Cayamanes Inseln, südlich von Kuba, Sommer 1662
»Gebt ihm Rum!«, forderte der Mann mit der rotgeäderten Nase in scharfem Tonfall. Seine teigigen Hände steckten im Mund von Levache, der aus Leibeskräften schrie. Blut lief ihm über das Kinn und tropfte auf die verschwitzte Brust.
Jan schüttelte den Kopf. »Seit dieser inciseur bei uns an Bord is´, vergeht kein Tag ohne Gemetzel! Es is´ schlimmer als im Krieg.«
Er warf Jacquotte einen kurzen Blick zu und betastete vorsichtig seine Schneidezähne. »Wackeln nur n´ bisschen“, stellte er fest.
»Vor fünf Tagen hat er ihm zermahlene Regenwürmer in den Zahn gestopft und mit Wachs versiegelt. Er sagte, der Zahn würde dann von selber ausfallen.« Crochu schnaubte verächtlich, denn offensichtlich hatte diese Methode keinerlei Wirkung gezeigt.
Jacquotte grinste und lehnte sich gegen die mit Tabak gefüllten Säcke, die wegen der Feuchtigkeit im Bauch des Schiffes im vorderen Teil des Decks gelagert wurden. Ihre Wunden zuckten beim Anblick des gequälten Levache. Die vergangenen beiden Wochen waren die ersten gewesen, die sie mit wenigen Schlucken Rum am Tag überstanden hatte. Der Wundarzt, der sich sein fragwürdiges Können angeblich in der Nähe von Nantes angeeignet hatte, wurde nicht müde, faules Fleisch aus ihr herauszuschneiden. Eine Prozedur, die sie nur im berauschten Zustand bereit war zu ertragen. Auch wenn es sie selbst dann an die Grenzen dessen brachte, was sie auszuhalten vermochte, ohne das Bewusstsein zu verlieren. Einzig den Aderlass hatte Tête-de-Mort verboten durchzuführen, und Jacquotte war dankbar dafür. Besonders wenn sie die scharfen Lanzetten sah, die denen in die Arme getrieben wurden, die über schwache Lungen oder fieberhafte Geschwüre klagten.
Es folgte ein schmatzendes Geräusch, untermalt von einem markerschütternden Schrei, und der Zahn von Levache kullerte über das Deck. Er sah wie ein bräunlicher Stein aus und wurde sofort von den drei Schweinen inspiziert, die als lebender Proviant über das Schiff spazierten. Der inciseur, der sich selbst Ambroise nannte, zog geräuschvoll die Nase hoch und ließ sich zufrieden neben seinen Patienten sinken.
»Wer ist der Nächste?«, rief er, doch ehe sich Jacquotte versah, war sie die Einzige, die es nicht geschafft hatte, sich von Bord zu machen. Ambroise lachte und präsentierte die wenigen Zähne, die nach diversen Selbstbehandlungen in seinem Mund verblieben waren. Jacquotte erhob sich und blickte den Männern hinterher, die lautstark an Land wateten.
Die Fortune Noire ankerte in seichtem Gewässer. Bei Ebbe saß sie auf einer Sandbank auf, die der Mannschaft als Trockendock diente und dazu genutzt wurde, das Schiff zu reparieren sowie seine Unterseite von Muscheln und dem gefürchteten Holzwurm zu befreien. Jacquotte mochte die Cayamanes Inseln. Tête-de-Mort kam stets in den Sommermonaten her, um Schildkröten zu jagen. Die gewichtigen Tiere schleppten sich jede Nacht an Land, um in dem feinen Sand ihre Eier abzulegen. Waren sie einmal auf den Rücken gedreht, konnten sie nicht mehr entkommen und man hatte Zeit, sie zu zerlegen und einzusalzen. Das sicherte ihnen über den Rest des Jahres einen Teil der Verpflegung. Trotz des guten Geschmacks musste man darauf achten, nicht übermäßig von dem Fleisch zu essen, da es einem das Öl aus den Poren trieb und die Glieder schmerzen ließ. Gegen Ende des Winters wurde es obendrein tranig und konnte nur noch mit großen Mengen Alkohol genossen werden.
In der Nähe ankerten weitere Schiffe, um ebenfalls Schildkröten zu erlegen. Jeden Abend feierten die Mannschaften an dem palmengesäumten Strand. Über dem Feuer briet man die blauschillernden Echsen, die überall auf den Inseln zu finden waren, ebenso wie die prachtvollen Flamingos, deren Zungen besonders geschätzt wurden. Die berüchtigten cayamane, die den Inseln ihren Namen gegeben hatten, waren Jacquotte noch nie unter die Augen gekommen. Erschöpft stützte sie sich an der Reling ab. Das heiße Wetter setzte ihr zu. Sie verzehrte sich nach Rum, wusste aber, dass Tête-de-Mort wie ein Geier über die verbliebenen Fässer wachte. Die tröstende Flucht ins Vergessen war erstrebenswerter als weiterhin ihren Gedanken ausgesetzt zu sein, die sie quälten, wenn sie das Bewusstsein zurückerlangte. Sie beobachtete wie die Sonne im Meer versank und glaubte, es müsse zischen, wenn sie das Wasser berührte. Schwerfällig ließ sie sich zurück auf die Säcke sinken. Einige vorwitzige Papageien trieben ihre Spiele in der Takelage, während sich die Schweine backbord zur Ruhe begaben. Ambroise hangelte sich ungeschickt an einer der herabgelassenen Leitern von Bord und folgte der Mannschaft an Land.
Als sich mit dem dunkelblauen Dunst Stille über das Schiff legte, hörte sie seine Schritte. Es war zu einem Ritual geworden. Er reichte ihr einen Becher mit Cidre, den er dem Kapitän, der steuerbord von ihnen vor Anker lag, im Tausch gegen Tabak abgeschwatzt hatte. Jacquotte stürzte das säuerliche Getränk hinunter. Seit ihr die Verletzungen zugefügt worden waren, gelang es ihr kaum, ihren unbändigen Durst zu stillen. Tête-de-Mort setzte sich neben sie. Es hatte keine Nacht gegeben, an der er nicht an ihrer Seite wachte. Seine Augen trösteten sie, wenn sich die Wolken der Schmerzen und des Alkohols verzogen.
»Wenn wir ablegen, werden wir diesen inciseur auf der Insel zurücklassen«, murmelte Tête-de-Mort. »Er zerstückelt meine Männer.«
Jacquotte atmete seinen vertrauten Geruch ein. »Du magst ihn nicht?« Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Aucunement! Weder ihn noch all die anderen Knochenflicker. Einer von ihnen versuchte, mich einst mit orviétan zu kurieren, einem grauenhaft schmeckenden Allheilmittel. Er glaubte, Körpergifte würden aus meinem Gehirn austreten und mein Gesicht zerstören.«
Jacquottes Lachen schwand. Sie schätzte die allabendlichen Gespräche mit Tête-de-Mort, die mit jedem Mal vertrauter wurden. Auch wenn sie oftmals den Eindruck gewann, dass er gewisse Themen so geschickt zu umschiffen wusste wie einen Hurrikan. Sein Aussehen hatte er noch nie zur Sprache gebracht. Er verließ damit das bekannte Terrain und segelte in unerforschte Gewässer.
»Bisher hat er niemanden umgebracht«, beschwichtigte sie.
»Jeder stirbt, wenn man ihn oft genug zur Ader lässt«, knurrte er und brachte Jacquotte zum Schweigen. Der Grund für seine Verstimmung war ihr unbekannt, und sie wagte nicht, ihn zu hinterfragen.
Doch Tête-de-Mort fuhr unbeirrt fort und seine raue Stimme vermischte sich mit dem Geschrei der feiernden Männer am Strand: »Ich war ein kleiner Junge, als meine Mutter Marie mit ihrem vierten Kind schwanger ging. Unser Vater war Mitglied an der St. Côme, der Hochschule für Medizin in Paris. Gemeinsam mit seinem Assistenten ließ er meine Mutter regelmäßig aus Vorsorgegründen zur Ader. Das letzte Mal, als sie kurz vor der Niederkunft stand. Sie überlebte nicht. Mit ihr starb unsere ungeborene Schwester, die man ihr aus dem Bauch schnitt, um sie zu beerdigen, wie man uns erzählte. Später erfuhr ich zufällig, dass sie auf den Tischen der Studenten endete, bevor man sie verscharrte. Aus diesem Grund kam ich in die Neue Welt, kaum dass meine Krankheit entdeckt worden war.«
Jacquotte starrte in den Himmel, wo die ersten Sterne aufleuchteten. Die Worte von Tête-de-Mort stimmten sie nachdenklich. Ihr war nie die Idee gekommen, dass auch er eine Familie hatte. Mit einem Mal vermisste sie Manuel. Das schlechte Gewissen, das stets mit den Erinnerungen an ihn verbunden war, wurde übermächtig.
»Ich habe meinen Bruder verraten«, entfuhr es ihr. »Er war anders, er hätte meine Hilfe benötigt, aber ich ließ ihn im Stich.«
Tête-de-Mort schwieg, doch sie wusste, dass er verstand. Erst nach einer Weile begann er wieder zu sprechen, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: »Ich heiße Nicolas Lormel. Ich möchte, dass du meinen wahren Namen kennst. Mein Bruder war Philippe Lormel, der Kapitän der gesunkenen Marie Veinarde.«
Jacquotte drehte ihm interessiert den Kopf zu.
»Ich dachte, ich müsse seinen Tod rächen, deshalb folgte ich De l’Isle nach San Jago. Inzwischen weiß ich, dass es mein schlechtes Gewissen war, das mich dorthin trieb. Wir hatten uns bereits vor Jahren entzweit.« Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Wir kämpften einst an der Seite von Michel Le Basque. Sein Schiff war unser Zuhause. Doch als mein Bruder älter wurde, rebellierte er gegen ihn. Eines Tages dümpelten wir unweit des Rio de la Hache auf dem Meer und lauerten auf eine Flotte aus Cartagena, die jedes Jahr mit einigen Barken und einem großen Begleitschiff zu einer Perlenbank segelte, um dort nach Muscheln zu tauchen. Michel Le Basque wollte die Barken des Nachts überfallen, doch mein Bruder schlug vor, sie tagsüber anzugreifen. Die dreißig Männer unserer Schaluppe waren der sengenden Hitze überdrüssig und überstimmten den Basken. So kam es, dass mein Bruder und ich zu den Barken schwammen und zwei davon erfolgreich in unsere Gewalt brachten. Bevor das Geleitschiff, das wegen seines Tiefgangs vor dem Riff ankern musste, es überhaupt bemerkte, kamen die anderen Brüder angeschwommen. Innerhalb kurzer Zeit befanden sich alle zehn Barken unter unserem Kommando. Wir setzten Segel und machten uns aus dem Staub. Es war die größte Prise, die ich je erbeutet hatte. Ich war voller Euphorie. Doch mein Bruder traf nie am vereinbarten Treffpunkt auf der Île à Vache ein. Ich glaubte lange, er sei tot.«
Jacquotte beobachtete, wie der Himmel sich verdunkelte. Sie spürte die Wärme, die von Tête-de-Mort ausging. Es war ein beruhigendes Gefühl.
»Manchmal offenbart sich einem das Gesicht der Wahrheit erst nach einer Weile.« Er senkte den Kopf.
»Dein Bruder war nicht tot«, stellte sie fest. »Weshalb ist er nicht zu dir zurückgekehrt?«
»Was fragst du mich aus, zum Teufel?« Die Stimmung war umgeschlagen.
Überrascht über seine Reaktion wandte rückte sie von ihm ab. »Ich werde zu den Männern gehen und sehen, ob ihnen meine Gesellschaft mehr zusagt als dir.« Sie wollte sich erheben, als er seine Hand um ihren Unterarm legte. Die Berührung ließ sie erstarren.
»Jeder von uns bringt Opfer. Du hattest gute Gründe, deinen Bruder zu verlassen!«
»Mein Bruder fand den Tod. Manchmal denke ich, ich verdiene ihn ebenfalls«, erwiderte sie bitter.
Tête-de-Mort lachte. Der Druck seiner Hand ließ nach, und Jacquotte entspannte sich ein wenig.
»Was ist daran so lustig?«
»All die Jahre war ich einzig für mich allein verantwortlich. Ich habe den Tod besiegt und wurde selber zum Sinnbild des Todes. Doch dann kamst du und hast mich daran erinnert, dass ich nicht über seine Macht verfüge. Er riss dich beinahe an sich und ich konnte nur dabei zusehen. Es wird der Tag kommen, an dem er auch über mich richtet, und ich frage mich, wer dann der Tod auf Erden sein wird, den du verdienst.«
»Ich werde weiter unter deiner Flagge segeln«, erklärte sie und sprach zum ersten Mal aus, wonach sie sich seit langem sehnte: ein eigenes Schiff!
Tête-de-Morts Lachen erstarb. »Ich sagte dir einst, dass ein jeder seine Geschichte an Bord eines Schiffes neu schreibt. Du hast das getan und mittlerweile gehört uns beiden bereits ein Stück der Vergangenheit. Aber hör mich an, denn ich werde es dir nur ein einziges Mal sagen: Wenn ich sterbe, dann wird dich die Mannschaft nicht als Kapitän der Fortune Noire anerkennen! Michel Le Basque ist einflussreich und sein Handlanger L’Olonnais ein unberechenbarer Gegner. Die wenigsten Männer sind klug genug, um zu begreifen, dass ein durchtriebener Anführer nicht gleichzeitig ein guter Anführer ist. L’Olonnais sät den Wind. Ich hoffe, es ist mir vergönnt zu erleben, dass er den Sturm erntet. Du stehst unter meinem Schutz. Wenn ich nicht mehr bin …« Er stockte.
Jacquotte hielt den Atem an, ihre Wangen glühten. Diese Aussage hatte sie nicht von ihm erwartet.
»Trotz deines viel gerühmten Schutzes wäre ich beinahe auf die andere Seite gegangen«, entfuhr es ihr. »Ich habe dich nicht darum gebeten, auf mich aufzupassen. Stirb unbesorgt, ich werde meinen Weg auch ohne dich gehen!«
Sie wollte die unbedachten Worte am liebsten in dem Augenblick zurücknehmen, in dem sie sie aussprach. Tête-de-Mort hatte ihr ein Stück seiner Vergangenheit offenbart und ihr seinen Namen anvertraut. Oftmals wussten nicht einmal Gefolgsbrüder die früheren Namen des jeweils anderen. Was war nur mit ihr los?
»Du wirst nicht sterben«, murrte sie versöhnlich, doch seine abweisende Haltung blieb. Mit wenigen Schlucken leerte er den Becher. Es war nicht der erste an diesem Tag, und Jacquotte dämmerte, dass sie nicht die Einzige war, die ihre Schmerzen im Alkohol ertränkte. Erschrocken über die Erkenntnis griff sie nach seiner Hand.
»Wie lange schon?«, fragte sie.
»Es wird schlimmer.« Er entzog sich ihr nicht und Jacquotte spürte die Hitze, die von ihm ausging.
»Du wirst nicht sterben«, wiederholte sie und diesmal klang es wie ein Befehl.
Tête-de-Mort sprang auf die Beine, ihre Verbindung zerriss. Unwillkürlich hob sie ihren Arm. Sie wollte nicht, dass er ging. Aber obwohl sie gerade mehr miteinander geteilt hatten, als Jacquotte jemals zuvor einem Menschen anvertraut hatte, fehlten ihr die Worte, es ihm zu sagen. Er wandte sich ab. Bevor er als Schatten über die dunkle Reling entschwand, rief er ihr heiser zu: »Wenn es einen Grund gibt, der mich davon abhält zu sterben, dann bist du es!«
Als Jacquotte am nächsten Tag erwachte, fühlte sie ein Pochen hinter den Schläfen. Ihre Augen waren verquollen, als hätte sie Tränen vergossen, aber sie konnte sich an nichts erinnern. Ächzend rollte sie aus der Sonne, die über der Reling aufging, und spuckte aus. Ihre Zunge war pelzig, und die Bewegung ihrer verspannten Glieder brachte die Wunden dazu, heftig zu klopfen. Unbewusst stieß sie die leere Buddel um, die neben ihr stand, und das Klirren rief ihr ins Gedächtnis, dass sie getrunken hatte und vor allem, warum.
»Hat dich Ambroise in die Finger bekommen?«, hörte sie Jans Stimme.
Sie schüttelte schwerfällig den Kopf. Er stellte einen Holzkübel frischen Wassers neben ihr ab und ging in die Knie. Unschlüssig kaute er auf seinen schwarzen Fingernägeln.
»Habt ihr euch gezankt?«, wollte er wissen.
Jacquotte brummte und bedeutete ihm zu gehen, aber Jan ließ nicht locker: »Es hat ihn getroffen, dass du verwundet wurdest. Is‘ nicht mehr der Alte seitdem. Trinkt zu viel. `S passt mir nicht, dass es ihm schlecht geht. Is` nicht gut für die Mannschaft. Und nicht gut fürs Schiff. Denke, der Kodex will genau das damit sagen, wenn er keine Frauen an Bord duldet.«
Sie setzte sich auf, und Jan schnellte augenblicklich zurück auf die Beine.
»Behalt deine weisen Sprüche für dich, du holländische Sprotte, sonst machst du noch die restlichen Männer scheu!« Sie blinzelte gegen die Sonne. »Seit wann hast du solche Ideen?«
Jan sah auf seine Füße. »Die Mannschaften der anderen Schiffe reden nachts an den Feuern.«
»Was reden sie?«
»Dass eine Frau auf’m Schiff kein Glück bringt. Is‘ wie ein Fluch. Soll einem Schiff den Untergang bringen.«
Jacquotte schöpfte Wasser aus dem Eimer und klatschte es sich ins Gesicht.
»Welches Unglück habe ich herauf beschworen?«, wollte sie wissen, doch ihr Freund schwieg und trat verlegen von einem Bein aufs andere. »Rede gefälligst!«
»Die Bruderschaft …«, begann er, aber sie wollte es nicht hören.
»Immer wieder die Bruderschaft«, fiel sie ihm ins Wort. »Michel Le Basque ist die Bruderschaft! Er ist verantwortlich für den Unfrieden. Sieh dich um, Jan, welches Unglück habe ich über euch gebracht, seit ich auf der Fortune Noire bin?«
Sie sprang auf. »Mangelt es euch an Nahrungsmitteln?« Sie deutete auf die Männer am Strand, die damit beschäftigt waren, die Unmengen an Schildkrötenpanzern zu knacken, die sie während der Nacht gesammelt hatten.
»Mangelt es euch an Achterstücken?« Sie fuhr in das Säckchen an ihrer Hüfte und warf einige der Münzen in die Luft.
»Mangelt es euch an Alkohol?« Sie schleuderte die leere Flasche über Bord. »Was ist es?«
Jan starrte sie an. Dann grinste er und fuhr sich durch die strubbligen Haare. »Nichts von alledem«, gab er zu. »Trotzdem is‘ der Kapitän mehr damit beschäftigt, auf dich Acht zu geben, als auf sich und seine Männer. Wir brauchen ihn. Das is´ das Problem.«
Jacquotte biss sich zornig auf die Unterlippe. Wie konnte es sein, dass sie irgendwann stets dieselben Dinge von den Menschen in ihrem Leben zu hören bekam?
»Ich wollte nie, dass er auf mich Acht gibt«, verteidigte sie sich.
»Ich weiß, du kannst selbst auf dich aufpassen«, knurrte Jan, und sie horchte auf. Diesen Tonfall kannte sie nicht an ihm.
Von ihrem herausfordernden Blick gereizt, fuhr er fort: »Kannste eben nicht! Du kämpfst wie ein Mann, du trinkst wie ein Mann und du fluchst wie ein Mann. Und doch kannste dich nicht wie ein Mann unter uns bewegen. Crochu juckt’s regelmäßig in der Hose, wenn der Wind dir das Hemd an den Leib presst. Und er is´ damit sicher nicht allein. Einzig wegen deiner Verletzungen sitzen wir hier länger fest als sonst. Jeden anderen hätte Tête-de-Mort mitsamt dem schaurigen inciseur in Cayone zurückgelassen. Nur dich nicht. Er stellt dich über die Mannschaft. Es is´ eben so.«
»Es is´ eben so«, äffte Jacquotte ihn nach, doch Jan blieb gelassen.
»Ich sag`s wie es ist. Hab ich schon immer getan.« Er zuckte die Schultern.
Aufgewühlt sah sie ihm nach, als er mit hängendem Kopf davon trottete. Um sich Luft zu machen, schlug sie gegen einen der Tabaksäcke. Alles, was sie wollte, war ihre Freiheit! Ihre Wut vermischte sich mit Resignation. Sie war eine Frau. Jan hatte es ihr wieder einmal vor Augen geführt. Man feierte und pries sie in Liedern, aber am Ende des Tages war sie nur unter dem Schutz eines Mannes in Sicherheit. Was musste sie tun, um anerkannt zu werden und ebenbürtig unter den Brüdern zu leben?
„Heirate«, beantwortete sie die eigene Frage und schürte damit ihre Wut. Stöhnend hielt sie sich die Seite. Die ruckartigen Bewegungen hatten ihre verheilenden Wunden geweckt, die ihr nun die Hitze ins Gesicht trieben. Entschlossen begab sie sich zur Reling, um der Mannschaft bei ihrer schweißtreibenden Arbeit zur Hand zu gehen. Sie benötigte Ablenkung! Das ständige Herumsitzen tat ihr nicht gut. Sie hangelte sich an der Leiter hinunter und glitt in die leichte Strömung. Das scharfe Salzwasser ließ sie heftig die Luft einziehen, aber sie kämpfte sich tapfer ans Ufer vor. Dort angekommen bedachte Ambroise sie mit einem strafenden Blick. Meerwasser war nicht gut für den Heilungsprozess. Jacquotte wusste das, doch als die Mannschaft sie fröhlich willkommen hieß, fühlte sie sich besser. Vermutlich hat Jan das Gerede zu ernst genommen, dachte sie hoffnungsvoll und fing ein rostiges Messer auf, das Crochu ihr zuwarf. Mit geschulten Bewegungen zerteilte sie das Fleisch und trennte es von der carapace, der Oberseite des Schildkrötenpanzers, wo es von einer grünen, gallertartigen Substanz geschützt wurde, aus der man, zusammen mit den ausgegrabenen Eiern, eine delikate Suppe zubereiten konnte. Die einzelnen Stücke warf sie denjenigen zu, die den Proviant in grobmaschigen Netzen sammelten, um ihn später an Bord der Fortune Noire zu bringen. Dort wanderten die Fleischstücke in Holzfässer, die anschließend bis zum Rand mit Salz aufgefüllt und fest verschlossen wurden.
Während sie arbeitete, fing sie wiederholt den Blick von Tête-de-Mort auf, der die Reparaturen am Schiff überwachte. Ihre Gedanken kreisten um das Gespräch mit Jan. Sie wollte nicht, dass Tête-de-Mort sie beschützte. Wie es schien, hatte er es sich jedoch zur Aufgabe gemacht. Sie schleppte das Fleisch in den Schatten und dachte an den Tag zurück, als sie Jan zum ersten Mal begegnet war. Jeden anderen hätte Tête-de-Mort zurückgelassen, waren die Worte ihres Freundes gewesen. In diesem Moment kam ihr eine Idee. Damals hatte er sie ebenso wenig zurückgelassen!
Die Männer arbeiteten den ganzen Tag. Jacquotte gab ihr Bestes, um mitzuhalten. Erst als der Abend hereinbrach, und sich die Mannschaft den angenehmeren Dingen zuwandte, hielt es sie nicht mehr aus. Ihre schmerzenden Wunden entflammten ihre Wut zusätzlich und trieben sie zu Tête-de-Mort. Unauffällig entzogen sie sich den neugierigen Blicken, die ihr mit einem Mal bewusst wurden. Aufgebracht schnitt sie ihm den Weg ab, kaum dass sie außer Sichtweite waren: »Du hast es gewusst, als ich an Bord der Barke kam!“
Sein Schweigen war Antwort genug. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte ihn herausfordernd.
»Als ich dich am Strand stehen und aufs Meer blicken sah, hattest du denselben ehrfürchtigen Ausdruck in deinem Gesicht, den auch ich hatte, als ich mich einst den Flibustier anschloss. Ich ahnte, dass du eine Frau bist, das ist wahr«, erwiderte er nach einer Weile.
»Ich war als Mann verkleidet!«
»Es mag sein, dass du andere zu täuschen vermochtest. Die meisten Brüder rechnen nicht damit, einer Frau außerhalb eines Bordells zu begegnen. Das macht sie blind für offensichtliche Attribute. Ich bin dir nicht aufgesessen. Deine Bewegungen, deine Augen, deine glatten Wangen. Du warst so sauber im Gegensatz zu meiner Mannschaft und allen Schweinejägern, die mir je begegnet sind.«
Sie starrten einander an, und Jacquotte stampfte mit dem Fuß auf.
»Was macht dich wütend?« Tête-de-Mort legte die Stirn in Falten.
»Die Tatsache, dass ich glaubte, mir meinen Platz auf der Fortune Noire gerecht erkämpft zu haben. Als einer von euch. Aber nun muss ich feststellen, dass du von Anfang an deine Klauen um mich gelegt und mich in deine Richtung geführt hast!«
»Dich zu führen ist unmöglich«, stellte er fest. »Außerdem fürchtete ich, dass deine Verkleidung früher oder später auffliegt.«
»Mein Weg wäre ein anderer gewesen. Dein Schutz lastet wie ein Fluch auf mir und bringt die Männer gegen mich auf«, murrte sie.
Tête-de-Mort schüttelte energisch den Kopf, als wolle er ihr widersprechen, und seine Augen verengten sich. Sie fühlte sich von ihm provoziert.
»Ich habe meinen Bruder verlassen und ihm den Tod beschert, um meine Freiheit zu finden. Ich bin es leid, Schutz zu benötigen, um so zu leben, wie ich es für richtig halte! Nur durch meine Worte war der Baske gezwungen, mich gehen zu lassen. Ich kenne den Kodex. Deshalb verdiene ich es, gleichberechtigt behandelt zu werden. Ich verdiene es, Kapitän eines Schiffes zu sein!« Sie schrie ihn an, um den Druck in ihrer Brust zu verringern, der sie bereits den ganzen Tag quälte.
»Was du ersehnst, ist unerheblich in dieser Welt, denn es gibt Mächte, die über dir stehen. Begreif das endlich.« Er ergriff ihre Schultern und sagte eindringlich: »Auch ich verriet meinen Bruder. Es hat mir nicht das eingebracht, was ich mir erhoffte. Ich habe dich nie gehalten. Was du als Fluch verurteilst, war gut gemeint.«
Sie stieß ihn von sich. »Das hilft mir nicht. Die Männer reden längst.«
»Es steht dir jederzeit frei zu gehen.« Er trat zurück.
Jacquotte horchte auf. »Du würdest mich gehen lassen?«
Seine grünen Augen waren kalt wie Stein. »Aye! Mir ist es genug, als Tod über das Meer zu segeln. Dein Fluch will ich nicht sein.«
Sie beobachtete ihn misstrauisch, während in ihrem Inneren widersprüchliche Gefühle miteinander kämpften. Die Fortune Noire war ihr ans Herz gewachsen. Sie kannte jeden Winkel in ihrem dicken Bauch, wusste, wo man seine Hängematte am besten aufhängte, um bei schwerem Seegang nicht unnötig herumgeworfen zu werden und konnte am Geräusch erkennen, ob es Rah- oder Gaffelsegel waren, die beim Kreuzen im Wind flatterten. Sie mochte die Männer an Bord, schätzte den redseligen Levache ebenso wie den einfältigen Crochu oder den groben Blair-Moche. Doch ganz besonders hing sie an Jan. Und mehr noch an Tête-de-Mort. Sie hatte ihn verletzt, und dieser Schmerz überlagerte selbst den ihrer Wunden, aber sie erkannte auch, dass sie kurzsichtig gewesen war. Jan hatte recht. Ihre Anwesenheit würde über kurz oder lang seinem Ansehen schaden und es bestand die Gefahr, dass die Mannschaft ihn absetzte. Wenn sie einen Funken Mut in sich hatte, dann musste sie gehen. Es war die einzige Möglichkeit, den Brüdern und dem Schiff ihren Kapitän wiederzugeben und sich zu beweisen, dass sie stark genug war, um alleine in der Welt der Bruderschaft zurechtzukommen. Sie würde den Tod ziehen lassen und von vorne beginnen.
»Wenn wir das nächste Mal in Cayone einlaufen, werde ich nach dem Landgang nicht wieder auf die Fortune Noire zurückkehren«, erklärte Jacquotte bestimmt und wartete auf eine Reaktion. Tête-de-Mort zuckte kurz die Schultern. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.
»Abgemacht«, murmelte sie nach einer Weile und stapfte davon. Sie spürte seinen Blick im Nacken, aber entgegen ihrer Erwartung ließ er sie wortlos ziehen. Rasch überlagerte Unsicherheit ihre spontane Entscheidung. Zu deutlich hatte sie seine Verabschiedung von vergangener Nacht im Ohr. Sie zögerte. Ein Teil von ihr wollte sich umdrehen und ihm all das sagen, was sie vor langer Zeit um ihrer selbst willen gelernt hatte zu unterdrücken, aber der andere Teil zwang sie vorwärts. Jacquotte atmete durch, hob ihren Kopf und ging weiter.
Als sie einige Tage später die Cayamanes Inseln hinter sich ließen, kündeten die dunklen Wolken am Horizont bereits von den bevorstehenden Stürmen, die sich über der Île de la Tortue zusammenbrauten.
»Jérôme, mein alter Freund!« Michel Le Basque schlug dem Vorbeieilenden auf die Schulter. »Wie geht es Frau und Kindern?«
Jérôme nickte erfreut und blieb stehen. »Vortrefflich. Ich habe meinem Jüngsten gerade ein Pferdchen gekauft. Er wird vor Begeisterung jauchzen.« Er hielt dem Basken eine aus Elfenbein geschnitzte, handtellergroße Figur hin, deren Mähne derart filigran gearbeitet war, dass man glaubte, der Wind würde durch sie hindurch fahren. Michel Le Basque rümpfte die Nase.
»Dein Ruhestand bekommt dir«, rief er aus und klopfte Jérôme kameradschaftlich auf den voluminösen Bauch. Dieser bemühte sich zu lachen. Längst hatte er den vertraulichen Tonfall des Basken bemerkt und war vorsichtig.
»Du erinnerst dich an die Gebrüder Lormel?«, fragte Michel Le Basque prompt.
Jérôme sah ihn aufmerksam an. Der Anführer kam schnell zur Sache. Misstrauisch erwiderte er: »Aye! Wie könnte ich deine besten Kämpfer vergessen?«
»Schließt deine Erinnerung den Überfall bei den Perlenfischern mit ein?«
»Aye«, sagte er kurz angebunden, während der Baske ihn fixierte.
»Gut, denn ich bedarf deiner Unterstützung.«
Jérôme neigte den Kopf. »Meine Tage als Flibustier sind vorüber.«
»Das sehe ich wohl«, klagte sein Gegenüber. »Dennoch wüsste ich es zu schätzen, wenn du unsere Freundschaft über deine Trägheit stellst.«
Jérôme verschränkte die Arme vor der Brust. »Was sind deine Pläne?«
Michel Le Basque lächelte verschlagen. »Mir liegt daran, mein Ansehen zu stärken. Die Brüder beginnen, sich zu verselbstständigen. Der Kodex muss wieder in ihrem Gedächtnis verankert werden. Doch dieses rote Weib segelt nach wie vor unbescholten auf einem Schiff der Bruderschaft und zeigt ihnen, dass sie keine Konsequenzen zu fürchten haben. Durch ihre Hand erlitt L’Olonnais die Verletzungen, die ihn davon abhielten, in Richtung Süden zu segeln. Unsere Mission verzögert sich deutlich, und das macht Frédéric Deschamps de la Place ein wenig ungehalten. Er zählt auf seinen Major. Ohne nachweisbare Erfolge werden immer mehr Männer in eigener Sache losziehen, und der Kodex wird zu einem bloßen Gedanken verkommen, der an ruhmreiche Tage erinnert.«
»Du fürchtest um deine Macht«, stellte Jérôme fest.
Der Baske funkelte ihn an. »Aye! Ohne mich wird die Bruderschaft zu Staub zerfallen. Ich werde nicht dabei zusehen, wie ein Weib all das zerstört, was ich über die Jahre aufgebaut habe. Du wirst das ebenso wenig zulassen. Wir haben zu hart für all das gekämpft, Jérôme!«
»Was hast du vor?«, fragte er und versuchte, seiner Stimme einen folgsameren Klang zu verleihen.
»Ich werde sie auslöschen!« Der Baske sagte es leichthin.
»Zu welchem Zweck?« Jérôme unterdrückte seinen aufkeimenden Zorn.
Michel Le Basque musterte ihn. »Rührt das Weib dein Herz? Kennst du sie etwa?«
Er schüttelte den Kopf und sah zu Boden.
»Gut.« Der Baske nickte versöhnlich. »Es ist an der Zeit, ein deutliches Zeichen zu setzen. Sie hat mich vor meinen Männern bloßgestellt. Ich habe schon zu lange gewartet, um ihr diese Tat heimzuzahlen. Stünde sie nicht unter dem Schutz des Totenkopfs, wäre die Sache längst erledigt.«
»Sie ist Mitglied der Bruderschaft. Wie willst du ihren Tod anhand des Kodex rechtfertigen?«
»Erzähl mir nichts über den Kodex. Er ist zum Großteil mein Verdienst. Doch er muss wieder an Stärke gewinnen. Im Übrigen werde ich sie weder selbst töten, noch werde ich es wie eine Bluttat aussehen lassen. Wie Pierre Le Picard gesagt hat, ich werde den Mann gewinnen, der um ihre Schwächen weiß und ihn zu einem Verbündeten machen. Sie wird im Kampf sterben.«
Jérôme runzelte die Stirn. »Pierre Le Picard gab dir diesen Hinweis?«
»Aye!« Der Baske wirkte gedankenverloren. »Der Untergang der Fortune Noire wird Sinnbild für all jene werden, die es wagen, sich gegen den Kodex zu stellen! Frauen an Bord bringen Unglück. Erinnerst du dich etwa nicht, mein Freund?«
Er schwieg. All die Jahre hatte er geahnt, dass Jacquotte mit ihrer ungehörigen Idee von einem freien Leben scheitern würde. Dass er nun in die Pläne für ihren Tod hineingezogen wurde, missfiel ihm.
»Was ist los?«, murrte der Baske. »Bist du bereits derart überdrüssig, dass du Intrigen abgeschworen hast?«
»Ich kann es nicht gutheißen, dass du Brüder opferst, um die rote Jacquotte auszuschalten. Das hat nichts mehr mit der Bruderschaft zu tun, der ich einst beigetreten bin!«
»Sieh an, Jérômes Herz ist weich geworden.« Michel Le Basque entblößte seine Schneidezähne und grinste unheilvoll. »Sei nicht besorgt, alter Freund, sie wird die Einzige sein, die in den Tiefen des Meeres ihr seliges Grab findet. Tête-de-Mort steht in meiner Pflicht. Du weißt es und ich weiß es. Geh und überzeuge ihn davon, dass er mir Tribut zollt. Es soll euer beider Schaden nicht sein. Die Fortune Noire ist verbraucht. Wen kümmert es, wenn sie in tausend Stücke gesprengt wird? Der Totenkopf und seine Mannschaft werden ein neues Schiff erhalten. Das gelobe ich, so wahr ich der Anführer der Bruderschaft bin!«
»Warum betraust du mich mit dieser Aufgabe?«
»Nach allem, was passiert ist, wird er dir mehr vertrauen als mir. Der alten Zeiten wegen wird er dir zuhören, und wenn er erkennt, dass du nach wie vor hinter mir und dem Kodex stehst, wird er auf meinen Vorschlag eingehen und verstehen, dass es nur eine ehrbare Möglichkeit für ihn gibt. Bring ihn dazu, hörst du?«
Jérôme starrte zu Boden. Sein Leben lang war er ein pflichtbewusster Flibustier gewesen. Er hatte im Namen der Küstenbrüder geraubt und getötet. Doch es war nicht mehr seine Welt, von der der Baske sprach. Trotzig schob er das Kinn vor.
»Wenn dir deine Familie lieb ist, dann tust du, was ich dir sage!« Es war, als ahnte der Baske seinen unausgesprochenen Widerstand.
Jérôme zuckte zurück, als sei er geschlagen worden. Michel Le Basque, den er stets als Freund und nicht als Anführer angesehen hatte, drohte ihm offen. Die Demütigung machte ihn rasend. Er wollte nach seinem Messer greifen, bis ihm einfiel, dass er unbewaffnet in die Stadt gekommen war. Zornig ballte er die Hände zu Fäusten und spürte mit einem Mal das Pferdchen, das er immer noch hielt. Er sammelte sich. Seine Söhne, Cajaya, Manuel. Der Gedanke, dass ihnen etwas zustoßen könnte, setzte ihm zu. Er atmete aus und sammelte sich.
»Wenn das dein Wille ist«, murmelte er und erstickte beinahe an den eigenen Worten. Der Baske nickte wohlwollend.
»Aye! Allein dieser Wille hält uns zusammen. Wir können nicht dulden, dass die Engländer zusehends an Macht innerhalb der Inseln gewinnen. Wir sind die Bruderschaft. Das ist unsere Welt. Nun geh! Ich erwarte Nachricht, sobald du mit Tête-de-Mort in Kontakt getreten bist.« Michel Le Basque drehte sich um und ließ Jérôme in der Seitengasse zurück, in der er ihm begegnet war.
Sachte kratzte sich Jérôme die schuppige Haut unterhalb seines Barts, bevor er mit gewaltigen Schritten davon stapfte. An diesem Morgen war er gutgelaunt in die Stadt gekommen, doch nun spürte er die unregelmäßigen Schläge seines Herzens und fragte sich, ob sie von der Anstrengung herrührten oder dem Gespräch mit Michel Le Basque. Seine Lungen hoben und senkten sich in der warmen Luft und er glaubte, den Weg nach Hause nicht mehr zu schaffen. Ärger und Sorge vermischten sich und erschwerten ihm das Atmen. Seine Gedanken kreisten. Nie hätte er geglaubt, dass ihn die Vergangenheit mit einem Schlag wieder einholte, und dass es dabei ausgerechnet um die Gebrüder Lormel gehen würde. Er seufzte. Es waren tragische Figuren. Als Halbwüchsige trafen sie in der Neuen Welt ein, und wären sie nicht auf den Basken getroffen, hätten sie sich vermutlich als Knechte verdingen müssen. Was das bedeutete, wusste Jérôme nur zu gut. Nicht wenige Herren misshandelten ihre Untergebenen derart, dass diese den erlösenden Freitod als einzigen Ausweg aus ihrer misslichen Lage wählten. Doch Nicolas und Philippe Lormel wurden zu Brüdern der Küste. Ihr Mut war sagenhaft. Sie kämpften ungestüm, wenn es darum ging, sich trotz ihrer damals geringen Größe gegen kräftigere Gegner zu behaupten. Dennoch hätten sie verschiedener nicht sein können. Während Nicolas ein schweigsamer und zäher Knabe war, der sich außer gegen Feinde vor allem gegen ein gefräßiges Geschwür unterhalb der Nase zur Wehr setzte, war Philippe bereits in jungen Jahren ein Kerl im Format von Michel Le Basque. Standen sie Rücken an Rücken, traute sich nicht der kühnste Bootsmann an sie heran. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mit ihren Dickschädeln aneinandergerieten. Der Überfall auf die Perlenfischer brachte den endgültigen Eklat. Philippe blieb über Wochen mitsamt der erbeuteten Prise verschollen. Vermutungen wurden laut, die Spanier hätten ihn erwischt, was Nicolas in tiefe Trauer stürzte. Erst zwei Monate später erfuhr Michel Le Basque, dass sich Philippe nach Kuba zurückgezogen hatte, wo er nahe der Stadt Los Cayos sein Unwesen trieb. Weshalb er der Bruderschaft entsagt und dafür seinen jüngeren Bruder im Stich gelassen hatte, blieb ein Geheimnis. Der erzürnte Baske verlangte Genugtuung von Nicolas und ließ ihn tagelang an einen Baum binden. Peitschenhiebe sollten ihn gefügig machen. Nie würde Jérôme den Anblick des gemarterten Jungen vergessen, der mehr tot als lebendig zu Boden fiel, als man ihm die Fesseln durchschnitt. In diesem Zustand schwor er dem Basken ungebrochene Treue und lebenslangen Gehorsam. Philippe Lormel wurde gebannt und Michel Le Basque verkündete, dass er ihn nie wieder auf der Île de la Tortue zu sehen wünsche. In den darauffolgenden Jahren kamen die Geschwister nicht wieder zusammen. Philippe trieb Handel mit den Holländern, scharrte abtrünnige Brüder um sich, um gegen den Basken zu intrigieren und machte die Inseln über dem Winde zu seinem Refugium. Nicolas dagegen wählte unbekannte Routen und Ziele, kam jedoch stets mit reicher Beute zurück und wurde über die Jahre zu jener düsteren Gestalt, der er seinen Namen verdankte: Tête-de-Mort.
Jérôme rieb sich die Stirn. Die Erinnerungen ermüdeten ihn. Er musste handeln! Das Leben von Jacquotte war in Gefahr, und er durfte nicht zulassen, dass ihr etwas zustieß. Gleichgültig wie sehr er ihren Eigensinn verabscheute, sie blieb Émiles Kind. Gefolgsbrüder bis in den Tod. Er würde diesen Schwur nicht brechen. Doch er wusste nicht mehr, wem er vertrauen konnte. Wäre Pierre vor Ort, hätte er sich den Burschen sofort zur Brust genommen, um herauszufinden, ob die Worten des Basken der Wahrheit entsprachen. Aber Pierre war anstelle von François L’Olonnais gen Nueva Venezuela gesegelt, um vor der Küste spanische Gefangene zu machen. Jérôme grübelte. Es war in der Tat merkwürdig, ihn derart eilig aufbrechen zu sehen, obwohl die Kunde herumgereicht wurde, die rote Jacquotte läge im Sterben. Hatte der Junge etwas mit der Verschwörung zu tun? Jérôme biss die Zähne aufeinander. Wie vertrauenswürdig war im Gegenzug Tête-de-Mort? Er würde jemanden bestechen müssen, um rechtzeitig zu erfahren, wenn die Fortune Noire Kurs auf Cayone nahm. Bis zu ihrem Eintreffen musste er entscheiden, wem er sein Vertrauen entgegenbrachte. Das Wohl seiner Familie hing davon ab.
François L’Olonnais hielt Abstand zu dem beleibten Mann, der sich keuchend die Straßen bergauf kämpfte. Seine Gier nach Rache war um vieles größer als die des Basken, den er derart verachtete, dass es all seine Reserven freisetzte. Er wäre Jérôme ohnehin gefolgt, selbst wenn ihm der Baske nicht den Auftrag dazu erteilt hätte. Doch auf diese Weise konnte er sein Vorhaben besser umsetzen. Er gab vor, die Befehle zu befolgen und handelte ausschließlich im Eigeninteresse. Denn im Gegensatz zu Michel Le Basque verfügte er über Wissen, welches ihm einen unschätzbaren Vorteil einbrachte. L’Olonnais lächelte. Der Baske glaubte, er sei sein Handlanger, aber in Wahrheit zog er im Hintergrund die Fäden. Dafür würde er Remi stets dankbar sein. Der gut gebaute Mann war ihm zum richtigen Zeitpunkt in die Arme gelaufen.
L’Olonnais kannte die Krankheit des Herzens, die ganz offensichtlich auch in ihm schlummerte. Remi stammte von Tierra Grande. Er hatte unter den Bukanieren gelebt und verfügte über wertvolles Wissen. L‘Olonnais hatte ihm all die Informationen entlockt, die er benötigte, um entsprechend zu handeln. Wenn der Baske nur wüsste, wen er da um einen Gefallen bat! Jérôme und Jacquottes Vater waren Gefolgsbrüder gewesen. Er hatte für die rote Peitsche gesorgt und kannte sie seit ihrer Kindheit. Es war folglich nur eine Frage der Zeit, bis Jérôme sich mit dem roten Weib traf, um sie zu warnen. L’Olonnais rieb sich die Hände. Der Gedanke an die bevorstehende Rache erregte ihn. Dieses Mal musste er sich in Acht nehmen. Mit einem Schuss aus dem Hinterhalt würde er sie an der Flucht hindern. Anschließend wollte er sie mit Messern traktieren, bis sie sich wie ein Wurm wand und ihn um Gnade anflehte. Die Vorstellung ließ ihn erzittern. Seine Narbe am Hals pulsierte, und der Schmerz erinnerte ihn daran, welche Schmach sie ihm zugefügt hatte. Seit er unter dem Namen L’Olonnais bekannt war, war es niemandem mehr gelungen, ihn derart zu verwunden. Die Heilung war noch nicht abgeschlossen und hatte ihn viel wertvolle Energie gekostet. Der Plan des Basken würde ihn um das Vergnügen bringen, die rote Jacquotte sterben zu sehen und sich durch ihren Tod endgültig zu regenerieren. Das konnte er nicht zulassen! Der Bruderschaft war bedeutungslos für ihn. Ebenso wie die Engländer, vor denen sich der Baske so ängstigte. Hatte er erst das Weib erledigt, war er wieder in der Lage, in See zu stechen und den Überfall auf Maracaibo voranzutreiben. Er wollte dem Basken beweisen, dass es auch ohne Einhaltung des Kodex einen Zusammenhalt der Flibustier gab. Solange sie ihn fürchteten, würden sie ihm folgen!
Bedrohliche Wolkenberge türmten sich am Himmel auf, als die Fortune Noire zwei Tage später in den Hafen von Cayone einlief. Die Mannschaft war unruhig.
»Er is‘ noch nie einem Unwetter entgegengesegelt«, murmelte Jan mit besorgtem Blick.
»Noch nie nicht«, wiederholte Blair-Moche beklommen, und Jan nickte bestätigend.
»Wenn das mal kein schlechtes Omen ist!« Crochu spuckte über die Schulter, während Blair-Moche eine Münze über Bord warf, um Duppy, den Geist, der die Seelen auf den Meeresgrund zog, zu besänftigen. Jan indes bekreuzigte sich dreimal.
Jacquotte hielt bei ihrer Arbeit inne und beobachtete die Schaumkronen auf den Wellen. Im trüben Licht wirkte die geschützte Hafenbucht wenig einladend. Starke Böen peitschten die ufernahe Vegetation und einzig Möwen und Fregattenvögeln genossen es, ihre Schwingen auszubreiten und akrobatische Flugmanöver zu vollführen. Die Mannschaft kämpfte beim Bergen der Segel mit den Einholern, und ein Mann fiel bei dem Versuch, ein verklemmtes Segel freizubekommen, beinahe vom Bugspriet.
»Ich versteh‘ nicht, warum er Tortue anläuft«, murmelte Jan und sah Jacquotte aus zusammengekniffenen Augen an. »‘S gibt nichts zu verprassen oder umzusetzen.«
Er beobachtete die drei Schweine, die unsicher über das Deck taumelten. Sie verstand seinen unausgesprochenen Vorwurf. Kein Schiff kehrte ohne volle Taschen und leere Mägen in den Heimathafen zurück. Sie ignorierte ihn, während sie gemeinsam mit Crochu das verklemmte Rahsegel einholte. Sie würde diese alltäglichen Arbeiten vermissen. Bewusst versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, obwohl es ihr dabei nicht gut ging. Weder sie noch Tête-de-Mort hatten den Männern bislang offenbart, dass dies ihr letzter Tag auf der Fortune Noire war. Mit bangem Blick sah sie nach Cayone hinüber und fragte sich, ob L’Olonnais sie bereits erwartete. Sie hoffte, dass ihm seine Verletzungen ebenso zusetzten wie ihr und er keinen neuerlichen Versuch wagte, sie anzugreifen. Gleichwohl beschlich sie ein unbehagliches Gefühl. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob die Worte von Tête-de-Mort, Jérôme und Pierre nicht nur Gerede, sondern ernst zu nehmende Ratschläge gewesen waren. Brauchte sie Schutz? Jacquotte reckte ihr Kinn. Unsinn, schalt sie sich selbst, sie war die rote Peitsche! Es war ihr nicht bestimmt, vor den Männern zu kuschen. Dennoch empfand sie Furcht, als die Fortune Noire Anker warf und die Beiboote längsseits geholt wurden. Während die Ersten eilig die Strickleitern hinabließen, um vor dem Losbrechen des Sturms das sichere Land zu erreichen, verharrte Tête-de-Mort breitbeinig am Ruder und brüllte den Befehl über Deck, das Schiff unbewacht zurückzulassen. Der Wind zerrte an seiner Kleidung und löste das Haarband, sodass ihm die schwarzen Locken um den Kopf flogen. Mit der linken Hand drückte er sich den Dreispitz gegen die Brust, während die rechte das Steuerrad hielt. Er sah aus wie ein rachsüchtiges Meeresungeheuer. Jacquotte starrte ihn an. Seit ihrem Streit hatten sie kaum miteinander gesprochen, und mehr denn je fehlten ihr die Worte, um ihm zu sagen, wie schwer es ihr fiel, die Fortune Noire zu verlassen. Ihn zu verlassen.
Als die Wolken ihre Schleusen öffneten, war es, als wenn die Natur für sie die Tränen vergoss, die ihr nicht vergönnt waren. Sie beobachtete die Beiboote, die sich durch die Regenwand kämpften und im undurchsichtigen Grau verschwanden. Als ein Blitz die Umgebung für kurze Zeit aufhellte, erkannte sie, dass er sich den Dreispitz aufsetzte und mit langen Schritten auf sie zuhielt. Trotz der Schaukelbewegungen des Schiffs überquerte er die Distanz zwischen Quarterdeck und Fockmast ohne ein Zeichen von Unsicherheit. Er blieb eine Armlänge vor ihr entfernt stehen, und das Prasseln des Regens übertönte nahezu seine Stimme.
»Es steht mir nicht zu, deine Entscheidung zu richten«, rief er, »aber solltest du je Hilfe benötigen, hinterlass mir eine Nachricht unter der gefallenen Palme auf der Nordseite der Île de la Gonaïve!«
Jacquotte lächelte trotz ihres Kummers. »Du weißt, ich kann nicht schreiben«, antwortete sie, und der Donner grollte über ihren Köpfen, als wolle er sie verspotten.
Tête-de-Morts Schultern zuckten kurz. Dann griff er unter sein Hemd und riss etwas von seinem Hals. Beim nächsten Blitz erkannte sie, dass er ihr eine Kette reichte. Sie fasste nach dem schweren Anhänger, der noch warm von seinem Körper war. Weitere Blitze offenbarten ihr ein sternenförmiges Kreuz, an dessen Ende eine goldene Taube hing, deren Schnabel im Sturzflug nach unten zeigte.
»Leg das unter die Palme«, erklärte er ihr. Die Berührung seiner Hand brannte wie Feuer, und Jacquotte glaubte, es müsse eine Narbe zurückbleiben.
»Woher weißt du, wo ich zu finden bin?« Sie ließ zu, dass er ihr die Kette um den Hals legte und sich dabei vorbeugte, um das Lederband im Nacken zu verknoten. Ihre Wangen streiften sich. Sie registrierte das nasse Seidentuch, das sein Geschwür verbarg.
»Ich werde dich finden.« Seine Finger bewegten sich über ihre Haut, während er das Band straffte. Jacquotte zog die Luft ein. Der Regen kühlte ihren Körper, doch ihr Innerstes glühte. Sie ergriff seinen Unterarm und zwang ihn, zu verharren. Ihre Blicke trafen sich. Sachte umfasste er ihr Gesicht. Sie presste sich an ihn, spürte die Muskeln unter seinem Hemd und das Pochen seines Herzens. Seine Arme umschlossen sie fordernd. Vorsichtig barg sie ihren Kopf an seiner Schulter, atmete seine feuchte Haut und genoss die unerwartete Nähe. Ihre Hände krallten sich in seinen Rücken. Sie küsste scheu seinen Hals, hörte sein zustimmendes Brummen und fühlte seine Hände gleichsam auf ihrem eigenen Körper, wobei er sorgsam darauf bedacht war, ihre Verletzungen nicht zu berühren. Mutig fuhr sie unter sein Hemd. Sie spürte wulstige Narben und weiches Brusthaar. Sein Atem an ihrem Ohr brachte ihren Unterleib in Wallung. Sie wollte mehr, so unendlich viel mehr! Sie wollte, dass er all die Dinge mit ihr tat, die nur ein Mann einer Frau antun konnte. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was war nur mit ihr los? Sie wünschte sich, anerkannt zu werden und benahm sich wie eine Dirne! Die Erkenntnis lähmte sie. Für einen Moment hielt sie inne. Doch dieser reichte aus, um Tête-de-Mort die Umarmung lösen zu lassen. Der Regen füllte die Lücke, die zwischen ihnen entstand. Je weiter er von ihr abrückte, desto größer wurde die Leere in ihrem Herzen. Sie drehte hilflos die Handflächen nach oben und sah ihn an. Seine Augen lächelten wissend.
»Geh jetzt«, befahl er und brachte sie in die Realität zurück. Der Donner krachte, und sie fuhr herum. Das Wellental, in dem sie sich gerade befanden, ließ die herannahenden Beiboote beinahe über die Reling schießen. Blitze schossen aus den tiefhängenden Wolken, und die Männer zogen instinktiv ihre Köpfe ein. Jan und Levache umklammerten mit aller Kraft die Seile, die ihnen die Ruderer zuwarfen.
»Alle Mann in die Boote«, schrie Jan in das Heulen des Windes hinein. »Zo vlug mogelijk!«
»Männer, `s wird ernst, er redet holländisch«, scherzte Levache trotz der Anstrengung und stemmte seine Beine routiniert gegen die Balustrade.
Die Männer drängten heran. Zu gewaltig waren die Wassermassen, die in den Hafen drückten, zu unheimlich das Schauspiel über ihren Köpfen. Jacquotte fiel in eines der Beiboote, bevor eine mächtige Welle darüber hinweg schwappte. Hustend klammerte sie sich mit einer Hand fest, während sie mit der anderen zupackte, um weitere Männer in das schaukelnde Gefährt zu ziehen. An Deck der Fortune Noire glaubte sie, seinen Schatten auszumachen. Sie spürte das Gewicht der Kette um ihren Hals und blinzelte Wasser aus den Augen. Das Boot tanzte auf seinem Weg zum Hafen über die Wogen, und die Fortune Noire verschwand im tosenden Dunst aus ihrem Blickfeld. Jacquotte umfasste das Kreuz. Ihr Schicksal lag nicht länger in seiner Hand.
Währenddessen rutschte Jérôme unsicher über die aufgeweichten Straßen. Das Unwetter nahm stetig an Stärke zu, und er verachtete sich dafür, dass er im Auftrag des Basken in sämtlichen Tavernen nach Tête-de-Mort Ausschau hielt, anstatt sich daheim um seine Familie zu kümmern. Ihm war bewusst, dass Cajaya im Zweifel besser als er darüber Bescheid wusste, wie man sich bei einem Hurrikan zu verhalten hatte, schließlich stammte sie von den Inseln. Aber sein Jüngster weinte, wenn es donnerte, und Jérôme sehnte sich nach seinem bequemen Schaukelstuhl, auf dem er für gewöhnlich saß, um seinen Sohn in den Schlaf zu wiegen. Der Donner hallte durch die Gassen. Sturzbäche ergossen sich von den Dächern und spülten allerlei Unrat zwischen seine Beine. Entschlossen zog er den Mantel fester um sich, um seine Pistolen vor der Feuchtigkeit zu schützen. Er fluchte. Was hatte den Totenkopf bei diesem Wetter bloß auf die Insel getrieben? Jeder, der über Verstand verfügte, wäre vor dem Sturm davongesegelt, anstatt mitten hinein zu fahren.
Sein Späher berichtete, dass Tête-de-Mort direkt von den Cayamanes Inseln kam, wo er auf Schildkrötenfang gewesen war. Umso mehr erstaunte es Jérôme, dass er nicht in südlichere Gefilde aufgebrochen war, um Beute zu machen, sondern auf die Île de la Tortue zurückkehrte. Er hatte erst in einigen Wochen mit dem Eintreffen des Totenkopfschiffes gerechnet. Sein plötzliches Auftauchen brachte ihn in eine unangenehme Situation. Er hatte sich gewünscht, mit Pierre sprechen zu können, um seine Bedenken gegen ihn auszuräumen und ihn um Rat zu bitten. Stattdessen befand er sich weiterhin im Ungewissen und war um des Wohls seiner Familie willen gezwungen, Tête-de-Mort zu finden.
Wütend stieß er die Tür zum ‚Antre Borgne‘ auf, und ein Schwall übler Luft schlug ihm entgegen. Sämtliche Einwohner von Cayone schienen sich in der größten Taverne am Ort verschanzt zu haben. Über offenem Feuer trockneten nicht nur nasse Gewänder, sondern brutzelten Schweinehälften und schlecht gerupfte Buschhühner. Durch das morsche Holz der Fenster drang Wasser ein und weichte den gestampften Boden auf. Dicht an dicht drängten sich die Männer um die Tische, lehnten an den Wänden oder schnarchten bereits zwischen den Tischen. Frauen mit blutroten Lippen lockten diejenigen, die nicht zu betrunken waren, in die oberen Stockwerke. Über allem wachte der Wirt, der keinen besonderen Ruf genoss. Er war bekannt dafür, jenen guten Kredit zu gewähren, die wiederum bekannt dafür waren, ihn nicht zurückzahlen zu können. Seine Schuldner verkaufte er skrupellos als Knechte. Jérôme betrat das ‚Antre Borgne‘ so gut wie nie, doch da er Tête-de-Mort in den anderen Tavernen nicht vorfand, war es seine letzte Hoffnung.
Er sah sich um. Der Raum war zu voll, um einzelne Gesichter zu erkennen. Grob packte er einen der Umstehenden am Kragen und fragte nach dem Totenkopf. Der Angesprochene deutete mit dem Kinn in eine düstere Ecke. Jérôme ließ ihn los, besorgte sich zwei Becher Rum und kämpfte sich ins Dunkel vor. Eine heruntergebrannte Kerze flackerte auf dem Tisch und warf tanzende Schatten auf die Gestalt von Tête-de-Mort. Der Knochen, der die offene Höhle umrandete, die einst seine Nase gewesen war, leuchtete bleich im Schein des Feuers. Wie erstarrte Wellen runzelte sich seine Haut zu den Ohren hin, als fliehe sie vor dem schwarzen Tumorgewebe, das sich unaufhaltsam ausbreitete. Er bot keinen angenehmen Anblick, aber Jérôme musterte ihn aufmerksam, um jede Gemütsregung mitzubekommen.
Der Totenkopf war mit seinen Gedanken weit weg. Er umklammerte eine Flasche, die vor ihm auf dem Tisch lag, und deren Inhalt bedächtig die kleine Lache füllte, die sich neben ihr gebildet hatte. Das Tuch, mit er für gewöhnlich sein Gesicht schützte, lag zerknüllt in seiner Hand. Sein Blick war trüb. Kein Gast wagte sich in die Nähe des unheimlichen Mannes, und so war der Stuhl ihm gegenüber als einziger frei. Jérôme zog ihn zum Tisch heran und setzte sich. Tête-de-Mort reagierte nicht.
»Nicolas?« Jérôme sprach ihn bewusst mit dem Namen seiner Kindheit an und hatte damit Erfolg. Die grünen Augen fixierten ihn, und am erstaunten Zwinkern erkannte er, dass der Totenkopf in die Wirklichkeit zurückkehrte.
»Wir sehen nicht mehr aus wie einst«, bemerkte er und schob ihm einen Becher hin.
»Jérôme.« Tête-de-Mort nickte müde. »Was treibt dich an diesen verfluchten Ort?«
»Nicht mein freier Wille, soviel steht fest«, murrte er und sah sich misstrauisch um.
»Das verbindet uns. Du bist auf der Île de la Tortue ansässig?«
»Aye! Mir gehört eine Tabakplantage in der Nähe von Le Ringot. Habe Frau und Kinder dort.«
Jérôme glaubte ein kurzes Funkeln in Tête-de-Morts Augen zu erkennen, doch es war so schnell wieder verschwunden, dass er nicht zu sagen vermochte, ob es Einbildung gewesen war.
»Dann frage ich mich, was dich bei diesem Wetter hierher verschlägt. Du solltest bei deiner Familie sein.«
»Aye.« Jérôme beobachtete ihn. Er war sich nicht sicher, ob er ihm trauen konnte. »Ich komme nicht freiwillig.«
Tête-de-Mort kniff die Augen zusammen. »Michel Le Basque?«
»Aye.«
Der Totenkopf fletschte die Zähne. »Ich habe mich schon gefragt, wann er an meinen Gehorsam appellieren will. Nenn mir seine Forderung!«
Jérôme trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Er war nervös.
»Der Baske war sehr vage, was die Details angeht, aber er braucht deine Hilfe bei der Vernichtung der roten Jacquotte.«
Tête-de-Mort blieb ungerührt. »Was waren seine genauen Worte?«, fragte er.
Jérôme rang nach Atem. Die Luft im Schankraum war zäh wie Honig und verklebte ihm die Lungen.
»Sein Plan ist es, die Fortune Noire zu versenken. Offenbar will er euch in einen Hinterhalt locken, um es nach einem spanischen Überfall aussehen zu lassen. Während der Kampfhandlungen soll die rote Jacquotte sterben und dein Schiff auf den Meeresgrund gebombt werden.«
Tête-de-Mort lachte. »Nur ein Narr kann so einen Plan aushecken! Will er in Zukunft auch alle Schiffe versenken, auf denen Indianer und Mohren unterwegs sind? Der Kodex ist tot und Michel Le Basque ist sein Mörder! Das, woran wir einst glaubten, hat er beerdigt, um seine Autorität zu festigen. Wann wurde das letzte Mal ein Mann wegen Totschlags an einem Bruder erschossen? Der Baske richtet nicht mehr über die, die ihm von Vorteil sind, sonst wären die Tage von L’Olonnais längst gezählt!« Er schnaubte und sah Jérôme argwöhnisch an. »Unterstützt du seinen Plan?«
Jérôme hielt seinem Blick länger stand als nötig. »Du erinnerst dich an Émile Delahaye, meinen Gefolgsbruder?«, fragte er statt einer Antwort.
Tête-de-Mort nickte, und Jérôme holte Luft. Er riskierte viel.
»Émile Delahaye ist Jacquottes Vater. Ihre Mutter war die Indianerfrau, die ihm Michel bei dem Überfall auf die spanische Silbergaleone zugestand.«
Tête-de-Mort senkte den Blick. Es war unmöglich zu sagen, was hinter seiner entstellten Miene vor sich ging. Jérômes Nervosität nahm zu.
»Der Baske weiß nichts davon«, stellte Tête-de-Mort nach einer Weile fest. »Er hat dich in der Hand. Bedroht er deine Familie?«
Jérôme schwieg. Er wusste, dass ihm die Angst um seine Frau und seine Kinder ins Gesicht geschrieben stand. Der Totenkopf legte die Stirn in Falten.
»Zu welch verruchtem Teufel ist der Baske nur geworden? Ich will verdammt sein, aber hätte ich gewusst, zu welchen Taten er fähig ist, wäre ich nie in diesen Hafen zurückgekehrt.« Er trank den Rum aus. Jérôme schob ihm den zweiten Becher hin, der noch völlig unberührt vor ihm stand. Tête-de-Mort ergriff ihn hastig.
»Mein Bruder wollte nach seinen eigenen Regeln spielen. Des Basken war er überdrüssig, Ehre kannte er nicht. Gemeinsam mit De l’Isle wollte er ihn in die Knie zwingen. Er verdiente das Geschwür. Ich muss es tragen. Dem Basken mein Wort zu geben, damit er Philippe verschont, war der größte Fehler meines Lebens.« Tête-de-Mort kippte den zweiten Becher hinunter. »Ich danke dir für dein Vertrauen. Geh zum Basken und lass ihn wissen, dass du mit mir gesprochen hast. Ich werde ihn die nächsten Tage aufsuchen, um mit ihm zu verhandeln. Sei unbesorgt, deine Familie ist in Sicherheit.«
»Sie gehört ebenfalls zu meiner Familie. Ich will sie schützen!« Jérôme beugte sich vor.
»Das will ich ebenso«, entgegnete Tête-de-Mort, »Dennoch hat sie heute mein Schiff verlassen. Ihre Eigenwilligkeit entzieht sich jeder Kontrolle.«
Jérôme lächelte. »Ich bin erleichtert zu hören, dass sie noch dieselbe ist.«
»Aye.« Die Augen des Totenkopfs wurden sanft. Jérôme bemerkte es und wusste mit einem Mal, dass er seinem Kamerad trauen konnte. Er stand auf und schlug Tête-de-Mort dankbar auf die Schulter. Vielleicht lag es am Unwetter, aber an diesem Abend spürte er sein Alter.
»Sag mir eins: Wo ist sie in diesem Augenblick? Ich möchte sie sehen. Wer weiß, ob sich unsere Wege noch einmal kreuzen.«
»Ich denke, sie nimmt ein Bad«, brummte Tête-de-Mort.
Jérôme hielt inne. »Ein Bad?«, wiederholte er ungläubig.
»Aye.« Sie sahen sich an. Ihr nachfolgendes Gelächter erregte die Aufmerksamkeit der Gäste. Jérôme schüttelte amüsiert den Kopf. Es war beruhigend zu wissen, dass der rote Heißsporn einen Beschützer hatte.
Jacquotte knöpfte ihr Leinenhemd zu und griff nach der Weste. Beinahe hätte sie die rußende Öllampe umgestoßen, die dunkle Schlieren an der Mauer hinterließ und die Stockflecken überlagerte, die sich von der Decke bis zum Boden zogen. Die Luft war feucht, obwohl die Magd den Badezuber längst entfernt hatte. Am liebsten hätte sie das Fenster aufgerissen, aber die Windläden waren von außen geschlossen worden, um das Eindringen von Wasser zu verhindern. Sie hörte, wie der Sturm an ihnen rüttelte. Der nasse Stoff verursachte Gänsehaut auf ihrem Körper. Für das Trocknen der Kleidung wollte die Wirtin extra Münze sehen, doch Jacquotte hatte abgelehnt. Sie wusste nicht, wie lange sie mit der Handvoll Achterstücke zurechtkommen musste, die sie bei sich trug. Ein Großteil ihrer Prise war an den inciseur gegangen, der in diesem Moment vermutlich in einer Taverne saß, sich volllaufen ließ und darauf wartete, dass eine Kaperfahrt an ihn herangetragen wurde. War er von Anfang an dabei, so stand ihm ein Teil der Beute zu, wenn er im Gegenzug die Mannschaft wieder zusammenflickte. Eine Fahrt wie die mit Tête-de-Mort, bei der jeder für sich den Wundarzt bezahlte, brachte ihm vergleichsweise wenig ein.
Jacquotte lief im Zimmer auf und ab. Sie fragte sich, bei welchem Kapitän sie anheuern sollte. Nur wenige Schiffe lagen derzeit im Hafen. Wenn sie Glück hatte, nahm sie ein Handelsfahrer mit. Sie überlegte, ob es ratsam war, Cayone den Rücken zu kehren und in Port Royal, fernab des Einflusses von Michel Le Basque, neue Kontakte zu knüpfen. Pierre hatte es gewagt und war erfolgreich gewesen. Sie schüttelte den Kopf und verdrängte den Gedanken an ihren Jugendfreund. Er war ihr kein Vorbild. Sie musste ihren eigenen Weg finden. Entschlossen hielt sie auf die Tür zu, vergewisserte sich, dass ihre Waffen geladen und einsatzbereit an ihrem Gürtel baumelten, und betrat den Flur. Sie hörte das Prasseln des Regens und bemerkte, dass die Tür im unteren Stockwerk offenstand. Ein Mann sprach gedämpft zu der Magd mit den üppigen Hüften. Jacquotte hielt inne. Die geschwungenen Gitterstäbe des Treppengeländers zogen sich durch seinen imposanten Rücken. Ein plötzlicher Windzug schlug die Tür ihres Zimmers ins Schloss und sie erstarrte. Der Besucher drehte sich um und sah zu ihr empor. Jérôme! Ihr stockte der Atem. Sie trat zwei Schritte zurück, bis die Wand ihren Rückzug abbremste. Ihre Finger krallten sich in den groben Stein. Sie hörte das Ächzen der hölzernen Treppe und sah sich hektisch um. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Als er den Treppenabsatz erreichte, wandte sie ihm den Kopf zu und entrollte die Peitsche.
»Beim Barte Neptuns«, stieß Jérôme hervor. »Du hast dich wahrlich verändert. Sie dich an! Émile wäre stolz auf dich.«
Sie spannte ihre Muskeln, bereit gegen ihn anzutreten. »Du hast dich auch verändert. Deine Frau füttert dich zu gut«, bemerkte sie mit Blick auf seinen Bauchumfang.
Jérôme grinste. »Aye! Dafür habe ich sie.« Er stockte. »Dann ist die Kunde, dass ich Frau und Kinder habe, bereits bis zu dir vorgedrungen?«
Jacquotte nickte. »Ich hörte davon.«
Sie belauerte seine Bewegungen, registrierte das Keuchen und die Hand, mit der er sich am Geländer abstützte. Er ist kein ernsthafter Gegner mehr für mich, stellte sie fest. Die Tatsache beschwichtigte sie. Bedächtig ließ sie die Peitsche sinken, wickelte die Enden um ihre Handgelenke und zog sie straff, so dass sie wie ein schützendes Schild vor ihrer Hüfte ruhte. Jérôme zwinkerte. Feuchtigkeit tropfte aus seinen Haaren und lief ihm übers Gesicht.
»Ich bin nicht mehr der Jüngste«, bekannte er. »Das ist der Grund, weshalb ich dich aufgesucht habe.«
»Wer hat dir gesagt, wo ich zu finden bin?« Sie reckte das Kinn, um in den unteren Raum zu spähen. Die Tür stand noch offen, und das Wasser der Straße schwappte hinein. Von der Magd fehlte jede Spur. Jacquotte beschlich ein ungutes Gefühl.
»Tête-de-Mort.« Jérôme hob die Hände, als er ihren Blick bemerkte. »Du hast nichts zu befürchten!«
Sie schnaubte. »Seit ich weiß, dass du Manuel ermordet hast, habe ich kein Vertrauen mehr zu dir.«
Jérôme verengte die Augen. »Manuel ermordet?«, fragte er. »Nicht doch. Ihm geht es gut. Er lebt bei mir, meiner Frau und meinen beiden Söhnen.«
Jacquotte sah ihn an. Es dauerte, bis seine Worte in ihr Bewusstsein drangen. Dann schossen Tränen in ihre Augen, und sie schluckte, bis der Kloß in ihrem Hals kleiner wurde.
»Er lebt?«, flüsterte sie.
»Manuel ist wohlauf, so wahr ich hier stehe!« Jérôme lächelte.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. All die Jahre war sie einem Irrtum erlegen. Erleichtert erwiderte sie Jérômes Lächeln.
»Dass ich ihn verschont habe, heißt nicht, dass ich guthieß, dass du dich davon gemacht hast«, murrte er. »Aber hol mich einer Kiel, du hast dir deinen Weg erkämpft!« Stolz schwang in seiner Stimme mit und brachte sie aus der Fassung. Betreten sah sie zu Boden.
»Jetzt, wo ich dein Ohr habe, lass mich dir etwas sagen.« Er senkte die Stimme, sah sich um und beugte sich zu ihr. »Michel Le Basque drängte mich beim Leben meiner Familie um einen Gefallen. Er will dich töten, Jacquotte.« Die direkten Worte katapultierten sie in die Realität zurück, und ließen sie aufhorchen. »Er schickte mich, um Tête-de-Mort davon zu überzeugen, ihm bei seinem Plan zur Seite zu stehen.«
»Ich verstehe nicht.« Sie fühlte sich betäubt. Zu lange hatte sie Jérôme nicht mehr gesehen, und nun offenbarte er sich ihr.
»Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Dein Vater hätte nicht alles von dir fernhalten dürfen.« Er zögerte.
Jacquotte tat einen weiteren Schritt auf ihn zu. »Erzähl du es mir! Erzähl mir von Émile.«
Jérôme war unruhig, sie sah es ihm an. Er spürte ebenfalls, dass etwas nicht in Ordnung war, doch im Eingangsbereich des Gasthauses blieb alles ruhig. Sie nickte ihm auffordernd zu.
»Dein Vater wurde als Émile Vigot in La Haye du Puits in der Normandie geboren. Seine Mutter endete als Hexe auf dem Scheiterhaufen. Alle nannten Émile das Teufelskind. Ich entdeckte ihn ausgehungert, fast erfroren und verängstigt im Wald. Ich brachte ihm ab und zu Essen. Als ich von daheim fortlief, nahm ich ihn mit. Sein Leid rührte mich. Ohne mich wäre er gestorben. Wir landeten in Cherbourg. Dort verdingte ich uns als Schiffsjungen auf einem Schoner der Kompanie der amerikanischen Inseln, der Schießpulver nach St. Christopher transportierte. Die Überfahrt war das Schlimmste für Émile, er war ständig krank. Man setzte ihm hart zu, und wenn ich nicht Michel d’Artigny kennengelernt hätte, der als Kanonier Dienst tat, dann wäre er vermutlich über Bord geworfen worden. Michel war ein Kämpfer und meine Freundschaft mit ihm sicherte Émile den nötigen Schutz zu, den ich ihm allein nicht hätte geben können. Aus Verbundenheit versprach ich Michel unsere Dienste. Nach der Ankunft in St. Christopher machten wir uns heimlich vom Schiff und folgten Michel. Er brachte uns nach La Española, an den Teil der Küste, der bis heute als Tierra Grande bekannt ist. So kam es, dass dein Vater und ich der Bruderschaft beitraten und Gefolgsbrüder wurden.«
Jacquotte schluckte. »Mein Vater war ein Feigling?«, fragte sie.
Jérôme schüttelte den Kopf. »Mais non! Émile war Émile. Er hatte ein mutiges Herz, aber ihm fehlte der Wille, es einzusetzen. Aufgrund seiner Vergangenheit wusste er zu schätzen, was ein voller Bauch und ein sicherer Schlafplatz bedeuten. Er verstand es, Schweine zu jagen, die Jagd auf die Spanier war nicht seine Welt. Als deine Mutter, Anani, zu ihm kam, verließ er Tierra Grande nicht mehr. Er war der fleißigste Bukanier, den du dir vorstellen kannst, und trieb stets Handel mit den Holländern.«
Jacquotte lächelte. »Aye, das war er. Wie war meine Mutter?«
Jérôme wich ihrem Blick aus. »Sie war eine wunderschöne Frau. Du siehst ihr ähnlich. Émile war vernarrt in sie.«
Sie beobachtete ihn. Er verschwieg ihr etwas, aber sie wollte nicht nachbohren. »Erzähl mir von Michel Le Basque«, forderte sie. »Weshalb hasst er mich derart?«
»Dafür musst du seine Geschichte kennen. Das Leben damals war anders als heute. Alles begann kurz bevor Émile und ich auf die Inseln kamen. Die Männer lebten in unorganisierten Gruppen zusammen. Es waren Schiffbrüchige, geflohene Gefangene, spanische Deserteure. Der Baske entdeckte diese Männer zufällig, als das Schiff, auf dem er seinen Dienst verrichtete, im Sturm vor La Española auf eine Sandbank geriet. Er lebte bei ihnen und schwang sich über die Zeit zu ihrem Anführer auf. Er schrieb Regeln nieder, die bis dahin nur mündlich unter den Männern galten. Durch seine Reisen war er bewandert in der Kunst der tataus und einte die Männer mit den Zeichen, die wir nur zu gut kennen. Es war eine kleine Flamme, die er entzündete und die innerhalb kurzer Zeit die gesamte Inselwelt in Brand steckte. Freiwillige folgten dem Ruf der Küstenbrüder, jeder kam mit anderen Sehnsüchten. Der Baske war klug und nutzte das aus. Er lockte die Männer zuerst mit der Aussicht auf ausreichend Nahrung, später mit der Aussicht auf Reichtum. Seine Strategie war einfach. Die Spanier fühlten sich sicher in ihren Gewässern und waren zu arrogant, um zu glauben, dass sie von Ruderbooten eingenommen werden könnten. Der Baske belehrte sie eines Besseren. Je mutiger und einfältiger die Männer waren, die er um sich scharte, umso größer war die Aussicht auf Erfolg. Wir waren nicht viele damals. Ein Boot fasste kaum mehr als dreißig bis vierzig Mann. Bisweilen trieben wir tagelang auf offener See, ohne etwas zu essen und mit nur wenig Wasservorräten. Es kommt der Punkt, an dem man nichts mehr zu verlieren hat und sich unerbittlich dem Feind stellt, weil es anschließend nur besser werden kann. Das war unser Leben. Wir waren Gefährten des Kampfes. Michel, Antoine Hantot, Émile, die Gebrüder Lormel, ich und noch viele andere, deren Namen heute keiner mehr erwähnt. Wir sind der Beginn der Bruderschaft.«
Jacquotte senkte den Kopf. »Ich wusste nicht …« Sie brach ab. »Émile rettete dem Basken einst das Leben.«
»Er weiß nicht, dass du Émiles Tochter bist und es würde mittlerweile auch keinen Unterschied machen. Du bist Sinnbild für all die Mächte, gegen die der Baske ankämpft. Die Welt befindet sich im Umbruch. Die Länder jenseits des Atlantiks interessieren sich mit einem Mal für die Westindischen Inseln. Die Machtstrukturen verändern sich und alte Herrscher greifen nach der Neuen Welt. Der Baske kämpft weiter, obwohl sich seine Gefährten längst verabschiedet haben. Er fordert zurück, was nicht mehr zu ändern ist.«
Das Heulen des Sturms gewann an Intensität.
»Wo wird mein Platz in dieser Welt sein?« Sie begegnete Jérômes Blick. Er streckte seine Hand aus und berührte ihre Wange. »Das kann ich dir nicht sagen, nanichi.«
Der vertraute Klang ihres Spitznamens ließ Erinnerungen wach werden.
»Weißt du, wo sich Pierre aufhält?«, erkundigte sie sich.
Jérômes Gesichtsausdruck war undurchdringlich. »Ich bin mir nicht sicher, ob man ihm noch trauen kann«, erwiderte er, und Jacquotte schluckte.
Ein Schatten zuckte an der Wand neben ihnen. Jemand befand sich im unteren Teil des Hauses! Jacquotte drehte den Kopf, während Jérôme sie an den Schultern packte und herumriss. Funken sprühten, ein lauter Knall folgte. Sie spürte, wie Jérôme zusammenzuckte. Dann verdeckte seine Brust ihr Blickfeld. Seine Hände krallten sich schmerzhaft in ihre Oberarme. Er stöhnte. Heftig zog er sie zu sich heran.
»Tête-de-Mort«, wisperte er. »Vertrau ihm!«
Jacquotte strauchelte. Jérômes Gewicht lastete schwer auf ihr. Sie versuchte, sich zu befreien, doch sein mächtiger Körper drückte sie beinahe zu Boden. Nur mühsam hielt sie sich aufrecht. Sein rasselnder Atem kam stoßweise. Mit der rechten Hand griff er nach seiner Pistole. Sie bemerkte Blut auf ihrem Hemd und sah ihn erschrocken an. Seine Augen flackerten. Er war getroffen worden!
»Kämpfe«, hustete er und wirbelte mit ihr herum. Sie zog instinktiv Pistole und Säbel und versuchte, den Feind auszumachen. Jérôme feuerte und schubste sie mit aller Kraft in Richtung Treppe. Im Flug registrierte sie, dass er eine weitere Pistole zückte und erneut schoss. Jacquotte prallte gegen die Wand und stürzte die Treppe hinab. Wie ein hilfloser Käfer schlitterte sie rücklings über die morschen Dielen. Bei dem Versuch, ihren Kopf zu schützen, verlor sie ihre Waffen. Sie fluchte und erkannte aus den Augenwinkeln Jean-David Nau, der in der Deckung des Geländers seine Pistole lud. Er erwiderte das Feuer, bevor sie etwas tun konnte. Hart schlug sie auf dem Steinboden auf. Kurzzeitig wurde ihr schwarz vor Augen. Als sie wieder zu sich kam, sah sie, dass Jérôme in sich zusammensackte. Jacquotte schrie auf. Jean-David wandte sich um, lächelte und kam auf sie zu. Seine Schritte hallten in ihren Ohren wider. Mit einer schnellen Bewegung zog er ein rostiges Messer. Ein weiterer Schuss überlagerte das Getöse des Unwetters. Jean-David wirbelte herum und hielt sich den Oberarm. Keuchend rappelte sie sich auf. Jérôme hatte sich am Geländer hochgezogen. Blut lief aus seinen Mundwinkeln. Ihre Augen trafen sich. Er nickte ermutigend. Jacquotte schnürte es die Kehle zu. Hastig humpelte sie zur Tür. Der Sturm peitschte den Regen fast waagerecht durch die Gasse. Sie warf einen letzten Blick über ihre Schulter. Jean-David legte an und feuerte. Sie stürzte ins Freie.
Zunächst rannte sie, dann wanderte sie ziellos umher. Ihre Kleidung hing schwer an ihrem Körper, und ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen. Jérôme! Sie hatte ihn verflucht, und nun weinte sie um ihn. Ihr Kampf, ihr Aufbegehren gegen ihn war sinnlos gewesen. Michel Le Basque war die Bruderschaft, er war es seit jeher. Alles, was sie sich je erträumt hatte, wurde mit dem Sturm aus ihrem Kopf gefegt. Sie würde niemals als Frau in der Bruderschaft segeln. Nicht, solange es Michel Le Basque gab. Nicht, solange es Jean-David Nau gab. Nicht, solange es Männer wie Bigford gab. Sie war machtlos gegen ihre Intrigen und wehrlos gegen ihren Hass. Ihr Einfluss reichte zu weit, ihre Demütigungen saßen zu tief, als dass sie allein dagegen anzukämpfen vermochte.
Jacquotte schluchzte auf. Sie war eine Hexe wie ihre Großmutter und verdammt dazu, unterzugehen. Ginge es einzig um sie allein, würde sie lieber kämpfen und dem Gegner ins Gesicht sehen, als ständig auf der Hut zu sein. Doch Jérôme hatte ihr von Manuel erzählt. Er war wohlauf. Wie froh sie darüber war! Er war ihr Bruder, ihr kleiner Schmetterling. Sie würde nichts tun, was ihn in Gefahr brachte. Das war sie ihm schuldig. Bei Jérômes Frau war er in Sicherheit und so sollte es bleiben. Keiner durfte je herausfinden, dass er ihre schwache Stelle war. Keiner sollte sie je mit ihm erpressen, wie Bigford es einst versucht hatte. Als sie den Hafen erreichte, blies ihr der Sturm beinahe die Füße unter dem Körper weg und nahm ihr den Atem. Wütend stellte sie sich ihm entgegen. Die Wellen schossen über die Kaimauer und streckten ihre gierigen Finger nach ihr aus. Jacquotte ging näher heran. Crochu hatte ihr von den Sirenen erzählt, die die Männer mit ihrem Gesang ins Wasser lockten, und sie fragte sich, was sie erwartete, wenn sie sich von den Wassermassen hinabziehen ließ. Duppy? Neptun? Ein unbekanntes Wesen? Sie erschauerte.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und hielt sie zurück. Tête-de-Mort! Sie warf sich in seine Arme.
»Du hast gewählt«, sagte er.
»Jérôme…« Sie zitterte und konnte nicht damit aufhören. »Jean-David hat auf ihn geschossen. Wo soll ich hin, Nicolas? Wo ist mein Platz?«
Er hielt sie fest. »Dein Platz ist bei mir. Die rote Jacquotte und der Tod. So war es die ganze Zeit.«
Sie lehnte sich erschöpft an ihn, aber er schob sie von sich.
»Er folgt dir«, bemerkte er angespannt und nahm ihre Hand. Gemeinsam stemmten sie sich gegen den Wind und bestiegen ein Beiboot. Das Meer riss an den Rudern, doch Tête-de-Mort gelang es, sie vom Ufer fort zu bringen. Vereint legten sie ihre Kraft in die Riemen. Jacquotte kam es vor, als verharrten sie auf der Stelle. Die Wellen drückten sie beinahe unter Wasser. Herausfordernd reckte sie ihr Gesicht dem Himmel entgegen und starrte die Blitze an. Die rote Jacquotte und der Tod. Das war ihr Schicksal.
François L’Olonnais sah ihnen hinterher. Er konnte nicht glauben, was geschah. Nicht die Tatsache, dass sie ihm erneut entkommen war, zerrte an seinen Nerven, sondern dass sie offensichtlich mehr Mut besaß, als jeder, den er kannte. Bei diesem Wetter auf das offene Meer hinauszusegeln, kam einem Selbstmord gleich!
Reglos verfolgte er das Setzen der Gaffelsegel. Fast geisterhaft durchschnitt das schwarze Schiff die Wogen. Noch schützte das vorgelagerte Riff seine Reise. L’Olonnais wischte sich das Wasser aus den Augen. Gewaltige Brecher markierten das Ende der Hafenbucht. Mit gebauschten Segeln hielt die Fortune Noire darauf zu. L’Olonnais hielt sich schützend die Hände vors Gesicht. Um ihn herum kreischte der Hurrikan. Palmenblätter, Äste, Bretter und heruntergerissene Kokosnüsse fegten über den menschenleeren Steg und wurden von den Wellen aufgefangen. Das Schiff verschwamm vor seinen Augen. Es bäumte sich auf, stellte sich seinem natürlichen Feind. Der Großmast brach unter der Wucht der schlagenden Takelage und die Segel zerrissen. Mit unmenschlichem Gebrüll fiel das hungrige Meer über die Fortune Noire her. Sie wehrte sich, kam wieder hoch und rollte zur Seite. Doch der Feind war da. Er zog an ihr und riss ihr die Planken auf. Ein letztes Mal zeigte sich der Bug, dann gab sie endlich nach. Eine mächtige Woge rollte heran, umarmte sie und zog sie mit sich. L’Olonnais spuckte aus. Es war vorüber.