– dass es zugenagelt war.

Doch bevor er einen weiteren Gedanken fassen

konnte …

Was? Was zur Hölle war das?

497

Hatte er etwas gehört?

Stimmen, oder zumindest etwas Ähnliches wie

Stimmen, schienen seinen Geist zu kitzeln. Er starrte

mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit hinter

sich…

Ona …

»Ona-prei-se …«

Erlöser …

»Mannona-komm …«

Heiler …

»Errette uns.«

Es war, als seien Worte mit Gedanken vermischt.

Gezischtes Flüstern verschmolz zu Klumpen schwär-

menden Lärms in seinem Kopf. Doch eines war Black-

jack völlig bewusst: Jemand war mit ihm in diesem

Zimmer.

»W-wer ist da?« Blackjack versuchte, herausfordernd

zu klingen.

Die Dunkelheit lag vor ihm, undurchdringlich, eine

feste, schwarze Wand.

498

»Ich weiß, da is’ wer, also wie wär’s, wenn ihr mir

sagt, was zur Hölle dieser Scheiß soll?«

Keine Antwort. Nur die körnige Finsternis, die

stumm zurückstarrte.

Dann –

Blackjack zuckte zusammen.

Hatte er etwas gesehen? Hatte er nicht gerade gese-

hen, wie sich etwas in der Ecke rechts von ihm beweg-

te?

Doch, da schien sich etwas gerührt zu haben! Ein ir-

gendwie feucht und klebrig wirkendes Gleiten, dazu

etwas, das noch schwärzer als die Dunkelheit zu sein

schien …

»Mannona-komm …«

»Onnaman …«

Geheiligte Ona, wir danken Dir!

Ein Schrei erstarb in Blackjacks Kehle, als etwas

Schleimiges, Feuchtes und Widerwärtiges aus der

Dunkelheit nach ihm griff und ihn sanft an der Schul-

ter berührte.

499

ZWANZIG

ETWAS HEISSES bahnte sich durch Phils Nerven-

bahnen einen Weg bis in sein Gehirn, wo es sich ein-

nistete und zu schwirren schien. Er fühlte sich mit ei-

nem Mal nervös und betäubt zugleich, regelrecht halt-

los. Er hätte ihnen keinen Trip vortäuschen können,

nicht diesen Typen. Sie waren Profis. Er hatte den

Großteil des inhalierten Dampfs im Mund behalten

und durch die Nasenlöcher wieder ausgestoßen; ledig-

lich einen kleinen Rest hatte er tatsächlich inhaliert.

Doch dieser kleine Rest war mehr als genug gewe-

sen.

Gottverdammt, dachte er, völlig verblüfft. Was für ein Kick …

Sullivan nahm ihm den Joint aus den Fingern. »Hey,

Kleiner, nicht so gierig!« Dann lachte er und nahm

selbst einen kräftigen Zug.

Gott sei Dank, dachte Phil. Das Zeug hatte es in sich.

Hätte er mehr rauchen müssen, wäre er nicht mehr in

500

der Lage gewesen, aufzustehen, geschweige denn, sei-

nen Wagen zu steuern. Muss wieder klar im Kopf wer-

den. Er startete den Malibu. »Ordentlicher Stoff«, sag-te er. »Haut rein. Also, wo fahren wir hin?«

»Die Route hoch nach Norden«, sagte Eagle.

Sobald sie unterwegs waren, begann er sich deutlich

besser zu fühlen. Er ließ seinen Kopf von der frischen

Luft durchpusten, die durch das offene Fenster herein-

strömte. Seine Augenbrauen kribbelten, dunkle Split-

ter schienen am äußersten Rand seiner Wahrnehmung

zu tanzen und wiederholt durchfuhr ihn ein heißkalter

Schauder.

Sullivan rauchte den Joint genüsslich zu Ende, als

hätte er den dichten Qualm am liebsten verschlungen.

»Okay, Kleiner, jetzt weiß ich, dass du echt bist. Einer

unserer Partner hat sich vor ’n paar Wochen aus dem

Staub gemacht, also brauchen wir ’nen neuen Vol zeit-

fahrer. Das bist du.«

»Klingt gut«, meinte Phil.

501

»Das Ganze läuft so: Wir holen den fertigen Stoff

bei unserem Versorger ab und liefern ihn dann bei un-

seren Händlern ab. Die Kohle stimmt und die Cops

haben keinen Schimmer.«

Tatsächlich? , dachte Phil. Ich kann’s kaum erwarten, dich für fünf Jahre einzubuchten … Kleiner. »Wie sieht eure Tour aus?«

»Nur das nördliche County«, sagte Eagle vom Rück-

sitz des Malibu. »Millersville, Lockwood, Waynesville,

die Ecke. Die Rednecks kaufen das Zeug wie die Blö-

den. Unser Stoff ist besser und billiger als beim übli-

chen Dealer. Wir drängen ihn vom Markt.«

»Wer ist der übliche Dealer?«, fragte Phil, aber er

hatte bereits eine ziemlich klare Vorstellung, von wem

sie sprachen.

»Zerbrich dir darüber mal nich’ den Kopf«, knurrte

Sullivan. »Du bist nur der Fahrer, also kümmer’ dich

ums Fahren.«

»Alles klar«, sagte Phil.

502

Eagle dirigierte ihn über mehrere Abzweigungen auf

Straßen, die ihm völlig unbekannt waren. Die meisten

waren Feldwege voller Rillen und Schlaglöcher, oft-

mals so schmal, dass wuchernde Büsche an beiden Sei-

ten über den Lack kratzten. Schließlich erreichten sie

eine Lichtung und Phil sollte anhalten.

»Verdammt toll«, beschwerte sich Sullivan. »Der

Mistkerl is’ nich’ hier. Sind wir zu früh?«

»Wir sind fünf Minuten zu spät«, antwortete Eagle.

»Wo zum Henker is’ dann Blackjack?«

Phil saß nur da und hielt den Mund. Er wusste, dass

er mit der Zeit mehr über ihr Netz erfahren würde.

Doch Sullivan und Eagle schienen übermäßig besorgt

zu sein. Sie verfielen in ein langes Schweigen, ihre Bli-

cke suchten ruckartig die Umgebung des Autos ab.

Sie hockten gut eine halbe Stunde da, doch niemand

tauchte auf.

Drehen die Jungs so ab, weil ihr Verteiler nicht auf-

taucht? , fragte sich Phil. Das ergab keinen Sinn. Warum machen die sich fast in die Hose?

503

Eagle strich sich unruhig das Haar aus der Stirn und

lehnte sich aus dem Rücksitz nach vorne. »Wie oft is’

Blackjack so spät gekommen?«

»Noch nie«, fauchte Sullivan zurück.

»Der Typ kommt also zu spät«, meinte Phil. »Wa-

rum die Aufregung?«

»Erklär’s ihm«, sagte Sullivan mit einer auffordern-

den Handbewegung.

Eagles Gesicht im Rückspiegel sah blass aus. »In

letzter Zeit sind ’ne Menge unserer Verteiler und Dea-

ler verschwunden.«

»Jake Rhodes, Kevin Orndorf und jetzt Blackjack«,

zählte Sullivan grimmig auf. »Es sind noch mehr. Ver-

dammt viel mehr, wenn man’s genau nimmt.«

»Vielleicht wissen die Cops doch Bescheid«, überlegte Eagle, »und wir sind nur zu blöd, um es zu merken.«

»Ihr Jungs liefert Dust auf lokaler Ebene«, warf Phil

ein. »County und Staatspolizei kümmert das nicht –

Dust ist für die Kleinkram. Die sind nur hinter Heroin

und Koks her. Und die örtlichen Bullen? Typen wie

504

Mullins? Niemals. Diese Dorftrottel können nicht mal

’nen Strafzettel verteilen. Die sind zu beschäftigt da-

mit, sich schmieren zu lassen. Das sind nich’ die Cops,

Jungs.«

»Was zur Hölle is’ es dann?«, rief Sullivan.

»Macht mal die Augen auf. Ihr habt mir gerad’ er-

zählt, dass ihr den größten örtlichen Dealer vom

Markt drängen wollt, und plötzlich verschwinden eure

Leute. Was sagt euch das?«

»Jemand hat uns aufs Korn genommen«, sagte Eagle.

»Und wir sitzen hier wie drei Enten in ’ner Badewan-

ne.«

Was für Trottel. Phil lachte den ganzen Rückweg über

leise vor sich hin. Kein Wunder, dass diese beiden Idi-

oten gesessen hatten. Sie waren schlicht und ergreifend

strunzdumm. Die Wichser könnten nicht mal einem To-

tengräber eine Schaufel andrehen. Er hatte sie vor dem Sallee’s bei ihren Trucks abgesetzt und sich mit ihnen

für den nächsten Abend verabredet. Mullins wird aus-

505

rasten vor Freude. Eines musste man dem Kerl lassen. Er

hatte von Anfang an recht mit der Sache.

Der »andere« Dealer musste Natter sein, und es

konnte nur Natter sein, der jetzt die Killer auf seine

Konkurrenten ansetzte. So weit passte alles zusammen.

Nun muss ich mir nur meinen nächsten Zug überlegen,

dachte Phil. Und der sollte besser verdammt gut sein.

Es war kurz nach zwei, als er Eagle und Sullivan ab-

setzte. Er fuhr noch gut eine Stunde lang planlos durch

die Gegend, um etwaige Verfolger auf die falsche

Fährte zu bringen. Dann parkte er hinter dem kleinen

Einkaufszentrum, wo er immer seine Hemden reinigen

ließ, und lief die knappe halbe Meile bis zum Revier.

»Wie war es unter den Proleten heute?«, fragte Susan

hinter ihrer Funkkonsole.

»Nicht schlecht«, antwortete Phil. »Viel eicht bin ich

tief drinnen doch ein Redneck. Ich passe da rein wie

die Faust aufs Auge.«

»Ich hab mir ein wenig Sorgen gemacht«, sagte sie.

Ihre strahlenden blauen Augen funkelten, als sie zu

506

ihm aufsah. Ihre blonden Haare leuchteten. »Ich habe

die ganze Nacht nichts über dein Funkgerät gehört.«

Besorgt um den alten Phil? , dachte er. Das war ein gutes Zeichen. »Nun, es ist nicht ganz einfach, den Poli-

zeifunk einzuschalten, wenn man gerade eine Drogen-

lieferung mit zwei anderen Typen fährt«, sagte er mit

Stolz in der Stimme.

»Du machst Witze! Wer?«

»Eagle Peters und dieser Sullivan, der mit der Ver-

misstenmeldung neulich. Sind beides Drogendealer

und ich bin ihr neuer Fahrer.«

»Das ist großartig!«, rief Susan. »Mein Gott, das ist

echt ein gewaltiger Fortschritt. Und das auch noch so

verdammt schnell.«

»Das liegt nur an meinem sprichwörtlichen Talent,

meine Liebe. Ich kann nichts dagegen tun – ich bin

eben ein Supercop.«

»Alles klar. Der Supercop sollte aber lieber vorsichtig

sein. Je näher du diesen Leuten kommst, desto gefähr-

licher wird es.«

507

»Gefahr ist mein zweiter Vorname. Oh, du hattest

übrigens recht. Ich musste mich heute Nacht bewei-

sen.«

»Inwiefern?«, fragte sie erwartungsvoll.

»Ich musste Dust rauchen.«

»Wie war’s?«

»Ich hab nur einen winzigen Zug inhaliert, aber der

allein hat schon ziemlich reingehauen. Hab mich

gleichzeitig tiefenentspannt und total aufgekratzt ge-

fühlt. Ich verstehe aber nicht, was daran so tol sein

soll. Nach dem ersten Rausch hab ich von dem Scheiß

nur Kopfschmerzen bekommen. Egal, die Typen hal-

ten mich jetzt für echt, also bin ich drin.«

»Was willst du jetzt machen?«

»Ich hab da ’ne ziemlich gute Idee, glaube ich. Zu-

erst musst du noch mal Sullivans Daten für mich abru-

fen.«

»Wozu?«

»Ich brauche seine Adresse.«

Susan sah skeptisch aus. »Was hast du vor?«

508

»Vertrau mir einfach, okay?«

Sie saß für einen Moment unentschlossen vor ihrer

Konsole und fischte dann zögerlich Sullivans Eintrag

aus der Datenbank des County heraus. Dann schrieb

sie Phil die hinterlegte Adresse auf einen Zettel.

»Alles klar. Wir sehen uns später.«

»Einen Moment noch.« Susan stand auf und ging

mit ihm zur Tür. »Du machst mir wirklich Angst. Was

hast du vor?«

»Hey, ich sagte doch, mach dir keine Sorgen. Ich

formulier’s mal so: Ich will ein paar Dinge ans Laufen

bringen und herausfinden, wie schnell man aus einem

harten Kerl einen Sängerknaben machen kann.«

»Phil, das gefällt mir nicht. Du solltest dich nicht

mit diesen Typen anlegen. Lass mich wenigstens mit-

kommen.«

»Vergiss es. Wir sprechen uns morgen«, sagte er und

wandte sich zur Tür.

Doch bevor er gehen konnte, packte sie ihn an der

Schulter und zwang ihn, sich zu ihr umzudrehen.

509

Dann küsste sie ihn.

»Wofür war denn das?«, fragte er.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Schätze, mir war

einfach danach.«

»Okay … von mir aus kann dir danach sein, wann

immer du willst.«

»Außerdem bringen meine Küsse Glück und ich hab

so ein Gefühl, als ob du es gebrauchen kannst – was

auch immer du dir da für einen dämlichen Plan in den

Kopf gesetzt hast.«

Phil hielt einen Moment inne und nahm den An-

blick ihres wunderschönen Gesichts in sich auf. Werd

nicht gleich rührselig, befahl er sich. »Wie ich schon sagte, mach dir keine Sorgen. Wir sehen uns morgen«,

sagte er und ging.

Der Kuss prickelte auf seinen Lippen. Ja, irgendwas

muss ich wohl richtig machen, dachte er. Also pass auf, dass du dich jetzt nicht umbringen lässt …

Sullivan lebte in einem der großen Wohnwagenparks

vor den Toren der Stadt. Phil machte sich direkt auf

510

den Weg dorthin. Hof e, Paul ist Frühaufsteher. Es war beinahe halb fünf Uhr morgens, als Phil gegen die

dünne Fliegengittertür hämmerte.

»Wer is’ da?«, ertönte Sullivans raue Stimme nach

gut fünf Minuten beharrlichen Klopfens.

»Ich bin’s. Phil.«

»Wer?«

»Phil. Weißt schon, euer neuer Fahrer.«

»Was willste denn um diese Zeit?«

»Komm schon, Mann. Mach auf. Es ist wichtig.«

Weiter vor sich hin grummelnd, löste Sullivan meh-

rere Sicherheitsketten und öffnete die innere Tür.

Schlaftrunken und nur in Boxershorts stand er vor

ihm. »Was? Hast du etwa diesen Scheißkerl Blackjack

gefunden?«

»Nein, Mann«, antwortete Phil. »Tut mir leid, dich

zu wecken, aber es ist wirklich wichtig.«

»Ja, Kleiner, hast du schon gesagt.«

»Ich muss dich was fragen.«

511

Sullivans Brustmuskeln spannten sich, als er mit dem

Daumen den Schlaf aus seinen Augen rieb. »Mich was

fragen? Was denn?«

»Nun, ich muss wissen, welche Gesichtshälfte ich dir

zuerst einschlagen soll, die rechte oder die linke.«

Sullivans kleine, schlaftrunkene Augen starrten ihn

an. »Wovon zur Hölle redest …«

Phil rammte seine Faust direkt durch das dünne

Schutzgitter in Sul ivans breites, kantiges Gesicht. Es

gab ein Geräusch, als würde man mit einem Baseball-

schläger auf eine prall gefüllte Tüte einschlagen. Sul-

livan taumelte zurück, ruderte mit den Armen und fiel

über einen wackligen Stuhl. Er landete flach auf dem

Rücken.

Phil ließ sich selbst herein. »Wow, Paul, tolle Bude

hast du hier. Besonders die Supermarktmöbel und die-

se Teppichfliesen.« Phil stieß einen Pfiff aus. »Ich wet-

te, die kosten mindestens einen Dollar pro Stück,

was?«

512

Benommen versuchte Sullivan aufzustehen. Phil trat

ihm mit der Stiefelspitze in die Brust. Ȇbrigens, Paul,

deine früheren Vorbehalte waren absolut berechtigt.

Ich bin ein Cop. Und noch was … Du bist verhaftet

wegen des Besitzes und der Absicht zum Verkauf von

PCP.«

Sullivan blickte auf Händen und Knien zu ihm hoch.

»Ein Cop? Du dreckiger Wichser! Ich wusste doch,

mit dir stimmt was nicht!«

»Ich gratuliere dir zu deinem Scharfsinn«, erwiderte

Phil. »Und damit das klar ist …« – Phil rammte seine

Handballen gegen Sullivans Hinterkopf – klatsch! –

»Du hast das Recht zu schweigen« – klatsch! – »und alles, was du sagst, kann und wird vor Gericht gegen

dich verwendet werden.« Klatsch! »Du hast außerdem

das Recht auf einen Anwalt. Falls du dir keinen An-

walt leisten kannst« – klatsch! – »wird dir der Staat mit Freuden einen kostenlosen Anwalt stellen.« Mit diesen

Worten packte Phil einen wackligen Kaffeetisch aus

Pressspan und zertrümmerte ihn auf Sullivans Kopf.

513

Krach!

Sullivan brach zusammen.

Phil sah sich um. Der Raum war eine Müllhalde,

doch das hatte Phil erwartet. Pornomagazine waren

auf dem Küchentisch verstreut, leere Bierdosen fül ten

einen Kunststoffmülleimer fast vollständig. Als Sul-

livan wieder zu sich kam, rappelte er sich auf allen vie-

ren auf.

»Ich kenne meine Rechte, Kleiner«, knurrte er. »Du

kannst nich’ einfach hier reinkommen und mich an-

greifen.«

»Doch, das kann ich«, korrigierte Phil und jagte sei-

ne Stiefelspitze in Sullivans Bauch. »Bitte entschuldige

meinen Mangel an polizeilicher Etikette. Aber, weißt

du, das beruht auf Gegenseitigkeit. Es ist mir ein wah-

res Vergnügen, einem mit Drogen handelnden Dreck-

sack wie dir die Scheiße aus dem Leib zu treten. Du

kannst dem Bezirksstaatsanwalt gern erzählen, ich hät-

te dich vermöbelt, bis du schwarz wirst, aber wem wird

er wohl glauben? Was die blauen Flecken und – hof-

514

fentlich – die gebrochenen Knochen angeht … da soll-

test du dich in Zukunft gegenüber den örtlichen Ge-

setzeshütern etwas kooperativer zeigen, Paul. Es ist

nicht geschickt, sich einer Verhaftung zu widersetzen.«

Phil schlug Sullivan so hart gegen den Kopf, dass

seine Fingerknöchel schmerzten. Dann hockte er sich

auf ihn und fixierte seine Hände mit Handschellen auf

den Rücken.

»Hör gut zu, Paul. Ich hasse PCP und ich hasse Ty-

pen, die es verkaufen. Du hast schon gesessen und ich

garantiere dir, hierfür wirst du wieder fünf bis zehn

Jahre in den Bau wandern. Ich wette, die Jungs im

Zellenblock werden sich freuen, dich wiederzusehen,

meinst du nicht auch?

Phil packte Sullivans wirre Haare und zog kräftig da-

ran.

Sul ivan kreischte. »Das kannst’ nicht machen,

Mann! Das is’ Folter!«

515

»Ist es nicht, Paul.« Phil zog noch einmal. »Ich ›be-

frage‹ dich zu wichtigen Details im Rahmen einer ört-

lichen Polizeiermittlung.«

Ein weiteres Ziehen an den Haaren. Sullivan bot ei-

nen lächerlichen Anblick, wie er in seinen Boxershorts

flach auf dem Bauch zappelte, die Hände auf den Rü-

cken gefesselt. »Doch eins solltest du wissen, Paul«,

fuhr Phil fort. »Es gibt Momente, da werde ich von

seltsamen Anfällen der Großzügigkeit übermannt. In

anderen Worten, wenn du dein hässliches Maul auf-

reißt und mir ein paar Dinge erzählst, dann lasse ich

vielleicht, ganz vielleicht, die Anklage wegen Verkaufs

fallen und sorge dafür, dass du nicht mehr als 18 Mo-

nate bekommst. Wenn du brav bist, wird es vielleicht

auf neun Monate reduziert, Paul. Also, was soll’s wer-

den? Neun Monate oder zehn Jahre?«

Sullivan zappelte weiter auf dem Bauch herum.

»Warum sollt’ ich dir vertrauen?«

»Weil ich für einen abgewrackten, dreckigen Verlie-

rer wie dich der glaubwürdigste Kerl in der gesamten

516

Stadt bin.« Phil lachte. »Ich will wissen, wer euch ver-

sorgt, und ich will wissen, wo er den Stoff produziert.

Doch noch viel mehr interessiert mich, Paulie, wer eu-

re Konkurrenz ist, dieser andere Dealer hier in Crick

City, den du und Eagle unterbieten wollt.«

Sullivan erschlaffte. »Von mir erfährst du ’n Scheiß,

Kleiner.«

»Ach, Paul, nenn mich nicht Kleiner. Lass uns zu-

sammenarbeiten, okay? Wer ist dieser Kerl? Wo ist

sein Labor?«

»Fick dich«, erwiderte Sullivan.

»Okay, wie du willst.« Phil stand auf und stieß dabei

sein Knie in Sullivans Rücken. Sullivan brüllte erneut

auf und dann gleich noch einmal, als Phil ihn an den

Handschellen in eine aufrechte Position zerrte.

»Schätze, dann muss ich mir meine Infos von Eagle

besorgen«, sagte Phil und schleifte Sullivan zur Tür.

»Ich bring dich jetzt zum Gefängnis. Ja, in deinen Un-

terhosen. Wie gefällt dir das … Kleiner?«

517

Phil brachte Sul ivan ins Countygefängnis und veran-

lasste Einzelhaft im Rahmen einer laufenden Ermitt-

lung. Mit anderen Worten: keine Besucher. Er wollte

nicht, dass Sullivan Eagle oder anderen Komplizen er-

zählte, dass Phil ein Cop war. Lass ihn eine Woche oder

so im Knast schmoren. Er wird schon singen, wenn er sich

erst mal erinnert, wie es im Gefängnis zugeht. Was Phils eigenes Verhalten anging, so machte er sich keine allzu

großen Sorgen. Wenn er eines bei der Metro gelernt

hatte, dann das: Wenn man es mit Dreckschweinen zu

tun hatte, musste man manchmal selbst ein Dreck-

schwein sein. Er machte sich auch keine Sorgen, dass

Sullivan eine Beschwerde einreichen könnte. Der

Richter würde einen Blick auf Sullivans Vorstrafenre-

gister werfen und sich kaputtlachen. Sullivan wusste

das. Schon bald würde Phils Angebot auf Strafminde-

rung verlockender erscheinen als ein Pfund Gehacktes

für einen ausgehungerten Wolf.

Er war hundemüde, als er durch die schiefe Ein-

gangstür von Old Lady Cranes Gästehaus schritt. Was

518

für eine Nacht! , dachte er. Dann tat sein Herz einen

erschrockenen Satz …

Gerade als er am Treppenhaus vorbeiging, trat eine

Gestalt aus dem Schatten hervor.

»Phil?«

»Himmel, Susan!«, schrie er beinahe. »Schleich dich

nicht so an mich ran – ich hätte beinahe meine Knarre

gezogen!«

»Meine Güte, was sind wir schreckhaft heute«, sagte

sie. »Ich hab dein Auto gehört, also bin ich runterge-

kommen.«

Phil wartete, bis sich sein Herzschlag wieder beru-

higt hatte, dann lächelte er. »Ich wol te dich nicht an-

schreien«, entschuldigte er sich. »Aber ich stecke so tief

in der örtlichen Drogenszene, dass es mich nervös

macht.« Erst jetzt nahm er sie wirklich wahr. Ihr hell-

blondes Haar war zerzaust und sie stand mit nackten

Beinen und barfuß vor ihm, nur in einem weißen

Nachthemd. Ihre blauen Augen sahen ihn benommen

an. Sie hatte offensichtlich bereits geschlafen, was ihn

519

daran erinnerte, welch lächerliche Dienstzeiten man in

der Nachtschicht hatte. »Es ist fast zehn Uhr«, scherz-

te er. »Müsstest du nicht längst im Bett sein?«

»Ich konnte nicht schlafen. Ich hatte zu viel Angst,

dass dir jemand den Arsch abschießt«, erwiderte sie.

»Was ist mit Sul ivan?«

Erneut fühlte sich Phil geschmeichelt, dass sie derart

um sein Wohlergehen besorgt war. Was bedeutete das?

»Ich hab ihn verhaftet«, sagte er. »Komm, ich mach

uns einen Kaffee und erzähl dir alles.«

Sie folgte ihm zu seiner Wohnung. »Mein Zimmer

ist heißer als ein Dampfbad. Wie wäre es mit Eiswas-

ser?«

»Kommt sofort.« Er ging in die Kochnische und füll-

te Eiswürfel in zwei Gläser. »Also, wie ich schon sagte,

bin ich zu Sullivans Behausung und hab ihn wegen des

Vertriebs von Drogen festgenommen. Du hättest se-

hen sollen, wie lächerlich der Kerl aussah, wie er in

seinen Unterhosen vor dem diensthabenden Sergeant

stand. Es war fantastisch!«

520

»Hat er Ärger gemacht?«

»Nicht, nachdem ich ihm den Kaffeetisch über den

Schädel gezogen habe.« Er reichte ihr ein Glas und sie

setzten sich auf seine abgewetzte Couch. »Sie hatten

mich auf eine Fahrt mitgenommen und Eagle erzählte

mir, dass sie versuchen, einen anderen Dealer in der

Gegend auszubooten …«

»Natter?«

»Da bin ich mir ziemlich sicher«, sagte Phil. »Und er

hat mir außerdem erzählt, dass immer mehr von ihren

Leuten spurlos verschwinden, was unseren Verdacht

noch mehr erhärtet. Wir sollten letzte Nacht einen

Abholer namens Blackjack treffen, doch der Kerl ist

nicht aufgetaucht. Ich bin davon überzeugt. Natter

nimmt jeden ins Visier, der auf seinem Gebiet mit

Drogen handelt.«

Susan sah plötzlich beunruhigt aus. »Phil, du

kommst zu schnell zu nah, meinst du nicht auch? Das

macht mir Sorgen.«

Phil war nicht sicher, was sie meinte. »Inwiefern?«

521

»Inwiefern? Natter geht auf die Konkurrenz los, Phil,

und als Fahrer für Eagle wird er dich genauso ins Vi-

sier nehmen wie jeden anderen von denen auch. Wenn

sie dich zusammen mit Eagle erwischen, dann töten sie

dich.«

»Und wenn ich mich als Polizist zu erkennen gebe

…«

»Töten sie dich trotzdem.«

Phil zuckte mit den Achseln angesichts der nicht zu

leugnenden Wahrheit, die in ihren Worten lag. »Ich

mache so was schon seit Jahren. Und ich bin sehr vor-

sichtig.«

»Das solltest du auch sein«, flüsterte sie, mehr zu sich

selbst als in seine Richtung.

Ihr Verhalten wirkte merkwürdig, doch Phil begriff,

dass etwas im Busch war. Wie immer erregte ihn ihre

schlichte, ehrliche Schönheit. Sie stand in einem alten

Nachthemd vor ihm, die Haare völ ig durcheinander

und die Augen aufgequollen vor Müdigkeit, doch ihm

erschien sie immer noch schöner als tausend Playboy-

522

Bunnies. Sie sieht toll aus, selbst wenn sie völlig fertig ist, dachte er. Er bemerkte, dass sie keinen BH unter dem

Nachthemd trug, und wahrscheinlich auch keinen Slip.

Es fiel auf, wie sehr sie darauf achtete, die Beine ge-

schlossen zu halten. Jeder andere Kerl würde sie in ei-

ner solchen Situation angraben, wusste Phil, doch er

wusste auch, dass Susan keine Frau war, die sich ›an-

graben‹ ließ. Sie scherte sich nicht um die üblichen

Spielchen und sexuellen Strategien. Er hätte nichts lie-

ber getan, als sie in sein Bett zu tragen und mit ihr zu

schlafen. Aber …

»Du siehst müde aus«, sagte er.

Ihre schläfrigen blauen Augen blinzelten heftig. »Ja,

ich schätze, das bin ich. Sich an die Nachtschicht zu

gewöhnen, ist schwieriger, als ich dachte. Aber egal,

wie lautet dein Plan für Eagle?«

»Ich soll ihn heute Nacht im Sallee’s treffen. Er weiß

nicht, dass Sullivan verhaftet ist – ich wette, er glaubt,

dass Sullivan genau wie die anderen ›verschwunden‹

523

ist.« Phil grinste. »Ich kann’s nicht abwarten, seine Re-

aktion zu sehen.«

»Was hat Mullins dazu gesagt, dass du Sullivan ver-

haftet hast?«

»Er …« Phils Gedankengang kollidierte mit einer

Betonwand. »Verdammt! Ich sollte ihn auf dem Lau-

fen halten und hab’s ihm noch gar nicht erzählt. Bin

gleich zurück.«

Phil eilte in seinen Schlafbereich und rief auf dem

Revier an. Das letzte, das er jetzt gebrauchen konnte,

war die County-Strafvollzugsanstalt, die Mullins anrief

und ihn nach einem Gefangenen fragte, von dessen

Verhaftung er gar nichts wusste.

Zum Glück saß Mullins an seinem Schreibtisch, als

Phil anrief.

Nachdem Phil ihm alles erklärt hatte, war Mullins

euphorisch.

Wenigstens bringe ich die Dinge ins Rol en, dachte Phil.

Ich hoffe, es funktioniert.

524

Als er zurück in sein Wohnzimmer kam, war Susan

auf der Couch eingeschlafen. Er wollte sie nicht we-

cken. Sie war stundenlang aus Sorge um ihn wach ge-

blieben. Er legte ihre Beine hoch und knipste leise das

Licht aus.

Bevor er selbst ins Bett ging, nahm er einen kurzen

Umweg ins Badezimmer, um schnell noch zu duschen.

Und während er duschte … betrat Susan das Bad. Sie

hatte sich ihres Nachthemds entledigt und trat wortlos

zu ihm unter den Wasserstrahl.

EINUNDZWANZIG

ONA-PREI-SE …

Ona-für-Blut …

Wanst zitterte.

Die Worte aus dem Traum kreisten in seinem Kopf.

Seine Augen sprangen auf. Ihm war gleichzeitig heiß

525

und kalt zumute. Er fühlte sich wie in Schweiß geba-

det und doch trocken wie ein Bimsstein.

Es war immer dunkel hier und Dunkelheit war seine

Nemesis. Sie verführte ihn mit dem Versprechen des

Schutzes und warf ihm dann die Erinnerungen in den

Schoß wie frisch abgetrennte Köpfe.

Die Dunkelheit wisperte die Traumworte wieder und

wieder, während er hilflos dalag und sich hin und her

wälzte …

Doch es waren keine Worte aus einem Traum, oder?

Ona …

Sie waren real …

prei-se …

Die grässliche Fratze, diese rissige Maske, schien

immer noch im Dunkeln vor seinen Augen zu schwe-

ben. Tag oder Nacht, wachend oder schlafend – es

machte keinen Unterschied.

Sie war einfach … immer … da …

Wanst durchfuhr ein weiterer, diesmal deutlich stär-

kerer Schauer.

526

Er hatte sich wieder in die Hose gepinkelt.

Auch die Schreie kehrten zurück. Wie hätte er sie

vergessen können? Und wie sollte er jemals vergessen,

was sie mit Scotty-Boy angestellt hatten?

Jesus … Scotty-Boy …

»Vergib mir, Gott«, flüsterte er.

Es musste Gott gewesen sein, der Dämonen zu

ihnen geschickt hatte, um sie für ihre Sünden zu be-

strafen. Wanst wusste, dass sie schlimme Dinge getan

hatten, all das Aufreißen und das Dope, den Scheiß,

den sie an Kinder vertickt hatten, nur um ’n paar Dol-

lar zu machen. Ganz zu schweigen von all den Verge-

waltigungen und dem Kehlenschlitzen. Er hatte ’ne

Menge Kerle für ein paar Scheine aufgemischt und je-

des Mal laut gelacht, wenn Scotty-Boy wieder irgend

’nem Mädel mit seinem Hickoryknüppel eins auf die

Kokosnuss gab.

Wir haben es verdient.

Ja, so viel war sicher. Er und Scotty-Boy, sie hatten

ein paar echt dreckige Sachen abgezogen und nun

527

würde Gott sie dafür bestrafen; sie würden nie wieder

dreckige Sachen abziehen.

Tränen liefen Wansts speckiges Gesicht herab und

glänzten wie Schneckenspuren.

Ach, Scheiße, Gott, mir tut’s echt leid wegen all dem Auf-

reißen, das wir gemacht haben, und all den Schlampen, die

wir gefickt haben, und al den armen Leuten, die wir auf

Dust gebracht haben, um was Geld zu machen. Ja, Gott, es

tut mir echt alles leid, so sicher wie Scheiße stinkt.

Es war ein guter Zeitpunkt, um religiös zu werden.

Doch vielleicht hatte Gott ihm längst vergeben. Wenn

nicht, dann wär ihm doch das Gleiche passiert wie

Scotty-Boy, oder nich’?

Oh ja, Sir, Wanst erinnerte sich nur allzu gut, was

sie mit Scotty-Boy angestellt hatten. Er wusste noch

ganz genau, wie einer von denen angefangen hatte, das

Fleisch von Scotty-Boys Fingern zu säbeln, als würd’ er

Rinde von ’ner Weidenrute schnitzen …

Der Schweiß von Wanst stank wie tote Fische, die

mit dem Bauch nach oben in einem Sumpf trieben. Er

528

fühlte sich schmierig in seinem lähmenden Entsetzen,

als hätte ihn jemand in eine Kloake geworfen und da-

für gesorgt, dass er sich ’ne Weile darin herumwälzte.

Die Erinnerung an das Gesicht schwebte vor ihm.

Wir geben dir heute dein täglich Fleisch.

Oh ja, der alte Gott hatte Dämonen zu ihm ge-

schickt.

Die Sache war nur die … Wanst kannte einen von

ihnen.

Und ob, Sir!

Das tat er, so sicher wie Scheiße stank.

Phils Wecker schrillte um vier Uhr morgens, eine wei-

tere unangenehme Erinnerung an seine unangenehmen

Dienstzeiten. Irritiert wälzte er sich im Bett herum.

Dann bemerkte er die ungewöhnliche Wärme der La-

ken neben ihm.

Dann fiel ihm der Rest wieder ein.

Susan …

529

Sie war zu ihm in die Dusche geklettert. Keiner von

ihnen hatte ein Wort gesprochen. Ihre Geste hätte ihn

überraschen sollen, doch das tat sie nicht. Ganz und

gar nicht. Ihre gegenseitige Anziehung war offensicht-

lich und so hatte er etwas in dieser Art, wenn auch

viel eicht nur unterbewusst, längst erwartet.

Meine Güte …

Sie hatten sich unter dem kühlen Strom berührt, als

wären sie schon seit Jahren Liebhaber. Das Wasser lief

über ihre Körper; ihre nackte Schönheit strahlte wie

ein Leuchtfeuer. Sie küssten sich, rieben sich gegensei-

tig mit Seife ein. Ihre Zungen spielten ausgelassen

miteinander, ihre Hände glitten durch den Schaum

über ihre Haut.

Sie war so weich, so wunderbar warm. Ihr Busen

drängte sich an seine breite Brust, als sie ihre Arme um

seine Tail e schlang und ihn zitternd vor Erregung an

sich zog. Das kühle Wasser zischte heiß, als es auf ihre

Haut traf.

Die Haut war wie feine, warme Seide …

530

Er hatte es wie eine Traumwelt aus Empfindungen

und kühlem Regen empfunden. Aus endlosen Küssen

und feuchten, zärtlichen Händen. Aus ungestörter

Liebe. Phil nahm außer ihr nichts mehr von der Welt

wahr. Dies war seine einzige Welt, die Welt ihrer

Schönheit und seines Verlangens, ein perfektes Reich,

in dem nur sie beide existierten, in dem die einzigen

Laute ihr heftiges Atmen, ihr Stöhnen, ihr Keuchen

und ihr Seufzen waren, und natürlich das endlose Zi-

schen des Wassers.

Tropfnass stürzten sie aus der Dusche. Sie küssten

und streichelten sich und stolperten durch den aufge-

heizten Raum, fielen dann eng umschlungen auf das

Bett.

Sie war wunderschön. Er hatte das schon immer ge-

wusst, doch nie zuvor in seinem Leben hatte er die vol-

le Bedeutung des Wortes so erfasst wie in diesem

Moment. Es war so viel mehr als nur ihr Körper, so

viel mehr als ihre strahlenden blauen Augen, ihr feuch-

tes silberblondes Haar und ihr Gesicht. Es war die un-

531

beschreibliche Erfahrung ihres Zusammenseins in die-

sem Moment.

Seine Leidenschaft wurde greifbar. Seine Leiden-

schaft tauchte in sie ein, erforschte jeden Zentimeter von ihr. Seine Hände glitten über ihre makellose Haut,

so wie ein unerfahrener Bildhauer ein Meisterwerk er-

forschte. Er berührte und küsste und leckte sie überall,

von den Augen bis zu den Spitzen ihrer Zehen, an ih-

ren geheimsten, intimsten Stellen.

Ihre Glut blühte auf. Sekunde um Sekunde öffnete

sie sich ihm mehr.

Doch bevor er seine Leidenschaft in Gänze erfüllen

konnte, hielt sie ihn zurück und wisperte an seinem

Hals.

»Phil. Ich … Ich muss …«

»Was?«, fragte er und ließ seine Zunge ihren schlan-

ken, feuchten Hals hinaufgleiten.

»Ich muss etwas wissen …«

»Was denn?«

Er küsste sie, schmeckte sie, ergötzte sich an ihr.

532

»Ich muss wissen … ob du Vicki … noch liebst«,

sagte sie.

»Nein, das tue ich nicht«, versicherte er ihr. Es war

keine Lüge. Wenn er jemanden liebte, wenn er jeman-

den lieben konnte, dann war das Susan.

»Ich schwöre es«, sagte er.

Sie liebten sich stundenlang. Es war wunderbar. Sie

erforschte ihn, ebenso wie er sie erkundete, auf jede

erdenkliche Weise, in jeder Stellung, die ihnen einfiel.

Wieder und wieder stillten sie ihr Verlangen nach dem

anderen …

Aber …

Phil tastete umhüllt von fiebrigen Erinnerungen in

seinem Bett herum.

Wo ist sie jetzt?

War sie gegangen? War sie in ihre Wohnung zu-

rückgekehrt, während er schlief? Oder …

Oh nein.

533

Hatte er etwa wieder im Schlaf gesprochen? Er

wusste, dass es das tat. Frühere Liebhaberinnen hatten

ihn das sehr deutlich wissen lassen. Zu deutlich.

Hatte er Vickis Namen im Schlaf gemurmelt?

Herrgott, bitte nicht!

Er konnte es sich nicht vorstellen.

Trotz ihres Intermezzos im Auto bedeutete Vicki

ihm im Vergleich mit Susan nichts mehr. Er empfand

nach wie vor ein Gefühl von Fürsorge für sie, ja, er

wollte immer noch, dass es ihr gut ging, und hoffte,

dass sie ihre Sucht loswerden und etwas aus ihrem Le-

ben machen würde, aber …

Er liebte Vicki nicht. Das wusste er.

Ich liebe …

Er stand auf, wickelte sich ein Handtuch um die

Hüften und hastete aus dem Schlafzimmer. Dann

seufzte er dankbar und lehnte sich an die Wand.

Da war sie und trug wieder ihr langes Nachthemd.

Gott sei Dank!

534

Sie saß seelenruhig mit übereinandergeschlagenen

Beinen an seinem billigen kleinen Schreibtisch und las.

Phil trat von hinten an sie heran und küsste ihren

Nacken. »Guten Morgen«, sagte er. »Oder für uns

Leute von der Nachtschicht: Guten Tag.«

Sie erwiderte seinen Kuss wie selbstverständlich, als

wäre es absolut vertraut, völlig normal. Etwas Reines

und absolut Natürliches.

»Was liest du da?«

»Die Bücher, die du aus der Bibliothek ausgeliehen

hast«, sagte sie. »Die sind wirklich interessant.«

»Ja, ich weiß. Ich hab gestern Abend in einigen da-

von gelesen. Es ist grotesk, aber etwas zu wissenschaft-

lich für mich. Das meiste von diesem genetischen

Kram war mir eine Nummer zu hoch.«

»Hier steht, dass es an manchen Orten der Welt In-

zestkommunen gibt, die seit Hunderten von Jahren

existieren. In ländlichen oder entlegenen Bergsiedlun-

gen, seit Ewigkeiten vom Rest der Welt abgeschnitten.

Das sorgt für einen völlig isolierten Genpool. Die In-

535

zucht wird so intensiv, dass normale Geburten kaum

noch stattfinden. Dieser Artikel berichtet von einer

Siedlung irgendwo in Russland, in der es seit dem frü-

hen 19. Jahrhundert keine normale Geburt mehr gab.«

»Und es ist exponentiell«, ergänzte Phil aus dem Ge-

dächtnis. »Die Häufigkeit normaler Geburten verrin-

gert sich nicht nur mit dauerhafter Isolation des Gen-

pools, sondern die genetischen Defekte sind auch

deutlich ausgeprägter. In einigen der Bände gibt es

auch Abbildungen, aber falls du empfindlich bist, soll-

test du sie dir besser nicht ansehen.«

Susan war offensichtlich nicht empfindlich. Sie

schnappte sich den Band mit den farbigen Bildtafeln.

»Schau dir das mal an. Rote Augen, wie bei den Cree-

kern.«

»Anscheinend sind rote Augen und pechschwarzes

Haar typische genetische Zeichen für dauerhaften In-

zest«, erklärte Phil.

»Dauerhaft«, wiederholte Susan mit einem leisen

Murmeln. Dann sah sie zu Phil hoch. »Ich frage mich,

536

wie lange Natters Clan von Creekern sich bereits un-

tereinander fortpflanzt.«

»Wer weiß?«, antwortete Phil. »Vielleicht schon seit

Jahrhunderten.«

Eagle sah gehetzt aus, als Phil ihn an der Bar traf.

Und Phil wusste, warum.

»Hi, Eagle!« Phil bestellte sich beim Barkeeper ein

Bier und warf einen Blick zur Bühne, auf der eine

sportliche, langbeinige Blondine einen Spagat hinlegte.

»Schon was Neues von Blackjack gehört?«

»Nein, Mann«, erwiderte Eagle schlecht gelaunt.

»Und noch was. Ich kann auch Paul nich’ mehr errei-

chen.«

»Mach dir nicht ins Hemd. Er ist viel eicht nur ir-

gendwo hingegangen.«

»Den ganzen verfickten Tag?! Wenn er genau weiß,

dass unsere Leute dringend auf die Lieferung warten?

Das is’ ’n ernstes Geschäft, Phil. Ich versuch seit Stun-

537

den, Paul ans Telefon zu kriegen, aber er geht nich’

ran. Also bin ich zu ihm gefahren …«

»Und?«

»Die ganze Bude war verwüstet. Sieht aus, als hätt da

wer randaliert.«

Phil lächelte in sich hinein.

Eagle sprach weiter. »Sein Truck war da, aber er

nich’. Was hältst du von dieser Scheiße?«

»Klingt nicht gut«, sagte Phil und nippte an seinem

Budweiser. »Aber vielleicht ist es noch ein wenig zu

früh, um sich Sorgen zu machen.«

»Scheiße, Alter«, widersprach Eagle. »Ich sag doch,

seine Bude war kaputtgeschlagen. Überall lag Zeug

rum, demolierte Möbel und so.«

Keine Sorge, das Zeug war eh Mist. »Ich weiß schon.

Blackjack verschwindet und jetzt ist auch noch Paul

weg.«

»Das gefällt mir einfach nich’ – Paul is’ ’n großer

Kerl, stark wie ’n Ochse. Du brauchst vielleicht vier,

fünf Mann, um ihn da rauszuzerren.«

538

Phil musste ein weiteres Lächeln unterdrücken.

Falsch, nur einen. »Schau mal«, schlug er vor, »macht

keinen Sinn, wenn wir zwei hier nur rumhängen und

nichts tun. Warste schon bei Blackjack?«

»Nein, hab nur versucht, ihn anzurufen.«

»Alles klar, dann lass uns da mal vorbeifahren und

gucken, ob seine Bude genauso aussieht wie die von

Sullivan. Wer weiß? Vielleicht ist der Kerl sogar zu

Hause. Ist vielleicht nicht so schlimm, wie wir den-

ken.«

»Ja, kann nich’ schaden, schätze ich.«

Sie verließen das Sallee’s, sprangen in Eagles Pick-up

und folgten in der heißen Nacht der Route Richtung

Norden. »Also, wo wohnt Blackjack überhaupt?«, frag-

te Phil.

»Im Busch. Er hat ’ne Hütte draußen in den Hü-

geln.«

Phil kurbelte das Fenster herunter und ließ die Brise

durch seine Haare streicheln. Doch sosehr er auch ver-

539

suchte, sich aufs Geschäftliche zu konzentrieren, seine

Gedanken schweiften immer wieder zu Susan ab.

Liebe ich sie? , fragte er sich.

Er brauchte gerade einmal eine halbe Sekunde, um

zu entscheiden, dass er das tat.

Liebt sie mich?

Okay, es konnte etwas länger dauern als eine halbe

Sekunde, um das zu entscheiden.

Doch zumindest hab ich die ersten Teile für ein gemein-

sames Puzzle gelegt.

Sie hatten sich noch einmal geliebt, bevor er ging,

langsam, gemächlich, direkt auf dem Wohnzimmer-

fußboden. Jedes Mal mit ihr war besser als das vorheri-

ge, und wann immer er sie ansah oder auch nur an sie

dachte, erschien sie ihm schöner als zuvor.

Mein Gott, dämmerte es ihm in aller Deutlichkeit.

Ich bin wirklich verliebt …

»Halt die Augen offen«, wies Eagle ihn an. Er war

gerade erst in einen der holprigen Feldwege eingebo-

gen, die sich durch den Wald schlängelten. Die

540

Scheinwerfer holperten über unzählige tiefe Rillen,

hoch und runter. »Wir sind hier auf Hinterwäldlerge-

biet. Sie mögen’s nich’ besonders, wenn Fremde auf ihr

Land fahren.«

»Blackjack ist einer vom Hügelvolk?«, fragte Phil.

»Irgendwie schon. Und er is’ groß und böse, also

komm ihm nich’ dumm, wenn er da is’.«

»Geht klar.«

Phil wusste nichts über diesen Blackjack. Doch egal,

ob er jetzt wirklich zu Hause war; zu wissen, wo er

wohnte, lieferte ihm gute Ansatzpunkte für später.

Und falls Natter ihn tatsächlich abserviert hatte …

umso besser. Dann konnte Phil seine Bude in Ruhe

durchsuchen. Vielleicht fand er irgendwo ein Adress-

buch oder etwas Ähnliches, das ihm Informationen

und weitere Namen lieferte. Das Beste von allem war,

dass die Ungewissheit über Sullivans Verbleib Eagle

auf glühenden Kohlen sitzen ließ – er wirkte völlig pa-

ranoid, als er so hinter dem Steuer seines Pick-up saß –

541

und je mehr sanften Druck er auf Eagle ausüben konn-

te, desto besser.

Früher oder später bekomme ich, was ich will, war sich Phil sicher.

Die Wege verengten sich immer mehr, der Wald

wurde dichter und dunkler. Sie passierten ein paar alte

Schuppen, baufällige Hütten und eine Handvoll abge-

wrackte, aufgebockte Wohnwagen. Glänzende Spinn-

weben schimmerten feucht wie Rotzfahnen in den

Bäumen. Immer wieder blitzte das orangefarbene

Leuchten von Opossumaugen im Licht der Scheinwer-

fer auf. Noch unheimlicher war der Nebel. Früher am

Tag war Regen gefallen, doch es war nur ein kurzer

Schauer gewesen. Nun zog die Hitze der Nacht Nebel-

ranken aus dem Holz der Bäume, die wie Rauch em-

porstiegen.

Alles sah mit einem Mal weit weg aus, unirdisch …

Phil begann, sich komisch zu fühlen.

Er wusste, woran es lag. Die finstere Szenerie weckte

Erinnerungen in ihm. An damals …

542

An diesen einen Tag. Und …

Das Haus.

»Hey, Eagle!«, fragte er und wischte sich den plötzli-

chen Schweiß von der Stirn, »Wie geht’s eigentlich

deinem Onkel Frank?«

»Ganz gut. Ist jetzt in Rente und nach Florida gezo-

gen.« Eagle warf ihm einen schrägen Blick zu. »Bin

überrascht, dass du dich überhaupt an ihn erinnerst.«

»Oh, ich erinnere mich sogar noch ziemlich gut. Al

diese Gespenstergeschichten, die er uns immer erzählt

hat. Weißt noch? Er hat uns immer davor gewarnt, in

den Wald zu gehen, weil da ›Dinge‹ existierten, die ein

Kind nicht sehen sollte. Erinnerst du dich, was wir den

einen Abend aufgeschnappt haben? Erinnerst du dich

an die Geschichte?«

»Welche? Frank hat genügend Scheiße erzählt, um

ein 200-Liter-Fass damit zu füllen.«

Phil rieb sich über das Gesicht. »Du weißt schon.

Die Geschichte über dieses große, alte Spukhaus tief in

den Wäldern …«

543

»Ah«, dämmerte es Eagle. »Das Hurenhaus der

Creeker.«

»Genau das. Glaubst du daran?«

»Du verscheißerst mich, oder? Das is’ nur ’n altes

Ammenmärchen. Frank hat’s nur gerne immer wieder

erzählt, weil er so viel Spaß dran hatte, uns ’ne Scheiß-

angst einzujagen.«

Das war Onkel Frank gelungen.

»Also hast du nie geglaubt, dass da was dran sein

könnte?«, hakte Phil nach.

»Vielleicht als ich noch ’ne zehnjährige Rotznase

war, aber jetzt nich’ mehr.«

»Aber es könnte doch stimmen, oder nicht? Ich mei-

ne, was wäre daran so unwahrscheinlich? Himmel,

Natter lässt Creekermädchen im Sallee’s strippen. Und

das sind auch alles Nutten. Würd’s da nicht Sinn ma-

chen, wenn die irgendwo ein Haus hätten, in dem sie

arbeiten?«

»Du rauchst wohl Dust«, lachte Eagle. »Diese Mä-

dels sind Nutten vom Straßenstrich, Phil. Die erledi-

544

gen ihre Geschäfte auf dem Parkplatz. Das Hurenhaus

der Creeker is’ nur ’ne Spukgeschichte, das is’ alles.«

»Ich weiß nicht.« Phil schwitzte inzwischen in Strö-

men. Er war zappelig. Seine Stimme senkte sich zu

einem leisen Flüstern. »Ich glaube, ich hab es mal ge-

sehen.«

Eagle starrte ihn an. »Jetzt weiß ich, dass du drauf

bist. Willst du mir echt erzählen, du hättest dieses

Creekerhaus gesehen?«

»Ja. Zumindest glaube ich das. Es war damals, als wir

beide noch Kinder waren. Weißt du noch, wie wir je-

den Tag nach der Schule durch den Wald gezogen

sind?«

»Klar«, sagte Eagle. »Scheiße, wir haben allen mögli-

chen Kram da gefunden. Alte Schrotpatronen, Bier,

Pornohefte.«

»Genau. Und einmal, da hattest du Hausarrest, weil

du deine Brüder verdroschen hast, also bin ich alleine

los. Und hab mich verlaufen …«

545

ZWEIUNDZWANZIG

GANZ GENAU, der zehnjährige Phil Straker hatte

sich verlaufen …

Der Wald glich einem verschlungenen Irrgarten,

ebenso erschreckend wie geheimnisvoll, überall verrot-

tende Laubhaufen, skelettartige Zweige und dicht

hängende Schlingpflanzen. Dann war er auf das kleine

Creekermädchen gestoßen, dessen rote Augen ihn

durch die Strähnen ihres schwarzen Haars hindurch

angestarrt hatten. Zuerst hatte er Angst gehabt – er

konnte ihre Entstellungen sehen, den missgestalteten

Kopf, die schiefen Gelenke, die falsche Anzahl von

Fingern und Zehen. Außerdem konnte er nicht ver-

gessen, was Eagle ihm erzählt hatte; dass die Creeker

Zähne wie Kevin Furmans Bulldogge besaßen und ei-

nen bissen, wenn man ihnen zu nahe kam …

Doch das war dumm. Phil erkannte sofort, dass die-

ses Mädchen ihn nicht beißen würde, auch wenn er

ihre Zähne nicht sehen konnte. Seine Angst ver-

546

schwand binnen weniger Sekunden. Ihr schien es ge-

nauso wie ihm zu gehen. Sie wirkte fasziniert. In abge-

hackten Sätzen – ihr Haar tanzte bei jedem Satz über

ihrem Mund – verriet sie ihm, ihr Name sei Dawnie.

Dann gellte die Stimme durch den Wald, rief sie

nach Hause und sie war davongerannt.

Doch Phil wollte nicht, dass sie ging. Also …

Folgte er ihr.

Und verlief sich innerhalb von Minuten erneut. Der

feuchte Wald schien ihn diesmal vollends zu verschlin-

gen. Das brennende Licht der Sonne traf ihn durch die

Bäume wie ein glühender Hammer. Schweiß durch-

tränkte sein Green-Hornet-Shirt, bis es an ihm klebte.

Insekten umschwirrten seinen Kopf und seine Schul-

tern, stachen ihn, während seine Turnschuhe durch

das Unterholz brachen. Vergeblich schlug er mit hekti-

schen Händen nach ihnen.

Als er sich bereits mit dem Gedanken anfreundete,

nie wieder herauszufinden, öffnete sich der Wald zu

547

einer Lichtung. Hohes, sonnenverbranntes, braunes

Gras raschelte im toten, heißen Wind.

Dann sah er das Haus.

Heilige Kacke!

Das große und baufällige Bauernhaus thronte mit

zwei Geschossen auf dem Hügel. Der aufgeplatzte

weiße Anstrich offenbarte Adern aus grauem Holz.

Die abgefallenen Schindeln auf dem Dach erinnerten

ihn an Mrs. Nixermans fehlende Zähne. Die hohen,

schwarzen Fenster erwiderten seinen Blick …

Es spukt darin. Da war er sich absolut sicher. Das ist ein Spukhaus.

Es konnte nicht anders sein. Es war das unheim-

lichste Haus, das er je gesehen hatte, und wenn es je in

einem Haus gespukt hatte, dann in diesem.

Das hier musste Onkel Frank gemeint haben. Dieses

Haus war eines der ›Dinge‹, die zehnjährige Jungs bes-

ser nicht sehen sollten.

Also tat Phil, was jeder Zehnjährige getan hätte.

Er ging näher heran.

548

Die Stufen knarrten unter seinen Schuhen, als er auf

die Veranda stieg. Er konnte kaum etwas durch die

Fliegentür erkennen, nur klumpige Umrisse und trübe

Finsternis.

Er schlich auf Zehenspitzen zum nächsten Fenster

und spähte hinein …

Die Sonne brannte ihm auf den Rücken, als er sich

weiter vorbeugte, um besser sehen zu können. Zuerst

konnte er nichts erkennen, nur weitere unscharfe

Schemen. Dann schälten sich nach und nach Einzel-

heiten heraus: ein großes, altes Sofa, ein Ohrensessel,

getäfelte Wände und alte Gemälde.

Aber …

Keine Gespenster.

Ach, Kacke, dachte Phil in absoluter kindlicher Ent-

täuschung. Da sind keine Gespenster drin. Es ist nur ein

altes Haus. Nichts, wovor man sich fürchten –

Phil stieß einen schrillen, lauten Schrei aus, als ihm

sieben kleine Finger auf die Schulter tippten. Er

sprang sicher einen halben Meter in die Höhe, wirbelte

549

herum und landete mit aufgerissenen Augen auf seinen

Füßen.

Dawnie kicherte. Phil kam sich wie ein Weichei vor.

»D-Du wohnst hier?«

»Ja-a-ha«, sagte sie.

Als sie lachte, bemerkte Phil zu seiner weiteren Ent-

täuschung, dass ihre Zähne nichts mit denen von

Kevin Furmans Bulldogge gemein hatten. Sie besaß

völlig normale, gleichmäßige Zähne wie jeder andere

auch. Eagle erzählte nur Kacke.

»Sie-äh weeg jetz«, sagte sie.

»Häh?«

»Weeg.«

Weeg, dachte Phil. Weg. Sie meinte wohl, dass ihre

Eltern wieder weg waren.

»Komme-mit-rein«, sagte sie.

»Häh?«

Sie lockte ihn mit einer Fingerbewegung vom Fens-

ter weg. »Komm mit. Nache-drin. Wild, äh, will dir

was zein, ja?«

550

Phil übersetzte. Sie wollte, dass er mit ins Haus kam.

Sie wollte ihm etwas zeigen.

Aber was?

Ein Teil von ihm wollte nicht gehen – das hier war

ein Creekerhaus. Vielleicht hatte sie große, hässliche

Creekereltern, die ihn gerne verprügeln würden, weil

sie dachten, er wolle Dawnie etwas antun. Vielleicht

dachten sie, er wolle sie vergewaltigen wie dieses Mäd-

chen, von dem Eagle ihm erzählt hatte.

Ja, Dawnies Eltern würden ihn vielleicht verprügeln

oder noch etwas Schlimmeres mit ihm anstellen …

Immerhin waren sie Creeker.

Niemand wusste, dass Phil hier draußen war. Phil

wusste selbst nicht, wo genau er sich befand. Alles, was

er sah, waren Dawnies große, hässliche Creekereltern,

die ihn durch das Haus jagten, ihre Zähne scharf wie

die von Kevin Furmans Bulldogge. Doch dann dachte

er: Sei kein Feigling! Sie hat dir gerade gesagt, das ihre Eltern nicht da sind. Und außerdem ist sie irgendwie süß

551

»Sie weeg. Komm mit.«

Phil folgte ihr. Zuvor hielt er kurz inne und betrach-

tete den Messingtürklopfer an der offenen Haustür. Es

war ein merkwürdiges Ding. Der Klopfer war ein Ge-

sicht, das weder Nase noch Mund besaß. Nur zwei

große, blanke Augen, die ihn anstarrten.

»Komme-mit, jetz. Hab kein Anst. Ich habse dir ge-

sagt, sie sin weeg.«

Sie sin weeg, imitierte Phil sie in Gedanken. Kann nicht schaden, reinzugehen und sich mal umzuschauen. Er konnte Eagle erzählen, dass er in dem verfluchten

Creekerhurenhaus gewesen war, dass er hinein gegan-

gen war. Dann würden Eagle und seine anderen

Freunde ihn bestimmt für mächtig cool halten.

Der Flur sah nicht wesentlich anders aus als der im

Haus seiner Tante. Normale Möbel, Stühle, eine große

hölzerne Aufsatzkommode in der Ecke, eine Standuhr.

Es war alles nur ein wenig älter, sonst nichts. Er folgte

Dawnie die Stufen auf der linken Seite hinauf. Das

Treppenhaus war dunkel und im oberen Korridor war

552

es noch wesentlich finsterer. Das ergab Sinn, denn er

hatte gehört, dass die Wohnungen der Creeker in der

Regel nicht mit Strom versorgt waren. »Wo gehen wir

hin, Dawnie?«, fragte er auf dem Absatz. »Gehen wir

in dein Zimmer?«

»Nee«, sagte sie und drehte sich zu ihm um. Wieder

fielen ihm ihre Knospen auf. Sie waren klein, doch

zeichneten sich angenehm unter dem alten Sommer-

kleid ab. Eigentlich hätte sie ganz hübsch sein können,

wären da nicht die verdrehten Hände und Füße gewe-

sen.

»Follg mia.«

Dann nahm sie seine Hand und führte ihn eine wei-

tere, mindestens genauso düstere Treppe hinauf.

Jesus, ist das heiß, dachte er. Doppelt so heiß wie

draußen und viel schwüler. Als sie den Absatz im

zweiten Stock erreichten, glaubte Phil zu kochen. Hier

oben befand sich ein weiterer Korridor. Noch mehr

alte gerahmte Bilder hingen an den Wänden, doch es

war zu dunkel, um sie zu erkennen. Das einzige Licht

553

drang aus einem kleinen, hohen Fenster am Ende des

Ganges herein. Dann bemerkte er eine Reihe kleiner

Lichter – winzige weiße Punkte leuchteten an jeder

Tür.

Schlüssellöcher, erkannte Phil.

Dawnie schien auf sonderbare Art sehr aufgeregt zu

sein. Phil entdeckte ihr Grinsen hinter den schwarzen

Haarsträhnen.

Sie drückte seine Hand.

»Wills-u, äh, wills-u se sehn?«

»Wen sehen?«

»Äh-hm, mein-e Schwesteren?«

Ihre Schwestern? Davon hatte sie nichts gesagt. Er

war sich nicht sicher, ob er Dawnies Schwestern ken-

nenlernen wollte. Was, wenn sie total entstellt und

hässlich waren? Was, wenn sie ihn nicht mochten?

Und was machten Dawnies Schwestern überhaupt

hier oben in dieser bestialischen Dunkelheit und Hit-

ze?

554

Ihre Hand war heiß und feucht. Sie drückte seine ei-

gene Hand noch fester.

»Wills-u, äh-hm, wills-u sehn sie’s tun?«

Was tun?

Mit einem Mal bekam Phil kalte Füße. Er konnte

mächtig Ärger bekommen. Er sollte nicht einmal hier

sein und hatte keinen blassen Schimmer, wo genau er

sich überhaupt befand.

Er wollte lieber gehen.

Doch Dawnie zerrte aufgeregt an seiner Hand. Phil

wollte sich losreißen, doch aus irgendeinem Grund

konnte er es nicht.

Sie führte ihn zur ersten Tür.

»Knie-dia hin«, sagte Dawnie und legte die Hände

auf seine Schultern.

Phil verstand, was sie von ihm wollte. Er sollte sich

hinknien.

Sie will, dass ich durchs Schlüsselloch gucke.

555

Phil ging in die Knie, als ihre nervösen Hände fester

auf seine Schultern drückten. Das helle Licht aus dem

Schlüsselloch leuchtete auf sein Gesicht.

Dawnies Hand stupste gegen seinen Kopf.

»Seh-in. Seh-in rein.«

Phil fühlte sich schwindlig, irgendwie krank. Er hat-

te sich in den letzten paar Tagen schon nicht gut ge-

fühlt, aber jetzt ging es ihm richtig schlecht. Sein Ma-

gen zog sich zusammen und er zitterte trotz der Hitze.

Er war sich ganz sicher, dass er eine Grippe ausbrütete,

oder er hatte sich den Magen an den schrecklichen ge-

füllten Paprikaschoten seiner Tante verdorben.

Außerdem hatte er Angst.

»Hey, Dawnie, ich fühl mich nicht so gut. Ich geh

besser nach Hause.«

Doch Dawnie wollte davon nichts wissen. Ihre Fin-

ger packten seine Schulter noch fester und sie stieß ihn

regelrecht gegen die Tür.

»Gucke-hin. Seh-in.«

Das Schlüsselloch loderte.

556

Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken.

Der zehnjährige Phil Straker holte tief Luft, legte

sein Auge an das Schlüsselloch –

Jesus und Maria!

und spähte hindurch.

Eagle wirkte angemessen amüsiert von Phils Ge-

schichte. »Und? Was hast du gesehen?«

»Ich weiß es nicht«, gab Phil zu und kam sich wie

ein Idiot vor. Er hatte einen Ellbogen auf den Fenster-

rahmen gestützt. »Das ist das Letzte, woran ich mich

wirklich erinnern kann; wie ich mich hinknie und

durch das Schlüsselloch gucke. Manchmal denke ich,

dass da noch mehr ist, und manchmal träume ich da-

von, aber es sind immer nur Bruchstücke, flüchtige

Eindrücke wie eine Hand oder ein Fuß oder der Teil

eines Gesichts im Dunkeln. Wie auch immer, die

nächste bewusste Erinnerung setzt erst ein paar Tage

später ein. Da lag ich mit 40 Grad Fieber im Bett.«

557

Eagle lachte. »Wahrscheinlich haste gar nichts gese-

hen. Hast vielleicht alles nur geträumt, weil du krank

warst.«

»Ja, das könnte schon sein«, sagte Phil, doch er

glaubte nicht wirklich daran, obwohl ihm der Arzt

damals gesagt hatte, dass solche Fieberschübe oft Hal-

luzinationen oder Albträume auslösten. Phil wusste, er

würde es nie beweisen können, aber er wusste auch,

dass alles wirklich passiert war und dass das Haus …

Phil blinzelte heftig.

Dass es real war.

Ich wünschte, ich könnte mich erinnern. Ich wünschte,

ich wüsste, was ich durch dieses Schlüsselloch gesehen habe.

Nicht nur die Fetzen aus meinen Träumen. Alles! Warum

kann ich mich nicht an al es erinnern …

»Wird Zeit, deinen verfluchten Creekerpuff zu ver-

gessen«, sagte Eagle. Er lenkte den Truck über einen

weiteren furchigen, schmalen Pfad und hielt dann an.

»Wir sind da.«

558

Blackjack bewohnte ein Drecksloch von einer Hütte

mit Brettern, die als billiger Ersatz für Schindeln aufs

Dach genagelt waren. Sie kauerte zwischen den Bäu-

men in einem Bett aus hohen Gräsern und kriechen-

den Ranken.

Nebelfäden vom letzten Regenschauer schwebten

über dem Boden.

»War wohl nichts«, kommentierte Eagle. »Sein

Truck is’ nich’ da. Ich wusste, ihm is’ was passiert. Ich

wette, du und Paul, ihr hattet recht. Jemand hat ihn

aus dem Weg geräumt.«

Phil spähte durch den wabernden Nebel. »Bleib ru-

hig. Kann doch sein, dass an seinem Truck nur ’ne

Dichtung im Eimer ist und er die Karre jetzt in die

Werkstatt gebracht hat. Sieh mal«, Phil deutete mit

dem Finger, »das Fenster da – das Licht ist an.«

Sie stiegen aus. Die Nacht verschluckte das Geräusch

der zufallenden Türen von Eagles Truck. Der Nebel

teilte sich vor ihnen, als sie auf die Hütte zugingen und

dabei nach Moskitos und Bremsen schlugen. Phil

559

schien den dichten Nebel einzuatmen. Die Luftfeuch-

tigkeit durchnässte ihn binnen weniger Sekunden. Das

Tosen der nächtlichen Geräusche pulsierte durch die

Bäume hinter der Hütte.

Eagle klopfte, ließ aber sofort die rechte Hand her-

absinken, als die offene Vordertür widerstandslos nach

innen schwang. »Scheiße. Jetzt bin ich mir sicher, dass

er hier ist. Blackjack würd’ nie die Tür auflassen. Der

hat Knarren und anderes Zeug da drin.«

»Knarren?« Phil klang besorgt.

»So sieht’s aus, also machen wir uns lieber bemerk-

bar.« Eagle steckte den Kopf durch die Tür. »Hey,

Blackjack, bist du da? Alles klar bei dir, Kumpel? Ich

bin’s, Eagle!«

Sie warteten. Die Hütte antwortete mit Schweigen.

»Blackjack! Komm schon, Mann, komm hoch und

beweg deinen Arsch! Ich bin’s, Eagle. Ich hab unseren

neuen Fahrer dabei.«

Nichts.

560

»Muss wohl schlafen. Oder er ist dicht«, vermutete

Phil.

»Stimmt wohl. Los.«

Sie schoben sich hinein. Die Hütte sah aus wie eine

Müllhalde, war aber nicht verwüstet worden. »Das is’

erst mal ’n gutes Zeichen. Is’ nich’ so auseinanderge-

nommen wie Pauls Bude. Warte hier! Ich werf mal

’nen Blick ins Schlafzimmer.«

Phil nickte und sah sich um. Ich hab Scheißhäuser ge-

sehen, die besser aussahen, schoss ihm beim Anblick von Blackjacks Inneneinrichtung durch den Kopf. Er verschränkte die Arme und wartete, doch dann …

Was?

Ein Summen, scharf und doch so leise, dass er es

kaum wahrnehmen konnte. Es schien von rechts zu

kommen.

Die Küche. Im Dunkeln erkannte er alte Küchengerä-

te aus weißer Emaille.

Phil ging hinüber und warf einen Blick in den Raum.

Das ungleichmäßige Summen wurde lauter.

561

Phils Hand tastete die Wand hinauf und fand den

Lichtschalter.

Sein suchender Blick verharrte am Fußboden

»Ich glaub diese Scheiße nich’«, knurrte Eagle und

kam zur Küche. »Der Wichser is’ nich’ hier.«

»Doch, ist er«, krächzte Phil.

Er deutete auf den von Fliegen übersäten Leichnam

auf dem Küchenboden.

Vickis Set endete zu Aerosmiths Dream On unter grö-

lendem, tosendem Applaus. Klar, träum weiter, dachte

sie hinter der Maske ihres ›Tanzgesichts‹. Träum für

immer …

Träum, bis du stirbst.

Sie hätte schwören können, dass die Wände des Sal-

lee’s bebten, so heftig brandete das Klatschen der

Menge auf. Es klang wie ein Sturm. Und jedes Mal,

wenn sie durch das Licht und den endlosen, driftenden

Vorhang aus Zigarettenqualm von der Bühne abging,

hatte sie das Gefühl, in die Hölle hinabzusteigen.

562

Womöglich tue ich genau das, überlegte sie.

Sie verbeugte sich noch ein letztes Mal und ließ

dann die Bühne, den Lärm und die johlende Meute

hinter sich, so, wie sie ihre Würde und ihr Selbstwert-

gefühl bereits vor so vielen Jahren zurückgelassen hatte

– sie zeigte ihnen die kalte Schulter.

Druck stand am Eingang zum Backstage-Bereich,

ein deformierter Wächter in Latzhosen. Vicki fühlte

seinen schiefen Blick auf ihrem nackten Rücken lasten,

als sie an ihm vorbeieilte und in die Umkleide schlüpf-

te. Als sie eintrat, hörte sie das Plätschern von Wasser

aus einer der Toilettenkabinen. Jemand spült sich die

Scheide aus, dachte sie sofort. Eine der Creekerinnen.

Cody verbot es den Creekermädchen, Kondome zu

benutzen, also mussten sie Intimduschen nehmen. Die

Rednecks zahlten mehr ohne Gummi. Kein Wunder,

dass sie so sorglos waren. Männer konnten nicht

schwanger werden und waren weit weniger anfällig für

Geschlechtskrankheiten.

563

Es hatte nur wenige Fälle gegeben, in denen Cody

ihr befohlen hatte, kein Kondom zu benutzen. Meis-

tens dann, wenn sie einen besonderen Kunden bedien-

te. Doch in diesen Nächten war sie zu voll mit Koks

gewesen, um sich darüber Gedanken zu machen. Sie

machte alle zwei Monate einen Test in der County-

Klinik und der war bislang immer negativ ausgefallen.

Das schien wie ein kleines Wunder, wenn man über-

legte, wie intensiv sie sich prostituiert hatte, bevor sie

Natter heiratete. Alles für eine Line, dachte sie mit bit-terem Galgenhumor. Sie hatte Dinge getan, die sie

selbst kaum glauben konnte …

Die Tür der Kabine öffnete sich und wie erwartet

kam eines der Creekermädchen heraus. Es senkte so-

fort den Blick, als es Vicki bemerkte. Die Creeker be-

handelten sie mit einem beinahe königlichen Respekt.

Sie hatten Angst vor ihr. Schließlich war sie jetzt die

Frau des Königs. Das Mädchen, das nur einen Arm

besaß, humpelte an ihr vorbei zur Tür hinaus. Das

schwarze Haar wehte hinter ihr.

564

Jesus …

Vicki wusste, dass die Creeker machtlos gegen ihre

Ausbeutung durch Cody waren. Dennoch brachte sie

ihnen insgeheim Verachtung entgegen. Die Creeker-

mädchen waren eine ständige Erinnerung an die ver-

kommene Unterwelt der Hinterwäldler, die zu einem

untrennbaren Bestandteil von Vickis Leben geworden

war.

Sie erinnerten sie an ihre eigene Hilflosigkeit gegen-

über Cody Natter. Sie sind zurückgeblieben und entstellt

und eingeschüchtert, dachte sie. Sie haben immerhin eine Entschuldigung.

Welche Entschuldigung habe ich?

Sie wusste, dass es keine gab. Sie konnte niemandem

die Schuld für das Wrack ihrer Existenz geben. Nur

sich selbst.

Ihr waren Dutzende Dollarnoten in den Slip gestopft

worden, darunter sogar ein paar Zehner und Zwanzi-

ger. Das Geld ging komplett an Cody, genau wie das,

was sie beim Anschaffen verdiente. Sie wusste, dass er

565

ein Vermögen mit ihr machte, und Gott allein wusste,

was bei den Creekerinnen noch zusätzlich abfiel. Sie

verstaute die Scheine in ihren Handschuhen und

wandte sich dann, wie jede Nacht nach dem letzten

Auftritt, ihrem Spiegelbild zu.

Ein anklagendes Gesicht schaute ihr entgegen und

kam ihr wie das eines ausgelaugten Doppelgängers vor.

Ihr rotes Haar hatte seinen früheren Glanz verloren

und ihren grünen Augen fehlte etwas von ihrem Sma-

ragdleuchten. Krähenfüße breiteten sich aus, die ersten

winzigen Falten. Immerhin hängen meine Titten noch

nicht, dachte sie grob beim Anblick ihrer nackten, vorstehenden Brüste.

Doch was war mit dem Rest ihres Körpers?

Die Wahrheit wurde von Tag zu Tag offensichtli-

cher. Ihre ohnehin schlanke, gelenkige Gestalt war in-

zwischen ein wenig zu dünn geworden und zeigte erste

Anzeichen von Erschöpfung. Manchmal, wenn sie

morgens aufwachte, sah sie regelrecht ausgemergelt

aus. Das Kokain raubte ihr nicht nur ihre Lebenskraft,

566

sondern auch jeden vernünftigen Gedanken an bessere

Ernährung. Mit jedem neuen Morgen verschwand ein

kleines Stück mehr von ihr.

Und es würde nie mehr zurückkehren.

Ich fange an, richtig fertig auszusehen, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Bald kann ich von Glück sagen, wenn

ich noch ein paar Fünf-Dollar-Blowjobs an Land ziehe.

Keine besonders rosigen Zukunftsaussichten.

Was würde Cody dann tun? Sie hatte so viel gese-

hen, wusste über so viele Dinge Bescheid …

Sie versuchte, sich an eine Zeit zurückzuerinnern, als

ihr Leben noch nicht in Scherben gelegen hatte. Sie

wusste, wann das gewesen war: Damals, während ihrer

Verlobung mit Phil, war sie ein anderer Mensch gewe-

sen, hatte noch Pläne für die Zukunft geschmiedet und

war vor lauter Ambitionen regelrecht geplatzt. Wo war

das alles hin? Zur Hölle, dachte sie. Zur Hölle gefahren und dann direkt in meine Nase.

Der Diamantanhänger baumelte zwischen ihren

Brüsten – Phil hatte ihr den vor zehn Jahren ge-

567

schenkt. Seit ein paar Nächten trug sie ihn wieder,

aber … Warum? , fragte sie sich. Dachte sie wirklich, er würde es bemerken? Und wenn schon? Wie es aussah,

war ihr Ex genauso abgestürzt wie sie selbst. Er hing

mit Eagle Peters ab, einem bekannten Drogen-

schmuggler. Hatte ihr erzählt, dass er Dust rauchte.

Und neulich nachts? Ich war nur ein weiterer Fick, so

wie immer. Sie musste verrückt sein, wenn sie glaubte, dass er sie irgendwie aus Natters Klauen befreien

könnte. Warum sollte er das überhaupt wollen? , dachte sie mit zunehmendem Selbsthass. Mein komplettes Leben ist im Arsch …

Sie hatte nicht einmal versucht, Phil den wahren

Grund für ihre Ehe mit Natter zu nennen. Er würde es

ihr ohnehin nicht abnehmen, sondern es als in Selbst-

mitleid schwimmende Klage einer Hure abtun. Es war

besser, ihn einfach glauben zu lassen, was jeder glaub-

te: dass sie Natter aus Bequemlichkeit geheiratet hatte,

um sich kostenloses Koks zu sichern und weniger Frei-

er bedienen zu müssen. Das waren durchaus auch

568

Gründe. Aber dass Natter im Tausch für ihr Ja-Wort

die Kosten für die Herzoperation ihres Vaters über-

nommen hatte, gab seinerzeit den Ausschlag. Sie hatte

ihr Fleisch verkauft und nun hatte Cody seine Tro-

phäe. Es war beinahe wie im finsteren Mittelalter.

Ihr Vater war ein paar Jahre später gestorben, doch

immerhin hatte ihr merkwürdiger Deal ihm etwas

mehr Lebenszeit verschafft.

Nein, Phils Anhänger war nichts weiter als eine tote

Ikone, eine weitere Erinnerung daran, wie willenlos sie

ihr gesamtes Leben aus den Händen hatte gleiten las-

sen.

Eine weitere Erinnerung kämpfte sich an die Ober-

fläche.

»Verdammt!«, flüsterte sie laut. Sie griff in ihre

Handtasche und holte das kleine Fläschchen hervor.

Es war leer.

Bei der Phiole handelte es sich um eine weitere Iko-

ne, einen perversen Weihrauchtiegel, mit dem sie ih-

rem eigenen Dämon huldigte. Sie war eine Sklavin

569

und es fiel ihr schwer, mit klarem Kopf an eine Zeit

zurückzudenken, in der es anders gewesen war …

Tock-tock-tock! Das laute Klopfen kam von der Tür.

Oh, gottverdammt! , dachte sie. Sie wusste, wer es war.

Druck. Und sie hatte schon geglaubt, heute keinen

Freier mehr bedienen zu müssen. Immerhin bot ihr die

Ehe mit Natter diesen unbestreitbaren Vorteil. Er re-

servierte sie für einige wenige seiner betuchten Kun-

den, was auf zwei-bis dreimal pro Woche hinauslief

und nicht wie früher auf fünf bis zehn pro Nacht. Die

teuerste Nutte im Club zur Frau zu haben, war Natters

Vorstellung von Prestige, so ähnlich wie das beste

Pferd im Stall eines Jockeys. Die anderen Mädchen

waren das Standardöl in Natters Getriebe, während die

Creekermädchen die ausgefalleneren Wünsche bedien-

ten. In gewisser Weise thronte Vicki auf einem Podest.

Die Königin des Sal ee’s, dachte sie. Cody Natters Fick-trophäe, das Vorzeigefleisch der Redneck-Unterwelt

Tock-tock-tock-TOCK!

»Was, Druck?«, schrie sie beinahe durch die Tür.

570

»’tschuldigen Sie, Miss Vicki«, antwortete die halb-

gescheite Stimme. »Sind Sie da drin bald fertig?«

»Ja. Wieso?«

»Cody will Sie sehen.«

»Warum um Gottes wil en?«

Die langsame Stimme hinter der Tür zögerte. »Weiß

nich’, Miss Vicki. Aber Sie machen wohl besser

schnell, denn er wartet schon ’ne ganze Weile.«

»Ich bin gleich da«, rief sie. Ihre Stimme hatte jede

Schärfe verloren. Ja, sie wusste es. Ein letzter Blick in

den Spiegel ließ sie beinahe in Tränen ausbrechen.

Wen hasste sie mehr? Natter oder sich selbst?

Sie schlüpfte hastig in Jeans und Bluse und verließ

die Umkleide.

Druck wartete draußen und knackte mit seinen dop-

pelten Daumen. »Jawohl, Sie sehen heut’ Abend wie-

der mächtig hübsch aus, Miss Vicki.«

»Wo ist Cody?«

571

Das Lächeln auf seinem verdrehten Gesicht erinner-

te sie einmal mehr an zwei aufeinanderliegende fette

Würmer. »Er is’ hinten im Büro.«

Drucks schiefe rote Augen hefteten sich an ihren

Busen. Das Lächeln kräuselte sich. Sein Blick fühlte

sich an wie das Grapschen eines zudringlichen Freiers.

Drecksack.

Sie tänzelte mit klackernden Stilettos den Gang hin-

unter und betrat das Büro. Sofort bemerkte sie zwei

der weniger entstellten Creekertänzerinnen, die bis auf

ihre Strings völ ig nackt an der Wand lehnten. Ihre

ebenholzfarbigen Köpfe waren zu Boden gesenkt, als

befänden sie sich in der Gegenwart eines Gottes.

Was gewissermaßen auch der Fall war.

Cody Natter thronte hinter seinem Schreibtisch.

»So lieblich, so wunderschön«, ertönte die vertraute,

knarzende Stimme. »Und wie war dein Abend, meine

Liebe?«

»Super. Druck sagte, du willst mich sehen?«

572

Natter saß halb in Schatten gehüllt da, was seine ver-

zerrten Züge noch schrecklicher erscheinen ließ. »Nur

eine kleine Sache, die wir zu besprechen haben. Es

sollte nicht allzu lange dauern. Da sind drei Herrschaf-

ten, die sehr gerne deine Gesellschaft genießen wür-

den.«

Sie war schockiert. Drei lokale Größen der Redneck-

Szene, zweifellos die Taschen von ihrem letzten Dro-

genhandel zum Bersten gefüllt. »Komm schon, Cody,

ich mach keinen Gruppensex mehr. Ich hasse Rudel-

bumsen.«

»Nun, selbstverständlich würde ich nie von dir er-

warten, dass du dich einer solchen Aufgabe alleine an-

nimmst. Du wirst natürlich Unterstützung bekom-

men.« Bei diesen Worten wanderten Natters dunkle,

blutrote Augen zu den beiden Creekermädchen.

Vicki starrte sie mit offenem Mund an, dann

schwenkte ihr Blick zu Natter zurück. »Was? Die? «

Natters hob eine krumme Augenbraue. »Was ist

denn mit ihnen?«

573

»Sie sind Creeker! «

Unangenehmes Schweigen erfüllte den Raum. Vicki

wusste, sie hätte das nicht sagen dürfen, doch es war

ihr so herausgerutscht. Zurücknehmen konnte sie es

jetzt nicht mehr.

Natter erhob sich. Die Bewegung schien sich in ein-

zelnen Etappen zu vollziehen, als würde seine impo-

sante Gestalt sich schrittweise zu ihren vollen zwei

Metern auseinanderfalten. Er löste sich aus der dunklen Ecke des Büros und schritt auf sie zu.

»Cody, ich hab’s nicht so gemeint«, stammelte sie.

»Ich …«

Seine lange, dreifingrige Hand schoss in einer ver-

schwommenen Bewegung vor und packte sie am Hals.

Seine Stimme schien zu fließen wie ein Bach voll

dunklen Wassers. »Ja, meine Liebe, da liegst du völ ig

richtig. Sie sind Creeker. Andererseits … das bin ich

auch.«

Seine Hand fühlte sich an wie ein eiserner Schraub-

stock. Sein Gesicht war grauenhaft, ein eingefallenes

574

Gebilde aus narbigem, zerfurchtem Fleisch, einem zu

großen Kopf und ungleichen Ohren. Unter den er-

grauenden Strähnen des schwarzen Haars zeichneten

sich Beulen ab, genetisch mutierte Auswüchse seines

Schädels.

Und dann waren da natürlich seine Augen.

Die riesigen, blutroten Augen …

»Und …«, seine Augen glitten zum Ausschnitt ihrer

Bluse, »was haben wir hier?«

Die langen Daumen und Zeigefinger seiner freien

Hand pflückten den Anhänger hervor.

Oh, nein, dachte Vicki.

»Wer hat dir das gegeben?«, fragte die krächzende

Stimme.

»D-Du, Cody«, log sie.

Er kniff den Mund zusammen. »Ich? Bist du dir si-

cher?«

»Ja, ja, erinnerst du dich nicht? Du hast ihn mir ge-

schenkt, bevor wir geheiratet haben.«

575

»Hm. Na schön.« Mit einem kräftigen Ruck am An-

hänger zerriss er die dünne Goldkette. Dann drehte er

direkt vor ihren Augen den Edelstein in seiner Fassung

hin und her. Nach einer Weile zerbrach die Fassung

und der kleine Diamant fiel zu Boden.

Natters großer, gestiefelter Fuß trat ihn in den

Staub.

»Dann nehme ich an, ich muss dir einen besseren

kaufen.«

Es machte sie insgeheim wütend, wie all die anderen

Dinge, denen sie ihr Leben unterworfen hatte. Seine

Augen schweiften zu ihren zurück, bohrten sich tief in

sie hinein.

»Du hast jetzt einen Job zu erledigen. Willst du wei-

ter quengeln oder wirst du tun, was man von dir erwar-

tet?«

Irgendetwas geschah mit ihr, etwas Gefährliches.

Ein tief liegender Teil ihres Verstandes zerbrach wie

ein kleiner, vertrockneter Zweig. Ihre Angst schüttelte

sie und je länger sie in dieses verzerrte Gesicht starrte,

576

desto mehr erkannte sie die Zerstörung ihres eigenen

Lebens darin. Eine einfache Bewegung seiner steinhar-

ten Hand, so wusste sie, könnte sie ins Krankenhaus

schicken.

Er konnte ihr mit Leichtigkeit das Genick brechen.

Doch plötzlich, wenn auch nur für diesen einen

wahnsinnigen, explosiven Moment, war es ihr völlig

egal.

»Du Schweinehund!«, fuhr sie ihn heiser an. »Du

willst, dass ich ’ne Sechser-Orgie mit drei stumpfen

Drogenschmugglern mache? Ich bin deine Frau!«

»In der Tat, das bist du.« Sein Griff um ihren Hals

verstärkte sich. »Und warum ist das so? Sag es mir,

meine Liebe. Warum bist du meine Frau?«

Doch sie konnte ihm nicht mehr antworten. Ihre

Augen begannen hervorzuquellen, als die verdrehte

Hand ihres Mannes den Druck auf ihre Luftröhre und

die Arterien erhöhte, die ihr Gehirn mit Sauerstoff

versorgten.

577

Er antwortete für sie. »Du bist nur meine Frau, weil

ich es dir erlaube. Ja? Habe ich recht?«

Vickis Angst kehrte innerhalb eines Herzschlags zu-

rück. Sie zwang sich, am ganzen Leib bebend, zu ei-

nem Nicken.

Natters schwarze Stimme floss weiter. »Ja, du bist

meine Frau. Aber du bist noch etwas, oder? Und was

ist das?«

Der Schraubstock seiner Hand zog sich nach oben

zusammen und quetschte Tränen aus Vickis Augen

wie Wasser aus einem Putzlumpen. Ihr Herz zappelte

in ihrer Brust …

Seine Hand hob sie von ihren Füßen.

Sie keuchte, würgte die Worte heraus. »I-Ich bin ei-

ne …«

»Ja?«

»Ich bin eine, eine …«

»Hm? Sag es mir, meine Liebe! Was bist du?«

»Ich bin eine Hure!«, stieß sie schließlich hervor.

578

Die klauenähnliche Hand ließ sie los. Vicki fiel zu

Boden.

»Du bist eine Hure«, wiederholte er. Er ragte über

ihr auf, schwindelerregend hoch. »Ja, eine Hure. Das

warst du immer und das wirst du immer sein.« Seine

Stimme sank in eine unsäglich düstere Tiefe hinab.

»Und nun geh und tu, was Huren tun.«

Vicki japste, zog verzweifelt Luft in ihre Lungen.

Natter beugte sich unvermittelt zu ihr herunter.

»Eine Sache noch, meine Liebe. Ist da nicht etwas,

was du brauchst?«

Vicki sah mit zusammengekniffenen Augen zu ihm

hoch. Ihr war schwindlig. Sie konnte kaum hören, was

er sagte.

Etwas … ich brauche …

»Hm?«

Seine missgestaltete Hand öffnete sich direkt vor ih-

rem Gesicht.

Ihre Augen weiteten sich.

Sie schluckte.

579

In Natters entstellter Handfläche lag ein Tütchen

mit Kokain.

DREIUNDZWANZIG

»HEILIGER JESUS, VERDAMMT!«, rief Eagle.

Seine Augen waren so weit aufgerissen, als habe man

ihm die Lider geschält. »Die haben ihn gehäutet! «

»Eine verdammt dreckige Arbeit«, bemerkte Phil.

»Scheiße, wie knapp haben wir die Typen wohl ver-

passt?«

»Wir haben sie nicht verpasst. Die sind inzwischen

meilenweit weg, Eagle. Völlig ausgeschlossen, dass sie

ihn hier ermordet haben.«

»Woher willst das wissen?«

»Sieh dich doch mal um, Mann.«

Der Leichnam lag quer auf dem Fußboden. Er sah

kaum mehr menschlich aus. Die Methode war dieselbe

wie schon bei Rhodes. Das Etwas zu ihren Füßen

schien von geronnenem Blut bedeckt zu sein, die ge-

580

samte Oberfläche bestand nur noch aus sehnigem,

blutrotem Muskelfleisch. Fliegen krochen in Heer-

scharen über den Körper.

»Da ist kein Blut« erklärte Phil. »Wenn sie’s hier ge-

tan hätten, wäre da ein riesiger See auf dem Boden.

Aber da ist fast gar nichts. Die Typen, die das getan

haben, haben ihn woanders erledigt und Blackjacks

Leiche anschließend hierhergebracht.«

Eagle beruhigte sich allmählich. Er wirkte verwirrt.

»Aber das ergibt doch keinen Sinn. Warum sich so ’ne

Mühe machen? Warum haben sie ihn nich’ einfach

irgendwo im Wald verscharrt, wo ihn keiner findet?«

»Was denkst du denn? Sie wollten ja, dass man ihn

findet.«

»Warum das denn?«

»Zur Abschreckung, Mann. Die Typen, mit denen

ihr es da zu tun habt, wissen über euch Bescheid. Sie

haben euch dieses makabre Andenken hier hinterlas-

sen, damit ihr es findet und die Botschaft kapiert.«

»›Haltet euch raus‹«, sagte Eagle.

581

»Richtig. Sie wollen euch aus ihrem Revier vertrei-

ben und haben dieses gute Stück als Überzeugungshilfe

vorbereitet.«

»Verdammt, Mann.« Eagle ging rückwärts aus der

Küche, sichtlich angewidert von dem Anblick. »Das ist

überhaupt nich’ meine Baustelle. Ich bin nur ’n kleiner

Drogenschmuggler; ich hab mit so ’ner Scheiße nichts

am Hut. Ich mein, sieh dir an, was sie mit Blackjack

gemacht haben. Die haben ihn verdammt noch mal

gehäutet! «

»Stimmt«, nickte Phil. »Und wir sind die Nächsten.

Wir sitzen gemeinsam in einem Topf voll Scheiße, der

jeden Moment überkochen kann. Was machen wir

jetzt?«

»Abhauen«, erklärte Eagle. »Das werden wir ma-

chen. Ich hab nur versucht, was Geld zu verdienen,

aber das hier … Scheiß drauf. Das is’ es mir nich’

wert.«

»Warum schlagen wir nicht zurück?«, fragte Phil.

582

Eagle sah ihn an, als habe er gerade behauptet, der

Papst sei Jude. »Hast du deinen verdammten Verstand

verloren?! Zurückschlagen? Diese Typen sind ver-

dammt große Tiere im Geschäft, Phil, siehste das

nicht? Wenn wir uns wehren, sind wir tot!«

Steig mir jetzt bloß nicht aus, dachte Phil. Er brauchte einen Eagle im angepissten Zustand; sein Kumpel aus

Kinderzeiten sollte zurückschlagen wollen. Nur so wür-

de Phil jemals eine Chance haben, den genauen

Standort von Natters Labor herauszufinden.

»Ich garantiere dir, die haben dasselbe mit Paul ge-

macht«, log Phil. »Willst du dir diese Scheiße gefallen

lassen? Wir müssen uns wehren! Wir müssen die Kon-

kurrenz härter treffen als sie dich gerade getroffen

hat.«

»Hey, die haben nich’ mich erwischt, die haben

Blackjack erwischt, und das is’ schlimm genug. Ich bin

raus aus der Sache, und zwar sofort

583

»Komm schon, Mann. Wer ist der andere Versor-

ger?«, wagte Phil die Frage. »Lass uns denen zeigen,

mit wem sie sich anlegen!«

Eagle lachte ungläubig. »Fick dich, Alter. Wie ich

schon gesagt hab, ich bin nur wegen dem Geld dabei.

Ich bin lieber Tankwart als mich mit Typen anzulegen,

die so was machen. Komm schon. Wir hauen ab.«

VerDAMMT! , dachte Phil. Jedes Mal, wenn er nä-

herzukommen schien, verlor er das Ziel wieder aus den

Augen. Wenn er Eagle nicht bedrängte, würde er Nat-

ters Labor niemals finden, doch wenn er sich zu auf-

dringlich verhielt, bekäme Eagle innerhalb von Sekun-

den spitz, dass er in Wahrheit ein Cop war.

Schätze, ich muss ihn noch ein wenig bearbeiten, schloss Phil. Der Sache noch ein wenig Zeit geben. Außerdem

war da immer noch Sullivan. Vielleicht hatten ihm sei-

ne bisherigen Erlebnisse im Countygefängnis bereits

die Zunge gelockert.

»In Ordnung. Verschwinden wir von hier.«

584

Das grässliche Brummen der Fliegen verklang hinter

ihnen, als sie zurück zur Haustür gingen. Das Ge-

räusch klang unwirklich. Phil versuchte, den Anblick

des Leichnams aus seinen Gedanken zu verdrängen.

Es war schwer vorstellbar, dass dieser Körper vor weni-

gen Tagen noch als mehr oder weniger normaler

Mensch durch die Gegend spaziert war.

Phils Gedanken schweiften aufgrund der schieren

Groteske der Situation ab.

Niemand verdiente es, so zu sterben, nicht einmal

ein Drogendealer, nicht einmal der schlimmste Ab-

schaum auf dieser Welt. Phil versuchte, die Sache

nüchtern zu betrachten. Einer von Natters Creekern,

viel eicht sogar Natter selbst, hatte sich tatsächlich eine

Klinge geschnappt und die Mühe gemacht, Blackjack

seine gesamte Haut abzuziehen. Wie lange hatte das

gedauert? Was für ein Geräusch verursachte es, wenn

Haut abgezogen wurde? Wie lange war der Mann

schon tot?

Wie konnte jemand so etwas tun?

585

Ihre Schritte hallten in dem leeren Haus. Eagle öff-

nete die Vordertür, und –

»SCHEISSE!«

– duckte sich gerade noch rechtzeitig, um dem

wusch! einer kleinen Sichel zu entgehen. »Pass auf!«, schrie Phil, dann sauste die Sichel erneut auf sie herab.

Ein riesiger Creekerbursche, noch keine 20 Jahre alt

und fast zwei Meter groß, hatte draußen neben der

Tür auf sie gelauert. »Verdammte heilige Scheiße!«,

brüllte Eagle und duckte sich erneut. Ein dritter Hieb

mit der Sichel verfehlte seinen Kopf nur um wenige

Millimeter. Die Spitze des messerscharfen Werk-

zeugs–

krack!

bohrte sich in die Wand.

Phil stützte sich auf ein Knie und hatte die Beretta

aus ihrem Holster gezogen. »Geh aus dem Weg!«,

herrschte er Eagle an, der völlig geschockt rückwärts-

taumelte. »Ich hab ihn im Visier!«

586

Der Bursche versuchte gerade, seine Sichel aus der

Wand zu zerren und starrte ihn dümmlich an. Dann –

peng!

Sein verformter Schädel knallte nach hinten. Die ro-

ten Augen verdrehten sich, Blut spritzte aus dem frisch

geöffneten Loch in seiner gewölbten Stirn. Dann

brach er zusammen.

Phil erhob sich und senkte die Waffe.

»Mann, wo hast du die denn her?«, erkundigte sich

ein völlig verblüffter Eagle.

»Ist mein Glücksbringer. Jetzt hör auf zu jammern

und lass uns hier abhauen!«

»Sicher, sicher. Weg hier«, wiederholte Eagle aufge-

regt und hastete auf die Vordertür zu.

»Nicht da lang!«, rief Phil und warf sich plötzlich

nach vorn. »Hinten raus!«

Eagle drehte sich zu ihm um. »Was …?«

Draußen schwoll Mündungsfeuer an wie ein Sekun-

denbruchteil Tageslicht, dann brüllte das gewaltige

Donnern einer Schrotflinte durch den Raum. Ein zer-

587

franstes Loch von der Größe eines Suppentellers tat

sich in der Wand auf.

Phil hatte Eagle gerade noch rechtzeitig aus der

Schusslinie gezogen. »Los, los!« Sie stürmten ins

Schlafzimmer und schlugen die Tür hinter sich zu.

Weitere Schüsse ertönten und stanzten Löcher in das

Holz.

»Mann, du hast gesagt, die wären nich’ mehr hier!«,

schrie Eagle. »Du hast gesagt, die wären meilenweit

weg!«

»Okay, ich schätze, ich lag verdammt noch mal

falsch!«

»Heilige Scheiße, Mann!« Eagle brabbelte hyste-

risch. »Heilige verfickte gottverdammte Scheiße! «

Phil verpasste ihm eine Ohrfeige. »Halt die Klappe!

Reiß dich zusammen!«

»Was zur Hölle machen wir jetzt hier hinten?«

Phil schlug ihn wieder. »Du hast gesagt, Blackjack

hätte Waffen – hilf mir, sie zu finden!«

588

Sie stellten das kleine Zimmer vollständig auf den

Kopf. Von draußen hörten sie, wie jemand mit schnel-

len Schritte ins Haus polterte. »Beeil dich!« Phil hielt

seine Pistole auf die Tür gerichtet, während er gleich-

zeitig mit der freien Hand die Schubladen des Nacht-

tisches aufriss. Sein Herz schien mehrere Schläge lang

auszusetzen.

Eagle kippte die Matratze vom Bett und schob ein

Sperrholzbrett vom Rost. »Hier, Mann!«

Leck mich am Arsch! , dachte Phil.

Der Bettkasten war ausgeschnitten worden, wie ein

hohles Buch. Darin befand sich ein Geheimversteck

voller Waffen – Pistolen, Schrotflinten, Jagdgewehre

und sogar ein paar Maschinenpistolen – und der dazu-

gehörigen Munition.

»Bedien dich!«, wies Phil Eagle an. »Schnapp dir ir-

gendwas und fang an, damit herumzuballern!«

Eagle griff nach einer 9-Millimeter-Browning. »Die

tut’s nich’!«, schrie er, als er sie auf die Tür richtete und

abdrückte. Phil nahm sie ihm aus der Hand, entsicher-

589

te sie und warf sie in die Richtung seines Kumpels zu-

rück.

»Jetzt tut sie’s!«

Eagle entleerte das Magazin mit zusammengebisse-

nen Zähnen und zusammengekniffenen Augen durch

die geschlossene Schlafzimmertür. Die Waffe hustete

14 Geschosse aus und brachte Phils Ohren zum Klin-

geln.

»Wie gefällt euch das, ihr Wichser!«, schrie Eagle.

Dann riss ein einzelner gewaltiger Schuss aus einer

Schrotflinte die Tür aus den Angeln.

»Wie gefäll-te euch das, ihr Redneckjungs?«, erwi-

derte eine unirdische Stimme.

Dann jagten drei weitere Schüsse durch den Raum

und pulverisierten die Holzwand hinter ihnen.

Wir stecken definitiv in der Scheiße, dachte Phil. Er

warf Eagle seine Beretta zu, der die letzten vier Kugeln

durch die offene Tür feuerte. Die Schüsse wirkten ge-

radezu mickrig im Vergleich zu der Schrotflinte und

die Creeker draußen brachen in schallendes Gelächter

590

aus. Wenn sie über deine Knarre lachen, hast du ein echtes Problem, erkannte Phil. »Komm schon, Mann, komm

schon!«, rief Eagle. Seine Hände zitterten. »Sie kom-

men durch den Flur, ich kann sie sehen!«

Währenddessen beschäftigte Phil sich gerade mit ei-

ner MAC-10-Maschinenpistole. Das 30-schüssige

Magazin schien noch vollständig geladen zu sein. Er

rammte es in die Halterung und fingerte nach dem

Durchladehebel.

»Komm schon, Mann! Weißt du nich’, was du da

machst?«

»Ich kann nichts dafür, dass ich nicht für Guns Digest

schreibe!«, blaffte Phil zurück. Er war nicht besonders

vertraut mit dieser Waffe, doch schließlich gelang es

ihm, den Hebel zurückzulegen. Dann –

»Scheiße, ich find die verdammte Sicherung nicht!«

»Oh Mann, mach schnel !«

Eagle duckte sich. Zwei Schüsse aus der Schrotflinte

donnerten, gefolgt von etwas, das nach Pistolenfeuer

klang. Der Raum vibrierte.

591

Dann stürmten zwei Creeker in das Zimmer.

»Oh Mann, oh Mann«, wimmerte Eagle.

Beide hatten riesige, aufgedunsene Köpfe, vergrößer-

te Kiefer und schiefe Zähne. Der mit der Schrotflinte

hielt seine Waffe in Händen, die nur aus Daumen und

Zeigefinger bestanden. Der andere, der gerade seinen

Revolver von Smith & Wesson nachlud, schien zwei

Knie an seinem linken Bein zu besitzen. Die rechte

Schulter hing ihm beinahe bis auf die Hüfte herab.

Durch die filzigen Matten ihrer schwarzen Haare

brannten ihre blutroten Augen auf Eagle herab.

»Hey-a, Blondie«, lachte der eine. »Wo’s dein Kum-

pel?«

»Wir wern euch ficken, wenn er tot seid«, erklärte

der andere. »Wern euch richtig rannehm, Abschaum.«

»Un’ dann futtern wir euch.«

Der Creeker mit der Schrotflinte richtete seine Waf-

fe im selben Moment auf Eagles Kopf, als Phil hinter

dem Bett hervorsprang. Mit einem schrecklichen Ge-

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räusch, das an einen Rasenmäher erinnerte, spuckte die

MAC-10 ihre Projektile aus.

Die Maschinenpistole vibrierte auf eine nahezu elo-

quente Weise. Die Salve von 45er-Geschossen er-

wischte den Creeker im Bauch, riss ihn buchstäblich

von den Beinen und schleuderte ihn in den Flur zu-

rück. Fäden aus Blut flirrten durch die Luft.

Phil drehte das Handgelenk und gab eine weitere

kurze Salve auf den zweiten Creeker ab. Dieser voll-

führte einen zuckenden Tanz, als große, fleischige Lö-

cher in seiner Brust aufblühten.

»Phil!«, schrie Eagle. »Hinter dir!«

Glas splitterte, zwei Kugeln zischten haarscharf an

Phils Kopf vorbei. Ein dritter Creeker versuchte,

durchs Fenster ins Innere der Hütte zu gelangen.

Die MAC ratterte erneut und pustete den Creeker

sofort wieder nach draußen. »Schnapp dir die Knarre«,

befahl Phil und deutete auf den Revolver auf dem Bo-

den. »Mir nach!«

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Phil griff sich die Waffe des toten Creekers, dann

stemmten er und Eagle sich durch das Fenster hinaus

in hüfthohes Gras. »Leise jetzt, leise«, flüsterte Phil

und hielt die MAC im Anschlag. Er warf einen

schnel en Blick um die Ecke des Hauses. »Sieht ruhig

aus. Ich schätze, wir könnten vielleicht alle erwischt

haben. Los jetzt, flitz wie der verdammte Teufel rüber

zum Truck und lass uns verflucht noch mal hier ab-

hauen!«

Der Hof lag ohne jedes Hindernis vor ihnen, was gut

war – sie hatten freie Sicht –, doch der Mond schien

hell, was schlecht war – sie bettelten wie Moorhühner

regelrecht darum, abgeschossen zu werden. Ihre Füße

zertrampelten das hohe Gras, als sie losstürmten. Mit

jedem Schritt scheuchten sie Schwärme von Mücken

und anderen Insekten auf.

Als sie schwer atmend Eagles Truck erreichten,

suchte Phil die Umgebung mit Blicken ab. Nichts.

Doch dann …

»Oh Scheiße …«

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»Was ist los?«, schnappte Phil. »Steig ein und wirf

den Motor an, damit wir hier wegkommen!«

»Oh Scheiße«, stöhnte Eagle noch einmal. Er stand

stocksteif da und starrte die Motorhaube des Trucks

an. Sie stand ein Stück weit offen, Kabel und Schläu-

che hingen wie Eingeweide heraus.

»Sie haben den Truck demoliert, Mann …«

Wir sind am Arsch, dachte Phil wenig begeistert.

»Okay, dann müssen wir zu Fuß flüchten. Lass uns …«

Plötzlich umgab sie ein Geräusch wie metallischer

Regen – pling-pling-pling-pling – und kleine Löcher erschienen wie von Zauberhand in den Kotflügeln des

Trucks. »Jemand schießt auf uns!«, rief Phil. »Runter!«

Er zog Eagle zu Boden. Himmel, wie viele von denen

sind noch da draußen? Aus den Augenwinkeln nahm er

die grellen Punkte des Mündungsfeuers auf der ande-

ren Seite der Hütte wahr.

Ein fünfter Creeker stürzte auf sie zu und feuerte mit

einer Pistole.

Phil ließ eine neue Salve aus seiner MAC los …

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Der Creeker ging mit einem Gurgeln zu Boden.

»Erwischt!«, kam Eagles Freudenschrei.

Dann tauchte ein sechster Creeker, viel größer, aber

weniger geschickt, um die Ecke des Hauses auf und

kam genau auf sie zu.

Er feuerte mit einer Pumpgun.

»Jesus Christus!«, beschwerte sich Phil. »Haben die

einen ganzen Bus voller Freaks angeheuert?« Als er die

MAC auf den Creeker richtete und abdrückte –

»Scheiße, Mann!«, kreischte Eagle.

– passierte gar nichts. Der Bolzen klickte nur. Der

Munitionsstreifen war leer. Phil fluchte leise. Inner-

halb von ein paar Sekunden hatte sich die MAC von

einer gefährlichen Waffe in ein harmloses Stück Me-

tall verwandelt. Ich wünschte, diese Dinger würden ge-