20. Überraschung

Christian erwachte vom Zwitschern der Vögel, das er als ungewöhnlich laut empfand. Er blickte zum Fenster, durch das die ersten Sonnenstrahlen des Morgens fielen. ‚Vampir!’, schoss es ihm durch den Kopf. ‚Du bist jetzt ein Vampir und hörst besser als vorher!’ Nach dem gestrigen Duschen war er müde ins Bett zurückgewankt und hatte trotz seiner Aufgewühltheit bis jetzt geschlafen. Das fand er erstaunlich. Wie viel Ruhe benötigte sein Körper noch? Seine Gedanken wurden unterbrochen, als es an der Tür klopfte und ein Arzt in das Zimmer trat.
„Guten Morgen. Ich bin Dr. Kensit.“
Christian wollte den Gruß erwidern, doch statt eines Wortes drang ein tiefes Knurren aus seiner Kehle, das ihn bis ins Mark erschreckte. Blut! Auf einem Tablett, das Dr. Kensit trug, stand, außer Kaffee, Brötchen, Marmelade, Wurst und Käse auch ein Glas gefüllt mit Blut und verströmte einen berauschenden Geruch. Christians Fangzähne schossen schmerzhaft aus seinem Kiefer und er hielt sich beschämt eine Hand vor den Mund. Er musste all seine Willenskraft zusammennehmen, um nicht mit einem Satz aus dem Bett zu springen und sich auf das Blut zu stürzen. Konnte man ihn überhaupt unter Menschen lassen? Mutierte er gerade zu einem Ungeheuer?
Dr. Kensit lächelte ihn beruhigend an:
„Keine Sorge. Jeder neugeborene Vinetaner reagiert so auf Blut. Das bekommen Sie noch in den Griff.“
Er reichte Christian das Glas, das dieser gierig bis auf den letzten Tropfen leerte. Er wartete einen Moment, und genau wie am Tag zuvor, ließ seine Gier nach.
„Wie oft muss ich Blut zu mir nehmen?“
„Normalerweise nur ein Mal in der Woche. Aber damit Ihre Verletzungen vollständig heilen können, müssen Sie auch morgen und übermorgen Blut trinken.“
Christian nickte und starrte verlegen das Frühstück an, das der Arzt neben seinem Bett auf ein Schränkchen gestellt hatte. Dr. Kensit ignorierte seine Verlegenheit und erklärte:
„Mejuna Ruven hat mir erzählt, dass Sie uns noch heute verlassen wollen, weswegen ich gerne meine Abschlussuntersuchung durchführen würde. Bitte legen Sie sich zurück.“
Christian tat es und ließ die Untersuchung über sich ergehen. Dr. Kensit überprüfte seinen Blutdruck und den Puls, hörte Herz und Lunge ab, tastete seine Rippen sowie die Bauchgegend ab und entlockte Christian dadurch hin und wieder ein schmerzhaftes Stöhnen. Besonders seine Rippen waren sehr druckempfindlich. Um sich abzulenken, fragte er:
„Können Sie mir sagen, wann mich jemand zum U-Boot bringen wird?“
„Das kann noch zwei bis drei Stunden dauern.“
„Das ist ja nicht mehr allzu lange. Was bedeutet eigentlich Mejuna? König?“
„Ja, das tut es.“
„Und Schakuta Ru?“
Auf die konzentrierten Züge des Arztes trat ein Lächeln.
„Es bedeutet hübscher Retter. Hat Meju Rusana Sie so genannt?“
Christian räusperte sich verlegen und Dr. Kensits Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. Glücklicherweise ging der Arzt nicht weiter auf das Thema ein, sondern setzte seine Untersuchung fort, und als er fertig war, erklärte er:
„Das sieht alles gut aus. Ich denke, in drei Tagen werden Sie nichts mehr von Ihren Verletzungen spüren. Von meiner Seite spricht also nichts dagegen, dass Sie uns verlassen. Mejuna Ruven hat Kleidung für Sie ins Bad legen lassen. Ich hoffe, sie passt.“
Christian bedankte sich und stattete dem Bad einen Besuch ab, nachdem Dr. Kensit das Zimmer verlassen hatte. Die Jeans und das T-Shirt passten gut und nach dem Frühstück lief Christian nervös durch das Zimmer. Dessen freundliche, helle Einrichtung konnte nichts daran ändern, dass er sich elend und einsam fühlte. Die Minuten krochen nur so dahin. Er musste raus aus diesem Raum, sonst würde er noch durchdrehen. Neben dem Fenster befand sich eine Terrassentür, durch die Christian hinaus trat. Vor ihm breitete sich eine gepflegte, parkartige Gartenanlage aus, die terrassenförmig angelegt war und der weite Blick über das Meer hätte ihm den Atem geraubt, wenn er ihn wahrgenommen hätte. Aber Christian war viel zu deprimiert, um sich die Gegend anzusehen. Seine Gedanken kreisten um Rusana, seine hoffnungslose Liebe zu ihr und um seine Zukunft. Er hatte Angst vor sich selbst, vor dem, was er geworden war. Unaufmerksam spazierte er zwischen blühenden Büschen hindurch, bis ein großer schwarzer Vogel mit einem lauten ‚Raok“ vor seinen Füßen landete und aufgeregt um ihn herumhüpfte.
„Naku!“, rief Christian erschrocken. „Was machst du denn hier?“
„Ich würde ja gerne behaupten, dass er sich Sorgen um dich macht“, erklang Egberts Stimme hinter ihm, „aber in Wahrheit bettelt er dich um Futter an.“
Christian fuhr zu dem Gardisten herum.
„Und was machst du hier?“
„Ich mache mir Sorgen um dich, mein Sohn.“
„Sohn?“, rief Christian entrüstet. „Zuerst bin ich dein Junge und jetzt dein Sohn?“
„Aber sicher doch. Was glaubst du, was ich für dich empfinde? Ich habe dich verwandelt! Wir sind miteinander verbunden und deine Emotionen bombardieren mich schon den ganzen Morgen. Was macht dir so zu schaffen? Warum hast du es so eilig, von hier wegzukommen?“
„Das geht dich nichts an!“
Egberts Augen blitzen belustigt auf.
„Und wie mich das etwas angeht. Du glaubst doch nicht, dass ich dich alleine gehen lasse. Ich werde dich begleiten, denn du hast noch viel zu lernen.“
„Und was zum Beispiel?“, fragte Christian gereizt, obwohl er genau wusste, was Egbert meinte. Schließlich traute er sich selbst nicht über den Weg.
„Zum Beispiel, wie du mit deinem Verlangen nach Blut umgehst, ohne eine Gefahr für die Menschen um dich herum zu sein. Außerdem musst du noch lernen, wie du ihre Gedanken und ihr Gedächtnis manipulieren kannst, ohne ihnen zu schaden. Auch deine eigenen Gefühle solltest du abschirmen können, denn sie prasseln auf mich ein wie ein Gewittersturm und das macht mich allmählich kirre.“
Egbert unterbrach seinen Redeschwall, kramte in seiner Hosentasche und warf Naku - der an Christians Hosenbein herumpickte, um dessen Aufmerksamkeit zu erregen und diesen dadurch gewaltig ablenkte - ein Leckerli zu. Danach trat er dicht an seinen Schützling heran und tippte mit seinem Zeigefinger gegen dessen Brust.
„Also, was ist los mit dir? Warum willst du fluchtartig von hier verschwinden? Warum willst du Rusana nicht mehr sehen und bringst sie dazu, Rotz und Wasser zu heulen?“
„Sie weint?“ Christin war verwirrt. „Das verstehe ich nicht. Für sie ist die Welt doch jetzt in Ordnung. Sie hat ihren Marco wieder und kann glücklich sein.“
Christians Worte klangen verbittert, was Egbert nicht entging. Kommentarlos packte er ihn am Arm und zog ihn mit sich durch den Garten.
„Wohin gehen wir?“
„Ich möchte dir etwas zeigen.“
Egbert dirigierte ihn um einige verwinkelte Ecken des Schlosses herum - dessen Pracht Christian nach wie vor keine Beachtung schenkte - bis er, einige Gartenebenen höher, abrupt stehen blieb. Gute zwanzig Meter vor ihnen saß Ruven zusammen mit einem Mann auf einer Bank, der in eine Decke gehüllt war.
„Das da ist dein Großvater Marco.“
Christian blinzelte, öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder. Ruven und Marco saßen so dicht beieinander, dass ihre Körper sich berührten. Diese Tatsache hätte Christian noch nicht umgehauen, aber dass die beiden Männer sich zärtlich küssten, brachte ihn aus der Fassung.
„Was?“ Egbert schmunzelte, während er sich zurückzog und Christian signalisierte, ihm zu folgen. „Hast du noch nie einen König kennengelernt, der sich in einen Mann verliebt hat?“
„Nun ja ... ehrlich gesagt nicht.“
„Tja, dann kennst du jetzt einen. Marco ist heute Nacht endgültig aufgewacht und noch etwas benommen.“
Christians Herz begann zu hämmern, als Hoffnung und Wut in ihm aufstiegen.
„Warum hat mir das keiner gesagt!?“ Dieses Mal bohrte er seinen Finger in Egberts Brust. „Du wusstest doch genau, was ich für Rusana empfinde. Bei der Hütte hast du mich sogar ausgelacht!“
„Ich hätte blind sein müssen, um nicht zu bemerken, dass ihr beide etwas füreinander empfindet. Aber ich werde mich hüten zu beurteilen, ob ihr beide euch wahrhaftig liebt.“
Für einen Moment rollten Egberts Gefühle über Christian hinweg. Er empfand tiefe Enttäuschung und Verletztheit, als seien es seine eigenen Emotionen und doch wusste er, dass es Egberts waren. So schnell, wie sie über ihn hereingebrochen waren, verschwanden die Emotionen auch wieder, als Egbert die Risse in seiner Schutzmauer schloss. Leise erklärte er:
„Tut mir leid. Ich hatte mich nicht im Griff. Vor Jahren glaubte ich, meine große Liebe gefunden zu haben, aber ich hatte mich getäuscht. Ich bin also kein Experte für solche Dinge.“
„Und warum hat Rusana mir gegenüber immer so getan, als liebe sie Marco?“
„Hat sie das? Vielleicht hast du dir das auch nur zusammengereimt, weil sie sich zurückgehalten hat. Sie hatte Angst davor, sich in dich zu verlieben, weil Ruven ihr gesagt hat, sie müsse auf ihre Gefühle achten. Sie hat diese Aussage so interpretiert, dass sie sich auf keinen Fall in Marcos Nachkommen verlieben darf, da sonst der Fluch nicht gebrochen werden kann. Doch es war genau anders herum. Nur weil Rusana sich in dich, in Marcos Nachkommen, verliebt hat, konnte der Fluch gebrochen werden. Ruven hat sich nie getraut, ihr die Wahrheit zu sagen.“
Christian brauchte einen Moment, um das Gesagte zu begreifen.
„Heißt das, wenn ich ein alter Mann oder eine Frau wäre, hätte Rusana sich auch in mich verlieben müssen, um den Fluch zu brechen?“
„Genau. Du kannst sicher verstehen, warum Ruven ihr diesen Teil des Fluches verschwiegen hat, oder?“
Christian nickte aufgewühlt. Der Fluch war gebrochen, was bedeute, dass Rusana ihn liebte. Selbst wenn sie wollte, konnte sie das nicht leugnen.
„Wo ist sie?“
„Ihre Privatgemächer liegen gleich hinter Ruvens.“
„Komme ich dahin, ohne meinem Großvater und Ruven in die Arme zu laufen?“
Egbert lachte leise.
„Sicher, wenn wir uns durch die Büsche schleichen. Komm mit!“
Christian folgte dem Gardisten durch den weitläufigen Garten und lernte unterwegs, dass er mühelos auf eine zwei Meter hohe Mauer springen konnte. Egbert blieb hinter einem Busch stehen und deutete durch die Blätter und Zweige hindurch auf Rusana, die verloren auf der zu ihren Gemächern gehörenden Terrasse saß.
„Ich lasse dich jetzt alleine“, erklärte Egbert, doch bevor er sich entfernte, meinte er schalkhaft grinsend:
„Du solltest ein paar Mal tief durchatmen, sonst stirbst du noch an einem Herzinfarkt, bevor du bei ihr ankommst.“
Beinahe hätte Christian seinen Mentor angeknurrt. Er wusste selbst, dass sein Herzschlag jedem Marathontrommler Konkurrenz machte. Noch nie in seinem Leben war er so nervös gewesen. Er hatte Angst. Was, wenn Rusana ihn doch nicht wollte? War ein gebrochener Fluch wirklich eine Garantie? Fast widerwillig setzten seine Beine sich in Bewegung, während er Rusanas Anblick in sich aufsaugte. Sie trug ein ärmelloses, weich fließendes rotes Kleid, das bis zu ihren Knöcheln reichte. Ihr langes, seidiges Haar glänzte in der Sonne und einzelne Strähnen wehten im leichten Wind. Sie war wunderschön!
„Rusana?“
Mit einem leisen Schrei sprang sie auf und starrte Christian entgeistert an. Sie war so in ihren Kummer versunken gewesen, dass sie ihn nicht hatte herankommen hören. Die Traurigkeit in ihren geröteten Augen zerriss Christian das Herz. Er war schuld an ihrem Elend.
„Es tut mir so leid, Rusana. Ich wollte dir nicht wehtun.“
„Was ... machst du hier?“ Rusanas Stimme zitterte und während sie redete, rannen dicke Tränen über ihre Wangen. „Du wolltest mich doch nicht mehr sehen, weil du mich hasst.“
Oh nein! Keine Tränen! Christians Nervosität verwandelte sich in Panik. Damit konnte er nicht umgehen. Es wäre ihm lieber, sie würde ihn anschreien. Unsicher trat er zu Rusana und wischte mit seinen Daumen behutsam ihre Tränen fort.
„Nicht weinen“, murmelte er flehend. „Ich hasse dich doch nicht. Ich wollte weg, weil ich dich liebe.“
„Du liebst mich?“ Rusana schluchzte und noch mehr Tränen traten aus ihren Augen. „Aber warum ... wolltest du mich dann nicht mehr sehen? Ich verstehe nicht ... „
„Ich dachte, du wärst mit Marco zusammen und ich hätte es nicht ertragen, euch zusammen zu sehen“, gestand Chris.
Rusana schloss die Augen und lehnte ihre Stirn gegen seine Brust.
„Daran bin ich wohl nicht ganz unschuldig“, gab sie zu. „Ich hätte dich aufklären sollen, aber ich hatte solche Angst.“
Christian legte seine Arme um sie und genoss ihre Nähe, atmete tief den Duft ihrer Haare ein.
„Ich weiß, Egbert hat mir das mit dem Fluch erklärt.“
„Dann weißt du, was Marco und ich getan haben? Warum Ruven so wütend war und den Fluch ausgesprochen hat?“
„Nein, nur dass du dich in mich verlieben musstest.“
Er schob sie ein Stück von sich, um ihr ins Gesicht blicken zu können.
„Was habt ihr denn getan?“
Eine tiefe Röte breitete sich auf Rusanas Wangen aus und sie blickte beschämt zu Boden.
„Wir haben miteinander geschlafen. Wild und hemmungslos.“
Christian trat geschockt einen Schritt zurück. Was empfand Rusana für Marco? Liebte sie ihn doch?
„Es ist nicht so, wie du denkst“, erklärte Rusana mit flehendem Blick. Sie hatte Angst, dass Chris ihr nicht glauben würde. „Zwischen mir und Marco läuft nichts, er ist wie ein Bruder für mich.“
„Und warum hattet ihr dann wilden, hemmungslosen Sex?“
„Weil Otruna uns manipuliert hat. Allerdings wissen wir erst seit gestern, dass sie eine Kräuterhexe ist. Wir hatten eine andere Hexe in Verdacht, konnten sie jedoch nie befragen, da sie sich umgebracht hat. Jetzt glauben wir allerdings, dass Otruna sie aus dem Weg geräumt hat, um von sich abzulenken.“
Christian zog seine Stirn kraus, als er versuchte, Rusanas Worte zu begreifen.
„Du meinst, Otruna hat euch etwas ins Essen oder in eure Getränke gemischt, damit ihr übereinander herfallt? Und Ruven hat euch erwischt und Marco verflucht?“
Rusana nickte und erklärte traurig:
„Er war so blind vor Wut, dass er nicht mehr wusste, was er tat. Es war ein wunderschöner, lauer Abend gewesen. Ruven war unterwegs und Marco und ich saßen auf seiner Terrasse und warteten auf ihn. Wir ließen uns Wein bringen, in den Otruna etwas gemischt hatte, was uns regelrecht rollig machte. Wir waren so heiß, dass wir übereinander hergefallen sind und uns die Kleider vom Leib gerissen haben. Wir waren nicht mehr Herr unserer Sinne, und als Ruven uns nackt ineinander verschlungen vorfand, ist er durchgedreht. Er hat Marco von mir weggerissen, ihn gegen die Schlosswand gedrückt und geschrien, dass er ihn verflucht. Marco und ich haben Ruvens Wut überhaupt nicht registriert. Wir waren so ... so ... geil, dass wir auch meinem Bruder die Klamotten ausziehen wollten. Er hat mich wutentbrannt auf den Boden geschleudert, seine Hand um Marcos Hals gelegt und ihn mit seinem Körper an die Wand gepresst. Er hat Marco tief in die Augen geblickt und mental den Fluch ausgesprochen. Ich war so benommen und ... lüstern, dass ich Ruvens Zorn überhaupt nicht wahrgenommen habe. Ich wollte einfach nur Sex. Wollte einen gewaltigen Orgasmus. Ich konnte an nichts anderes denken.“
Rusana atmete tief durch und wischte sich durch ihre feuchten Augen.
„Nachdem Ruven den Fluch ausgesprochen hatte, ist Marco zusammengebrochen. Ruven hat mit versteinertem Gesicht auf ihn hinuntergestarrt und erst, als ich von hinten meine Arme um ihn geschlungen und meinen nackten Körper an ihm gerieben habe, ging ihm auf, dass etwas nicht stimmte. Dass mein Verhalten nicht normal war, doch da war es zu spät. Ruven hatte Marco verflucht.“
„Ich an seiner Stelle wäre auch durchgedreht“, murmelte Christian. „Aber warum hat Otruna euch dieses Teufelszeug in den Wein gekippt?“
„Weil sie Marco aus den Weg räumen wollte und gehofft hat, dass Ruven ihn vor Wut tötet. Sie wollte Ruven für sich gewinnen und ein Kind mit ihm zeugen, das sie opfern wollte, um die Malusianer auf ewig in ihrer Dimension einzusperren. Ihren Gefolgsleuten zufolge hat sie Marco nicht umgebracht, weil sie überzeugt davon war, dass Ruven das selbst hätte machen müssen, damit sein Herz Ruhe findet und frei für etwas Neues wird - was natürlich vollkommener Quatsch ist. Ruven hat mir gestanden, dass er kurz davor war, Marco zu erlösen, indem er ihn tötet, aber er wäre nie zur Ruhe gekommen. Ruven hätte sich zeit seines Lebens mit Selbstvorwürfen gequält und sich wahrscheinlich irgendwann selbst umgebracht. Dich wollte Otruna aus dem Weg räumen, um zu verhindern, dass der Fluch gebrochen wird. Sie wollte nicht, dass Marco aufwacht.“
„Sind Marco und ich noch in Gefahr?“
„Ich glaube nicht. Wir haben euch zwar die letzte Nacht nicht aus den Augen gelassen, aber es sieht so aus, als habe Otruna Vineta verlassen. Angeblich hat sie ihre Pläne geändert und ist in eure Dimension geflohen, um einen alten Vinetaner zu suchen, der weiß, wo sich die geheime Bibliothek befindet. Dort soll es unter anderem Hinweise darauf geben, wer die Schrift lesen kann, ohne wahnsinnig zu werden.“
Rusana holte tief Luft und schüttelte leicht ihren Kopf, während ihre Augen sich erneut mit Tränen füllten.
„Ich schäme mich so für das, was ich getan habe.“
Christian trat zu ihr und zog sie in seine Arme.
„Hey ... nicht weinen. Ihr konntet doch nichts dafür. Otruna ist wirklich verrückt. Sie wollte ihr eigenes Kind opfern, das ist unbegreiflich.“
„Ja, das ist es. Vor allem wenn man bedenkt, dass vinetanische Frauen trotz ihres langen Lebens höchstens zwei Kinder gebären können.“
„Was? Wieso das?“
Rusana zuckte mit einer Schulter.
„Ist genetisch bedingt. Nach dem ersten Kind sind wir erst wieder nach fünfhundert Jahren empfänglich und nach dem zweiten Kind nicht mehr. Deswegen ist mein Bruder auch fünfhundertsechzig Jahre älter als ich.“
„Das ist für mich kaum vorstellbar“, gab Christian zu und blickte in ihre Augen.
„Muss man lange üben, bis es klappt?“
„Was klappt?“
„Ein Kind zu zeugen. Wenn ja, sollten wir möglichst schnell damit anfangen.“
Christian beugte sich vor und berührte sanft ihre Lippen mit den seinen. Rusana schloss seufzend die Augen und erwiderte den Kuss. Sie schob ihre Hände unter sein Shirt und streichelte seine warme Haut. Christian stöhnte auf, sein Körper vibrierte von ihren Berührungen, von der Sanftheit ihrer Lippen. Ihr Duft betörte ihn. Er wollte mehr von ihr spüren, zog sie näher an sich - und erstarrte, als Ruvens Stimme hinter ihm erklang:
„Willst du jetzt von hier weg oder doch lieber mit meiner Schwester rummachen?“
Christian legte seine Stirn auf Rusanas Schulter und murmelte:
„Lässt er uns alleine, wenn ich ihn ignoriere?“
„Ich fürchte nicht“, lachte sie und blickte zu ihrem Bruder. Er lehnte lässig an einem Vorsprung der Terrassenmauer. Es war ihm anzusehen, welch diebische Freude es ihm bereitete, sie und Christian zu stören. Ruven war wieder der Alte. Endlich waren sie wieder glücklich. Ihr Bruder hatte Marco und sie hatte Chris. Egal, was die Zukunft bringen würde, sie würden sie gemeinsam meistern. Zusammen mit Egbert und Flora. Sie würden Otruna suchen und auch den alten Vinetaner, der wusste, wo die Bibliothek versteckt war. Und sie würde Chris in seine Welt begleiten, bis er bereit war, mit ihr in Vineta zu leben. Außerdem wollte sie möglichst schnell ihr Versprechen einlösen, und Otto und Alma Vineta zeigen - natürlich zusammen mit Christian. Das Leben war schön und Rusana schwor sich, jede Minute davon zu genießen, egal, in welcher Welt sie sich aufhielt.

 

ENDE