[ 6. ]

Vesna hat sich in der U-Bahn von mir verabschiedet. Es gibt ja immerhin auch noch ihr Reinigungsunternehmen, um das sie sich kümmern muss. Wir waren uns einig. Die Apothekerin hat versucht, die Wahrheit zu sagen. Aber natürlich fragt sich, wie objektiv sie ihren Exmann sehen kann. Und will. Jedenfalls spannend, dass Sex für ihn früher kein besonders wichtiges Thema gewesen sein dürfte.

„Hatte eben mit Karrieremachen genug zu tun. Ich sage dir, da es gibt viele Typen, die reden über Sex, gehört eben dazu, aber haben keine Zeit und auch nicht Lust. Aber über Vergewaltigung sagt das nichts, gerade solche knallen durch“, hat Vesna beim Aussteigen festgestellt. Ich winke ihr nach.

Telefonsignal. Ich telefoniere ungern in der U-Bahn.

„Wo bist du eigentlich?“

Erst jetzt sehe ich aufs Display. Mein Chefredakteur. Oje. Ich wollte mich mit ihm um zwei in der Redaktion treffen. Da kann ich noch so viel herausfinden, wenn dann jemand anderer die Reportage macht … „Ich bin in zehn Minuten da. Ich hab ein Interview mit der ersten Frau von Pauer. Lebt in Wien.“

„Wow. Weißt du was? Ich komm runter zum Türken an der Ecke. Mir knurrt der Magen.“

„Geht mir auch so.“

Eine halbe Stunde später ist klar, dass ich den „Fall Pauer“, wie sie ihn jetzt bei uns nennen, behalten darf. – Vorausgesetzt, ich mache keine Hetzkampagne gegen ihn und beleuchte alle Seiten. Habe ich vor. Aber ich habe auch nicht vor, einen Möchtegern-Vergewaltiger zu schonen. Zu meinem großen Bedauern muss ich Klaus die letzten Börek unserer Vorspeisenplatte lassen. Es ist höchste Zeit, zur Polizei-Pressekonferenz zu rennen. Regina ist schon dort und ich habe eine Praktikantin beauftragt, mir einen Platz zu besetzen. Aber ich möchte doch selbst hören, was die Ermittler sagen.

Der Pressekonferenzsaal der Landespolizeidirektion ist so überfüllt, dass ich es beinahe nicht schaffe, nach vorne zu kommen. Anders als bei dem Gedränge vor der Lesung von Pauer im Museumsquartier lässt man mich aber durch, als ich sage, dass für mich schon ein Platz reserviert sei. Die vordersten zwei Reihen sind voll mit Kameraleuten und den dazugehörenden Reportern. Fünfzehn, zwanzig Fernsehteams zähle ich. Das hier ist ein international interessanter Skandal: „Der neue Super-Mann als Vergewaltiger?“ CNN, RAI, BBC, natürlich so gut wie alle deutschen Sender. Daneben, dazwischen, dahinter die Fotografen. Regina steht gleich neben dem CNN-Team. Sie ist eben ein Profi. Und sie kann sich durchsetzen. Stimmengewirr. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um unsere Praktikantin zu finden. Na ja. Der Platz, den sie ergattert hat, ist nicht optimal, aber es geht. Immerhin dritte Reihe. Wenn ich zwischen den Kameras von ORF und SAT 1 durchschaue, kann ich sogar den Pressekonferenztisch sehen.

„Darf ich auch bleiben?“, fragt mich die junge Frau. Ich habe ihren Namen vergessen.

„Klar, du musst dir eben einen Stehplatz auf der Seite suchen. Vielleicht sieht man von dort ohnehin besser. – Wie heißt du?“

„Zen Prikopetz.“

„Wie bitte?“

„Z-E-N und dann Prikopetz. Ich heiße eigentlich Kreszentia. Nach meiner Großmutter. Zenzi. Ich nenne mich Zen.“

„Wie dieser Buddhismusableger. – Ist da nicht die Großmutter besser?“

„Nix gegen meine Großmutter, aber da bin ich anderer Meinung.“

„Studierst du Publizistik?“

„Nein, ich bin auf der Fachhochschule für Journalismus.“

„Schade.“

„Warum?“

„Weil Nicole Moser – du weißt, wer sie ist?“ – bestimmtes Nicken – „weil sie Publizistik studiert.“

„Ist mir zu theoretisch. Dafür ist es bei uns viel schwieriger, einen Studienplatz zu kriegen.“

„Und wie stehst du zum Fall?“

„Ich hab noch nie einen Vergewaltiger gesehen. Meinst du, er ist auch dabei? – Äh … Sie. ’tschuldigung.“

„Kannst schon Du zu mir sagen. Er ist sicher nicht dabei. So etwas gibt es nur in schlechten Filmen. Er ist auch nicht in U-Haft. Sein Verlag hat eine Presseerklärung angekündigt. In einer Stunde.“

„Die warten ab, was die Polizei sagt, oder?“

„Schaut so aus.“

„Kann ich mit dorthin?“

Jetzt weiß ich, was ich vergessen habe. Zu klären, ob es doch eine Pressekonferenz gibt oder ob es sich bloß um ein schriftliches Statement handeln wird.

Ein Mann und zwei Frauen nehmen am Pressekonferenztisch Platz. Die Polizeisprecherin kenne ich. Kompetent und aufgeschlossen, keine dieser Witzfiguren, die in schlechtem Beamtendeutsch versuchen, alles zu vertuschen. Auf dem Namensschild des Kriminalbeamten, der im Nouvel Grand Hotel war, lese ich: „Chefinspektor Hermann Salcher“. Die zweite Frau kenne ich nicht, bei ihr handelt es sich offenbar um die zuständige Staatsanwältin. Kameras leuchten auf, Blitzlichtgewitter. Hätte irgendein unbekannter Hotelgast versucht, eine junge Frau zu vergewaltigen, das Interesse wäre wohl deutlich geringer. Ein paar Lokalreporter, vielleicht ein Kamerateam.

Was folgt, ist das Übliche: Man werde in alle Richtungen und ohne Ansehen der Person ermitteln, man müsse die Spuren erst auswerten.

„Thomas Pauer wurde auf freiem Fuß angezeigt. Er hat sich verpflichtet, mit den Behörden zusammenzuarbeiten.“ Chefinspektor Salcher sieht ins Publikum. „Ich mache jetzt etwas, das bei uns nicht üblich ist, aber es ist mir ein Anliegen: Ich bitte Sie, weder ihn noch vor allem das mutmaßliche Opfer zu verfolgen. Es wird Ihnen klar sein, dass sich die junge Frau in einer Ausnahmesituation befindet. Sie werden von ihr auch nichts Zweckdienliches erfahren können, das nicht schon bekannt ist. Sollte es doch welche geben, die ihr nachstellen, und sollten dabei rechtliche Grenzen überschritten werden, gehen wir dagegen mit aller Entschiedenheit vor. Es ist kein Kavaliersdelikt, einen Menschen zu jagen.“

Die Pressesprecherin nickt. „Ich bitte nun um Fragen!“

Stimmengewirr, nichts zu verstehen. Die Polizeisprecherin deutet auf eine Fernsehreporterin in der ersten Reihe.

„Warum wurde Thomas Pauer nicht in Untersuchungshaft genommen?“, fragt sie.

Die Pressesprecherin sieht die Staatsanwältin an. Die räuspert sich und antwortet: „Untersuchungshaft darf nur verhängt werden, wenn dafür einer der wenigen taxativ aufgezählten Gründe vorliegt. Wir können davon ausgehen, dass weder Fluchtgefahr noch Verdunkelungsgefahr besteht. Und Wiederholungsgefahr wohl auch nicht.“

„Was macht Sie da sicher?“, schreit eine Frau von weit hinten nach vorne.

„Ein klassischer Sexunhold ist er wohl nicht!“ Die Staatsanwältin nestelt an ihrer modischen Brille. Ob sie schon Kontakt mit der umtriebigen Verlegerin von Alpha Books hatte? Ob ihr sonst jemand nahegelegt hat, den Shootingstar der Buchszene nicht allzu hart anzugreifen? Und: Was bitte ist ein klassischer Sexunhold? Typ Quasimodo mit Schaum vor dem Mund? Oder gibt’s solche nicht auch mit Anzug und Krawatte und Bilderbuchkarriere?

Einige lachen trotzdem. Die Pressesprecherin schaut eher unglücklich drein. Kein Wunder. Außerdem eignet sich der Sager hervorragend für einen Titel. Mit Pech wird „klassischer“ und „wohl“ auch noch weggelassen: „Ein Sexunhold ist er nicht!“

„Hat man das Aufnahmegerät von Nicole Moser sichergestellt?“, rufe ich nach vorne. Viele Blicke in meine Richtung. Vielleicht hätte ich mir das aufheben sollen. Davon wissen nur die, die ganz am Anfang an diesem Abend dabei waren. Aber: Ich will in erster Linie, dass es nicht verschwindet. Wobei mir der Ermittler nicht so wirkt, als würde er aus Begeisterung für den Bestsellerautor und seinen Verlag schlampig arbeiten.

Chefinspektor Salcher sieht mich an. „Ja. Hat man. Es wird noch ausgewertet. Erwarten Sie sich allerdings nichts Großes. Es ist ausgeschaltet worden. Noch bevor es zu den tätlichen Auseinandersetzungen gekommen ist.“

Pauer muss es abgedreht haben, bevor er über die Studentin hergefallen ist. Er ist kein Idiot. – Oder doch? Wer macht sich schon über ein junges Mädchen her, wo er doch, wie seine Verlegerin sagt, jede haben kann? – Weil es ihn reizt, wenn er eine nicht sofort haben kann? Weil er seine eigenen Thesen bis zum Exzess lebt? Männer sollten endlich wieder aktiv werden, Frauen warten darauf … – Und wie passt das mit dem zusammen, was uns seine erste Frau erzählt hat?

„Wurde Pauer schon vernommen?“, die Frage kommt von einem deutschen Reporter.

„Ja“, sagt Salcher.

„Hat er gestanden?“

„Nein.“

„Könnten Sie das konkretisieren?“

„Konkreter geht es doch nicht.“

Der Ermittler hat einen gewissen Witz. Gefällt mir.

„Er streitet also alles ab. Wie erklärt er die Kratzer in seinem und im Gesicht von Nicole? Es sollen auch Möbel zu Bruch gegangen sein, sie ist halbnackt geflüchtet. Was sagt er dazu?“

„Etwas, auf das ich momentan aus ermittlungstechnischen Gründen nicht eingehen kann.“

Es folgen viele Detailfragen über Beweismittel, über persönliche Einschätzungen, die allgemein und professionell nichtssagend beantwortet werden. Ich versuche über mein Smartphone herauszufinden, wie das mit dem Statement von Alpha Books ist. Aber ich scheitere. Ich kriege keine ordentliche Internetverbindung zustande. Ich sollte nicht immer alles allein machen wollen. Ich hätte jemanden aus der Redaktion bitten können, sich um das, was der Verlag sagen will, zu kümmern. Aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass ich mir selbst ein Bild machen muss. Es passt so vieles nicht zusammen. Und eine der Schlüsselfiguren, da bin ich mir ganz sicher, ist die Verlegerin Farah Seifried. Farah. Was für ein eigenartiger Name. Hat man sie nach Farah Diba, der letzten persischen Kaiserin, genannt? Was für einen Anspruch erzeugt so ein Name?

Noch immer Frage- und Antwortspiele rund um Details, die eigentlich keinen interessieren oder ohnehin klar sind. Ich stehe auf, arbeite mich zu unserer Praktikantin durch und flüstere ihr ins Ohr, dass sie alles möglichst gut verfolgen solle. Sie nickt eifrig und deutet auf ihr Aufnahmegerät. Auch einige meiner Kollegen sind aufgestanden und wollen raus.

Anruf bei unserer Sekretärin. Ja, sie sehe sofort nach. Ja, das Pressegespräch gäbe es. Und zwar gar nicht weit entfernt. Sie nennt mir den Namen eines Hotels.

„Wer ist dabei?“

„Es steht bloß Farah Seifried ‚und andere‘.“

Zu Fuß bin ich schneller als mit der Straßenbahn, es sind nicht einmal zwei Stationen. Etwas Ausdauer habe ich ja noch, auch wenn ich schon zu lange nicht mehr laufen war. Man sollte ein neues Wort erfinden. „Business-Jogging“. Ich habe das Gefühl, ich betreibe diese Sportart seit gestern fast ununterbrochen.

Alpha Books hat den großen Hotelsaal gemietet. Nicht ohne Grund. Hier drängen sich mindestens ebenso viele Journalisten wie bei der Polizei-Pressekonferenz. Ich atme laut aus. Gerade noch geschafft. Ich kenne die schlanke Dunkelhaarige von „Alpha“, die aus der Öffentlichkeitsabteilung. Sie telefoniert hektisch. Ich flüstere ihr trotzdem zu, dass ich einen Platz brauche.

Sie sieht mich zweifelnd an.

„Sie wollen, dass ich ordentlich berichte, oder?“ Manchmal muss man eben mies sein. Ich habe kein besonders schlechtes Gewissen dabei. Ihre Chefin arbeitet auch mit allen möglichen Tricks.

Sie deutet auf einen Stuhl in der zweiten Reihe, auf dem ein „Reserviert“-Schild liegt. Ich will gar nicht wissen, für wen das gedacht war. Ich bedanke mich artig und setze mich. Sieht so aus, als wäre am Podium Platz für vier Leute. Noch ist von Seifried nichts zu sehen. Mitarbeiterinnen von Alpha Books versuchen, die Journalisten zu beschwichtigen, ihnen Plätze zuzuweisen, sehen immer wieder auf die Uhr, wirken überfordert. Ist ja auch kein Wunder. Derartige Pressekonferenzen sind im Verlagsgeschäft selten. Üblicherweise kommen Redakteure, die sich über einen Termin mit dem Autor freuen, angenehme Fragen stellen, vielleicht etwas mehr übers Privatleben wissen wollen, als ihr Gegenüber preisgeben will, aber das ist es dann auch schon. – Wen hat Farah Seifried mit? In einer Minute ist es sechzehn Uhr. Ich gehe einmal davon aus, dass die Deutschen pünktlich sind. Anders als wir im kleinen schlampigen und für sie südländischen Österreich. Oder zumindest Ostösterreich. Ich hätte Regina verständigen sollen. Aber der Termin ist offiziell ausgeschrieben, also wird die Redaktion schon jemanden schicken. Oder will mir der Fotochef eins auswischen? So weit geht er wohl doch nicht. Trotzdem: Keiner zu sehen von unserer Crew.

Die Flügeltüren gehen auf. Eine Horde von Fotografen und Kameraleuten mit Scheinwerfern und Blitzlichtern im Rückwärtsgang. Sie müssen die Verlagsleute irgendwo draußen erwischt haben. Wieder einmal frage ich mich, ob ich bei so etwas mitspielen will. Es sieht so aus, als wäre dieser Chefinspektor Salcher in Ordnung. Soll er also ermitteln. Die Medienhysterie hat nichts mit der Empörung über eine der allerschlimmsten Straftaten zu tun, nur mit der Sensation, die eine versuchte Vergewaltigung in diesem speziellen Fall ist.

Ich bleibe trotzdem. Die Kameraleute verteilen sich vor, hinter, neben dem Podium. Plötzlich eine laute Stimme: „Wenn nicht alle Medienvertreter sofort den Podiumsbereich verlassen, gehen wir wieder.“ Das ist Farah Seifried. Anders als gestern klingt sie autoritär und selbstbewusst.

Noch immer wird wie verrückt gefilmt und fotografiert, aber die Meute zieht sich zurück, zumindest bis vor die erste Stuhlreihe. Ich stehe auf. Jetzt kann ich sehen, warum der Einzug der „Alpha“-Leute derart große Aufregung verursacht hat: Neben Seifried sitzt Thomas Pauer, neben ihm seine Frau. Sie hält ihn an der Hand, so, dass alle es sehen können. Ist sie freiwillig da? Sie tut mir leid. Sie sieht sehr jung aus, jünger als auf den wenigen Pressebildern, die es von ihr gibt, jünger als sechsundzwanzig. Und dann ist da noch ein Mann, den ich nicht kenne.

„Einen schönen Nachmittag, meine Damen und Herren. Üblicherweise haben unsere Pressekonferenzen einen anderen, weit angenehmeren Zweck. Da stellen wir Bücher vor. Aber wir wollen uns auch dann nicht den Medien verweigern, wenn es um unfreundliche, um nicht zu sagen kriminelle, Anschuldigungen geht.“ Die Verlagschefin redet frei.

„Ich fasse die wichtigsten Fakten zusammen: Thomas Pauer hat sich gestern um zwanzig Uhr mit einer Studentin der Publizistik getroffen, um ihr ein Interview für eine Hausarbeit zu geben. Die Initiative zu diesem Treffen ging allein von ihr aus. Die Begegnung …“

Hat sie alles einstudiert oder ist sie wirklich derart beherrscht, dass sie auch unter diesen Umständen geschliffen formulieren kann?

„… fand in seiner Hotelsuite statt, so wie die meisten der vielen Treffen, die Thomas Pauer bei seinem Wienaufenthalt zu absolvieren hatte. Die Suite hat einen eigenen Büroraum. Die Tür zum Schlafzimmer war, nur um diversen Spekulationen vorzubeugen, geschlossen.“

Pauer sieht beinahe ausdruckslos auf die versammelten Medienleute. Rummel ist er gewohnt, so einen aber nicht. – Hat sie ihm ein Beruhigungsmittel gegeben? Muss man so etwas durchstehen, wenn man ein „echter Mann“ ist? Seine Frau hat große helle Augen, sie starrt konzentriert geradeaus.

„Die Studentin hat zuerst einige Fragen gestellt. Plötzlich hat sie angefangen, meinem …“ Sie stockt. – Meinem was? Was wollte sie sagen?

„… Herrn Thomas Pauer eindeutige Avancen zu machen. Sie hat gemeint, dass sie noch nie so richtig guten Sex gehabt habe, und ob das stimme, was er in seinem Buch geschrieben hat. Er hat versucht, höflich abzuwehren, aber sie wurde immer aufdringlicher.“

Pauer nickt langsam mit dem Kopf.

„Als er sie schließlich gebeten hat, zu gehen, begann sie, mit Gegenständen zu werfen, sich auszuziehen und Herrn Pauer auch körperlich zu attackieren.“

Hinter mir höre ich leises Kichern. „Wenn sie uns jetzt auch noch erzählt, dass sie ihn fast vergewaltigt hätte …“

Stirnrunzeln bei Seifried. „Das ist alles andere als komisch. Es geht um die Ehre eines unbescholtenen Mannes, der noch dazu in der Öffentlichkeit steht. – Er hat die Frau aus dem Zimmer gedrängt, sie ist davongelaufen. Den Rest kennen Sie wahrscheinlich. Ich kann nur so viel hinzufügen, dass wir den Ermittlungen der Behörden gelassen gegenüberstehen und sie in jeder Beziehung unterstützen. Immerhin geht es auch um den Ruf unseres Verlags.“

Erste Fragen, Zwischenrufe, wo sie denn gewesen sei, warum Pauer nicht jemanden aus dem Hotel verständigt habe, ob er die Studentin nicht durch sein Buch herausgefordert hätte.

Farah Seifried hebt die Hand. „Für einige Fragen wird nachher Zeit sein. – Thomas?“ Sie wirft ihm einen festen Blick zu.

Thomas Pauer räuspert sich. „Ich würde nie und unter keinen Umständen eine Frau nötigen. Was gestern geschehen ist, war gegen mein Buch gerichtet. Ich soll mundtot gemacht werden, weil ich geschrieben habe, was vielen nicht passt: dass Männer längst diskriminiert werden. Es ist höchste Zeit, dass wir uns wieder selbstbewusst als Männer fühlen.“ Pause. Seifried sieht ihn auffordernd an. Offenbar soll er noch etwas sagen. Er ist irritiert, hat wohl den Faden verloren.

„Seine Frau Carina, die völlig außenstehend und unschuldig in diese wüsten Vorwürfe mit hineingezogen wurde, möchte auch noch Stellung nehmen“, fährt Farah Seifried, jetzt doch etwa aus dem Konzept gebracht, fort.

Die junge Frau räuspert sich. Schlank, brünette lange Haare, die im Nacken zusammengebunden sind, feines Gesicht. Dezentes dunkelblaues Kostüm. Ganz junge Ehefrau und Mutter. „Ich …“, das kommt sehr zaghaft. Sie holt tief Luft. „Ich vertraue meinem Mann voll und ganz. Ich weiß, dass er so etwas nie tun würde. Niemals! Ich stehe hinter ihm.“ Sie reckt das Kinn nach vorne und erntet ein anerkennendes Nicken der Verlagschefin. Die redet rasch weiter:

„Dr. Lothar Gürtler ist Anwalt. Ich habe ihn hinzu gebeten, um eventuelle juristische Fragen zu klären. Ich wiederhole, was ich schon gestern gesagt habe: ‚Alpha‘ wird und muss zum eigenen Schutz alle klagen, die unwahre Gerüchte über den Verlag oder unseren Autor Thomas Pauer und seine Familie verbreiten. Es wird keine Ausnahme geben. Auch nicht für Medien.“

„Was soll das sein?“, ruft ein Kollege vom Fernsehen. „Ein Maulkorb?“

„Nicht im Geringsten. Die Aufforderung, keine Unwahrheiten zu verbreiten.“

„Thomas Pauer ist eine Person öffentlichen Interesses. Wir haben die Aufgabe, zu berichten.“

„Und ich habe die Aufgabe, meinen Autor vor falschen Anschuldigungen zu schützen.“

„Warum lassen Sie eigentlich die ganze Zeit Ihre Verlagschefin reden?“, rufe ich dazwischen. „Wenn ich Ihr Buch richtig verstanden habe, sollen sich Männer doch endlich wieder selbst behaupten!“

Gelächter im Raum. Seine Frau sieht mich entsetzt an. Ich geniere mich ein bisschen.

„Weil …“, setzt Farah Seifried an.

„Weil“, fällt ihr Thomas Pauer ins Wort, „sie das viel besser und mit mehr Distanz als ich zusammenfassen kann. Ein Mann zu sein, bedeutet nicht, von nichts getroffen und bewegt zu werden.“

Geraune. War leider eine verdammt gute Antwort.

„Wenn wir jetzt schon bei der Auseinandersetzung um ‚Sei ein MANN!‘ angelangt sind, dann möchte ich noch etwas anfügen“, fährt die Verlagschefin fort. „Wir haben ohne große Probleme herausfinden können, dass Nicole Moser Kontakte zur militanten feministischen Szene hat. Ich möchte sie ihrerseits nicht beschuldigen, aber sollte das wirklich ein Zufall sein? Selbstverständlich hatte Herr Pauer aus diesem Eck mit Kritik an seinem Buch zu rechnen. Dass sie allerdings so brutal ausfallen würde, darauf waren wir nicht gefasst.“

„Sie werfen Frau Moser indirekt vor, den Vergewaltigungsversuch inszeniert zu haben?“, fragt eine deutsche Journalistin.

Farah Seifried scheint sie zu kennen. Sie sieht sie unfreundlich an. „Drehen Sie mir nicht das Wort im Mund um, Frau Gehmeier. Ich beschuldige niemanden. Ich stelle bloß fest. Die Dame hatte engen Kontakt zur feministischen Szene.“

„Damit bringen Sie alle, die gegen das Buch sind, unter Generalverdacht, ist Ihnen das bewusst?“, fährt die Journalistin fort.

„Das ist selbstverständlich nicht meine Absicht. Wir stellen uns jeder Kritik. Solange sie sachlich ist.“

„Ich hätte noch eine Frage an Herrn Pauer“, werfe ich mich dazwischen.

Alle sehen mich an. Seine Frau hält ihn noch immer an der Hand. Wahrscheinlich soll es ihre Verbundenheit symbolisieren. Auf mich wirkt es freilich, als fühlten sich beide sonst verloren.

„Waren Sie Ihrer Frau immer treu?“

Er starrt mich an. Starrt dann seine Verlagschefin an. „Das geht nun doch deutlich zu weit!“, faucht die. Sehr schön, ich habe sie aus der Reserve gelockt.

„Würde ich üblicherweise auch finden“, erwidere ich so locker wie möglich. „Aber da der Verlag offenbar eine Menge tut, um das Image seines Autors als überaus potenten Frauenhelden, um nicht zu sagen Sexprotz, zu fördern, drängt sich die Frage auf.“

„Ich war …“, beginnt Pauer.

„Das tut nichts zur Sache“, fällt ihm Farah Seifried ins Wort. „Es geht nicht um einvernehmlichen Sex, es geht um den Vorwurf der versuchten Vergewaltigung. Und das sind nun wohl zwei grundverschiedene Themen.“

„Wahr ist schon, dass Sie mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt haben, Thomas sei ein toller Hecht“, ruft der Redakteur vom „Blatt“. Ich bekomme also Schützenhilfe aus einer ungewöhnlichen Ecke. Sollte mir zu denken geben.

„Da haben Sie mich gewaltig missverstanden. Ich habe Ihnen erzählt, dass es sehr viele Frauen gibt, die Herrn Pauer anhimmeln. Ihm manchmal auch nachstellen. Ich habe nichts über sein Verhalten gesagt.“

„Er war mir immer treu“, sagt seine Frau mit lauter und ein wenig schriller Stimme. Noch eine Ehefrau, die es zuletzt erfährt? Irgendjemand ruft denn auch etwas Entsprechendes, es wird gelacht. Ich denke an das, was mir seine erste Frau erzählt hat. Wodurch hat er sich verändert? Früher war er sexuell zurückhaltend. Jetzt hält er es nicht aus, wenn ihn eine Studentin abweist. Aber: Bei derartigen Übergriffen geht es weniger um Sex als um Macht. Das sollte ich eigentlich wissen.

Farah Seifried erhebt sich, auch die anderen stehen auf. Einige Journalisten sprinten nach vorne. Auf Englisch, Italienisch, Französisch wird ihr zugerufen, dass man noch ein kurzes Statement brauche. Der Bodyguard, der mich schon in die Halle im Museumsquartier begleitet hat, taucht auf. Heute trägt er ein neutrales Sakko, kein „Sei ein MANN!“-T-Shirt. Und er hat zwei Kollegen dabei. Sie drängen die Journalisten zurück. Ich steige auf meinen Sessel, um den Tumult besser beobachten zu können. Sie lotsen die kleine Gruppe rund um Seifried nach draußen. Jetzt müssen sie sich wohl stundenlang irgendwo im Hotel verbarrikadieren, bevor sie einigermaßen in Ruhe wegkommen. Oder sie haben eines dieser großen Autos mit getönten Scheiben in der Tiefgarage.

Pressekonferenz vorbei, vieles bleibt offen. Die wichtigste Frage ist: Kann es Nicole Moser gelingen, sich gegen die geballte Macht von „Alpha“ durchzusetzen? Die Standpunkte liegen klar auf dem Tisch. Bloß: Wo liegt die Wahrheit?