16. Bangen

Ruvens Herz raste, als er auf Christians zerschundenen Körper starrte, während die beiden Ärzte ihn versorgten. Da war so viel Blut, das auf die Trage lief, zu tiefe Wunden, um sie mit ihrem heilenden Speichel verschließen zu können. Als einer der Ärzte seinen Platz neben Christian verließ, trat Ruven vor, streckte wie in Trance seinen Arm aus, und tauchte einen Finger in das frische, warme Blut. Sein rasendes Herz begann zu stolpern, als er an Marcos Trage trat und seinen blutverschmierten Finger zwischen dessen Lippen drückte, seine Stimme war ein heiseres Flüstern:
„Mit diesem Blut bist du von meinem Fluch befreit.“
Mehr konnte Ruven nicht tun. Ein Fluch konnte mit dem richtigen Blut gebrochen werden, aber er hatte in seinem Zorn die Bedingungen erschwert. Ihm wurde schwindelig und Marcos bleiches Gesicht verschwamm vor seinen Augen, als er auf eine Reaktion wartete. Er blinzelte, um seinen Blick zu klären. Da! Flatterten Marcos Lider? Ruven war sich nicht sicher. Er schloss seine Augen, atmete tief durch und konzentrierte sich. Er hatte Marco verwandelt und war mit ihm verbunden. Doch seit er den Fluch ausgesprochen hatte, konnte er ihn nicht mehr spüren. Es war, als wäre Marcos Körper nur noch eine leere Hülle, tot, obwohl er atmete. Wenn der Fluch gebrochen war, müsste er ihn wieder spüren können. Und tatsächlich, da war etwas! Zwar schwach, nur ein Hauch der so lang vermissten Aura seines Freundes. Tränen rannen über Ruvens Wangen. Das Wunder war eingetreten. Marco war gerettet, würde sich wieder erholen, aber wie sollte er ihm jemals unter die Augen treten können, wenn sein einziger Enkel starb? Das hätte Marco niemals gewollt, wäre lieber selbst gestorben. Und was sollte er Rusana sagen? Sie liebte Christian, denn das war die Bedingung, die er für die Aufhebung des Fluches gestellt hatte. Um den Fluch zu brechen, musste Rusana sich in Marcos Nachkommen verlieben, egal, ob dieser alt war, ein Mann oder eine Frau. Ruven hatte nie gewagt, ihr das zu sagen, denn wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich verliebte? Ernsthaft verliebte und nicht nur Sympathie für den Nachkommen entwickelte? Auch Rusana würde ihm niemals verzeihen, wenn Christian starb. Was hatte er getan? Warum nur hatte er in seiner Wut diesen Fluch ausgesprochen?
„Mejuna Ruven?“
Einer der Ärzte, Frego Kensit, riss ihn aus seinen verzweifelten Gedanken.
„Ja?“
„Der Patient benötigt dringend Blut und Eures ist kompatibel.“
Ruven wischte sich fahrig über die Augen und nickte. Als Vinetaner konnten sie die Blutgruppe eines Menschen anhand des Geruches bestimmen. Er ging um Christians Trage herum, setze sich auf einen eingebauten Klappsitz und streckte seinen Arm aus - dankbar, wenigstens etwas für Marcos Enkel tun zu können.

Im zweiten Helikopter rutschte Rusana nervös auf ihrem Sitz herum und knetete ihre Finger. Egbert, der neben ihr saß, legte beruhigend seine Hand auf ihren Arm.
„Er ist noch bei uns. Ich kann ihn spüren.“
Dass sein mentales Band zu Christian flackerte wie eine Glühbirne, die unregelmäßig mit Strom versorgt wurde, verschwieg er. Christians Leben hing am seidenen Faden und auch Egbert hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Er hatte versagt, hatte den Anschlag nicht verhindert. Allerdings hätte er niemals damit gerechnet, dass sich Otruna oder ihre Gefolgsleute so tief in die Höhlen vorwagen würden und sich dort auch noch so gut auskannten, um die Sprengsätze an den richtigen Stellen anzubringen. Das könnte bedeuten, dass sich unter der Salzsteppe Geheimnisse verbargen, von denen er nichts ahnte. Er würde es herausfinden und auch den gefangenen Attentäter dazu befragen, der mit versteinertem Gesicht zwischen zwei Wachen saß.
Als der Hubschrauber auf den Landeplatz des Schlosses aufsetzte, waren Ruven, Marco, Christian und die Ärzte bereits im Gebäude verschwunden. Im privaten Teil des Schlosses gab es eine kleine Krankenstation, die mit allen notwendigen Geräten ausgestattet war. Hier wurden auch die Angestellten und ihre Familien behandelt, die im Schloss arbeiteten, egal ob es sich um Menschen oder Vinetaner handelte.
Egbert runzelte die Stirn, als ihnen ein Gardist entgegeneilte. Er war allerdings nicht wirklich überrascht, als dieser ihm mitteilte, dass Otruna aus ihrer Zelle befreit worden war und fliehen konnte. Bei ihrem Befreier handelte es sich um Martin Koruwa, dem Oberbefehlshaber der Wachen des Schlosses, den sie niedergestochen zurückgelassen hatte. Der Mann war mittlerweile außer Lebensgefahr und Egbert nahm sich vor, ihn später zu verhören.

Im Flur der Krankenstation wartete Ruven auf sie. Er lehnte neben der Tür zum OP und sah kreidebleich aus. Er hatte Christian so viel Blut wie möglich gespendet und musste dringend Blut trinken, doch er wollte zuerst mit seiner Schwester sprechen. Er stieß sich von der Wand ab und ging Egbert und Rusana entgegen. Als er dem Blick seiner Schwester begegnete, wurde ihm noch elender zumute und er stammelte leise:
„Es tut mir so leid.“
Rusanas Schutzmauer, die sie bis jetzt mühsam aufrecht gehalten hatte, fiel in sich zusammen. Sie warf sich in die Arme ihres Bruders und begann hemmungslos zu weinen. Ruven schlang seine Arme um sie und hielt sie fest. Bald war sein Hemd durchnässt von ihren Tränen, doch er nahm es kaum wahr. Er liebte seine Schwester und er war schuld an ihrer Verzweiflung.
Es dauerte eine Weile, bis Rusanas Tränen versiegten und sie es schaffte, sich so weit von ihrem Bruder zu lösen, dass sie ihm in die Augen blicken konnte.
„Wird er es schaffen?“
Gerne hätte Ruven ihr eine positive Antwort gegeben, nur um ihr den Schmerz zu nehmen und sie zu beruhigen, doch dann hätte er sie belügen müssen.
„Die Ärzte konnten es mir noch nicht sagen. Aber sie kämpfen um Christians Leben, das haben sie mir versprochen.“ Liebevoll wischte er Rusana die Tränen von den Wangen, die sich erneut aus ihren Augen lösten.
„Marco?“
Ruven war klar, was seine Schwester wissen wollte und er nickte. Konnte nun selbst seine Tränen kaum zurückhalten.
„Der Fluch ist gebrochen. Ich kann ihn wieder spüren.“ Er atmete tief durch. „Ich weiß, dass du Christian liebst, Rusana. Es war eine Bedingung zur Brechung des Fluches, die ich dämlicherweise gestellt habe. Es tut mir so leid.“
Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sie hatte Fragen, wollte ihren Bruder anschreien und gleichzeitig umarmen. Sie war völlig durcheinander und brauchte Zeit, Ruvens Offenbarung zu verarbeiten. Schluchzend lehnte sie ihren Kopf wieder an seine Brust und schloss ihre Augen. Wenn es Christian und Marco wieder gut ging, war immer noch Zeit, ihrem Bruder Vorwürfe zu machen und ihn zu erschlagen.

Nachdem Ruven und Rusana Blut zu sich genommen hatten - Ruven weil er reichlich davon gespendet hatte und Rusana wegen ihrer zahlreichen Schrammen - warteten sie in Marcos Krankenzimmer auf neue Informationen über Christian. Marco war noch nicht aufgewacht, doch der Arzt, der ihn behandelte, erklärte, dass das nach einer derart langen komatösen Phase völlig normal sei. Zumal sie von einem Fluch herbeigeführt worden war. Es beunruhigte Rusana ein wenig, dass Marco wie eh und je still und leichenblass in seinem Bett lag, doch Ruven versicherte ihr, dass alles in Ordnung sei. Seine Verbindung zu Marco nahm von Stunde zu Stunde an Stärke zu. Diese vergingen quälend langsam, und jedes Mal, wenn jemand in das Zimmer kam, zuckte Rusana zusammen. Sie hatte panische Angst davor, dass einer der Ärzte hereinkommen würde, um ihnen mitzuteilen, dass Christian es leider nicht geschafft hatte. Doch wie schon so oft an diesem Tag, war es auch jetzt nur eine Krankenschwester, die fragte, ob sie ihnen noch Kaffee oder etwas anderes bringen sollte. Rusana hätte die Schwester beinahe angefaucht, rief sich jedoch in letzter Sekunde zur Ordnung. Die Frau konnte schließlich nichts für ihre Verzweiflung und meinte es nur gut. Sie warf einen Blick zu Ruven, dessen angespanntes Gesicht ihr verriet, dass es ihm ähnlich erging, wie ihr. Rusana sprang auf, um sich die Beine zu vertreten und sich abzureagieren, als sich hinter der Krankenschwester Dr. Frego Kensit ins Zimmer schob. Augenblicklich stand auch Ruven auf, während sich die Krankenschwester, die vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, zurückzog.
Der Arzt sah erschöpft aus, doch seine Augen leuchteten zuversichtlich, als er ohne Aufforderung berichtete:
„Der Patient ist jetzt stabil. Wir haben ihn in ein künstliches Koma versetzt und in den Tank gelegt.“
Rusana atmete zitternd aus und Ruven nickte. Der Tank glich optisch einem gläsernen Sarg, doch damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Der Tank half, Leben zu retten. Er wurde abwechselnd mit einer speziellen Flüssigkeit und einer gasähnlichen Substanz gefüllt, die die Heilung von inneren und äußeren Verletzungen enorm förderten. Allerdings war der Tank nur für Vinetaner geeignet, nicht für Menschen. In Bezug auf Christian stellte dieser Umstand jedoch kein Problem dar, da er sich bereits seit mehreren Stunden in der Verwandlungsphase befand.
„Wie lange wird er da drin bleiben müssen?“, fragte Ruven.
„Gute sechsunddreißig Stunden.“
„Ich möchte zu ihm“, sagte Rusana leise.
„Aber natürlich, Meju Rusana. Ihr wisst ja, in welchem Raum sich der Tank befindet.“
Rusana nickte und eilte aus dem Zimmer. Sie wäre fast in Egbert hineingelaufen, der den Raum betrat. Er hatte sich unter anderem um Otrunas Verfolgung gekümmert. Ruven winkte Egbert zu sich und wandte sich noch einmal an den Arzt, um mehr über Christians Verletzungen und die notwendig gewordenen Eingriffe zu erfahren. Als Dr. Kensit schließlich Marcos Zimmer verließ, fragte Ruven Egbert nachdenklich:
„Unter den Gardisten befinden sich doch sicher Männer, denen du vorbehaltlos vertraust, oder?“
„Du meinst Männer, die sich nicht von Otruna haben beeinflussen lassen?“
„Oder von ihr erpresst werden. Also möglichst Gardisten ohne Frau und Kind.“
„Spontan fallen mir da zwei ein, denen ich mein Leben anvertrauen würde. Ich nehme an, du möchtest, dass sie Alwin zu Hilfe eilen?“
„Genau, am besten sofort. Außerdem möchte ich, dass du zusammen mit Flora die im Schloss anwesenden Wachen, Gardisten sowie sämtliche Angestellten überprüfst. Ich möchte auch, dass ihr Marco und Christian möglichst nicht aus den Augen lasst. Vielleicht sind die beiden noch in Gefahr.“
Egbert hob eine Augenbraue.
„Dir ist aber schon bewusst, dass weder Flora noch ich die Gabe der Vervielfältigung besitzen. Wir können nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein.“
„Rusana und ich sind ja auch noch da“, beschwichtigte Ruven seinen Freund.
Dieser knurrte unwillig.
„Muss es ausgerechnet Flora sein? Du weißt, dass sie mich nicht leiden kann.“
Obwohl sich Ruven ausgelaugt fühlte, musste er lächeln. Flora war zusammen mit Rusana aufgewachsen und ihre beste Freundin.
„Das könnte daran liegen, dass du sie seit ihrer Pubertät ärgerst und ihr das Gefühl gibst, sie nicht ernst zu nehmen. Flora und du, ihr seid nun mal die Personen, denen ich blind vertraue. Also werdet ihr zusammenarbeiten. Flora ist gut in ihrem Job.“
„Das weiß ich. Schließlich hat ein Kumpel von mir sie zur Gardistin ausgebildet. Er erstattet mir regelmäßig Bericht über ihre Leistungen.“
„Dann ist ja alles klar. Um dir Arbeit abzunehmen, werde ich Flora anrufen und sie für morgen früh herbestellen“, beendete Ruven das Gespräch.
Er verließ - nach einem Blick auf Marco - das Zimmer, um nach Rusana und Christian zu sehen. Egbert blickte ihm mit gemischten Gefühlen hinterher. Ausgerechnet Flora! Es war sehr wahrscheinlich, dass sie ihre Krallen ausfahren würde, sobald sie ihn sah.