Kapitel 1

Nordwestküste von La Española, Frühjahr 1656

 

Der Wind fegte die Wolken wie stolze Pferde über den Himmel, während Jacquotte landeinwärts ging. Die Männer waren losgezogen, um zu jagen und sie musste neue boucan herstellen, Holzgestelle, auf denen das Fleisch getrocknet und geräuchert wurde. Die frischen Äste schlug sie von den Blutholzbäumen, die in großer Ansammlung unweit der Siedlung standen. Der Pfad dorthin führte durch mannshohes Gestrüpp, und sie nutzte ihn stets, um mit ihrer Machete zu üben. Die Waffe wog schwer in ihrer Hand, aber sie ließ sie locker und ohne Zeichen der Anstrengung durch die Luft kreisen. Abrupt stach sie zu, drehte sich um die eigene Achse und bekämpfte imaginäre Angreifer. Sie war stolz auf ihre Geschicklichkeit und setzte jeden ihrer Schritte bedacht, damit sie nicht ins Straucheln geriet. Mit einem letzten kraftvollen Schlag zerteilte sie das Buschwerk, um freien Blick auf die Lichtung der rotbraunen Bäume zu haben, die sie gesucht hatte.

Ein Knacken im Unterholz ließ Jacquotte erstarren. Wachsam sah sie sich um. Ihre Nasenflügel bebten. Sie zwang sich, ruhig zu atmen, obwohl ihr das Herz in den Ohren pochte. Ihre Zehen gruben sich in die weiche Erde, und sie war gespannt wie ein Bogen, bereit sich zu verteidigen. Langsam drehte sie den Kopf in die Richtung, in der sie das Geräusch vermutete, und schob entschlossen ihr Kinn vor. Mit erhobener Machete machte sie einen Schritt nach vorne. Die Sehnen ihrer Arme spannten sich und sie spürte das Blut an ihrem Hals pulsieren.

In diesem Moment sprang ein schreiender Junge aus dem Dickicht, vollführte eine Reihe Purzelbäume und streckte Jacquotte schließlich die Zunge heraus. Der aufgewirbelte Staub tanzte durch die warme Luft und legte sich auf seine Haut, deren Farbe gleich der Bäume um sie herum war.

»Pierre! Zum Donnerkiel, du hast mich erschreckt!«, rief sie und drückte mit dem angestauten Atem auch ihre Anspannung aus den Lungen. Dann lachte sie, stützte ihre Hände auf die Knie und beugte den Rücken. Die hohe Luftfeuchtigkeit klebte ihr das Hemd an den Oberkörper. Beim Aufrichten fuhr sie sich mit der Hand über Mund und Stirn und bemerkte einen metallischen Geschmack. Vor Aufregung hatte sie sich gebissen und leckte sich ärgerlich über die blutige Unterlippe.

Pierre schlenderte auf sie zu und grinste.

»Was tust du? Du willst doch nicht etwa langweilige Frauenarbeit verrichten?«

Jacquotte stemmte die Hände in die Hüften und sah gereizt zu ihm empor. »Hüte deine Zunge, wenn sie dir lieb ist! Was machst du hier, solltest du nicht mit den anderen auf der Jagd sein?«

Pierres Grinsen wurde breiter. Er hob seine Muskete auf, die gut viereinhalb Fuß maß, und schulterte sie mit jugendlicher Lässigkeit. Erst jetzt gesellte sich auch sein gefleckter Hund zu ihnen und beschnupperte Jacquotte freundlich.

»Durch den Sturm sind die maringouins nicht so blutrünstig wie sonst und ich dachte mir, wir könnten einen Ausflug zu unserer Höhle machen«, schlug er vor.

Sie tat desinteressiert, obwohl es ihr schmeichelte, dass Pierre von ihrer Höhle sprach. Das klang nach einer besonderen Verbundenheit, obschon ihr bewusst war, dass er dort gerne saß und die vorbeiziehenden Schiffe beobachtete. Als sie nicht sofort antwortete, knuffte Pierre sie in die Seite und ging in Abwehrhaltung, denn er wusste nur zu gut um ihre Reaktionen.

Sofort hielt sie ihm die Machete unter die Nase und sagte: »D‘accord, ich gehe mit dir! Aber zuerst müssen wir Manuel holen. Und ich erwarte, dass du meinem Vater erklärst, warum ich ohne Holz für das boucan zurückkomme.«

»Dein Vater wird nichts sagen. Er ist sanftmütig wie eine Schildkröte. Erst vor kurzem sah ich, dass er das unbehütete Ei eines Buschhuhns fand, es mitnahm und den Haushühnern zum Bebrüten ins Nest legte. Dabei weiß doch jeder, dass das Küken wieder in den Busch läuft, wenn es das Geschrei seiner Sippe hört.«

»Er sorgt sich eben!« Jacquotte verteidigte ihren Vater, obwohl sie wusste, dass Pierre Recht hatte.

Als sie zurück zur Siedlung kamen, hörte man nur das Rascheln der Blätter im auflandigen Wind. Jacquottes Blick streifte die ajoupas, jene palmengedeckten Holzhütten, die großzügig verteilt in einer natürlichen Senke lagen. Limonenbäume spendeten Schatten und schützten die Gemeinschaft vor unerwünschten Spähern. Vereinzelt sah man Hunde, die in der Kühle selbst gegrabener Mulden dösten. Ansonsten rührte sich nichts. Um diese Tageszeit hielten sich nur die alten oder verletzten Männer in der Siedlung auf.

Ihr Vater saß entspannt vor einer der Hütten und ging seiner Arbeit nach. Neben ihm lag einem Schatten gleich sein alter, hellbrauner Hund, der ihn schon so lange begleitete, wie Jacquotte denken konnte. Er war grau im Gesicht, die Augen waren trüb, aber seine Nase funktionierte bestens und er bellte heiser auf. Sie hob den Arm zum Gruß.

Émile hielt inne und kniff die Augen zusammen. Er sah nicht gut auf die Distanz, aber die Gestalt seiner Tochter konnte er jederzeit ausmachen. Er war erfreut, sie zu sehen, und beobachtete ihr Näherkommen. Der Bronzeton der Haut, die hohen Wangenknochen, das rundliche Becken und die kräftigen Waden waren eindeutig das Erbe ihrer Mutter Anani. Mit einer vertrauten Geste strich sie das lockige Haar hinter die Ohren und atmete tief durch. An diesem Tag brachte der Wind salzige Meeresluft ins Landesinnere, die sich mit den herben Aromen der Limonen vermischte. Er wusste, dass dies auf Regen hindeutete. Seiner Tochter war das ebenso bewusst. Sie war in der Natur aufgewachsen und verstand die Zeichen zu deuten. Ihre Beine waren durch die Dornen zerkratzt, die jeden Tag ihren Weg kreuzten. Verblassende Schrammen bildeten mit den neuen ein bizarres Muster auf ihrer Haut. Eine auffallend breite, gezackte Narbe schlängelte sich quer über ihren linken Arm und verschwand unter dem Ärmel ihres Hemdes. Sie war ein Mahnmal für Jacquottes Übermut, entstanden bei einem ihrer Scheinkämpfe, als sie stolperte und sich mit der Machete den Arm aufschnitt. Émile schüttelte lächelnd den Kopf.

In diesem Moment brach die Sonne durch die Wolken und ließ Jacquottes dunkelrotes Haar aufleuchten. Die Männer sagten, es hätte das Blut aufgesogen, das die Mutter bei ihrer Geburt verloren hatte. Das Blut, mit dem Anani das Leben aus dem Körper geflossen war. Er wusste, dass niemand Schuld an ihrem Tod trug, aber die Sorgenfalten auf Jacquottes Stirn zeugten davon, dass hinter ihren großen Augen ein innerer Kampf tobte, den er nur erahnen konnte. Als sie mit energischen Schritten auf ihn zuging, verbarg er sein Lächeln hinter dem buschigen Bart. Im Gegensatz zu ihrem ansehnlichen Äußeren gab sich seine heranwachsende Tochter ansonsten jungenhaft. Nicht das erste Mal brachte sie ihm so zu Bewusstsein, dass das mütterliche Element in ihrem Leben fehlte. Und so sehr er es sich auch wünschte, es war ihm unmöglich, ihr diese Seite ihres Seins nahe zu bringen.

Jacquottes Begrüßung fiel aus, wie Émile es von ihr gewohnt war: Freundliche Worte und ein Nicken in seine Richtung waren alles, was er von ihr bekam. Gesten der Umarmung oder ein Kuss waren nichts, wofür sie etwas übrig hatte.

»Pierre geht zu den Pflanzern, um Fleisch gegen Tabak zu tauschen. Er bat mich um Hilfe, und wenn du einverstanden bist, werde ich ihn begleiten.«

Émile nickte zustimmend. Er konnte seiner Tochter nichts abschlagen, denn er wollte stets, dass es ihr gut ging. Außerdem war sie in Begleitung von Pierre unterwegs und das beruhigte ihn. Pierre war wie ein Sohn für ihn, und das lag nicht nur daran, dass seine Mutter viel zu früh verstorben war, und Pierre die Härten des Lebens in einem Alter erfahren musste, in dem ein Junge noch nicht bereit dafür war.

»Danke, Papa!« Jacquotte schenkte ihm ein bezauberndes Lachen und Émile vergaß für einen Moment die Schmerzen in seinen geschwollenen Gliedmaßen.

Mit einem Seufzer beobachtete er, wie sich seine Tochter bückte und ins Innere der Hütte kroch, um Manuel aus seinem Joch zu befreien. Er hörte das Gekicher des Jungen, als er tollpatschig ins Licht krabbelte. Der Anblick seines Erstgeborenen brach Émile jedes Mal das Herz. Sein Kopf war zu schwammig für seinen Körper, und seine eng beieinander liegenden Augen gaben ihm einen dümmlichen Ausdruck. Die meisten hielten ihn für verrückt und schenkten ihm kaum Beachtung. In der Gesellschaftsstruktur dieser Insel wurde ihm keine Überlebenschance eingeräumt. Wäre es nach Jérôme gegangen, dann hätte Manuel sein erstes Lebensjahr nicht erreicht. Eine Tatsache, die Émile seinem Freund nicht verzeihen konnte. Gleichzeitig bekannte er sich selbst schuldig, mit dem Sohn nichts anfangen zu können. Nur Jacquotte wachte stets über Manuel und konnte es nicht ertragen, wenn man ihn zu seiner eigenen Sicherheit festband. Bewegte er sich frei, behielt sie ihn wie eine Glucke im Auge, und ließ zu, dass er mit unsicheren Schritten den Schmetterlingen und Vögeln nachjagte.

Gerne hätte Émile sie noch länger um sich gehabt, doch nach einem kurzen Abschied entfernte sich das ungleiche Dreigespann wieder. Je mehr ihr Bild vor seinen Augen verschwamm, desto größer wurde seine Unruhe. Ihm war klar, dass sich seine Tochter langsam verselbstständigte. Sie begann, ihre eigenen Wege zu gehen, und die Angst rumorte in Émiles Magen wie eine roh verzehrte patate. Das Großziehen von Jacquotte war das Erfüllendste gewesen, das Émile je erlebt hatte. Er genoss jeden einzelnen Tag mit seiner kleinen Sonne und es war, als böte ihm der Vater im Himmel eine Chance, um an Jacquotte gut zu machen, was bei Alizée verfehlt wurde. Zu deutlich verfolgte ihn noch das Bild seiner Mutter, die wegen des Aberglaubens einiger Leute ein unwürdiges Ende fand, vor dem er sie nicht hatte beschützen können. Es verging kein Tag, an dem er nicht ihr Gesicht vor sich sah und sich fragte, warum sie so enden musste. Doch all das konnte er Jacquotte nicht anvertrauen. Er wollte der Held sein, den seine Tochter in ihm sah. Die Geschichten über die Rettung von Michel d’Artigny und die Befreiung von Anani waren das, was Jacquotte von klein auf über ihn gehört hatte. Die Dinge, die er als Émile Vigot in der Normandie erlebt hatte, gehörten nicht in ihre Welt. Émile versteckte sie tief in seinem Inneren. Und weil er nichts mehr an seiner Vergangenheit ändern konnte, sah er seine wichtigste Aufgabe als Vater darin, Jacquotte vor jedweder Gefahr zu schützen. Wenn ihre Zukunft eine glückliche war, konnte auch Émile wieder Ruhe finden. Seine Tochter besaß schon jetzt ein Selbstbewusstsein und einen Tatendrang, den er nur bewundern konnte, und er glaubte daran, dass sie ihr Leben gemeinsam mit Pierre meistern würde, wenn es soweit war.

Er wollte fortfahren, das grobe Salz zu mahlen, aber seine steifen Gelenke widersetzten sich. Die Zuversicht, dass sein Wille stärker war als sein Gebrechen und ihn noch eine Weile durchhalten ließ, schwand mit jedem Tag. Umso größer wurde dagegen die Furcht, seine Kinder ohne Vater zurückzulassen. Jérôme scherzte oft, Émiles Schultern würden bald so weit herunterhängen, dass er mit den Fingern die Zehen berühren konnte, ohne sich zu bücken. Émile verzog das Gesicht vor Schmerz. Er wünschte sich, Jérôme würde sesshaft werden, auch wenn er daran zweifelte, dass sein Freund sich den Kindern im Falle seines Todes annahm. Dafür kannte Émile ihn zu gut. Jérôme die Verantwortung einer Vaterrolle zu übertragen, war, als sperrte man die bei Nacht leuchtenden Käferwürmer in ein Gefäß: Ihr Glühen erlosch augenblicklich. Deshalb brachte Émile es nicht über sich, seinen Freund um diesen Gefallen zu bitten. Zu sehr stand er bereits in seiner Schuld. Unfähig, zu jagen oder auf sonstige Weise von Nutzen zu sein, war Émile in jeder Hinsicht auf seinen Gefolgsbruder angewiesen. Und Jérôme kam dieser Aufgabe pflichtbewusst nach. In regelmäßigen Abständen brachte er Kleidung, Waffen, Zucker und Mehl vorbei. Er verweilte eine Zeit lang in der Siedlung, bis ihn die Sehnsucht zurück aufs Meer trieb. Émile hustete schwer und tätschelte seinem Hund das Fell. Zu lange war er den eigenen Gedanken nachgehangen, dabei musste er die Vorbereitungen für den Abend zu Ende bringen. Energisch sammelte er sich und ließ den Stein erneut über die Salzkristalle rollen.

Unterdessen schlenderten Jacquotte und Pierre schweigend nebeneinander her. Der steinige Pfad schlängelte sich südwärts an imposanten Baumriesen vorbei und führte sie tief ins grüne Herz der Insel, die sie als La Española kannten. Je weiter sie vordrangen, desto mehr flaute der böige Wind zu einer leichten Brise ab, die von den Stimmen der Tiere überlagert wurde. Das Zirpen der Grillen um sie herum war ihnen so wohlbekannt wie das Schreien der blau-gelben Papageien in den Baumkronen. Pierre peitschte spielerisch einen abgebrochenen Zweig durch die Luft, während Jacquotte Abstand zu ihm schuf. An diesem Tag bedrängte sie seine Anwesenheit, denn Pierre hatte angefangen, sich zu verändern. Seine Schultern wurden breiter, seine Stimme tiefer und seine Muskeln begannen, sich stärker auszuprägen. Die meiste Zeit lief er mit nacktem Oberkörper herum, als wollte er allen von der Entwicklung kundtun. Neben der Wandlung an sich erschreckte Jacquotte aber vor allem die Tatsache, dass es ihr auffiel, und sie ihn vermehrt beobachtete.

»Warum verschweigst du deinem Vater unseren Ausflug?« Pierre drehte den Kopf zur Seite und Jacquotte sah schnell in eine andere Richtung.

»Er soll nicht in Sorge um mich sein.«

»Aber er sorgt sich immerfort um dich! Du hast wohl nie in sein Gesicht geblickt, wenn du frühmorgens die Hütte verlässt. Wenn er könnte, würde er dich wie Manuel anbinden.«

»Sei still«, befahl Jacquotte.

»Spar dir deine Munition«, murrte Pierre. „Ich wünschte nur, er wüsste um deine Fähigkeiten. Vielleicht wäre ihm dann leichter.«

»Ganz bestimmt nicht! Als Jérôme ihm vorgeschlagen hat, mich zur eigenen Sicherheit an den Waffen zu unterrichten, da wurde er so bleich, als hätte er unmäßig von den großen Landkrabben gegessen.«

Um Pierres Mundwinkel zuckte es. »Besucht euch Jérôme deswegen immer seltener? Was fürchtet er wohl mehr, den Hund deines Vaters oder seinen schnellen Säbel?«

»Noch ein Wort und du wirst den Tag verfluchen, an dem du mir die Machete in die Hand gegeben hast«, drohte Jacquotte. »Mein Vater ist ein guter Mann!«

»Gut darin, die Augen zu verschließen und zu glauben, dass die Spanier nie mehr über die Küste hereinbrechen werden. Warum verbirgst du die Höhle vor ihm?«

»Die Höhle ist unser Geheimnis!«, erwiderte Jacquotte brüsk und zeigte Manuel einen schwarzweiß gestreiften Schmetterling am Wegesrand. Mit einem glücklichen Blubbern klatschte er in die Hände und verscheuchte das Insekt. Mit zackigem Flug erhob es sich und ließ einen enttäuschten Manuel zurück.

»Es gibt hunderte Höhlen auf der Insel! Warum sprichst du niemals über unsere?« Pierre ließ nicht locker.

Gewiss, jeder wusste um die Existenz der Höhlen. Viele von ihnen hüteten ein schauerliches Erbe: Berge von menschlichen Gebeine verrotteten in ihrem Inneren und machten die Luft unerträglich. Die Männer erzählten sich, dass auf der Insel einst Indianer siedelten. Als die Spanier eintrafen, hetzten sie die Indios mit ihren Hunden und warfen sie ihnen zum Fraß vor. Aus Furcht verbargen sich die Überlebenden in den einfachen Höhlen, wo sie meist vor Hunger zu Tode kamen, denn ihre Angst vor den Spaniern war größer als ihr körperliches Leiden.

In die Enge gedrängt, entgegnete Jacquotte: »Stell dich nicht dumm, Pierre. Die Sicherheit der Höhle hat uns an dem Tag des spanischen Überfalls gerettet. Niemand soll wissen, wo sie liegt. Auch nicht mein Vater. Im Gegensatz zu ihm verschließe ich meine Augen nicht vor der Realität.«

Pierre nickte und Jacquotte wusste, dass ihre Gedanken um dasselbe Erlebnis kreisten. An einem Nachmittag vor einigen Jahren hatten marodierende Spanier die Siedlung überfallen und viele Männer getötet. An diesem Tag zerbrach Jacquottes heile Welt, in der sie arglos durch die Wälder streifte. Mit eigenen Augen musste sie mit ansehen, wie aus einem friedlichen Tag ein blutiges Massaker wurde, und wie jeder Einzelne um sein Überleben kämpfte. Sie sah Nachbarn sterben und beobachtete, was die Spanier mit den Frauen ihrer Feinde taten. Beinahe wäre sie selbst zum Opfer geworden. Ihr Entkommen verdankte sie einzig Pierre. Er hatte ihren Peiniger getötet. Anschließend brachte er sie und Manuel zu einer Höhle, die er während eines Streifzugs entdeckt hatte. Auf Jacquottes heftiges Drängen hin lehrte er sie dort in den nachfolgenden Wochen den Umgang mit Machete, Säbel und Muskete.

»Solange ich an eurer Seite bin, könnt ihr unbesorgt sein!«, Pierre klopfte sich prahlerisch auf die Brust.

Sie verdrängte die Erinnerungen und warf ihm ein Schneckenhaus an den Kopf, das sie gefunden hatte. »Deine Überheblichkeit wird dich noch in den Himmel wachsen lassen, wo dir die Raben deine schrecklichen gelben Schlangenaugen rauspicken!« Sie schmunzelte, als Pierre zischelnde Geräusche von sich gab und hinter Manuel herlief, der das Weite suchte.

Gut gelaunt erreichten sie einige Zeit später die baumlose Ebene mit den Tabakfeldern der Pflanzer. Ihr Gelächter verstummte. Jacquotte fürchtete diese Männer. Die meisten zeigten unverhohlenen Hass auf die Bukaniere im Norden, die ihre tägliche Arbeit angeblich viel leichter verrichteten, indem sie auf Tiere schossen, anstatt sich körperlich zu verausgaben. Die Pflanzer mussten Bäume fällen, Buschwerk roden und eine Reihe von Fruchtreihen anlegen, bevor der Boden genug Nährstoffe enthielt, damit Tabak auf ihm gedieh. Ihre Holzhütten, auf deren Dächern sie schmackhafte Wurzeln trockneten, lagen verlassen zwischen den Fluren. Pierre formte mit der rechten Hand einen Becher, den er zum Mund führte. Jacquotte nickte. Vermutlich hatte der wycou, eine Art Bier, das die Pflanzer aus Maniok brauten, wieder ganze Arbeit geleistet. Lautlos bewegten sie sich vorwärts. Obwohl die Pflanzer auf den Handel mit Fleisch angewiesen waren, wurden sie nicht müde, Bukanieren aufzulauern und ihnen eine Weile zuzusetzen, bevor sie ihnen erlaubten, ihr Anliegen vorzubringen. Jacquotte beobachtete die Felder. Die brusthohen Pflanzen wogten im Wind. Wenn man genau hinsah, konnte man fingerdicke Raupen auf ihren Blättern erkennen. Sie fuhr im Vorübergehen sachte über die feinen Härchen der Larven und folgte Pierre, der den Weg vorgab und Manuel abschirmte. Erst, als sie wieder unter Bäumen waren und einen Bachlauf gekreuzt hatten, ließ ihre Anspannung nach.

Auf einer Anhöhe verschnauften sie kurz. Sie hatten gutes Tempo vorgelegt. Jacquottes Blick schweifte über die Landschaft. Schlanke Palmen wechselten sich mit gewaltigen Acajou- und Mapou-Bäumen ab und schufen ein harmonisches Miteinander. Am Horizont konnte man ein Stück der Küstenlinie erkennen. Der Sand zog sich wie eine silberne Grenze durch das Reich der Pflanzen und trennte sie vom Ozean, der mit seinen rätselhaften Geschöpfen ein eigenes Imperium bildete.

Pierres Hund knurrte, als auf einer Schneise vor ihnen einige Pferde den Hügel querten. Die Tiere hoben schnaubend die Köpfe und ließen ihre Ohren spielen. Es waren gedrungene Kreaturen mit stämmigen Beinen und langen Hälsen. Verwilderte Verwandte ehemaliger spanischer Reitpferde, die inzwischen in großer Anzahl über die Insel wanderten. Die Jäger fingen sie, um die Felle und das Fleisch an die Küste zu transportieren. Jacquotte hasste jedoch die brutale Art, mit der man die Pferde zähmte. Sie wurden mit Schlingen gefangen, die man auf ihren Trampelpfaden auslegte und dann so lange geschlagen, bis ihr Wille gebrochen war und sie sich fügten. In ihrer natürlichen Umgebung aber besaßen sie einen ursprünglichen Stolz, der Jacquotte immer wieder aufs Neue staunen ließ. Auch dieses Mal konnte sie sich nur schwer von ihrem Anblick trennen.

Als sie die abfallenden Felsen erreichten, hob sie Manuel auf Pierres Rücken. Sein Hund blieb als Wachposten zurück und legte den Kopf betrübt auf die Vorderpfoten. Der Weg entlang der Felswand war tückisch und erforderte bei jedem Schritt Konzentration. Lose Steine konnten ins Rollen geraten und Stürze zur Folge haben. Versteckt unter einem Vorsprung fanden sie schließlich ihr Ziel: Eine kleine Höhle mit natürlich geformten Sitzbänken, die dichtes Gestrüpp vor der Sonne schützte. Durch eine Lücke im Buschwerk bot sich freier Blick aufs Meer, das sich viele Meter unter ihnen befand. Von den Ästen eines tiefhängenden Baumes pflückte Jacquotte hühnereigroße Früchte, die voll weißen Milchsaftes waren und wunderbar schmeckten. Mit ihnen stillten sie den Durst, bevor sie von dem geräucherten Fleisch nahmen, das in Palmblätter gewickelt im hinteren Teil lagerte. Dort lagen außerdem Muscheln, bunte Federn und Pfeilspitzen, die Manuel mitbrachte, sowie frisches Wasser in Rinderblasen. Jacquotte überprüfte die Vorräte bei jedem Besuch und sorgte dafür, dass sie nicht zur Neige gingen.

Während Manuel mit seinen Schätzen spielte, setzte sie sich mit Pierre an den Rand der Höhle und ließ die Füße über den Überhang baumeln. Durch den Wind war die Sicht an diesem Tag so klar, dass die Île de la Tortue zum Greifen nahe schien. Jacquotte erkannte den weißen Schaum, der auf den Wellen tanzte, wenn sie an den Klippen des schildkrötenförmigen Eilands zerschellten. Zwei Schiffe glitten mit gebauschten Segeln über das Wasser und versuchten, gegen den Wind zu kreuzen, um in die geschützte Hafenbucht zu gelangen. Schwarze Fregattenvögel, deren Geschrei von den Felsen widerhallte, flankierten sie. Die Île de la Tortue war eine sagenumwobene Insel, Zankapfel der großen Seefahrernationen, die ihre Kolonien provokant neben den spanischen Niederlassungen gründeten.

»Man mag den Hugenotten Le Vasseur nennen, wie man will, aber nur ihm verdanken wir, dass Tortue befestigt und über Jahre unangreifbar wurde.« Pierre reckte den Kopf, als könnte er das Fort de Rocher an der Südseite der Île de la Tortue erkennen.

»Le Vasseur war grausam! Er sperrte Gefangenen in kleine Käfige, in denen sie weder sitzen noch stehen konnten, und hat sie in der Sonne geröstet. Das klingt mir eher nach einem Mann, der Macht demonstrieren will und nicht nach einem Wohltäter. Ich denke, er wurde nicht umsonst ermordet.« Jacquotte, der besonders die blutrünstigen Erzählungen im Gedächtnis geblieben waren, wollte Pierres Meinung nicht teilen.

»Unfug! Kein Gouverneur vor ihm hat sich in solchem Maß für Tortue eingesetzt. Sieh dir bloß seinen Nachfolger an. De Fontenay hat sich von nur zwei spanischen Schiffen besiegen lassen und die Insel aufgegeben. Und was ist die Folge? Die niederträchtigen Spanier besetzen sie noch immer mit nur einer einzigen Garnison.«

»Und die Bruderschaft lässt sich davon einschüchtern«, spottete Jacquotte.

»Sie formieren sich bereits. Es fehlt ihnen einzig an Kanonen und Schiffen. Der französische König hält sich aus den Angelegenheiten heraus, denn noch scheut er den Machtkampf mit Spanien in diesem Teil der Welt«, erklärte Pierre.

»Was geht es dich an?« Seine Leidenschaft für die Küstenbrüder nagte an ihr. Je mehr er mit den anderen Männern zusammen war, desto mehr wurde ihre politische Gedankenwelt zu der seinen.

»Glaub mir, in nicht allzu ferner Zukunft werden sich die Brüder der Küste die Île de la Tortue zurückholen. Und ich werde dabei sein!«

»Aber du bist kein Mitglied der Bruderschaft, Pierre! Warum kämpfst du ihren Kampf?«, schoss Jacquotte zurück. Sie bohrte den Stachel bewusst in die Wunde, die Pierre am meisten schmerzte.

Er biss die Zähne aufeinander und starrte gekränkt zu Boden. Das tat er immer, wenn er verärgert war, und sie schämte sich ein wenig, weil sie so garstig zu ihm war.

»Die Bruderschaft wird mich aufnehmen«, schwor er und musterte Jacquotte mit seinen eigentümlichen Augen. Sie waren dunkelbraun wie die ihren, aber in ihrem Inneren glühte etwas, das bei bestimmten Gemütslagen ein gelbes Leuchten hervorrief. Es erinnerte sie an das Funkeln der Golddublonen, die ihr Vater für Notfälle unter dem knorrigen Baum am Rand der Siedlung verborgen hielt.

»Was geben dir die Küstenbrüder, was du hier nicht findest?«, fragte sie.

»Siehst du das nicht? Hier führen alle das ruhige Leben der Jäger. Tagein, tagaus dieselben Beschäftigungen. Ich aber will aufs Meer! Ich will dorthin, wo sich all die Brüder versammeln, die etwas bewegen wollen. Ich will gegen die Spanier kämpfen und Vergeltung üben für das, was sie unseren Müttern und ihrer Nation antaten.«

Jacquotte sank kaum merklich zusammen. Sie verstand ihn gut. Auch in ihr lebte die Sehnsucht nach einer Aufgabe im Leben, nach Abenteuern und der Rache gegen die Gräueltaten der Spanier. Aber anders als Pierre hatte sie Familie auf La Española und der Gedanke, ihren Vater und Manuel zurückzulassen, wog schwerer als der Wunsch, gegen unbekannte Feinde zu kämpfen.

»Du machst unsere Mütter nicht wieder lebendig, indem du dein Leben aufs Spiel setzt!« Ihre Hilflosigkeit, ihm nicht sagen zu können, was sie bewegte, ließ Jacquotte aufbrausend werden.

»Mon dieu, du bist heute in schlechter Stimmung.« Er warf einen Stein in den Abgrund und lauschte, wie der Aufprall gegen die Felsen immer leiser wurde, bis er schließlich kaum hörbar im Wasser landete.

Sie ignorierte ihn und zupfte an dem eng anliegenden Band aus gefärbter Baumwolle, das sich unterhalb ihres linken Knies befand. Es hatte einst ihrer Mutter gehört, der Frau, die man Anani nannte, und Jacquotte trug es als Anerkennung des Indio-Volkes, dessen Blut auch in ihren Adern floss.

»Sie wäre stolz auf dich gewesen«, hörte sie Pierre nach einiger Zeit murmeln, und das schlechte Gewissen schlug über ihr zusammen.

»Es tut mir leid«, presste sie hervor, da sie sich mit Entschuldigungen nicht besonders leichttat. »Der Sturm fegt heute durch meinen Kopf und wirbelt meine Gedanken durcheinander.«

»Hast du nicht immer den Sturm in deinem Kopf, nanichi?« Pierre versetzte ihr einen freundschaftlichen Schlag gegen die Schulter und hielt ihre Hände fest, damit sie sich nicht wehren konnte.

In Anbetracht ihres Spitznamens fragte Jacquotte zum wiederholten Male: »Sag mir endlich, was das bedeuten soll, Pierre! Du nennst mich womöglich eine Schlange hinter meinem Rücken, und ich weiß es nicht.«

»Jujo heißt Schlange, also sei unbesorgt.« Er griente spitzbübisch und tippte an ihre Stirn: »Cimu'«, sagte er. Dann zeigte er aufs Meer hinaus und sah sie fragend an.

Jacquotte zögerte. »Bagua

Pierre nickte anerkennend. Als Nächstes zeigte er auf sich und sie erwiderte sofort: »I'ro

Auch, als er auf sie zeigte, folgte die Antwort prompt: »I'naru'

»Sehr gut«, lobte Pierre. »Heute ist es windig. Kannst du dich an das Wort für Wind erinnern?«

»Hura?« Sie lächelte, als Pierre den Daumen hob.

»Sonne?«

»Guey

So ging es weiter. Was einst als Spiel zwischen ihr und Pierre begonnen hatte, nahm Jacquotte inzwischen sehr ernst. Die gutturale Sprache der Indios beschwor den Geist ihrer Mutter herauf. Es war tröstlich, wenigstens auf diese Art mit Anani verbunden zu sein.

Sie waren so konzentriert bei der Sache, dass sie nicht bemerkten, wie Manuel zu ihnen trat. Erst, als er mit dem Fuß aufstampfte, drehte sich Jacquotte zu ihm um.

»Jawa«, forderte er, und das Wort war aufgrund seiner dicken Zunge kaum verständlich. »Jawa!«

»Ich glaube, er will die Geschichte von Yaya hören«, vermutete Jacquotte und zwinkerte Pierre zu.

Die Männer waren der Meinung, dass Manuel wegen seiner Andersartigkeit nichts von seiner Umwelt wahrnahm, aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Er liebte es, wenn man ihm Geschichten erzählte.

Pierre begann mit schauriger Stimme: »Lasst mich erzählen von Yaya, dessen Name keiner kennt. Er war ein bedeutender Kazike, dem seine Untertanen größte Ehre entgegen brachten. Doch sein Sohn, Yayael, trachtete ihm aus Neid nach dem Leben. Als sein Vater von seinem Plan erfuhr, ächtete er den Sohn und verbannte Yayael aus seiner Heimat. Entwurzelt irrte Yayael umher und kehrte schließlich demütig in das Haus seines Vaters zurück. Yaya aber konnte in das Herz seines Sohnes blicken, sah dort immer noch böse Absichten und tötete ihn. Er verwahrte seine Gebeine in einer Kalebasse auf und hängte sie an die Decke seiner Hütte, wo sie eine Zeitlang unentdeckt blieben. Eines Tages jedoch drangen hungrige Diebe in Yayas Behausung ein und vermuteten Nahrungsmittel in der Kalebasse. In der Eile rutschte ihnen das Gefäß aus den Händen, fiel zu Boden und zerbrach. Doch anstatt der Gebeine kam Wasser aus der Kalebasse. Es floss so viel Wasser aus ihr heraus, dass es die Erde bedeckte und sich immer weiter ausbreitete. Und mit ihm kamen die Fische in so reicher Zahl, dass niemand mehr hungern musste. Auf diese Weise entstand unser Meer und Yayaels Tod hat allen Menschen etwas Gutes gebracht!«

Manuel verzog sein Gesicht. Nur wer ihn gut kannte, wusste, dass dies ein Ausdruck von Freude war. »Semmi«, rief er.

»Dein cemi passt immer auf dich auf«, bestätigte Jacquotte und berührte den Talisman, der um Manuels Hals hing. Es war ein rötlicher Stein, dem durch regelmäßige Einkerbungen eine menschliche Gestalt verliehen worden war. Ursprünglich hatte sie ihn von ihrem Vater als Andenken an die Mutter bekommen, aber als Pierre ihr später die Bedeutung des Steins erklärte, gab sie ihn an Manuel weiter. Nach Pierres Aussage waren die cemi gute Götter, die ihre Träger vor Krankheiten, Naturkatastrophen und Kriegen beschützten, und Jacquotte war der Meinung, dass Manuel diesen Schutz nötiger hatte als sie. Denn obwohl sie nie zugegeben hätte abergläubisch zu sein, so war sie doch geneigt, den Berichten der Männer zu vertrauen. Diese behaupteten, dass Anani bei ihrer Rettung vom spanischen Kapitän der Galeone verflucht und deshalb mit einem Kind wie Manuel bestraft worden war. Jacquotte wusste, dass Pierre dieses Gerede für Unsinn hielt. In seinen Augen lebte ein guter Geist in Manuels deformiertem Körper. Er sagte, dass dieser Geist sich nur den Menschen zeigte, die über Manuels Andersartigkeit hinweg sahen und ihm wohlgesonnen waren. Jacquotte beschlich nicht zum ersten Mal das Gefühl, dass sich Pierre das überlieferte Wissen seiner Indio-Mutter zunutze machte, um die Welt schöner darzustellen, als sie in Wirklichkeit war. Im Prinzip war es jedoch einerlei, denn seine Version beschrieb Manuel besser, als sie es je auszudrücken vermocht hätte.

»Nanichi?« Pierre sah sie an und Jacquotte hob schuldbewusst den Kopf. Sie wollte nicht träumerisch wirken. »Wollen wir aufbrechen?«

Sie nickte und ergriff seine ausgestreckte Hand. Als er sie hochzog, wurde sie sich mit einem Mal der Wärme seines Körpers bewusst und ihr Magen begann zu kribbeln, als hätte sie eine Handvoll Ameisen verschluckt. Erschrocken über ihre Empfindungen, hielt sie mitten in der Bewegung inne. Sie sah die feinen Haare auf seiner Brust und roch seine Haut. Obwohl so vertraut, wirkte Pierre in diesem Moment befremdlich, und Jacquotte fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie wünschte sich, Pierre von ihren Gedanken erzählen zu können, von den Ängsten, die sie quälten und der eigenartigen Sehnsucht in ihrem Herzen. Aber sie fand keine passenden Worte. Zu lange waren sie Kinder gewesen, doch je älter sie wurden, desto komplizierter wurde ihre Freundschaft. Die Unbeschwertheit von einst verflog wie der Morgennebel, der die Küste des Öfteren einhüllte, und ließ die Realität in jenem gleißenden Licht zurück, das kleinste Details offenbarte.

»Was ist?«, fragte Pierre und sah sie forschend an. »Ist dir nicht gut?«

Jacquotte stieß ihn von sich. »Es ist warm heute, das ist alles.«

Pierre hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Deine Laune ist so wandelbar wie das Wetter. Erst ziehen graue Wolken über dein Haupt, dann zeigst du mir ein Lächeln, schöner als die Sonne, und jetzt ist wieder ein Gewitter im Anzug. Versteh einer die Frauen!« Er wandte sich ab.

Jacquotte horchte auf. »Was weißt du schon darüber?«, höhnte sie. Seit dem Überfall der Spanier lebten keine Frauen mehr in der Siedlung.

»Ich kenne dich und du bist zweifellos eine Frau. Noch dazu eine besonders einfältige. Ich hörte die Männer über die Frauen aus Frankreich reden und finde, du stehst ihnen in nichts nach«, schoss Pierre zurück und half Manuel auf seinen Rücken.

»Was erzählt man sich über die Frauen aus Frankreich?«

»Sie sind launenhaft und selbstverliebt. Sie weinen ohne Grund, sind ängstlich und schnattern wie Papageien, wenn sie untereinander sind. Sie schlagen dir ins Gesicht, jammern aber, wenn man sie zu hart anpackt. Sie meckern und klagen, sind nie zufrieden und spucken dir ins Essen, wenn du nicht nach ihrer Pfeife tanzt.«

»Immerhin tun sie etwas«, murrte Jacquotte. »Ihr Männer sitzt nur herum, bohrt in der Nase, esst und furzt und erzählt von euren heldenhaften Taten, die mit jedem Mal besser werden.«

Pierre stapfte den engen Weg bergauf. Obwohl sie sein Gesicht nicht sah, spürte sie seinen Ärger deutlich.

»Deine spitze Zunge wird dir eines Tages zum Verhängnis werden«, hörte sie ihn sagen.

»Wer die Wahrheit meiner Worte nicht ertragen kann, sollte besser seine Ohren verschließen.«

»Hah!“, rief Pierre. »Und das aus dem Mund einer Karotte, die vorgibt, eine Zwiebel zu sein. Du solltest besser unter all den Schichten nach deiner eigenen Wahrheit suchen.«

»Im Gegensatz zu dir habe ich keine Angst, sie zu finden, du vaterloser Balg«, empörte sich Jacquotte.

»Casse-pieds! Wenn du keine Frau wärst, würde ich dir für diese Worte ein paar langen!« Pierres Nackenmuskeln spannten sich, und sie wusste, dass sie einen Schritt zu weit gegangen war. Trotzdem ließ sie nicht ab.

»Du traust dich wohl nicht, gegen mich zu kämpfen?«

»Ich scheue keinen Kampf, aber ich lege nicht Hand an meine eigene Schülerin und schon gar nicht gegen eine Frau!«

»Verflucht sollst du sein, Gelbaugen-Pierre!« Sie stieß ihm den Knauf ihrer Machete in die Kniekehle, und er strauchelte. Für einen kurzen Moment löste er die Hand, mit der er Manuel hielt, um sich abzustützen. Doch dieser Augenblick reichte aus, Manuel abgleiten zu lassen. Mit einem hilflosen Schrei rutschten die dicken Ärmchen von Pierres Hals, und er fiel wie ein Sack nach hinten. Bevor Jacquotte reagieren konnte, traf sie sein Gewicht. Sie wurde zurück geschleudert und keuchte erschrocken auf. Geistesgegenwärtig versuchte sie, sich an der Felswand einzukrallen. Die Wucht des Stoßes riss ihr jedoch lediglich die Fingerkuppen auf, ohne ihrem Fall Einhalt zu gebieten. Wie zwei balgende Welpen kullerten sie den Pfad hinunter, den sie gerade mühsam hinaufgeklettert waren. Jacquotte sah, dass sie immer näher an den Abgrund gerieten, und stemmte ihre Füße in den Boden, um zu bremsen. Auffliegender Staub brannte in ihren Augen. Endlich stoppte ein Felsbrocken ihren Sturz. Der Aufprall raubte ihr den Atem und nahm ihr die Sinne. Als sie wieder zu sich kam, brannte ihr Rücken wie Feuer und in ihrem Kopf hämmerte ein stechender Schmerz. Instinktiv tastete sie nach Manuel, doch ihre Hand griff ins Leere. Jacquotte blinzelte. Sie war unfähig zu rufen oder sich zu bewegen. In ihren Ohren klang alles seltsam gedämpft, und außer einem Sausen vernahm sie keine Geräusche. Vorsichtig rollte sie auf Arme und Knie. Jeder Knochen in ihrem Leib fühlte sich an, als hätte er seine Position verändert. Nach kurzer Pause richtete sie sich auf. Kurzzeitig wurde ihr schwarz vor Augen. Mit wackligen Schritten versuchte sie, sich zu orientieren, als Pierre mit einem weinenden Manuel im Arm an ihr vorbei ging. Sie hatte nicht bemerkt, dass er ihnen gefolgt war. Seine Schulter streifte sie barsch und der Blick, den er ihr zuwarf, sprach Bände. Jacquotte straffte die Schultern und schlich hinter ihm her. Jeder Schritt kostete sie Mühe, aber sie biss die Zähne zusammen. Um nichts in der Welt wollte sie sich vor Pierre die Blöße geben und ihn in seiner Meinung über Frauen bestätigen. Der Weg zum Plateau kam ihr endlos vor. Ihre stechenden Rippen ignorierend, setzte sie tapfer einen Fuß vor den anderen.

Oben angekommen, sprang Pierres Hund freudig an seinem Herrn hoch und leckte Manuels Gesicht, als dieser neben ihn auf den Boden gelegt wurde. Ihr Bruder hatte mehrere Wunden am Kopf, doch er setzte sofort zu einem Lachen an, das in glucksendem Schluckauf endete. Pierre kniff ihn sanft in die Wange, bevor er sich zu Jacquotte umdrehte. Es kam ihr vor, als sähe sie sich mit seinen Augen. Ihr Leinenhemd war zerrissen, ihre Knie blutig. Nervös rieb sie die geschundenen Handflächen an ihrer Hose. Pierre war wütend und sie wartete, dass er etwas sagte. Sein Schweigen war schlimmer als jede Strafpredigt. Sie hielt den Blick gesenkt, weil sie fürchtete, seinen Augen zu begegnen. Als er weiter schwieg, ging sie auf ihn zu, hielt jedoch sofort inne, als er einen Schritt zurückwich.

»Vergib mir«, sagte sie und hob den Kopf.

Pierre ballte die Hände zu Fäusten. »Sprich nicht aus, was du nicht so meinst.«

»Es war ein Versehen.«

Er holte tief Luft, bevor es aus ihm herausbrach: »Bei den Hörnern des Teufels, dein Stolz wird dir eines Tages den Tod bringen! Aber wenn du ihn suchst, dann finde ihn für dich allein und spiele nicht mit dem Schicksal anderer. Ich habe dich nicht den Umgang mit den Waffen gelehrt, damit du sie gegen deine eigenen Leute einsetzt. Kein einziger Mann hier würde je seinen Säbel gegen einen seiner Brüder erheben oder ihn im Jähzorn herausfordern. Wenn du wie ein Mann behandelt werden willst, dann benimm dich auch wie einer!«

Pierre drehte sich um und zog Manuel im Vorübergehen auf die Beine. Der Hund trabte voraus und Jacquotte blieb zurück. Sie sah ihren Freunden nach und kämpfte mit ihren widersprüchlichen Gefühlen. Benimm dich wie ein Mann, hatte Pierre gesagt. Sie stampfte trotzig mit dem Fuß auf. Was sollte das bedeuten? Sie hatte nie gefordert, wie ein Mann behandelt zu werden. Dafür gab es keinen Grund. Sie konnte kämpfen und jagen, Tiere ausweiden und Leder gerben, Bäume fällen und schnitzen. Sie verrichtete dieselbe Arbeit wie alle anderen. Warum war es mit einem Mal so bedeutsam, dass sie eine Frau war?

»Allez zou, Jacquotte«, rief Pierre gereizt und drehte sich zu ihr um. »Es wird bald dunkel.«

Jacquotte setzte sich humpelnd in Bewegung und reihte sich kurz darauf in die Gruppe ein. Manuel lief schon wieder umher, als wäre nichts passiert, und Jacquotte fragte sich, wie sie ihrem Vater die Wunden erklären sollte.

»Gibt es einen Grund, warum wir uns derart beeilen müssen?« Sie versuchte, flach zu atmen, um die Schmerzen gering zu halten. Pierres Tempo setzte ihr zu.

»Heute kehren die Flibustier aus Port de Margot zurück. Es wird ein Fest in der Siedlung geben«, erwiderte er.

Jacquotte blieb stehen. Das war in der Tat eine Überraschung, die weder ihr Vater noch Pierre erwähnt hatten. Dabei bedeutete die Heimkehr der Männer, die auf Kaperfahrt gingen, stets gutes Essen, reiche Beute und jede Menge Arbeit im Vorfeld.

»Ich hätte meine Hilfe anbieten müssen«, stellte sie fest und sah Pierre vorwurfsvoll an, der sich zu ihr umdrehte. »Warum hast du mich mitgenommen, wenn du bereits gewusst hast, dass ein banquet geplant ist?«

Pierre winkte ab. »Die Männer haben das Holz heute Morgen geschnitten, bevor sie zur Jagd aufbrachen.«

Eine Ahnung machte sich in Jacquotte breit. »Ihr wolltet mich nicht dabei haben.«

Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu und sie spürte, wie die Wut unter ihrer Kopfhaut zu kribbeln begann.

»Die Männer waren in Eile.«

»Die Männer, die Männer …«, ätzte sie. „Was ist es nur mit den Männern? Wir leben in einer Gemeinschaft. Jeder hat seine Aufgaben. Warum benimmst du dich mit einem Mal so eigenartig?«

»Weil es bei den Bukanieren und Flibustier allein um Männer geht! Siehst du das nicht?« Pierre gestikulierte wild. »Die Bruderschaft nimmt keine Frauen auf. Das steht in ihren Regeln. Und du bist nun mal eine …« Er zögerte und sein Blick glitt über ihre Gestalt. »Eine Frau!«

»Was für Regeln?«, fragte Jacquotte.

„Die Regeln der Küstenbrüder!«

»Was weißt du schon über die Regeln?«

»Eine ganze Menge, wenn du es genau wissen willst. Mit jedem Tag mehr. Und den kompletten Kodex erlerne ich am Tag meiner Initiation.«

»Deiner Initiation?« Jacquotte verschlug es die Sprache. Konnte es sein, dass Pierre mehr Dinge vor ihr verheimlichte, als sie geglaubt hatte?

»Aber ich dachte …« Sie stockte und sah ihn ungläubig an. Von Jérôme wusste sie, dass Frauen der Zutritt zur Bruderschaft verwehrt war, allerdings galt das ihm zufolge auch für Indianer. Den Erzählungen nach kam Pierres Mutter Mencia bereits schwanger auf die Insel. Angeblich trug sie das Kind längst unter ihrem Herzen, als die Spanier sie raubten. Die Geschichten besagten, dass ihr Bauch deutlich sichtbar war, als sie die Frau von Antoine Hantot wurde. Somit war Pierre kein mestice, wie man die Mischlingskinder von Weißen und Indianern nannte, sondern ein reiner Indio.

»Sie machen für mich eine Ausnahme.« Pierre verschränkte die Arme vor der Brust. »Antoine Hantot war ein anerkannter Mann unter den Flibustier, und er gilt offiziell als mein Vater. Niemand kann beweisen, wessen Sohn ich wirklich bin, und meine Mutter ist tot. Keiner kann sie mehr fragen.«

»Wie überaus dienlich für dich!« Jacquotte ging auf ihn zu, aber Pierre entzog sich ihr. Sie setzte ihm nach. Die Schmerzen waren wie weggeblasen. Bisher hatte sie geglaubt, dass ihnen beiden der Zutritt zur Bruderschaft verwehrt war. Diese Gegebenheit hatte sie auf besondere Weise verbunden. Doch nun hatte sich das Blatt gewendet, und wie es aussah, gab es im Lager der Ausgeschlossenen nur noch sie und Manuel. Jacquotte wurde immer wütender.

»Verräter«, beschimpfte sie ihn. »Du wagst es, dich Freund zu nennen und mir dann nichts von alldem zu erzählen? Hinterhältiger Hund!«

Pierre beschleunigte sein Tempo. Einer seiner Schritte erforderte zwei von Jacquotte, aber sie ließ nicht von ihm ab.

»Was ist? Rede! Oder lässt du dir vom Kodex inzwischen den Mund verbieten?«

Pierre packte sie blitzschnell bei den Schultern und drückte sie gegen einen stämmigen Baum. Sie versuchte, ihn zu treten, aber er wich ihr geschickt aus. Die Rinde scheuerte an ihren Verletzungen, doch sie spürte nichts von alledem, denn Pierres Gesicht kam ihrem immer näher. Sie hielt den Atem an. Die befremdenden Gefühle bahnten sich erneut einen Weg an die Oberfläche.

»Der größte Fehler deines Vaters war es, dir keine Erziehung angedeihen zu lassen«, sagte er scharf. »Du kennst deine Grenzen nicht, Jacquotte! Die Bruderschaft ist eine ehrenwerte Sache. Du solltest nie über Dinge urteilen, von denen du nichts verstehst.«

Er verengte die Augen, bevor er sie auf den Mund küsste. Jacquotte erstarrte. Es fühlte sich gut und beängstigend zugleich an. Ihre Gedanken überschlugen sich. Für einen kurzen Moment ließ sie ihn gewähren. Doch dann legte er seine Hände auf ihre Brust.

»Und du solltest dich nicht mit Gegnern anlegen, denen du nicht gewachsen bist.« Jacquotte hieb ihm in den Magen. Der Angriff brachte nicht den erwarteten Erfolg. Pierre griff nach ihrer Kehle. Instinktiv zückte sie das kleine Jagdmesser, das sie stets bei sich trug. Überrascht sprang er zurück, aber sie ließ ihn nicht entkommen und zog ihm das Messer wütend über die Brust. Dann glitt sie zu Boden, rollte einmal um ihre eigene Achse und stand sofort wieder auf den Beinen, bevor Pierre reagieren konnte. Er fluchte derart, dass Manuel sich die Ohren zuhielt.

»Was ist nur mit dir los, du verrücktes Weib? Manchmal habe ich das Gefühl, ein ganzer huraca'n wütet in deinem Kopf.« Er fuhr mit den Fingern über seine Brust und betrachtete das Blut, das an ihnen haften blieb.

»Ich kenne dich nicht mehr«, schimpfte er und trat impulsiv gegen den Baum. »Merde

»Ich sollte es sein, die winselt«, stellte Jacquotte fest. »Ich bin jedem Mann in dieser Siedlung ebenbürtig, aber du erkennst das nicht!«

Bevor Pierre etwas erwidern konnte, vernahmen sie eine Stimme hinter sich: »Jedem Mann? Beim Namen Neptuns, welch eingebildetes Kind maßt sich an, solch lächerliche Behauptungen aufzustellen?«

Jacquotte flog herum. »Jérôme!«

Sie war froh, ihn zu sehen, und lachte auf. Er war barfuß, trug wadenlange, schwarze Hosen, ein helles Leinenhemd und darüber einen grauen Rock mit silbernen Knöpfen. Um seine Hüfte war ein leuchtend rotes Tuch geschlungen, ebenso um seinen Kopf, auf dem zusätzlich ein runder, schwarzer Hut mit aufgeklappter Krempe thronte. Er lehnte entspannt auf einer Muskete, deren Beschläge mit seinem üppigen Halsschmuck um die Wette funkelten, während Lachfältchen sein sonnengebräuntes Gesicht durchzogen. Aufmerksam ließ er den Blick erst über Jacquotte, dann Manuel und Pierre schweifen, bevor er wieder an Jacquotte hängen blieb.

»Hol mich einer Kiel, du bist wahrhaftig kein Kind mehr«, konstatierte er, trat näher und fasste sie am Kinn.

»Seid ihr überfallen worden?« Er musterte die Schrammen in ihrem Gesicht und sie wich ihm rasch aus. Als keiner etwas erwiderte, sah er Pierre an, der ein trotziges Gesicht zog: »Was ist? Hat man dir die Zunge herausgeschnitten, Pierre Hantot?«

Pierre schüttelte den Kopf und wechselte einen kurzen Blick mit Jacquotte. Jérôme bemerkte es, lachte schallend und hieb Pierre wohlwollend auf die Schulter.

»Wohl dem, der ein Geheimnis für sich behalten kann. Ich werde mich nicht über euer Gemunkel auslassen, wenn ihr mir schleunigst zur Siedlung folgt. Émile ist außer sich, weil sein Sonnenschein noch nicht zurück ist.« Er drehte sich wieder zu Jacquotte um und sah sie strafend an.

»Wo hast du dich herumgetrieben? Ich hätte deine Hilfe brauchen können.«

Sie konnte sich ein triumphierendes Lächeln in Pierres Richtung nicht verkneifen, als sie sich an Jérômes Seite stellte. »Wir waren bei den Pflanzern.«

»O-ho«, rief Jérôme. »Kein Wunder, dass ihr elend ausseht. Dann kommt, die Schweine liegen längst auf den Feuerstellen, und es würde mich nicht wundern, wenn die Männer sie bereits halb roh verzehren. Wir sind voll von Geschichten, aber leer in den Mägen.«

Er trieb Manuel spielerisch vor sich her, während Pierre mit düsterem Blick hintendrein schlich. Der Hund trottete mit hängenden Ohren neben ihm her und sah genauso bedauerlich aus wie sein Herr. Jacquotte versuchte, beide zu ignorieren. Der Angriff war ihr unangenehm und sie verstand nicht, was geschehen war.

Als sie die Siedlung erreichten, war das Fest bereits in vollem Gange. Erhellt vom bois de chandelle, dem Kerzenholz, das in großen Stümpfen ringsum die Siedlung in Brand gesteckt worden war, lungerten die heimgekehrten Männer um riesige Holzfässer herum. Aus Erfahrung wusste Jacquotte, dass sie randvoll mit Rum waren. Die Männer konnten tagelang feiern und die gesamte Prise, die sie über Monate erbeutet hatten, innerhalb von nur einer Woche restlos verprassen. Der Geruch nach gebratenem Fleisch und Gewürzen hing in der Luft, als sie sich neben ihrem Vater niederließ. Émile hielt sich an den Palmwein, den er aus den verflochtenen, dicken Blättern der bauchigen Pflanze trank, deren Saft man zu Alkohol vergor und die darum den Namen palmiste à vin trug. Auch Jacquotte goss sich ausgiebig ein, schmeckte ihr der Wein doch bei weitem besser als der scharfe Rum, den die Männer wie Wasser hinunterkippten.

Émiles seliger Blick verriet ihr, dass er dem Getränk bereits reichlich zugesprochen hatte, und sie war froh, dass ihr auf diese Weise unangenehme Fragen über die Kratzer in ihrem Gesicht erspart blieben. Entspannt lehnte sie sich zurück und stützte sich auf ihren Ellbogen ab. Gleich zehn Schweine brutzelten mit dem Bauch nach oben auf den Holzgestellen, die den Bewohnern der Region ihren Namen gegeben hatten. Die boucan bestanden aus vier armdicken, gabelförmigen Ästen von etwa fünf Fuß Länge, die senkrecht in den Boden gerammt wurden und ein Rechteck bildeten. Jeweils zwei der Äste wurden durch die gabelförmigen Enden mit einem weiteren gleichdicken Ast verbunden und mit fingerdicken rindenlosen Zweigen bedeckt, die man mit Lianen fixierte. So hatten es die ersten Bukaniere von den Indianern gelernt, erzählte man sich. Inzwischen war diese Kochvorrichtung nicht mehr aus dem Leben der Männer wegzudenken, lieferte sie doch geräuchertes Fleisch, das so schmackhaft und lange haltbar war, das es nicht nur von den Leuten geschätzt wurde, die hier lebten.

Jacquotte beobachtete, wie Pierre aus den Blättern der Cachibou-Pflanze mithilfe dünner Rindenfasern geschickt ein Gefäß fertigte, das zum Abschöpfen der Soße diente, die sich im Bauch der Schweine sammelte. Üblicherweise würzte man sie reichlich mit Salz, Limonensaft, Piment und Unmengen schwarzen Pfeffers, der einem Kehle und Magen ausbrannte. Ein Berg grüner Bananen lag neben dem Feuer in der Mitte des Platzes. Sie dienten dazu, das Brennen des Pfeffers abzumildern und wurden zum Fleisch gereicht. Jacquotte lief das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte den ganzen Tag noch nichts Vernünftiges zwischen die Zähne bekommen und freute sich auf das üppige Mahl. Manuel hatte sich längst wieder in die Hütte zurückgezogen. Zu viele Menschen ängstigten ihn. Sie nahm sich vor, ihm später etwas zu essen hineinzureichen. Im Gegensatz zu Manuel liebte sie Feste wie diese. Nachts würden die Männer um das Feuer tanzen und ihre Geschichten von den Kaperfahrten erzählen. Wenn sie in den Morgenstunden so viel Alkohol im Blut hatten, dass sie nicht mehr tanzen konnten, würden sie am Boden liegen und ihre blutrünstigen Seemannslieder grölen. Jacquotte grinste. Die Feier lenkte sie von den Ereignissen des Tages ab. Zufrieden nahm sie einen Schluck Wein, und spürte, wie ihre Glieder schwer wurden.

Dann bemerkte sie den Tumult am Rand der Siedlung. Sie hörte einige Männer empört rufen, verstand aber ihre Worte nicht. Neugierig geworden, stand sie auf, streckte ihre schmerzenden Muskeln und schlenderte quer über den Platz zu ihnen hinüber. Die Männer drehten ihr den Rücken zu, so dass Jacquotte sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um zu erkennen, was in der Mitte des Kreises vorging.

»Ich sage, jeder soll sie haben«, forderte einer der Männer.

»Aye, Lafitte, aber ich steige zuerst über sie rüber«, lachte ein anderer.

»Du hast doch bereits jedes Schwein auf dieser Insel gehabt, Boisbrûlé. Lass deinen Brüdern diesmal den Vortritt.«

»Nichts da! Ich war’s, der dem Knaben im Kampf das Hemd zerschnitt, auf dass sein Busen uns entgegen hüpfte. Das ist meine Beute.«

»Brüder teilen gerecht. Und deshalb wird sie jeder einmal vö…« Der feiste, rotbackige Mann verstummte sofort, als er Jacquotte entdeckte, die ihren Hals reckte, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen.

Die Männer drehten sich um und machten die Sicht auf eine Gruppe von etwa einem Dutzend Menschen frei, die gefesselt vor ihnen standen. Jacquotte erkannte an ihrer tiefbraunen Haut und den Brandabzeichen auf ihren Hälsen, dass es sich um Sklaven handelte. Außer zerschlissenen Hosen trugen sie nichts am Leib, und ihre Oberkörper glänzten schweißnass im Schein der Fackeln. Zuerst konnte sie sich keinen Reim auf die Unterhaltung der Männer machen, erst als sie genauer hinsah, erkannte sie eine junge Frau unter den Gefangenen. Ihre kleinen Brüste hoben und senkten sich unübersehbar unter den dreisten Blicken der Männer, und ihre dunklen Augen hefteten sich flehentlich auf Jacquotte.

Sie wusste um die Sitte, Gefangene zu machen, die in der Siedlung als Knechte ihre Zeit abdienten und nach Gutdünken behandelt werden durften. Meist hielten sich besonders die Stierjäger solche Knechte, denn das Jagen der großen Tiere war eine zeitaufwendige und anstrengende Arbeit, die sie oft über Tage vom Dorf fernhielt. Dennoch war es bereits einige Zeit her, dass neue Gefangene in die Siedlung gebracht worden waren, und die ehemaligen waren mittlerweile Bestandteil der Bukanier-Gesellschaft geworden. Jacquotte holte Luft. Das Bild der verängstigten Frau hatte sich in ihrem Kopf festgebrannt, und sie war nicht bereit, das armselige Geschöpf den spottenden Männern zu überlassen. Bevor sie loslegen konnte, trat Jérôme dazwischen und zwang sie mit seinem breiten Körper zurück.

»Genug«, herrschte er die Männer an und warf Jacquotte einen kurzen Blick über die Schulter zu. »Der Rum vernebelt euch die Sinne.«

Er schubste einen der Männer zur Seite, während er vor die Gefangenen trat. »Die Regeln besagen, dass alles, was nicht zu gleichen Teilen an die Brüder gegeben werden kann, an einen einzigen Mann gehen muss. Und zwar an den, dem das Glück hold ist.« Er zog seinen Säbel und ritzte dem Mann neben sich leicht das Kinn. »Was heißt das, Boisbrûlé?«

»Dass wir um sie würfeln, Bruder«, jammerte dieser kleinlaut und wischte sich das Blut weg.

»So sei es«, befahl Jérôme. »Holt die Würfel!«

Die Männer verzogen sich murrend. Nur Jérôme und Jacquotte blieben zurück.

»Das wirst du nicht zulassen!« Sie hob herausfordernd ihr Kinn. Jérôme stand breitbeinig vor ihr. Der Säbel lag ruhig in seiner Hand, doch seine Körperspannung verriet, dass er Gehorsam von ihr verlangte.

»Wage es nicht, mir zu befehlen.« Seine Worte kamen aus einem finsteren Ort in seinem Inneren. Sie war erstaunt. Auf diese Weise hatte er noch nie zu ihr gesprochen. Seine Zähne waren leicht entblößt und er fixierte sie auf eine Art, die ihr unheimlich war. Für einen kurzen Moment hielt sie seinem Blick stand, bevor sie verschämt die Augen senkte. Jérôme ging bedächtig an ihr vorbei und ließ die Klinge geschmeidig in die rote Schärpe gleiten.

»Du solltest sie nicht glauben lassen, dass du dich auf die Seite der Schwachen schlägst. Sie mögen dumm sein, aber nicht dumm genug, um nicht beizeiten festzustellen, dass sie mit dir dasselbe tun können wie mit dem Negerweib«, knurrte er in ihrem Rücken.

Jacquotte wandte sich von den Gefangenen ab. Sie hatte nicht den Mut, der Frau noch einmal in die Augen zu blicken, und ihre demütigende Situation wie einen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Bedrückt kehrte sie an den Platz neben ihrem Vater zurück und leerte ihren Becher Palmwein in einem Zug. Als ihr Vater ihr den Rücken tätschelte, rutschte sie von ihm ab. Tränen kämpften sich an die Oberfläche, aber sie blinzelte sie fort. Dabei begegnete sie Pierres forschendem Blick und kroch zu Manuel ins Zelt. Das Fest ging weiter, doch es war, als hätte man sie ausgeschlossen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich nicht wohl in der Gesellschaft der Männer. Sie war eine Frau. Die Männer wussten das, und seit diesem Tag wusste es auch Jacquotte.