[ 7. ]

Wir sagen Jana lieber nichts. Wer weiß, es ist ihr recht. ‚frauen. com‘ ist offenes Haus. Für Frauen in jedem Alter. Auch für Frauen, die von anderswo sind. Für die besonders. Weil sie sonst wenig Platz haben. Also ich kann hingehen“, erklärt mir Vesna.

„Und wenn Jana dort ist?“

„Sie ist nicht, sie ist auf der Uni.“

„Du solltest nicht ohne sie …“

„Ist Quatsch. Ich bin ihre Mutter. Und in letzter Zeit sie versucht dauernd, mir zu sagen, was ich tun soll. Ich mache, was ich will. Ist auch Feminismus, oder?“

Ich grinse. „Ist einfach Vesna.“

„Reicht. Du wartest irgendwo in der Nähe und wenn es passt, du kommst. Aber besser, ich frage zuerst allein herum. Oder höre zu. Bei Journalistin alle sind vorsichtiger. Vielleicht weiß jemand, wo man kann Nicole finden. Und ob sie mit dieser Maggy mehr zu tun gehabt hat.“

„Ich glaube Nicole“, mache ich klar.

„Ich auch, aber man muss Umfeld klären.“

Wir lehnen an einem Würstelstand. Neben uns einige Steirer, die laut verkünden, ihre Krainer daheim sei viel besser als die Käsekrainer da und überhaupt sei Graz viel schöner als Wien.

„Mein Name ist Krajner“, sagt Vesna unvermittelt. „Ich bitte um etwas mehr Ruhe und Respekt vor Wurst aller Art.“

Die Gruppe starrt sie an. Dann gehen die Stänkerer kopfschüttelnd davon.

„Des war a Guata!“, schreit der Wirt aus dem Stand. „Die haben schon zehn Bier getrunken und waren nicht mehr zum Weiterkriegen! Den muss ich mir merken! Kriegst a Würschtl. – Was hätt’st denn gern?“

Vesna grinst. „Ich heiße wirklich Krajner. Rest ist mir so eingefallen. Bitte Burenwurst.“

Wir verputzen die Wurst gemeinsam, mit viel frischem Kren schmeckt sie wunderbar. Einen gesunden Magen braucht man dafür, das schon.

„Also gut“, fasse ich zusammen. „Ich lasse dich vorgehen und komme dann nach. Du hörst dich um. Ich will Sandra Alman nicht verärgern. Außerdem hat sie ziemlich gute Menschenkenntnis, glaube ich.“

„Genau die brauchen wir. Du wirst mit ihr reden. Oder auch wir beide, je nachdem.“

„Die Seifried hat tatsächlich von einem militanten feministischen Umfeld gesprochen, in dem Nicole Moser unterwegs sein soll. Ich weiß ja nicht, was sie darunter versteht, aber ‚frauen.com‘ ist es kaum“, überlege ich.

„Die macht einfach Stimmung. Und Nicole kann sich nicht so gut wehren wie Star.“

„Da hast du recht. Vielleicht gelingt es Jana, mir über ihre Schwester ein Interview zu vermitteln.“

„Zirka hundert Journalisten würden gerne Interview mit ihr machen. Aber auch dafür es ist besser, zuerst wirkliche und angedichtete Umstände überprüfen. Ich sollte ins Hotel. Vielleicht sie brauchen Zimmermädchen …“

„Und dafür hast du Zeit?“

„Nicht ich, Jana ist sowieso besser. Jüngere sie nehmen gerne. Und sie ist schon jetzt in Sache mit drin.“

Mir ist nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Eigentlich wäre es mir lieber, die nächsten Tage ein wenig auf Distanz zu gehen. Nicht Opfern oder Tätern aufzulauern, keine weiteren Verwandten zu quälen. – Aber das habe ich ja ohnehin nicht vor. Was ich eigentlich möchte, ist einfach wieder einmal ein friedlicher Abend. Mit Oskar. Mit gutem Essen. Auch gern mit Vesna und ihren Zwillingen. Von mir aus auch mit Oskars Tochter Carmen. – Und ich wollte den Rechtsmediziner Karl Simatschek anrufen. Warum, hab ich im Moment allerdings vergessen.

„Du murmelst vor dich hin, so alt du bist noch nicht, auch wenn du wirst bald fünfzig“, spöttelt Vesna.

„Man sollte mit den Vorfeiern beginnen. Spontane Feste, einfach so. Ist mir viel lieber als eine große Sache.“

„Weil dann auch nicht groß auffallt, du bist halbes Jahrhundert alt.“

„Ich verspreche dir, Vesna: Ich werde es plakatieren. In der Redaktion. Von mir aus auch bei unserem Haus. Und wenn das auch zu wenig ist, werde ich ein Inserat schalten. – Vielleicht begreifst du dann, dass mir der Fünfziger wirklich wurscht ist!“

„Also Vorfeier. Klingt sowieso gut. Zumindest zum Üben. Wo? Wann?“

„Ich wollte Karl Simatschek anrufen, es hatte sogar irgendwas mit ‚Sei ein MANN!‘ zu tun. Nicht mit der Vergewaltigungsgeschichte, ich hatte die Idee schon davor … Ich komme nicht darauf, deswegen habe ich gemurmelt …“

„Leiche wir haben zum Glück noch keine.“

„Jetzt weiß ich es wieder! Ich hab überlegt, ob Pauer schwul sein könnte. Vielleicht macht er deswegen gar so ein Getöse um Sex und Mannsein und so. Und zu dem, was seine erste Frau erzählt hat, würde es auch ganz gut passen. Er war sexuell nie besonders aktiv. Vielleicht hat sie da etwas nett umschrieben.“

„Unsinn. Sie hätte gesagt. Und Pauer hat zwei Kinder. Und außerdem versucht, Frau zu vergewaltigen.“

Ich grinse. „Vielleicht gibt’s auch perverse Schwule?“

Vesna schüttelt mit gespielter Strenge den Kopf. „Das ist nun wirklich gar nicht korrekt. Klingst wie Chef von Chronik, von dem du dauernd erzählst.“

„Für den sind alle Schwulen pervers.“

Etwas später müssen wir unsere Pläne ändern. Sandra Alman ist heute Abend nicht bei „frauen.com“. Vesna will trotzdem hin und hören, was über die Vergewaltigungssache geredet wird. Ich finde, ich bin genug herumgehetzt. Ich fahre heim, genieße die Ruhe. Schön, wenn die Tage so lang sind. Die letzten Sonnenstrahlen fallen durch die Glasfront zur Dachterrasse. Ich öffne die Tür, gehe nach draußen, Gismo dicht neben mir. Die Töpfe mit den Kräutern haben sich in den letzten Wochen üppig entwickelt, dreierlei Sorten Basilikum, Thymian, Ananassalbei und Koriander. Der Rosmarin hat beinahe mediterrane Ausmaße. Ich streife darüber, schnuppere. Eigentlich wollte ich ja das Wichtigste des heutigen Tages zusammenschreiben. Ich könnte den Laptop auf den Gartentisch auf der Terrasse stellen … Aber erst drehe ich noch eine Runde, gieße alles, was trocken ist, lasse mir Zeit. Das gibt’s auch, ruhiges Leben ohne Skandale und Anschuldigungen, ohne Übergriffe und Untergriffe. Einfach in der Spätnachmittagssonne stehen, die Katze streicheln, über die Dächer von Wien schauen. Luxusleben. Ich bin mir dessen bewusst. Klar, dass ich mir eine Wohnung wie diese nie leisten könnte. Aber ein guter Wirtschaftsanwalt verdient eben entsprechend. – Gerecht? Wahrscheinlich nicht. Oskar arbeitet viel, aber um so viel mehr als eine fleißige Putzfrau arbeitet er auch nicht. Die Frage ist: Welche Leistung zählt was? Und warum? Und: Wo bliebe der Ansporn, wenn alle gleich viel verdienen würden? Ginge es dann bloß um die Freude an der Arbeit? Oder würden alle so wenig wie nur irgendwie möglich tun? Und: Was kriegen die, die das alles verordnen? Bisher hat es immer welche gegeben, die am Ende gleicher waren. Vielleicht geht es ohnehin nur um so etwas wie ein bisschen mehr Gerechtigkeit, ohne dass einer bestimmen darf, was das genau ist. Gismo schnurrt und streicht mir um die Beine. Es gibt Wesen, die können sehr gut ohne Arbeit und ohne gesellschaftliche Anerkennung glücklich sein. – Und wie ist das mit mir? Momentan bin ich rundum zufrieden. Ich will gar nicht an meine Reportage denken. Aber auf Dauer? Ich bin neugierig. Ich will wissen, was hinter dem schönen Schein lauert. In gewisser Weise liebe ich die Herausforderung, auch wenn ich lange nicht so mutig bin wie Vesna.

Wie wichtig sind Geld und Anerkennung? Thomas Pauer hatte viele Jahre den Eindruck, von beidem zu wenig zu bekommen. Was löst das bei einem Menschen aus? – Womit ich doch wieder beim Thema wäre. Ich seufze, halte mein Gesicht noch eine Minute in die Sonne, gehe dann in unseren großen Wohnraum und setze mich an den Schreibtisch. Es war nicht klar, wie lange ich heute unterwegs sein werde. Also hat Oskar versprochen, sich ums Abendessen zu kümmern. Ich starte den Laptop. Meine Hände duften immer noch nach Rosmarin und Basilikum. Wenn ich schon daheim bin, könnte ich trotzdem kochen. Irgendwas Rasches mit vielen Kräutern. – Mira, du willst dich nur vorm Arbeiten drücken! – Ertappt, antworte ich mir selbst. Etwas mit Kräutern … Ich stehe auf, gehe zum Kühlschrank, überlege …

Ich habe aus dem Weinviertel ein schönes Stück Schweinsschopfbraten mitgebracht, bei Eva in der Nähe gibt’s diese großartigen Mangalitza-Wollschweine. Eigentlich sind sie viel zu nett, als dass man sie essen dürfte. Aber das Fleisch vergammeln zu lassen, ist auch keine Lösung. Wiegt mindestens zwei Kilo, das Stück, egal, den Rest können wir kalt essen. Ich heize das Rohr auf neunzig Grad vor und brate das Fleisch unterdessen in einer Pfanne auf dem Herd rundherum scharf an. Pauers junge Frau. Steht sie wirklich zu ihm? Warum? Weil sie ihn liebt? Weil sich das so gehört? Weil sie keine andere Chance hat?

Ich gehe auf die Terrasse. Gismo rollt sich genießerisch auf dem Boden. Sonnenwarme Ecke. Am liebsten würde ich mich zu ihr legen. Ich zupfe feine Ästchen vom Rosmarin, nehme viel vom Basilikum und Koriander. Den Rosmarin schneide ich klein, vermische ihn mit Meersalz und Olivenöl und reibe das angebratene Fleisch damit ein. Ab ins Rohr. Jetzt die anderen Kräuter schneiden. Nicht allzu klein und mit einem scharfen Messer, damit die zarten Blätter nicht gequetscht werden. Mein bestes Olivenöl dazu und ziehen lassen. Das kommt erst ganz kurz vor dem Anrichten übers Fleisch. In zwei Stunden gibt es einen wunderbaren Kräuterbraten. Und Oskar wird für den Rest sorgen. Ich bin gespannt, was er mitbringt.

Wenig später hat mich die Story doch wieder gefangen. Ich schreibe auf, was ich heute gehört habe, was mir wichtig vorgekommen ist, was seltsam war. Ich notiere, mit wem wir dringend reden sollten. Sandra Alman. Natürlich Nicole. Wenn es klappt, ohne ihr auflauern zu müssen. Pauer. Wird wohl nicht gelingen, aber ich muss es probieren. Immerhin ist er auf freiem Fuß. Und wir sind die auflagenstärkste Wochenzeitung im Land. Seine zweite Frau … wenn sie ihn kennengelernt hat, als er Sportmoderator beim kleinen Privatsender war, dann hat sie sich nicht in sein Geld verliebt. Damals sei er zum ersten Mal selbst über die Runden gekommen, hat die Apothekerin erzählt. Aber vielleicht hat die neue Liebe etwas anderes geglaubt. Jedenfalls hat er die Frau gewechselt … weil er von der ersten schon lange wegwollte, es aber aus finanziellen Gründen nicht konnte? Hat ihn das geprägt? – Was bewirkt Abhängigkeit bei einer Frau, das sollte ich mich genauso fragen. – Wie abhängig ist die neue Frau von ihm? Zwei kleine Kinder. Ihre Mutter dürfte wohlhabend sein. Eine Villa bei Korneuburg. Die sie allerdings laut Vesna gerade renovieren lassen. – Mit welchem Geld? Vielleicht weiß meine Freundin das. Es könnte ein entscheidender Punkt sein. Kann man voll hinter seinem Mann stehen, wenn er versucht hat, jemanden zu vergewaltigen? Ich überlege, wie das bei mir und Oskar wäre. Absurd. Allein die Vorstellung, er könnte eine Frau zum Sex nötigen, ist einfach absurd. – Weil man nichts denken darf, das nicht sein soll? Nein. Weil es eben tatsächlich Männer gibt, bei denen das absurd ist. Oskar ist einer davon. Hunderttausendprozentig.

Unter „Seltsames + Sex“ notiere ich:

– Pauers große Sprüche über Sex, samt supergrausigen Machofantasien über frustrierte Feministinnen.

– Er lebt heimlich in einer Villa bei Korneuburg, offiziell hat er in Wien eine Hotelsuite und ansonsten lebt er in Berlin.

– Alle glauben, er ist Deutscher, dabei ist er Österreicher.

– Seine erste Frau Franziska sagt: Er war nie besonders interessiert an Sex.

– Seine Verlagschefin verkauft ihn als Super-Mann, der sich vor den Frauen nicht retten kann.

– In der Pressekonferenz sagt sie, Frauen rennen ihm nach, aber er ist treu.

– Wie stehen Farah Seifried und Thomas Pauer zueinander?????????

Inzwischen duftet der Schopfbraten verführerisch. Ich sehe auf die Uhr. Gleich ist es acht. Oskar hat sich noch nicht gemeldet. Er wird eben aufgehalten worden sein, das kommt vor. Wir haben beide Jobs, die nicht zu den klassischen Bürozeiten enden. Gut so. Allzu viel Routine erdrückt mich. Und für eine Beziehung ist sie auch nicht gut.

Ich habe Vesna versprochen, eine Art Vorfeier zu organisieren. Natürlich habe ich in den nächsten Tagen mehr als genug zu tun, aber wenn ich mich um Interviews bemühe, dann kann es sein, dass ich ohnehin warten muss, bis ich sie kriege. Ein Essen mit Oskar und Vesna und Jana. Ihr Bruder Fran, das Computergenie in der Familie, ist ja momentan in Kaliforniern. Dafür ist Carmen da. Oskars spät gefundene Tochter. Es hat Vorteile, eine Frau zu sein: Man erfährt nicht erst nach mehr als zwanzig Jahren, dass man ein Kind hat. Carmen hat in der Schweiz Italienisch und Politikwissenschaft studiert. Und jetzt gerade in Wien ihr Umweltmanagement-Studium abgeschlossen. Zwischen Jana und ihr gibt es immer wieder Spannungen, vielleicht weil Jana sich deutlich leidenschaftlicher mit Politik beschäftigt als Carmen. Fran hingegen hat Oskars Tochter die letzten Male mit ziemlicher Bewunderung angesehen. Attraktiv ist Carmen ja auch wirklich. Und sympathisch. Tja, ich habe ihr meine ehemalige Wohnung überlassen. Ob sie nach ihrem Dritt-Studium in Wien bleibt? Das könnte ich sie bei so einem gemeinsamen Essen fragen.

Ich gehe noch einmal auf die Terrasse. Inzwischen hat sich die Sonne hinter den Dächern der Stadt versteckt. Angenehm warm ist es trotzdem. Ich sehe mich nach Gismo um und lächle. Sie wälzt sich noch immer wie eine junge Katze auf dem Boden. Sechzehn Jahre ist sie jetzt. Ich sehe erneut hin: Die wälzt sich nicht wohlig, die zuckt. Sie hat etwas. Ich renne die paar Schritte zu ihr, hocke mich nieder. Sie miaut leise und starrt mich an. Ich berühre sie vorsichtig, sie fährt zusammen. Gismo, Katze, was ist? Sie hat Schmerzen. Das eine Hinterbein ist unnatürlich abgewinkelt. Ich taste es ab. Sie faucht leise. Mehr um mir zu sagen, dass das jetzt aber wirklich sehr wehtut, als um mir zu drohen. Früher hätte sie mir in so einer Situation die Krallen reingehaut, da bin ich mir sicher. Ich hebe sie hoch. Gismo, was ist? Warum glaube ich immer, dass wir einander verstehen, und jetzt, da es wichtig ist, habe ich keine Ahnung, was du mir sagen willst? Du hast nichts Schlimmes, versprich es! Vielleicht einen Sonnenstich. – Kriegen Katzen so etwas? Sie war sechzehn Jahre in der Sonne und hat nie einen gekriegt. Kann es mit dem Alter zu tun haben? Ein Schlaganfall? Bitte nicht! Ich versuche sie auf die Beine zu stellen. Sie maunzt und lässt sich wieder fallen. Ich taste ihre anderen Beine ab. Sie zuckt. Idiotisch, Mira. Du bist keine Expertin. Sie muss zur Tierärztin, und das ganz rasch! Katzen haben sieben Leben, heißt es. Wie viele hat meine Gismo schon verbraucht? Als sie jung war, ist sie von einem Auto angefahren worden. Ich renne hinein, suche nach der Nummer der Tierärztin, finde sie nicht gleich, fluche, finde sie dann doch, rufe an. Beruhigende Stimme am anderen Ende. Ja, sie sei da. Die Ordinationszeit sei zwar schon vorbei, aber sie warte ohnehin auf einen Hund. Ich solle Gismo einfach im Katzenkorb herbringen. – O nein! Den Katzenkorb habe ich hergeliehen, einer Kollegin, letzte Woche. Dann solle ich Gismo in eine Schachtel legen. Jedenfalls auf irgendetwas mit einem festen Boden. Ich merke, dass mir Tränen übers Gesicht rinnen. Meine starke eigensinnige verfressene Gismo ganz armselig in einer Schachtel … ganz abgesehen davon, dass ich keine Schachtel habe. Ich renne wieder auf die Terrasse. Gismo liegt da und miaut leise. Ganz anders als sonst. Etwas mit festem Boden … unser Frühstückstablett. Ich rufe ein Taxi. Ich schaffe es nicht, jetzt selbst Auto zu fahren. Außerdem möchte ich mich um Gismo kümmern. Komm, Alte. – Nein, gar nicht so Alte … Ich habe eine Decke aufs Tablett gelegt, jetzt hebe ich sie vorsichtig hinauf. Kein Widerstand. Das macht mich besonders verzweifelt. Gismo lässt sich nichts gefallen. Üblicherweise. Bis jetzt. – Und was, wenn sie unsere Wohnung nie mehr wiedersieht? Stopp. Gar nicht daran denken. Vielleicht kann sie Gedanken lesen. Du wirst wieder gesund, Gismo! Das ist nur irgendein dummer Anfall. Ich fahre mit dem Lift nach unten. Zum Glück ist das Taxi schon da und der Fahrer fragt nicht viel.

Zehn Minuten später sind wir bei der Tierarztpraxis. Nicht so eine schicke in der Innenstadt samt Friseur und Fitnessabteilung, sondern eine bodenständige im Parterre eines Siebzigerjahre-Wohnhauses. Ich komme hierher, seit ich Gismo winzig und durchnässt gefunden habe. Die Tierärztin legt meine Katze ganz vorsichtig auf den Operationstisch. Allein das: die arme Gismo auf diesem Edelstahlmonster. Ausgeliefert. Sie schaut ihr mit einem Gerät in die Augen, sie horcht sie ab, ich traue mich kaum zu atmen. Sie tastet das noch immer seltsam angewinkelte Hinterbein ab. Gismo faucht. Diesmal schon kräftiger, kommt mir vor.

Die Tierärztin sieht mich an.

„Ja?“, sage ich mit trockenem Mund.

„Sie hat sich das Bein verstaucht. Das ist alles. Sie ist nicht mehr jung, hat wohl schon ein wenig Arthritis, und sie ist erschrocken. Deswegen wollte sie nicht aufstehen, und natürlich tut so etwas sauweh. Aber an sich ist sie noch immer sehr gut beisammen.“

Ich schlucke. „Sie sind sicher?“

„Sie haben einen größeren Schock als Ihre Katze, nicht wahr?“ Sie geht zu einem Medikamentenschrank, zieht eine Spritze auf, redet beruhigend auf Gismo ein und drückt die Spritze ins Fell. Ein Schrei und gleichzeitig ist Gismo auf den Beinen und die Tierärztin hat einen langen Kratzer an der Hand und Gismo springt vom Operationstisch, fällt, rappelt sich wieder auf, hüpft auf drei Beinen in eine Ecke und starrt uns böse an.

„Ich hab ihr Aktivitätspotenzial unterschätzt“, sagt die Tierärztin und lacht. „Jedenfalls ist die Spritze drin. Es ist etwas gegen Schmerzen, das sie gleichzeitig beruhigt.“

Ich gehe langsam auf Gismo zu. Sie duckt sich, fixiert mich. „He, es geht dir gut. Es ist bloß deine Hinterpfote. Wo bist du wieder rauf? Du bist nicht mehr die Jüngste, du musst mit dem Springen aufpassen!“ Ich stelle das lächerliche Tablett samt Decke neben sie. Sie schnüffelt. Bleibt, wo sie ist.

„Haben Sie zufällig Oliven im Haus?“, frage ich die Tierärztin.

„Oh, klar, sie liebt ja Oliven. – Ich denke schon. Ich bin gleich wieder da. Wenn eine Frau mit einem Hund kommt, sagen Sie ihr einfach, sie soll bitte einen Moment warten.“

Ein Hund, das hätte jetzt gerade noch gefehlt. Andererseits: Gismo hat schon einige Hunde in die Flucht geschlagen. Damals war sie jünger. Und ohne verletzte Pfote.

Ich streichle meine Katze vorsichtig, aber immer, wenn ich sie hochheben oder Richtung Tablett bugsieren will, sträubt sie sich und faucht. Es gab Situationen, da war mir das egal, da habe ich sie eben etwas energischer angefasst. Heute kann ich das nicht.

Plötzlich wird ihr Hals lang, die Augen werden groß, der Schwanz steht steil nach oben, die Schwanzspitze vibriert. Der flammend rote Streifen quer über ihrer Brust leuchtet. Und die Tierärztin steht da, mit einigen schwarzen Oliven in der Hand. Sie legt sie vorsichtig auf die Decke auf dem Tablett und schon fällt Gismo über die erste her.

„Sie wird ohnehin ruhiger werden, die Spritze wirkt gleich.“

Für die nächsten Tage bekomme ich noch Tabletten mit, ich weiß, worin ich sie am besten verstecke. Während der Taxifahrt döst meine Katze. Daheim erwartet uns ein wunderbarer Duft nach Rosmarin und Schwein. Ich schiebe das Tablett in eine der Lieblingsecken von Gismo, sie ringelt sich auf der Decke ein und scheint keine Schmerzen mehr zu haben. Die Schiebetüren zur Terrasse sind noch offen. Ich sehe mich draußen um. Wir haben ein Regal, in dem Polster, Übertöpfe und alles mögliche andere Zeug gestapelt sind. Jetzt liegt das meiste auf dem Boden. Gismo hat es irgendwie geschafft, bis ins vierte Fach auf gut einen Meter achtzig Höhe zu klettern, wollte es sich wohl auf den Polstern gemütlich machen und ist dabei abgestürzt. Klare Sache. Wenn nur alle Fälle so einfach zu lösen wären.

Oskar kommt nur wenig später, beladen mit zwei großen Papiersäcken. Er hat beim Chinesen eingekauft und fragt mich, was da so köstlich duftet. Ich zeige ihm meinen Schopfbraten und übergieße ihn mit dem Kräuteröl.

„Warum hast du nicht angerufen, dass du kochst?“, fragt er.

Ich erzähle ihm von den Ereignissen der letzten Stunde, und nachdem er Gismo ausführlich gestreichelt hat, einigen wir uns darauf, dass wir einander doch nicht in jeder Kleinigkeit telepathisch verstehen. Kein Problem. Besser zu viel zum Abendessen als zu wenig. Wir machen uns über die China-Köstlichkeiten her. Der Kräuterschopf schmeckt auch kalt. Oskars Bedingung: Er darf das Schwein wenigstens kosten. Gismo schläft ihre Verletzung weg und wir genießen es, heute ganz sicher keine Aufregungen mehr zu haben.

Am nächsten Tag hat Vesna in der Nähe des Naschmarkts zu tun. Ich treffe mich mit ihr auf einen Sprung im Café Museum. Neu renoviert und trotzdem mit altem Charme, so etwas gibt es. Wir hocken in einer der Nischen und sie erzählt, dass gestern Abend bei „frauen.com“ nicht besonders viel los war. Wenn wir gedacht haben, dass die dort große Solidaritätskundgebungen mit Nicole Moser organisieren: Fehlanzeige.

„Natürlich man ist empört, dass gewisse Medien eher Pauer als Mädchen glauben. Aber die meisten kennen sie nicht. Und an dem einen Abend hat sie nicht viel gesagt angeblich. Diese Maggy war gestern auch nicht da. Dafür mir haben junge Frauen erzählt, wie sie ewig lange Vorträge macht, denen niemand will zuhören. – Muss auch nicht lustig sein, du bist älter und weißt viel und die Jungen finden das öd.“

Ich nippe an meinem Cappuccino. „Kommt in den besten Familien vor.“

„Natürlich man will Nicole unterstützen. Ist interessante Mischung an Frauen dort, viele von der Uni, Lehrerinnen, Krankenschwester, zwei von Caritas, aber auch von anderen Ländern, gebildet und gar nicht gebildet. Man überlegt, was ist beste Art, Nicole zu helfen. Man will Hysterie nicht noch anheizen. Und: Zu viel Geschrei sieht aus, als man würde Zweifel haben.“

„Und? Gibt es die?“

„Nein, niemand zweifelt. Ist aber auch kein Wunder. Gibt genug bei denen, die kennen Gewalt selbst. Junge Frau, ihr Onkel hat sie regelmäßig vergewaltigt. Hat sie erzählt. Wird einem ganz anders, wenn sie das ruhig sagt.“

Ich nicke. „Woher stammt sie?“

„Du glaubst, aus Ausland? Du täuschst dich. Ist aus Tirol. Kleines Dorf. Zum Glück Cousine hat in Wien Arbeit gehabt. Sie haben Onkel angezeigt. Mir hat Mitarbeiterin von ‚frauen.com‘ erzählt, dass das so eine Sache ist: Vergewaltigungen gibt es mehr unter Österreichern als unter Menschen, die von anderswoher sind. Zumindest Vergewaltigungen außerhalb von Ehe. Von Vergewaltigungen in der Ehe man weiß wenig. Und bei denen von anderswoher noch weniger. Frauen haben oft nicht das Gefühl, dass sie was sagen dürfen. Dass es jemanden gibt, zu dem sie können gehen. Was ist, wenn sie Mann anzeigen? Familie weg, Einkommen weg, Abschiebung zurück nach irgendwo, wo noch mehr wütende Familie lauert.“

Ich seufze. „Damit sollte ich mich beschäftigen. Das macht mehr Sinn, als dem Skandal hinterherzujagen.“

Vesna schüttelt den Kopf. „Wenn er wird überführt, es ist wichtiges Zeichen: Es ist gut, wenn man sich wehrt.“

„Ja, wenn es so läuft. – Weißt du, ob Jana Kontakt zu Nicole bekommen hat?“

„Habe ich noch nichts gehört von ihr. Werde ihr sagen, dass ich bei ‚frauen.com‘ war.“

„Du hast denen nicht erzählt, dass du ihre Mutter bist?“

„Muss ich? Ich habe gesagt, ich bin neugierige Putzfrau. Ist nicht gelogen.“

„Und Sandra Alman, die Leiterin, ist nicht aufgetaucht?“

„Eine, die gestern zuständig war, hat gesagt, sie hat sich nächste Tage frei genommen.“

„Mit ihr wollte ich dringend reden.“

„Ich weiß. Deswegen ich habe ihre Mobilnummer.“ Meine Freundin lächelt und schiebt mir einen Zettel herüber. „Ich muss los. In Firma. Vielleicht Jana ist zu Hause und sie hat auch Neues. Aber habe viel zu tun. Nachforschungen werden immer mehr. Ich habe schon überlegt, ich stelle Detektiv ein und ich mache quasi offiziell zweites Büro. Aber ich kenne keinen Detektiv, den ich mag und vertraue.“

„Was Interessantes dabei?“

„Nicht wirklich. Übliches. Firmenchef glaubt, man bestiehlt ihn. Konkurrent will Überprüfung von anderem Gebrauchtwagenhändler. Frau will unbedingt, dass ich bespitzle Ehemann – nicht weil er andere Frau hat, sondern weil er heimliches Konto hat. Und natürlich laufen Putzaufträge auch weiter. Gibt wenige, die sind schnell und zuverlässig in der Branche. Ich kann Aufträge aussuchen inzwischen. – Wenn ich irgendwie Zeit habe, ich sehe mich bei Villa bei Korneuburg um, aber ich kann nicht versprechen.“

Ich nicke. Wäre natürlich großartig, aber ich darf Vesna nicht zu sehr mit hineinziehen. Früher war es ab und zu möglich, dass sie vom „Magazin“ unter dem Titel „freie Mitarbeit“ für Nachforschungen bezahlt wurde, aber die neue Geschäftsführung hat das abgestellt. Man will sparen. Wie überall. Und: Man hat Angst, dass rauskommen könnte, unsere Wochenzeitung beschäftigt eine illegale Privatdetektivin.

„Streichle Gismo von mir, es geht ihr sicher bald wieder ganz gut. Ich bringe nächstes Mal große Packung Oliven. Zu Genesung.“ Sie küsst mich auf die Wangen und damit ist sie fort.

Das mit Gismo habe ich ihr natürlich als Erstes erzählt. Kann schon sein, dass anderes wichtiger ist, aber meine Katze ist mir eben nahe. Gismo humpelt übrigens auf drei Beinen herum, ist fast wieder die Alte und maunzt nach Trost, am besten in Form von Futter. Oskar will ihr heute Hühnerherzen mitbringen. Ich bin glücklich, dass es sie noch gibt. Sie ist ein Teil meines Lebens. – Weil ich keine Kinder habe? Unsinn. Weil ich sie eben mag.

Ich überlege, ob ich die Morgenzeitungen gleich im Café Museum lesen soll. Wie in jedem guten Wiener Kaffeehaus gibt es eine ziemlich umfassende Auswahl. Ich habe noch nicht gefrühstückt. Oskar hat Gerichtstag und musste zeitig weg. Ich brauche in der Früh eigentlich nichts, aber das Würstel am Nebentisch riecht verführerisch. Ich lasse mir die Karte bringen und bestelle Wurst und gleich auch noch eine Buttersemmel. Die Zeitungen lese ich dann trotzdem nicht hier. Ich will die entspannte Morgenstimmung verlängern. Außerdem: Wenn ich sie in der Redaktion lese, kann ich mir gleich am Laptop Notizen machen. Sollte es abseits der zu erwartenden Hysterie etwas Bemerkenswertes geben.

Eineinhalb Stunden später sitze ich wirklich ganz brav an meinem Schreibtisch, neben mir einen Stapel druckfrischer Medien. Zen Prikopetz hat sie mir zurechtgelegt. Und sie hat auch eine Zusammenfassung der gestrigen Polizei-Pressekonferenz geschrieben. Echt nett. Und ziemlich gut. An ihren Namen werde ich mich schon noch gewöhnen. Immerhin besser als die unsäglichen Verbindungen von Vornamen irgendwelcher exotischer Schauspielerinnen oder Sängerinnen mit doch deutlich bodenständigeren Nachnamen. Beyoncé Vospischil. Madonna Schulze. Kylie Himmelkreuzpointner. Liebe Güte. Leider hat Zen heute einen anderen Auftrag bekommen. Sie recherchiert Preisunterschiede bei diversen Supermärkten. Eine typische Praktikantinnenarbeit. Ich werde den Chefredakteur fragen, ob er sie mir zuteilen kann. Für die Zeit, in der es um Thomas Pauer und die versuchte Vergewaltigung geht.

Es dauert nur Minuten und ich bin nicht mehr so gut drauf. Entweder hat man von Pauer und Co. zu wenig Spektakuläres erfahren, oder man fürchtet sich doch vor den Drohungen seiner Verlegerin. – Was hinter ihrem Namen steckt, möchte ich auch noch klären. Aber dazu ist jetzt keine Zeit. Jedenfalls haben sich die Boulevardzeitungen auf Nicole Moser konzentriert. Und da es inzwischen in Wien gleich drei davon gibt, die auf Teufel komm raus um die Gunst des Massenpublikums kämpfen, muss man offenbar noch tiefer als sonst greifen.

Das „Blatt“ titelt: „Wollte sich Lesbe rächen?“

Im Text kann man dann lesen, dass die „von einem Detektiv des ‚Alpha‘-Verlags als Radikalemanze enttarnte angebliche Studentin“ offenbar vorgehabt habe, am Beststellerautor „ein Exempel zu statuieren“. Wie? Indem sie ihn vergewaltigen wollte und er ihr mit knapper Not entkommen ist? Nun sei sie „untergetaucht“ und „verweigert sich den dringenden Fragen von Polizei und Medien“.

Ich schüttle wütend den Kopf. Sie hat ihre Aussagen gemacht und wurde von den Medien verfolgt, kein Wunder, dass sie nicht gefunden werden will. Und Farah Seifrieds bösartig gemeinte Bemerkung, Nicole Moser sei eine radikale Feministin, hat man im „Blatt“ einfach noch weiter verschärft.

Ganz am Ende des Artikels kann man dann noch lesen: „Der Bestsellerautor Thomas Pauer, der mit seinem Buch über die Befreiung der Männer international Aufsehen erregt hat, wurde auf freiem Fuß angezeigt. Die Staatsanwaltschaft sah keine ausreichenden Gründe, um ihn in Untersuchungshaft zu nehmen. Für ihn gilt selbstverständlich die Unschuldsvermutung. Die zuständige Staatsanwältin fasste es so zusammen: ‚Ein Sexunhold ist er nicht.‘“

Wie ich es mir gedacht habe. Und: Er wurde nicht in Untersuchungshaft genommen, weil dafür ganz bestimmte Haftgründe erforderlich sind, und nicht weil man zu wenige Verdachtsmomente gegen ihn hat! Aber wer kann das schon unterscheiden? Ich habe immerhin in grauer Vorzeit Rechtswissenschaft studiert.

Seltsamerweise taucht auch in der Gratiszeitung die Sache mit der Lesbe auf. Der Verdacht liegt nahe, dass Seifried unter dem Siegel der Verschwiegenheit zusätzlich Gerüchte gestreut hat. Viel Platz ist in diesem Blatt ja nicht, also konzentriert man sich aufs angeblich Wesentliche: „Das ist Brutalität! Lesbe gegen Pauer-Mann!“ Ähnlich wie in einem Sportbericht wird dann beschrieben, wie „Super-Mann“ Pauer und „Kampflesbe“ Nicole Moser gegeneinander antreten. Mit wechselseitigen Beschuldigungen. Wobei das, was die Verlegerin sagt, mit dem, was Pauer sagt, einfach vermischt wird. Gut, manchmal ist es auch nicht einfach zu trennen. Jedenfalls stehen auf der einen Seite die Kritikerinnen des Buches, „die um ihre Emanzipation kämpfen“, und auf der anderen Seite „alle, die faire Chancen für Männer verlangen“. Na super. Leicht auszumachen, auf welcher Seite sich die meisten wiederfinden wollen. Im Text ist dann zwar nur davon die Rede, dass „die junge Frau, die behauptet, fast vergewaltigt worden zu sein, angeblich der militanten feministischen Szene nahesteht und Lesbe sein soll“, aber zu Beginn des Artikels war für solche fast feinsinnigen Unterscheidungen natürlich kein Platz. Dafür wird ein konservativer Promi-Anwalt befragt, der feststellt: „Fast vergewaltigt gibt es genauso wenig wie ein bisschen schwanger! Aufgehetzt von verordneter Political Correctness und einschlägigen Frauenzirkeln, diffamieren immer mehr Frauen männliche Avancen, so ritterlich sie auch sein mögen, als Übergriff. Es ist wichtig, dass die Rechtsprechung diesen Tendenzen nicht Vorschub leistet, sondern sich an die Fakten hält.“

Wenn ich das lese, werde ich sofort selbst zur militanten Feministin. Ich sehe mich schon, gemeinsam mit Vesna und Jana und vielen anderen, in hohen Stiefeln – vielleicht doch mit etwas Absatz – durch die Straßen ziehen. Okay, dabei muss ich doch wieder grinsen. Ist vielleicht der Unterschied zwischen mir und dem Männer-Gesocks, das da jetzt herauskriecht: Ich kann immer noch lachen. Auch über mich. Die nehmen sich todernst. Und ihre Männlichkeit erst recht.

Die dritte Boulevardzeitung hat ein Interview mit Carina Pauer erobert. Oder Seifried hat es ihr strategisch geschickt zugeteilt.

„Ich stehe voll und ganz hinter meinem Mann!“

„Die Frau des Bestsellerautors Thomas Pauer ist verzweifelt. Nie im Leben würde ihr Mann eine andere Frau zum Sex nötigen. Im Exklusiv-Interview gewährt sie uns Einsichten in ihr tägliches Leben zu viert:

‚Mein Mann ist ein liebevoller Vater. Wir haben zwei wundervolle Kinder. Rita ist eineinhalb und Simon ist drei. Sie waren echte Wunschkinder. Als ich meinen Mann zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich: Mit ihm möchte ich leben! In den letzten Jahren durften wir jede Menge Glück genießen. Er liebt es, bei seiner Familie zu sein. Wann immer er Zeit hat, geht er mit den Kindern spazieren. Und er ist es, der das Sonntagsfrühstück macht. Weil er mich verwöhnen möchte. Dabei hat er beinahe Tag und Nacht an seinem Buch geschrieben. Es war ihm wichtig, dass die Welt endlich die Wahrheit hört, dass niedergeschrieben wird, was so viele denken: nämlich dass es keinen Grund gibt, Männer länger als Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Dass man sie endlich wieder Männer sein lässt. Aber diese Wahrheit scheinen gewisse Kreise nicht auszuhalten. Ich bin sehr stolz auf meinen Mann und werde ihn auch in schweren Zeiten unterstützen!‘“

Keine Fragen, daher sind auch keine Antworten notwendig. Und kein Hinweis auf die Villa bei Korneuburg. Okay, sie möchten nicht unbedingt Medienleute anlocken. Ist verständlich. Dafür gibt’s ein Foto, das die glückliche Familie Pauer in einem Park zeigt. Neben einem Stapel seiner Bücher. Vielleicht ist es dieses Detail, das mich fast sicher macht: Dieses „Interview“ hat Farah Seifried der Zeitung einfach zugeschickt. Carina musste es nicht persönlich geben. Allerdings: Sie könnte sich ja dagegen wehren. Oder ist das in der jetzigen Situation zu viel verlangt?

Die Zeitungen mit etwas mehr Qualitätsanspruch befassen sich vor allem mit der Frage: „Bestsellerautor als Vergewaltiger?“ Einigermaßen sachlich wird darüber berichtet, was im Nouvel Grand Hotel vorgefallen sein soll, was die Polizeibehörden dazu sagen und wie Verlegerin Seifried und ihr Schützling Angriff als die beste Verteidigung sehen. Was die ausländischen Medien so schreiben, lese ich kurz im Internet nach. Es unterscheidet sich kaum von den heimischen Berichten. Und zwar in der ganzen Bandbreite. Zwischen „Wiener Emanzenkampf mit allen Mitteln“ und der Frage, ob Thomas Pauer seine Macho-Sex-Thesen in der Realität vielleicht bis zum Äußersten auslebt, ist alles dabei. Ach ja, und die Ikone der deutschen Feministinnenszene hat natürlich auch einige Interviews gegeben. Kernsatz: „Einem Mann, der erfolgreich Unsinn erzählt, wird selbst dann noch geglaubt, wenn eine Frau halbnackt aus seinem Zimmer flieht? Ungeheuerlich!“ Da hat sie eindeutig recht. Auf alle Fälle hat der Skandal bis zu amerikanischen Medien seinen Niederschlag gefunden. Und es wird angekündigt: Demnächst erscheine „Sei ein MANN!“ auch in den USA. Mehr Aufmerksamkeit hätte Pauers Bestseller im Vorhinein wohl kaum bekommen können. Kann es sein … ich schüttle den Kopf, verwerfe den Gedanken sofort wieder, schreibe ihn aber wenig später doch in den Laptop:

Kann Farah Seifried hinter der Sache stecken? Kann sie Thomas Pauer gezwungen haben, über die Studentin herzufallen? In zwei Wochen erscheint sein Buch in den USA. Schon jetzt sprechen alle darüber. Wenn es gelingt, die versuchte Vergewaltigung als Intrige einiger Feministinnen abzutun, hat man auf ganzer Linie gewonnen.

Ich schüttle den Kopf, will den Absatz wieder löschen. Dann verziere ich ihn am Anfang und am Ende mit einer Reihe Fragezeichen. So passt es.

Jana meldet sich am Nachmittag. Ob ich die unglaublichen Zeitungsmeldungen gesehen hätte? Ob ich Zeit für einen Ausflug habe?

„Wohin?“

„Mam kommt auch mit. Mehr kann ich dir jetzt noch nicht sagen. Ich bin auf der Uni. Aber so um acht am Abend können wir los.“

Sie klingt schon gleich kryptisch wie ihre Mutter. Ist es ihr womöglich gelungen, ein Treffen mit Nicole zu organisieren? Oder zumindest mit ihrer Schwester? „Ich hab Zeit.“

„Wir holen dich ab. – Daheim oder in der Redaktion?“

„Daheim. Ich möchte nach Gismo schauen.“

„Oh, sag ihr …“ Sie lacht. „Was sagt man einer Katze schon? Also streichle sie von mir. Bis dann.“