3. Hoffnung
Christian hatte geduscht und eilte in sein
Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Der Pizza-Bringdienst benötigte
zwar meistens über eine halbe Stunde, aber vielleicht kam er dieses
Mal ja früher. Wie zur Bestätigung hörte Christian durch das auf
Kippe stehende Fenster einen Wagen vor dem Haus halten. Er konnte
durch die geschlossene Jalousie zwar nicht sehen, wer da draußen
war, aber es konnte ja eigentlich nur der Pizzabote sein. Christian
warf sein Handtuch aufs Bett und zog sich hastig Unterhose und
Jeans an, als er plötzlich eine Männerstimme hörte:
„Du hast doch bestimmt Geld dabei! Her damit!“
Er erstarrte kurz, doch dann griff er nach einem Hemd, das er sich
auf den Weg zur Haustür überzog. Er riss sie auf und
rief:
„He! Lasst den Mann in Ruhe oder ich rufe die Polizei!“
Einer der Angreifer - er hatte rote Haare, der andere blonde -
setzte sich in seine Richtung in Bewegung und meinte
drohend:
„Das würde ich an deiner Stelle lassen. Außerdem wollen wir doch
nur ein bisschen Kleingeld.“
In diesem Moment stieg Rusana aus ihrem Wagen und sagte mit warmer,
verführerischer Stimme:
„He Jungs, darf ich mitspielen?"
Augenblicklich hatte sie die Aufmerksamkeit aller vier
Männer.
Christian beobachtete perplex, wie die Frau um ihren Wagen herum
auf die Ganoven zuging und dabei betont ihre Hüften schwang. Ihr
eng anliegendes Shirt trug nicht dazu bei, ihre atemberaubende
Figur zu verbergen und ihre rabenschwarzen, hüftlangen Haare
glänzten im Licht des Mondes sowie der Straßenlampen. Die Frau sah
zwar aus wie Christians fleischgewordener Traum, aber offenbar war
sie nicht ganz dicht. Oder sie war ein sexy Racheengel, der Kung-Fu
und Bujutsu beherrschte. Wahrscheinlicher war jedoch, dass sie die
beiden Männer ablenken wollte, damit er und Manuel - Chris kannte
den Pizzaboten von vorherigen Lieferungen - ihnen die Messer
abnehmen konnten. Egal, was ihre Beweggründe waren, er sollte
handeln, bevor die hübsche, aber verrückte Lady den Gaunern zu nahe
kam. Doch nicht nur Chris löste sich aus seiner Starre und setzte
sich in Bewegung, sondern auch der blonde Dieb. Er gab Manuel einen
kräftigen Stoß, sodass dieser rücklings zu Boden stürzte und die
Styroporbox mit der Pizza fallen ließ. Danach ging er mit einem
überheblichen Grinsen auf Rusana zu, während sein rothaariger
Kumpan sein Klappmesser auf Chris richtete. Dieser suchte
fieberhaft nach einer Möglichkeit, den Messerschwinger zu
überwältigen, ohne verletzt zu werden, als er von einem Knurren
abgelenkt wurde. Einem tiefen, unheimlichen Knurren, das ihm eine
Gänsehaut über den Rücken jagte. Zu seinem Entsetzen kam es
eindeutig von der fremden Frau. Als sei das nicht schon
beängstigend genug, entblößte sie zwei albtraumhaft lange Eckzähne
und stürzte sich mit einem erneuten Knurren auf den blonden Dieb.
Einen Lidschlag später segelte er durch die Luft und landete drei
Meter weiter rücklings im Blumenbeet. Der zweite Gauner hatte keine
Zeit, sich von seiner Überraschung zu erholen. Innerhalb einer
Sekunde stand sie vor ihm, griff nach seinem Handgelenk und
quetschte es so fest, dass er wimmernd das Messer fallen ließ.
Gleich darauf zog sie ihn mit einer Hand zu sich, schlug ihre Zähne
in seinen Hals und presste die andere Hand auf seinen Mund, um
seinen Schmerzensschrei zu dämpfen. Seine Befreiungsversuche
wirkten so hilflos, wie die eines zehnjährigen Kindes.
Christians Verstand begriff nicht, was er da sah. Vollmond hin,
Vollmond her, es gab keine Werwölfe und erst recht keine Vampire.
Also, was stimmte hier nicht?
Plötzlich sprang der Pizzabote auf und bekreuzigte sich. Er starrte
mit schreckgeweiteten Augen auf die blutsaugende Fremde - oder
hatte sie sich einfach nur festgebissen? - und bewegte sich
rückwärts auf seinen Wagen zu.
Rusana bemerkte seinen Rückzug. Sie zog ihre
Zähne aus dem Hals ihres Opfers, blickte Manuel tief in die Augen
und gab ihm einen mentalen Befehl. Sofort blieb er stocksteif
stehen. Danach versetzte sie ihrem bibbernden Blutspender einen
heftigen Stoß, sodass er zurücktaumelte und gegen seinen Komplizen
stieß, der sich wieder aufgerappelt hatte. Sie fauchte, bleckte
ihre Zähne und ging langsam auf die Männer zu. Es amüsierte sie
köstlich, als die beiden panisch rückwärts stolperten, sich
umdrehten und zu ihrem altersschwachen Kombi rasten. Rusanas
Stimmung stieg. Vielleicht sollte sie öfter mal Ganoven in Angst
und Schrecken versetzen, das würde ihre hoffnungslose Suche
erheblich auflockern.
Um zu gewährleisten, dass die Möchtegerndiebe vorerst von ihrer
schlechten Angewohnheit, Mitbürger zu überfallen, kuriert waren,
verzichtete sie darauf, ihre Erinnerungen zu löschen. Ihnen würde
sowieso niemand glauben, dass sie einem Vampir begegnet waren - und
genau genommen war sie ja auch keiner. Sie war
Vinetanerin.
Mittlerweile hatte Christian sich dazu
entschlossen, nicht länger untätig herumzustehen und war leise an
Rusana vorbeigeschlichen. Er verstand zwar nicht, was hier gerade
passierte, aber er hielt es für vernünftiger, sich und Manuel in
Sicherheit zu bringen. Nachdenken konnte er später noch. Er griff
nach dem Arm des Pizzaboten, um ihn ins Haus zu ziehen, doch zu
seiner Überraschung wehrte Manuel sich. Zwar nicht heftig, denn er
wirkte benommen, doch seine Gegenwehr kostete Christian Zeit. Er
war sich sicher, dass die Verrückte - Chris weigerte sich, sie als
Vampirin zu bezeichnen - sein Gerangel mit Manuel hörte. Er zerrte
ihn direkt an ihr vorbei, doch sie beachtete sie nicht. Noch nicht.
Noch beschäftigte sie sich mit den anderen Männern. Christian
setzte mehr Körperkraft ein, um in die Sicherheit des Hauses zu
gelangen und schaffte es bis zur Tür, als Manuel plötzlich
rief:
„Ich muss stehen bleiben! Sie hat gesagt, ich muss stehen
bleiben!“
Christian sah schwer atmend zu der Frau, die sich nun ihnen
zuwandte. Ihr Blick bohrte sich in seinen und plötzlich hallte ihre
befehlende Stimme in seinem Kopf:
„Bleib stehen!"
„Bestimmt nicht", keuchte Christian und zerrte Manuel energisch
weiter durch die Haustür. Allerdings schaffte er es nicht, sie zu
schließen.
Rusana starrte Christian verdattert an, während
er den Pizzaboten ins Haus zerrte. Ihre Gedankenkontrolle
funktionierte bei ihm nicht? Das war eine Überraschung, die sie aus
der Fassung brachte und gleichzeitig ein erwartungsvolles Kribbeln
in ihr auslöste. Normalerweise waren Menschen nicht dazu in der
Lage, sich ihrer Kontrolle zu entziehen, es sei denn, durch ihre
Adern floss gemischtes Blut, was bei Marcos Nachkommen der Fall
war. Eine Vorfahrin von ihm hatte sich von einem Vinetaner
schwängern lassen. Rusana und ihr Bruder gingen davon aus, dass es
Marcos Großmutter oder Urgroßmutter gewesen sein muss, denn sein
vinetanischer Blutanteil war recht hoch, weswegen nur eine oder
zwei Generationen zwischen dem Techtelmechtel liegen konnten.
Leider hatten sie die Frage, welcher Vinetaner in Marcos Familie
mitgemischt hatte, nie klären können. Natürlich auch nicht, warum
dieser es nicht für nötig gehalten hatte, sich um seine Nachkommen
zu kümmern. Marco hatte erst von ihrem Bruder Ruven erfahren, dass
er etwas Besonderes war. Ruven war ihm zufällig bei einem seiner
Streifzüge durch Deutschland begegnet und hatte ihn mit nach Vineta
genommen. Dort hatte er Marco verwandelt.
Rusana riss sich aus ihrer Verblüffung, als sie registrierte, dass
Christian im Begriff war, die Tür zuzuschlagen. In Windeseile griff
sie nach ihrer Handtasche, die sie auf den Boden hatte fallen
lassen, und hechtete los. Sie erreichte die Tür, als sie nur noch
einen Spalt weit geöffnet war, und stieß sie auf, sodass Christian
einige Schritte zurücktaumelte. Der Pizzabote starrte sie verwirrt
an, da ihre Beeinflussung allmählich nachließ, weswegen Rusana
erneut in seinen Geist eindrang. Augenblicklich veränderte sich
sein Blick und nahm wieder einen abwesenden Ausdruck an. Aus den
Augenwinkeln sah sie, dass Christian sein Gleichgewicht
wiedererlangt hatte und mit leicht ausgestreckten Händen auf sie
zukam, um sie aus dem Haus zu schieben. Sie reagierte im Affekt,
duckte sich und versetzte ihm einen Schlag gegen die Brust. So
heftig, dass er rudernd nach hinten stolperte, die Balance verlor
und mit einem Schmerzensschrei auf den Rücken fiel.
„Oh!“, entfuhr es Rusana. „Das wollte ich nicht.“
„Dann verschwinde doch einfach ... und lass Manuel in Ruhe“,
keuchte Christian, während er versuchte, sich aufzurappeln - was
schwierig war, da sein Kopf sowie sein Rücken schmerzten und er
kaum Luft bekam. Er fühlte sich ein wenig benebelt und fragte sich,
warum diese Frau so stark war. Konnte es sein, dass er
halluzinierte? Hatte seine Exfreundin aus Rache die Wasserleitung
manipuliert und seinem Duschwasser Drogen beigemischt? Oder befand
er sich in einem Albtraum? Hatte er sich einen Horrorfilm angesehen
und war dabei eingeschlafen? Die Handschellen, die die Verrückte
aus ihrer Handtasche hervorzog, würden jedenfalls dafür
sprechen.
Egal, ob Halluzination oder Albtraum, Handschellen kamen nicht
infrage. Äußerst motiviert, den stechenden Schmerz im Rücken sowie
seinen Luftmangel ignorierend, rollte er sich auf die Seite und
drückte sich mit einem Arm hoch, um aufzustehen, doch da war sie
schon über ihm. Er hatte keine Chance. Egal, ob er versuchte, sie
zurückzustoßen, ihr die Beine wegzutreten, damit sie hinfiel, oder
ihr seine Handgelenke zu entziehen - sie war schneller und stärker.
Hinzu kam seine Hemmung, eine Frau zu schlagen. Wäre sie ein Mann
gewesen, hätte er sich geprügelt, doch so versuchte er nur, sie
irgendwie von sich fernzuhalten. Zum Schluss lag er erneut flach
auf dem Rücken und seine Hände waren mithilfe der Handschellen
hinter seinen Kopf an ein Heizungsrohr im Flur gekettet. Christian
war frustriert, denn während er nach Atem rang und sein Herz wild
hämmerte, blickte sie lächelnd, und kaum aus der Puste, auf ihn
hinunter. Was Chris jedoch völlig verwirrte und an seinen Verstand
zweifeln ließ, war, dass er ihr Lächeln auch noch umwerfend
fand.
„Wer bist du? Und was hast du eigentlich vor?“
„Mein Name ist Rusana und was ich möchte, erfährst du gleich. Aber
zuerst muss ich mich um den Pizzaboten kümmern.“
Rusana ging zu Manuel, der, nur drei Schritte entfernt von ihnen,
entrückt ins Nichts blickte.
„Und komm nicht auf die Idee, zu schreien. Das würde euch beiden
nicht gut bekommen.“
Schreien? Klar, er könnte um Hilfe rufen, aber Christian
bezweifelte, dass das jemand hören würde. Die Haustür war zu - wann
hatte die Verrückte die geschlossen? - und die Nachbarn in den
anderen Häusern saßen schon längst vor ihren lauten Fernsehern und
genossen den Abend. Und ihre Drohung sollte er auch nicht ganz
außer Acht lassen. Chris rüttelte an seinen Handschellen und
beobachtete, wie Rusana Manuels Schläfen mit den Fingerspitzen
berührte.
„Was hast du vor?“
„Ich manipuliere sein Gedächtnis. An mich und die Möchtegerndiebe
wird er sich nicht mehr erinnern. Nur an die Auslieferung der Pizza
und einen netten Plausch mit dir.“
Sie schloss ihre Augen, konzentrierte sich und ein paar Augenblicke
später ließ sie ihre Hände sinken. Christian beobachtete erstaunt,
wie Manuel lächelnd die Haustür öffnete, hindurchging und sie
hinter sich zuzog. Jetzt war er allein mit der Irren. Super. Obwohl
er wusste, dass es sinnlos war, zog und zerrte er an den
Handschellen und überlegte fieberhaft, wie er sich aus dieser
Misere befreien sollte. Ihr gegen das Schienenbein treten würde
wohl auch nicht wirklich was bringen.
„Hör auf, so an den Handschellen zu ziehen. Du tust dir nur
weh.“
„Dann mach mich doch einfach los.“
Rusana verschränkte ihre Arme vor der Brust.
„Zuerst möchte ich, dass du mir ein paar Fragen
beantwortest.“
„Fragen?“
Rusana nickte. „Fangen wir mit deinem Namen an. Du heißt doch
Christian Müller, oder?“
„Warum möchtest du das wissen?“
„Weil ich einen Müller suche, warum denn wohl sonst?“
Langsam wurde Rusana ungeduldig. Ihre Gedankenkontrolle hatte bei
ihm nicht gewirkt, also war sie ihrem Ziel vielleicht näher, als
sie zu hoffen wagte. Sie wollte Antworten. Hatte sie endlich
jemanden gefunden, der Marco von seinem Fluch befreien konnte? Mit
einem ungewollten Fauchen in der Stimme wiederholte Rusana ihre
Frage:
„Bist du Christian Müller?!“
Statt zu antworten, versuchte Chris trotz seiner gefesselten Hände,
sich von ihr wegzubewegen, indem er sich zur entgegengesetzten
Seite schob. Rusana sah ein, dass die Faucherei keine gute Taktik
war, ihn zum Antworten zu bringen. Kurzerhand stellte sie ihren Fuß
in seinen Schritt - und war schockiert über sich selbst. Was tat
sie da?
Ihre Maßnahme hatte den Erfolg, dass Christian augenblicklich
erstarrte. Mit weit aufgerissenen Augen, in denen Unglaube und
Panik standen. Was nicht verwunderlich war. Bis jetzt war Rusana
noch keinem Mann begegnet, der nicht besorgt um sein bestes Stück
gewesen wäre. Ohne ihren Fuß zu bewegen oder den Druck zu erhöhen,
betrachtete sie seinen Oberkörper. Sein offenes Hemd war zur Seite
gerutscht und erlaubte einen durchaus sehenswerten Blick auf seinen
flachen Bauch und seine Brust, die sich viel zu schnell hob und
senkte. Er sah gut aus. Zu gut! Kein Wunder, dass sie ihm jetzt, wo
ein Funke Hoffnung in ihr aufloderte, etwas zu nahe trat. Aber
vielleicht würde er jetzt endlich antworten.
„Also? Heißt du Christian Müller?“
Er nickte hektisch.
„Gut, das habe ich mir schon gedacht. Wie heißt deine
Oma?“
„Hanna Menden.“
Enttäuschung stieg in Rusana hoch. Das war der falsche Name. Aber
es gab ja noch eine Chance.
„Und deine andere Oma?“ Sie verstärkte den Druck ihres Fußes ein
wenig, um zu demonstrieren, wie wichtig ihr die Antwort
war.
Christian keuchte auf und rief:
„Katrin Müller!“
Rusana nahm ihren Fuß aus seinem Schritt und starrte ihn an. Sie
konnte es nicht glauben, aber bis jetzt passte alles. Es sah so
aus, als hätte sie gerade den Jackpott geknackt. Unwillkürlich
begann Rusana, Christian mit Marco zu vergleichen. Hatten sie
Ähnlichkeiten? Christians braune Haare, die feucht schimmerten,
waren dunkler als Marcos, genauso wie seine Augen. Sie hatte schon
so lange nicht mehr in Marcos Augen blicken können, denn sie waren
seit zweiunddreißig Jahren geschlossen, aber sie konnte sich noch
immer an sie erinnern. An das helle braun und an das Funkeln in
ihnen, wenn er sich freute. Christians waren um etliche Nuancen
dunkler und hatten einen unglaublich warmen Ton. Sie waren
faszinierend. Oh man! Hatte sie nach all den Jahren endlich die
richtige Person gefunden? War Christian wirklich Marcos Enkel? Es
sah so aus, aber sie wagte nicht, sich zu freuen. Noch nicht.
Zuerst musste sie sein Blut kosten. Das Blut der Nachkommen aus
einer Beziehung zwischen Vinetaner und Mensch schmeckte
einzigartig. Es war mit keinem anderen Blut zu
vergleichen.
Christian atmete erleichtert auf, als Rusana
ihren Fuß wegzog, doch sein Herzschlag wollte sich nicht beruhigen.
Er fühlte sich völlig hilflos und verletzlich. Was wollte die Frau
von ihm? Warum stellte sie diese Fragen über seine
Familie?
Im Moment begutachtete sie ihn, als sei er eine aus der Erde
gekrochene, neu entdeckte Spezies. Allerdings konnte er in ihren
Augen keinen Wahnsinn entdecken, sondern nur Unglaube - und Trauer?
Ja, Christian war sich sicher. Diese Erkenntnis schürte seine Angst
jedoch noch mehr. Zeigten manche Irre nicht auch tiefe Trauer, kurz
bevor sie ihre Opfer töteten, weil sie der Überzeugung waren, dass
es sein musste?
Wie zur Bestätigung seiner sich überschlagenen Gedanken veränderte
sich plötzlich ihr Blick. Ihre azurblauen Augen nahmen ein
stürmisches Graublau an und ihre Haltung etwas Raubtierhaftes.
Alarmiert riss er an den Handschellen und versuchte, seine Beine
anzuziehen, um Rusana mit den Füßen von sich fernzuhalten, doch sie
war schneller. Mit einer fließenden Bewegung setzte sie sich auf
ihn, beugte sich vor und schlug ihre Zähne in seinen Hals. Er
schrie auf. Vor Entsetzen und Schmerz. Ihr Biss tat höllisch weh
und brannte, als würde jemand Säure auf seine Haut schütten. Er
konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen schossen und
mühte sich verzweifelt, Rusana abzuschütteln, doch sie ließ ihm
keinen Spielraum. Mit ihrem Körper pinnte sie ihn am Boden fest und
drückte mit einer Hand seine Schulter nach unten. Die andere Hand
hatte sie in seine Haare vergraben und fixierte seinen Kopf.
Christian konnte nur hilflos an seinen Handschellen ziehen und
seine Beine bewegen, was ihm herzlich wenig nutzte. Sie war einfach
zu stark. Plötzlich ließ der Schmerz nach, ebbte mehr und mehr ab,
obwohl Rusanas Zähne noch in seinem Hals steckten. Das war mehr als
angenehm und Christian hätte sich entspannt, wenn er nicht voller
Panik gewesen wäre. Er fühlte sich eindeutig zu jung, um zu
sterben. Egal, ob in der Realität, in einer drogenumnebelten
Einbildung oder in einem Albtraum.
Auf einmal hörte Rusana auf, sein Blut zu trinken und er spürte,
wie sie über die Bisswunde leckte. Das war ein irritierendes Gefühl
und unter anderen Umständen hätte Chris es vielleicht sogar
genossen. Sie richtete sich auf und blickte ihn abermals so
merkwürdig an, als könne sie nicht glauben, was sie sah.
„Ich fürchte, wir beide werden eine Reise unternehmen
müssen.“
„Reise?“, stieß Christian keuchend hervor, doch statt ihm zu
antworten, beugte Rusana sich zur Seite und zog ihre Handtasche
heran. Sie kramte darin herum und holte schließlich eine
Plastikdose hervor, die sie öffnete und der sie ein rundes Pflaster
entnahm. Zwischenzeitlich zerrte Christian wild an seinen
Handschellen, doch damit erreichte er nur, dass seine Handgelenke
schmerzten.
Während Rusana die Schutzfolie von der Klebeseite des Pflasters
entfernte, antwortete sie auf seine Frage:
„Genau, eine Reise. Wir brauchen dein Blut.“
„Mein Blut?“ Christians Stimme klang in seinen eigenen Ohren
schrill. Er war entsetzt und starrte das Pflaster an, als sei es
ein gefährliches Messer.
„Ja, aber keine Panik. Ich werde dich jetzt schlafen legen, damit
du dich beruhigst. Sonst bekommst du noch einen
Herzinfarkt.“
Ihre Hand schoss vor und im nächsten Moment peckte das Pflaster auf
der Bisswunde. Christian verstand gar nichts mehr. Wieso verarztete
sie ihn, wenn sie etwas von ‚Schlafen legen’ faselte? Er hatte mit
einem Kinnhaken gerechnet, oder dass sie ihn mit irgendeinem
Gegenstand bewusstlos schlagen würde, allerdings konnte das ja noch
kommen. Doch alles was passierte, war, dass ihm auf einmal
schwindelig wurde und er die Augen nicht mehr offen halten konnte.
Er driftete weg, Schwärze umhüllte ihn und zog ihn unaufhaltsam in
einen tiefen Schlaf.
Rusana beobachtete, wie Christians Lider zufielen und sich sein
Körper entspannte. Sie lauschte eine Weile seinen tiefen,
regelmäßigen Atemzügen und schüttelte schließlich ungläubig den
Kopf. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie nach
zweiunddreißig Jahren endlich einen von Marcos Nachkommen gefunden
hatte. Christian musste einfach der Richtige sein, denn es passte
alles. Er war mit hoher Wahrscheinlichkeit Marcos Enkel, denn seine
Oma hieß Katrin Müller und durch seine Adern floss menschliches und
vinetanisches Blut. Nur ein Punkt war noch unklar. Ruven hatte zu
ihr gesagt, sie solle auf ihre Gefühle achten. Für Marco? Für
Christian? Sie hatte ihren Bruder gefragt, was er damit meinte,
doch er war ihr ausgewichen. Ruven hatte den Fluch im blinden Zorn
ausgesprochen, genauso wie die Bedingungen, ihn zu brechen - und
nun ganz offensichtlich Angst, ihr diese Bedingungen
auseinanderzupflücken. Nun ja, der Punkt würde sich klären, wenn
sie mit Christian in Vineta ankam. Jetzt musste sie erst einmal ein
paar Klamotten für ihn packen und mit ihm von hier verschwinden.
Außerdem hatte sie das kribbelige Bedürfnis, mit ihrer menschlichen
Freundin in Passau zu telefonieren. Sie musste ihr unbedingt
erzählen, dass ihre Suche endlich ein Ende gefunden
hatte.
Bevor Rusana sich erhob, strich sie Christian eine vorwitzige
Haarsträhne aus der Stirn und flüsterte:
„Schlaf gut, Schakuta Ru.“