufregung machte sie euphorisch. Hatte sie seine Gesellschaft vorhin noch als Belastung empfunden, wusste sie nun zu schätzen, dass er ihr gefolgt war. Er erwiderte ihr Lächeln, bevor sein Gesicht zu Stein erstarrte. Ratlos folgte sie seinem Blick und erkannte Remi, der sie aus einiger Entfernung beobachtete. Ein finsterer Ausdruck lag in seinen Augen. Jacquotte versteifte sich und all ihre Sinne schlugen Alarm. Unschlüssig blickte sie zurück zu Pierre, der zornig schnaubte. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Remi kehrtmachte und davonrannte. Ehe sie reagieren konnte, setzte Pierre hinter ihm her. Sie fröstelte und sah sich beunruhigt um. Das war bereits das zweite Mal, dass sie nachlässig gewesen war! Sie schluckte verärgert und spürte mit einem Mal die verbrannten Stellen in ihrem Gesicht. Wachsam zog sie sich zurück.

Als die Dämmerung ihren feuchten Atem durch Gibraltar blies, war Pierre immer noch auf der Suche nach Remi. Gespannt pirschte er die Straßen entlang, über die sich allmählich eine angespannte Ruhe legte. Pierre wusste um die Brustwehre, die die Flibustier in weitläufigem Radius um die Kirche errichtet hatten, und hinter denen er sich längst hätte einfinden müssen. L’Olonnais und Moïse Vauquelin befürchteten weitere Angriffe. Es war nicht klar, wie vielen Einwohnern die Flucht gelungen war, und bisher war keine Zeit gewesen, die zahlreichen Toten zu zählen. Seinen letzten Informationen zufolge hatten die Flibustier beinahe fünfhundert Frauen, Kinder und Sklaven gefangen genommen sowie an die hundert Männer, die unter Anwendung von Folter vernommen wurden. Pierre konnte das entfernte Treiben hören, aber in der Enge der Gassen vermochte er nicht zu sagen, aus welcher Richtung die Schreie kamen.

Seine Schritte hallten unnatürlich laut von den eng beieinanderstehenden Häusern wieder. Er blieb stehen. Hatte er eine Bewegung wahrgenommen? Er kniff seine Augen zusammen, doch das schwindende Licht spielte seinen Sinnen offenbar einen Streich. Konzentriert lauschte er in die dunklen Hauseingänge hinein, die ihn umgaben. Irgendwo tropfte Wasser auf Stein, und einige Hunde balgten sich in seiner Nähe um ein totes Huhn. Sonst war alles ruhig. Er fluchte. Dass er Remi aus den Augen verloren hatte, machte ihn wütend, denn Bigfords Worte wurden mit seinem überhasteten Verschwinden auf einmal übermächtig. Pierre ballte die Hände zu Fäusten. Remi war sein Gefolgsbruder, und er mochte sich nicht vorstellen, dass er ihm womöglich weniger trauen konnte, als dem schmierigen Bigford, dessen Gesinnung sich ihm nie offenbart hatte. Was Pierre noch viel mehr beunruhigte, war die Tatsache, dass Bigford zu wissen schien, wer hinter Antoine Du Puits steckte. Doch welche Pläne verfolgte der Engländer? Er musste Remi finden und ihn zur Rede stellen, danach würde er sich um Bigford kümmern! Entschlossen setzte Pierre seinen Weg fort. Er wollte sich in der Nähe der Brustwehre auf die Lauer legen. Obwohl die Möglichkeit bestand, dass sich Remi längst im Lager der Flibustier aufhielt, glaubte er nicht daran. Was immer Remi dazu getrieben hatte, vor ihm zu flüchten, hielt ihn in seinem Versteck fest. Zumindest bis ihn der Hunger an die nächtlichen Feuer trieb. Pierre atmete tief durch. Er würde warten.

Die Nacht senkte sich über Gibraltar, während das Gegröle der trunkenen Männer zunahm. Pierre kämpfte gegen die Müdigkeit an, die auf wohligen Wellen über ihn hereinzubrechen drohte. Der Schein der Feuer verschwamm vor seinen Augen und lockte ihn ein Mal mehr in die Welt der Träume. Energisch setzte er sich auf. Seine Muskeln waren schwach, und die Kühle der zerborstenen Mauer, die ihn abschirmte, kroch ihm in die Glieder. Er sehnte sich nach einer Mahlzeit und einem kräftigen Schluck Rum, der ihm die Erschöpfung aus seinen geschundenen Knochen vertrieb. Sehnsuchtsvoll blickte er zu den Wachen hinüber, hinter denen sich das Lager seiner Mannschaft erstreckte. Vermutlich fragten sich die Brüder bereits, was mit ihrem Kapitän geschehen war. Pierre streckte die Beine aus. Seine Gedanken kamen zum Erliegen und vermischten sich mit unwirklichen Wahrnehmungen. Erneut wurden die Lider schwer, sein Kinn sackte auf die Brust. Er zuckte zusammen und blinzelte. Ärgerlich schüttelte er den Kopf, zog ein Messer und ritzte entschlossen seinen Arm. Der Schmerz durchzuckte ihn. Für einen Augenblick vertrieb er die Trägheit. Pierre setzte sich aufrecht hin.

In diesem Moment bemerkte er den Schatten, der behutsam um das Hauseck zu seiner Linken glitt. Mit einem Mal war er hellwach. Seine Augen, bereits an die Dunkelheit gewöhnt, nahmen jede Bewegung sowie die Umrisse der Person wahr, die er kannte, seit er ein Junge war. Es bestand kein Zweifel, der Schatten war Remi!

Ohne ein Geräusch zu machen, sprang Pierre auf und drückte sich in das herausgesprengte Loch der Mauer. Sein Herz pochte. Remi war vorsichtig. Er bewegte sich wie ein scheues Tier, blieb regelmäßig stehen und sondierte die Umgebung. Erst, als er beinahe an ihm vorübergegangen war, schlug Pierre zu. Wie eine Schlange schnellte er aus seinem Versteck, packte seinen Gefolgsbruder am Hals und zerrte ihn hinter das schützende Mauerwerk. Remi rang erschrocken nach Luft, doch Pierres Anblick ließ ihn verstummen. Mit einer geschickten Bewegung durchtrennte Pierre den Waffengürtel. Er fing ihn auf und sorgte dafür, dass er geräuschlos zu Boden glitt. Dann legte er Remi das Messer an die Kehle.

»Kein Laut!«, zischte er. Remi nickte. Das Weiß seiner Augen schimmerte in der Dunkelheit.

»Weshalb bist du davongelaufen?«, wollte Pierre wissen. Remi schwieg und Pierre glaubte, sein Herz angsterfüllt schlagen zu hören.

»Noch zu Beginn dieser Fahrt hast du mir gesagt, dass du mir zur Seite stehst«, grollte er. »Was hat dein Verhalten zu bedeuten?«

Remi schloss die Augen. Sein Atem ging heftig. Pierre schubste ihn, doch der Freund reagierte nicht.

»Sprich«, herrschte er ihn mit gedämpfter Stimme an.

»Du hintergehst mich!« Remi öffnete die Augen und starrte ihn hasserfüllt an. »Ich dachte, sie sei tot!«

Seine Worten zogen Pierre den Boden unter den Füßen weg. »Was redest du da, Mann?«, versuchte er sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.

»Als wüsstest du es nicht! Dabei hat dich dein Blick verraten, lange bevor es ihr kahler Schädel tat.«

Pierre stemmte die Hände gegen die Wand und sah seinem Gefolgsbruder ins Gesicht. »Du bist nicht bei Sinnen«, bemerkte er.

»Du bist es nicht wegen diesem einfältigen Weib! Wie konnte sie überleben? Ich habe dafür gesorgt, dass sie stirbt.«

Pierre stockte der Atem. »Sag das noch einmal«, raunte er. Ehe er sich versah, rammte er seine Faust in Remis Bauch. Dieser würgte heftig, bevor er trotzig sein Kinn hob.

»Du hast einst mich als Gefolgsbruder gewählt, nicht sie! Ich war all die Jahre für dich da, führte dein Schiff, stand dir zur Seite. Wir teilten uns Weiber, und wir teilten allein manch amüsante Stunde miteinander. Es kann dir nicht gleichgültig sein, was ich fühle«, stieß er stockend hervor. Pierre biss die Zähne aufeinander und trat einen Schritt zurück.

»Du hast dafür gesorgt, dass sie stirbt?«, flüsterte er fassungslos. »Wie konntest du das tun? Du warst mein Freund, mein Bruder. Wir standen uns nahe!«

»Sie stand dir immer näher als ich. Ich bereue es nicht«, erwiderte Remi.

Pierres Hand umschloss seinen Säbel. Er kämpfte mit widersprüchlichen Gefühlen.

Remi sah ihn verzweifelt an. »Sie wollte dich nicht! Sie trieb dich in den contrabando Handel. Du hast dich lange Zeit nicht um deine Mannschaft gekümmert, Pierre! In diesen Stunden ergriff ich für dich das Wort. Die Männer standen kurz vor einer Meuterei. Ich allein habe sie besänftigt. Doch als wir endlich nach Cayone zurückkehrten, brachte dich einzig die Erwähnung ihres Namens um den Verstand. Ich musste etwas unternehmen!«

»Was hast du getan?«, fragte Pierre tonlos.

»Ich ging zu L’Olonnais.« Die Antwort schwebte wie eine unheilvolle Wolke zwischen ihnen.

Pierre schnaubte. »Ausgerechnet!« Er dachte an Jacquotte zurück, die blutend in den Armen des Totenkopfs lag. An ihr Verschwinden in jener stürmischen Nacht und an Remis Gleichgültigkeit, als die Nachricht von Jérômes und Jacquottes Tod die Schankräume erfüllte. Endlich verstand er auch die Genugtuung in seiner Stimme, als er sagte, dass sie nicht mehr zwischen ihnen stand. Remi trug Mitschuld an Jacquottes Schicksal.

»Was weiß der Olonnaise?« Pierre zog den Säbel aus der Schärpe um seine Hüfte. Remi registrierte die Bewegung mit einem erstickten Aufschrei.

»Ich offenbarte ihm meine Gefühle für dich und er verstand. Deshalb forderte ich ihn auf, etwas zu unternehmen. Ich erzählte ihm, dass Jérôme der Gefolgsbruder von Jacquottes Vater war. Ich wollte, dass L‘Olonnais ihn beobachtete, denn ich wusste, er würde ihn zu der roten Metze führen.« Remis Stimme überschlug sich.

»Hast du ihm von Manuel erzählt?«

»Nein!« Remi reagierte so schnell, dass Pierre ihm glaubte.

»Wie konntest du nur so dumm sein?« Er rieb sich die Stirn. Der Verrat seines Freundes setzte ihm zu. Er fühlte sich ausgelaugt.

»Ich wollte nicht, dass L‘Olonnais Jérôme umbringt. Du musst mir glauben, Pierre, ich wollte es nicht!«

»Du hast eine Bestie beauftragt, Remi. War es die Sache wenigstens wert?« Er biss sich auf die Lippen. Verbitterung erfasste ihn.

Remi antwortete nicht.

»Hast du ihm bereits Bericht erstattet?« Pierre senkte resigniert den Kopf.

»L‘Olonnais misstraut Antoine. Ich sollte euch beide beobachten und Meldung machen.«

»Das hattest du vor, als du vor mir weggelaufen bist.« Es war eine Feststellung. Pierre schluckte. Remis Schweigen bestätigte seine Ahnung. »Hat es dir nicht gereicht, ihr einmal den Tod zu bescheren?«

Remi lachte gequält. »Ein Weib ist kein ehrenwerter Bruder. Schon gar nicht, wenn es sich als Mann verkleidet. Ich habe ihretwegen kein schlechtes Gewissen. Selbst der Kodex kann mich nicht für diese Tat richten.«

Pierre überraschte sich selber mit der Schnelligkeit, mit der er den Säbel durch die Luft schwang. Als er die Klinge in Remis Oberkörper stieß, riss dieser den Mund zu einem stummen Schrei auf. Pierre taumelte zurück.

»Der Kodex kann dich nicht richten«, flüsterte er. »Aber ich kann es.«

Remi spuckte Blut. Mit zitternden Händen zog er den Säbel aus seiner Brust und starrte Pierre fassungslos an.

»L’Olonnais hatte recht«, röchelte er. »Nur selten gelingt es dem Menschen, sein Herz nicht an den falschen zu hängen.« Er rutschte an der Wand entlang zu Boden. Pierre wollte ihn auffangen, unterließ es aber.

»Ich habe ihm nichts gesagt.« Sein Freund rang nach Luft. Blutblasen quollen zwischen seinen Lippen hervor. Pierre beugte sich zu ihm hinunter.

»Gefolgsbrüder bis in den Tod«, murmelte er heiser. Ein Zucken ging durch Remis Körper, und Pierre schloss ihm mit einer fahrigen Handbewegung die Augen. In ihm tobte ein Sturm. Er hatte Remi gerichtet. Schwerfällig hob er den Kopf und sah mit verschwommenem Blick zu seinen Kameraden hinüber.

Einige Tage später schwärte Verwesung in der drückenden Luft. Die Flibustier waren mit ihren Schiffe in den verwüsteten Hafen gesegelt und schleppten die Toten herbei, die der Kampf um die Übermacht der Stadt gefordert hatte. Sie zählten über fünfhundert spanische Leichname, darunter sogar den Gouverneur von Mérida, Gabriel Guerrero de Sandoval. Im Vergleich zu dieser immensen Zahl hatten die Brüder kaum Verluste zu beklagen. Vierzig Tote und dreißig Verwundete dezimierten ihre Truppe, die sich inzwischen in Sicherheit wähnte und plündernd durch Gibraltar zog. L’Olonnais überwachte das Treiben am Hafen und schritt nur zu gerne mit seiner Peitsche ein, wenn Gefangene in Tränen ausbrachen, die einen Angehörigen auf eine der beiden Barken trugen, die man später hinaus auf den See schleppen würde, um sie zu versenken.

Pierre beobachtete das Massenbegräbnis an der Seite des Basken. Bigford, der sich ein Tuch vor Mund und Nase presste, trat an sie heran. Der Baske nickte ihm freundlich zu.

»Wie sehen die Verluste in Eurer Mannschaft aus, Engländer?«, erkundigte er sich. Sein Blick war unstet und Bäche von Schweiß liefen über sein aufgedunsenes Gesicht, um im Gebüsch seines ungepflegten Barts zu versiegen.

»Ich habe lediglich fünf Männer zu beklagen, großer Baske«, erwiderte der Angesprochene gedämpft und würgte.

Pierre konnte Bigfords Leid nachvollziehen. Auch sein Magen revoltierte beim süßen Geruch des Verfalls um ihn herum, und er spürte seine Zunge dick und schwer in seinem Mund liegen. Er sehnte sich nach Wasser, aber die Flibustier hatten die meisten Kalebassen mit Frischwasser achtlos zerstört.

»Nennt mich nicht mehr groß«, polterte der Baske. »Es ist offensichtlich, dass ich bei diesem Überfall den Kürzeren gezogen habe. Die Kapitäne folgen dem Olonnaisen. Welch Schmach, das mitansehen zu müssen!«

»Was sind Eure weiteren Pläne?« Pierre drehte den zahlreichen Toten, die auf einem Haufen am Kai in der Sonne dörrten, den Rücken zu. Seine Gedanken kreisten um Remi. Er brauchte Ablenkung.

Der Baske blähte die Nasenflügel. »Ihr fragt mich das? Ihr habt mich hintergangen wie alle anderen. Ich wüsste nicht, auf wen ich noch zählen könnte!«

»Ihr seid Major der Île de la Tortue«, gab Pierre zu bedenken.

»Aye! Und damit den Weisungen von D’Ogeron unterstellt!«

Pierre und Bigford wechselten einen Blick. Der Baske stapfte wütend mit dem Fuß auf.

»Was für einen Sinn hat dieses Amt, wenn mir die Brüder nicht mehr folgen?« Er schüttelte griesgrämig den Kopf und richtete seine Augen auf Bigford. »Was wisst Ihr über Euren Landsmann, den Kapitän, den man Henry Morgan nennt?«

Bigford hob die Augenbrauen und nahm das schützende Tuch von seinem Gesicht. Ihm war anzusehen, dass er sich bei der Frage unwohl fühlte. »Nun, er ist Colonel der Port Royal volunteer militia. Er ist verantwortlich für den Ausbau der Verteidigungsanlagen rund um die Stadt. Eine verantwortungsvolle Aufgabe.«

Michel Le Basque lachte. »Ihr braucht mich nicht zu schonen, Bruder. Ich weiß, dass er ein großer Kapitän ist. Seit Christopher Myngs hatte Jamaika keinen solchen Anführer mehr. Er vereint zahlreiche Männer unter sich und bedient sich gewisser Regeln, die unserem Kodex nicht unähnlich sind. Sprecht die Wahrheit, Bigford, was wisst Ihr?«

Bigford räusperte sich. »In der Tat, er ist ein großer Kapitän mit gleichsam großen Ambitionen. Ich hörte ebenfalls von den Regeln, die für jede seiner Kaperfahrten gelten. Obwohl im Dienste von Modyford, nutzt er dabei noch immer den Kaperbrief, den er einst von dessen Vorgänger, Lord Windsor, erhielt. Er ist sehr beharrlich und willensstark. Viele Männer wissen das zu schätzen.«

Der Baske spuckte aus. »Hört, hört«, knurrte er. »Ihr könnt nicht leugnen, dass Eurer Stimme die Bewunderung anzuhören ist!«

Bigford zog den Kopf ein und Pierre grinste.

»Wenn der Leitrüde in seinem Rudel eines Tages auf einen mächtigeren Rüden trifft, dann erkennt er entweder seine Unterlegenheit an und folgt dem Stärkeren, oder er kämpft und wird aus dem Rudel vertrieben.« Michel Le Basque fixierte die beiden Männer an seiner Seite. »Welches Verhalten ist das klügere, messieurs?“

Bigford starrte angestrengt zu Boden, während Pierre den Blick des Basken offen erwiderte.

»Es kommt darauf an, welche Stärke Ihr in Euch selbst tragt«, antwortete er.

Die Mundwinkel des Basken zuckten kurz. »Das sehe ich ebenso, Picard.«

Er hieb ihm kräftig auf die Schulter und ging mit energischen Schritten davon. Bigford sah ihm nach. Er war kalkweiß im Gesicht.

»Was hatte das zu bedeuten?«, fragte er.

Pierre kratzte sich das Kinn. »Er wird L’Olonnais folgen«, antwortete er und fügte auf Bigfords ratlosen Blick hinzu: »Ein schlauer Rüde folgt dem Stärkeren widerstandslos, um im Folgenden seine Schwächen herauszufinden und sie auszunutzen. Macht der neue Rüde einen Fehler, schwingt sich der alte wieder zum Leitrüden auf.«

Bigford sah ihn verwirrt an. »Ist das ein Gleichnis der Bukaniere? Was hat das mit Henry Morgan zu tun?«

»Wäre ich der Baske, wäre mir daran gelegen, dass die Brüder in Cayone bleiben und nicht nach Port Royal abwandern. Gleichgültig, wem sie folgen. Selbst, wenn dieser neue Anführer L’Olonnais heißt.«

»Er schließt sich L’Olonnais an, um zu verhindern, dass Henry Morgan und damit die Engländer an Stärke gewinnen. Ein selbstloser Plan.« Bigford legte den Kopf schief. Er sah aus, als müsse er sich gleich übergeben. Pierre trat einen Schritt zurück, doch der Engländer fing sich wieder.

»Werdet Ihr L’Olonnais weiterhin folgen?« fragte er.

»Ich bin mir nicht sicher.« Pierres Blick wanderte zu Jacquotte, bevor er sich zwang, Bigford anzusehen.

Dieser rülpste. »Bisweilen befiehlt einem das Herz, wem man zu folgen hat«, sinnierte er. Pierre spannte die Muskeln, aber Bigford schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Seid unbesorgt«, flüsterte er.

Als sich Männer aus Pierres Mannschaft näherten, wurde seine Stimme lauter: »Mein Beileid zum Ableben Eures Gefolgsbruders!«

Ihre Augen verhakten sich für den Bruchteil einer Sekunde, bevor Bigford davonging. Pierre entspannte sich und verfolgte mit teilnahmslosem Gesichtsausdruck das Stapeln der Leichen auf den maroden Barken. Mit Remis Tod hatte er die Welt verraten, die er kannte.