lins’ Schreibtisch, das Gesicht zu einer Gipsmaske er-

starrt.

»Geh nach Hause. Schlaf ’ne Runde.«

Phil erhob sich, als stiege er aus einem Grab. Die

Bilder schwärmten vor seinem inneren Auge: das Ge-

sicht im Schritt irgendeines Arschlochs vergraben,

Sperma, das wie kleine Schmucksteine in ihrem Haar

funkelte, wie die glänzenden Pailletten an ihrer Bluse.

Eine Hure, dachte er, während er das Revier verließ.

Ich hab sie verlassen und seitdem verdingt sie sich als

Hure in einem Stripschuppen.

ACHT

ES WAR EIN FASZINIERENDES GERÄUSCH,

ein feuchtes, schmieriges Klicken, wie Paketband, das

man von einer klebrigen Oberfläche abzog.

199

Die Welt schien in seinem Kopf zu summen: Herr-

lichkeit, Wunder.

Ein Mischmasch aus Worten schoss wie Querschlä-

ger durch seinen Verstand. Meine armen Brüder, dachte

er. Ich segne Euch auf Eurem Irrweg. Ich liebe Euc…

Ona-prei-se!

Fres-hauter!

Ona-rett-uns!

Er sah zu, erfüllt von Verehrung und Glauben. Wel-

che Ehre, dass ihm solche Anblicke zuteil wurden … er fühlte sich berauscht und heiß. Ihm war überschwänglich zumute. Das Fleisch dieser Welt … Mein Gott, wir

sind wahrhaft gesegnet …

Das schmierige, feuchte Geräusch verstummte. Far-

ben glänzten, Kontraste blitzten auf. Es war so wun-

derschön! Rot lief über Weiß.

Seine Augen wandten sich dem Fenster zu, sahen

zum Himmel hinauf.

Und das feuchte Geräusch drang weiter in seine Oh-

ren.

200

Bald, dachte der Reverend. Sein Herz brannte wie

glühende Kohlen, glühte vor unbändiger Liebe, ein

heißer, glühender Barren geschmolzener Wahrheit.

Ja. Bald ist es wieder so weit …

Er war wieder ein kleiner Junge. Insekten umschwirr-

ten sein Gesicht. Manche stachen ihn. Abgestorbene

Zweige und welke Blätter knirschten unter den Sohlen

seiner schwarzen Turnschuhe, während die Sonne grel

durch die Bäume schien.

Er fühlte sich nicht gut. In der Schule hatte Miss

Cunningham ihnen erzählt, dass eine wirklich schlim-

me Grippe aus China umging. Ich werd sie schon nicht

bekommen, hatte er sich selbst versichert. Ich bin ja schließlich kein Chinese.

Doch seine Haut war trotz der schweißtreibenden

Hitze eiskalt. Sein Magen fühlte sich flau an – schließ-

lich hatte er sich vorhin übergeben, oder nicht? – und

er war sicher, dass es an den gefüllten Paprika liegen

musste, die seine Tante gestern zum Abendessen auf-

201

getischt hatte. Er hasste gefüllte Paprika. Warum

konnten sie nicht jeden Abend Toastwaffeln essen?

Die mit Zimt waren toll, fast so gut wie die mit Erd-

beergeschmack und dem weißen Zuckerguss …

Er wollte nicht nach Hause. Er wollte nicht, dass er

krank war. Ich bin nicht krank, sagte er sich. Ich hab keine chinesische Grippe! Also marschierte er mit kindlich-

überbordendem Vergnügen weiter, getrieben von einer

Neugier, die ebenso unverstellt wie ziellos war. In die-

ser Kanalrinne hier hatten sie mit seinen G.I.-Joe-

Figuren gespielt. Und an dem Baumstumpf dort drü-

ben, der so groß wie ein Kanaldeckel war, hatten er

und Dave »Cave« Houseman mit dem Luftgewehr auf

Limonadenflaschen gezielt. Dave hatte sich das Ge-

wehr von Eagle geliehen.

Seine Turnschuhe knirschten weiter unter seinen

Füßen. Er wusste nicht, wo er hinging, doch das

machte ihm nichts aus. An einem Abend hatte er bei

Eagle übernachtet, um sich die Alfred-Hitchcock-

Serie im Fernsehen anzusehen. In der Folge hatte eine

202

Frau ihren Ehemann mit einer gefrorenen Lammkeule

erschlagen. Eagles Onkel Frank war hereingekommen

– er baute Häuser – und hatte ihnen gesagt, sie dürften

niemals in die Wälder gehen, weil es dort »Dinge« gab,

die Zehnjährige nicht sehen sollten. Natürlich waren er

und Eagle Peters gleich am nächsten Tag in den Wald

gegangen, was sie von da an beinahe täglich taten.

Einmal fanden sie eine warme Dose Miller-Bier mit

verrosteter Lasche. Mit einem in der Nähe herumlie-

genden Dosenöffner hatten sie den Inhalt schließlich

aus seinem Gefängnis befreit. Ein anderes Mal stießen

sie hinter der Buckingham-Grundschule auf eine tote

Katze. Ihr Bauch war voller kriechender Würmer ge-

wesen. Und dann hatten sie einmal eine riesige grüne

Plastiktüte mit Zeitschriften voller Stockflecken aufge-

trieben. Darin waren eine Menge Bilder von nackten

Frauen zu sehen, was sie zum Lachen brachte (weil es

sie an einen Film erinnerte, der Nackte Gewalt hieß).

Eine der Frauen goss einer anderen Frau Honig zwi-

schen die Beine und leckte ihn ab! In einem anderen

203

Heft steckte eine Frau eine Pistole in das Loch ihrer

Freundin. Auf den kommenden Seiten steckte sie

Gurken und Bananen und andere verrückte Sachen

hinein. In einem dritten Heft stolperten sie über eine

Bildunterschrift: »WENDY BLÄST GERN«. Das

erinnerte sie an einen Song namens »Wendy«, den sie

ständig hörten. Oder war es »Windy«? Die Frau hatte

das Ding eines Schwarzen im Mund!

Er und Eagle streiften durch die Wälder, wann im-

mer sie konnten, doch sie fanden nie die »Dinge«, die

Zehnjährige nicht sehen sollten.

»Onkel Frank meinte, dass hier draußen mal ein

Mädchen verwaltigt wurde«, erzählte Eagle ihm eines

Tages, als sie am Bach saßen und mit der Schleuder

auf Flaschen schossen.

»Ein Mädchen wurde verwaltigt? Was heißt das?«

Eagle schien alles zu wissen, und während er sein

nächstes Ziel anpeilte – eine Colaflasche – sprach er

weiter, als wäre es gar nichts.

204

»Das ist, wenn ein Mann seinen Piephahn in ’ne

Frau steckt und die das nicht will.«

Das verwirrte ihn. »Warum sollte ein Mann das wol-

len?«

»Weils sich gut anfühlt, Dummkopf. Weißt du denn

gar nichts? Er spritzt Babysaft in sie rein und es fühlt

sich gut an.«

»Oh … Was ist Babysaft?«

Eagle lachte. »Du bist ja dümmer als Larry von den

Drei Stooges! Babysaft ist das Zeug, das aus dem Pie-

phahn rauskommt, wenn der Mann ihn in ’ne Frau

steckt. Davon kriegen sie Babys. Doch wenn Verwalti-

ger das machen, dann tun die auch andere Sachen.«

Eagle zog die Schlinge seiner Schleuder zurück. »Böse

Sachen.«

Das brachte ihn zum Nachdenken. Eagle traf die

Colaflasche und sie explodierte. »Was für böse Sa-

chen?«, fragte er Eagle.

Er wurde Eagle genannt, weil er blondes Haar hatte

und sein Vater ihn immer einen Bürstenhaarschnitt

205

tragen ließ, sodass er wie ein Weißkopfseeadler aussah.

Und Eagle sagte: »Sie verprügeln die Frauen auch,

manchmal bringen sie sie sogar um.«

Neugier ergriff Besitz von seiner Fantasie. So wie

damals, als er sich den Arm gebrochen hatte und es so

schlimm juckte unter dem Gipsverband, dass er eine

der Stricknadeln seiner Tante daruntergeschoben hat-

te, um sich zu kratzen. Als Doc Smith den Gips ab-

nahm, weinte er, denn der Doktor verwendete eine

kleine Säge dafür, die schlimmer kreischte als Dr.

Veribs Zahnbohrer.

Als der Gips abkam, war sein Arm von weißen

Schuppen bedeckt und die Haare schwärzer als die

Augenbrauen von Lisa Cottergrim. Sie war eine Ori-

entalin, die von ihren Eltern adoptiert worden war,

und ihre hübschen Brauen waren schwärzer als Krä-

henfedern. Vielleicht war sie Chinesin und deswegen

ging jetzt diese Chinesische Grippe um, von der seine

Lehrerin gesprochen hatte. Wie dem auch sei, Doc

Smith hatte ihm erklärt, dass seine Haare nur deswe-

206

gen so schwarz geworden waren, weil der Gips sie

sechs Wochen lang von der Sonne abgeschirmt hatte.

Doch jetzt juckte etwas in seinem Kopf, genau wie sei-

ne Haut damals unter dem Gips gejuckt hatte.

»Was für … böse Sachen?«, fragte er noch einmal.

Eagle richtete seinen nächsten Schuss auf eine seiner

G.I.-Joe-Figuren, die kaputtgegangen war. Ein Gum-

miband im Inneren war gerissen und der Kopf abgefal-

len. »So richtig böse Sachen.« Sein Auge öffnete sich

hinter dem Stein in der Schlinge. »Bei dieser Frau?

Nachdem der Mann ganz viel Babysaft in ihr Pipiloch

gespritzt hat, hat er auch welchen in ihren Hintern ge-

spritzt –«

»Hat er nicht!«, rief der kleine Junge angewidert.

»Hat er doch. Ich hab gehört, wie mein Vater und

Onkel Frank drüber geredet haben, als sie dachten,

dass ich schon schlafe. Sie haben Gnadenlose Stadt ge-guckt und über die Frau geredet, die verwaltigt wurde.

Und der Verwaltiger hat der Frau auch Babysaft in den

Hintern gespritzt und dann …«

207

»Was?«, schrie der Junge beinahe.

»Dann hat er sie an einen Baum gefesselt und sie mit

’nem Schraubenschlüssel auf den Kopf geschlagen und

ihr den Schraubenschlüssel dann ins Pipiloch gesteckt.

Und hinterher …« Eagle machte eine Pause, wie im-

mer, wenn er sich etwas ausdachte. »… da hat er sie

wieder auf den Kopf geschlagen und sie getötet.«

»Aber warum?«

»Warum?« Eagle lachte ihn aus. »Weil Verwaltiger

das nun mal so machen, Dummkopf.«

Der kleine Junge wunderte sich darüber. Es ergab

keinen Sinn. »Aber warum sollte ein Mann das mit

einer Frau machen wollen?«

»Echt keine Ahnung«, sagte Eagle. »Aber Onkel

Frank sagt, es gibt viele Leute auf der Welt, die krank

im Kopf sind. Darum vielleicht. Außerdem untersucht

der alte Chief Mullins die Verwaltigung und der hat

der Zeitung gesagt, dass es ein Creeker getan hat.«

208

Creeker, dachte der kleine Junge. Er überließ Eagle

auch den nächsten Schuss, denn er war zu sehr mit

Nachdenken beschäftigt. Creeker …

Das Wort lag ihm heiß und eklig im Magen,

schlimmer als die gefüllten Paprikaschoten seiner Tan-

te, schlimmer als das Corned Beef mit Kohl und der

klumpigen Tomatensoße, das er noch mehr hasste. Er

hatte schon von den Creekern gehört, wusste aber nur

sehr wenig über sie. Niemand sprach viel über das

Thema, als wäre es ein dunkles Geheimnis, so wie

auch niemand viel über Mrs. Nixerman sprach, die

krank im Kopf wurde und nachts splitternackt mit ih-

ren großen wackelnden Brüsten durch die Gegend lief.

Sie kam in ein spezielles Krankenhaus in Crownsville,

wo nur Leute hin mussten, die krank im Kopf waren.

Doch obwohl er ein bisschen was über die Creeker ge-

hört hatte, fragte er Eagle trotzdem aus, weil er hoffte,

sein Freund könnte vielleicht mehr wissen. Das war es,

was den Jungen faszinierte, genauso wie die »Verwalti-

gung« und die »Dinge« im Wald und all das.

209

Er wollte es wissen.

»Was ist denn ein Creeker?«, fragte er.

»Ach, du bist ja dümmer als Larry und Shemp zu-

sammen!«, prustete Eagle. »Ein Creeker ist jemand,

der aus dem Babysaft von seinem Vater oder seinem

Bruder geboren wurde. Und wegen irgendwas – weiß

nicht genau, was – kommt das Baby ganz falsch raus.

Zum Beispiel wenn ein Vater seinen Piephahn in seine

Tochter steckt und ihr Babysaft in ihr Pipiloch spritzt.

Und das Gleiche passiert, wenn eine Mutter ihren

Sohn Babysaft in sie spritzen lässt. Onkel Frank sagt, das kommt daher, dass man so was nicht tun darf,

Gott dann böse wird und die Babys falsch rauskom-

men lässt.«

Falsch, dachte der kleine Junge. Das Wort lag ebenso

schwer in seinem Magen wie Creeker, genauso schwer

wie die gefüllten Paprikaschoten und das Corned Beef

und der Kohl seiner Tante. »Wie meinst du das …

falsch?«

210

Eagles Geschoss traf den nackten, kopflosen G.I. Joe

mitten in die Brust. Plastikstückchen flogen in alle

Richtungen davon.

KLATSCH!

»Die Babys kommen raus wie die von diesen Hip-

pies, von denen Onkel Frank mir erzählt hat. Die

Hippies nehmen LSD und das versaut den Babysaft

des Mannes und die Babys werden alle total hässlich

und falsch. Genau wie die Creeker. Das ist Hügelvolk,

das seinen Saft nur in seine Verwandten spritzt. Und

die Kinder kriegen ganz große Köpfe davon, wie Gold-

fischgläser, und riesige rote und schiefe Augen. Viele

haben auch zehn Finger an jeder Hand statt fünf. Und

manche Creekermädchen kriegen extra Brüste und

Nippel, wie Zitzen bei ’nem Schwein und so. Manch-

mal werden sie ohne Arme und Beine geboren und die

Creekerpapas töten sie. Und dann essen sie sie.«

»Das stimmt nicht!«, heulte der kleine Junge.

211

»Das stimmt doch, denn mein Onkel Frank hat’s mir

gesagt. Und viele von ihnen haben Zähne wie die

Bulldogge von Kevin Furman.«

Den kleinen Jungen schauderte es. Er fühlte sich so-

wieso schon nicht besonders gut – wegen der gefüllten

Paprika, da war er sicher – doch nach dieser Geschich-

te fühlte er sich noch viel schlechter. Kevin Furmans

Bulldogge Pepper hatte unheimlich krumme, hässli-

che, gelbe Zähne und er konnte sich nichts Furchtba-

reres vorstellen als einen Menschen mit solchen Zäh-

nen im Mund …

Es gab nämlich nichts Hässlicheres als Kevin

Furmans Bulldogge.

»Und das ist noch was Schlimmeres«, meinte Eagle

und bereitete einen weiteren Stein zum Abschuss in

seiner Schlinge vor.

»Was?«

»Ich weiß nicht, ob ich’s dir sagen soll, sonst heulst

du hinterher wie ein kleines Baby.«

212

Eagle verfehlte sein nächstes Ziel, eine große tote

Kröte, die sie am Bach gefunden hatten.

Dave Houseman hatte ihnen mal erzählt, dass sein

Freund Mike Cutt lebende mit der Schleuder abschoss

und manchmal sogar Baseball mit ihnen spielte. Er

schwang den Schläger und die Eingeweide der Kröte

flogen durch die Gegend. Der kleine Junge konnte sich

nichts Ekelhafteres vorstellen.

Eagle fuhr fort. »Die Creeker, weißt du, die haben

irgendwo da draußen ein eigenes Hurenhaus.«

»Was …?« Der kleine Junge schluckte. »Was ist ein

… Hurenhaus?«

Eagle verdrehte die Augen. Auch sein nächster

Schuss verfehlte die riesige Krötenleiche. »Das ist ein

Ort, wo Männer Geld bezahlen, um ihren Saft in

Frauen zu spritzen, du Blödmann. Weißt denn gar

nichts? Und manchmal nehmen die Huren den Pie-

phahn eines Mannes in den Mund und lassen sie den

Babysaft da reinspritzen …«

»In den Mund? «, kreischte der kleine Junge.

213

»Genau, in den Mund, nicht nur ins Pipiloch. Aber

egal, ich hab meinen Vater und Onkel Frank mal

nachts drüber reden gehört, und die Creeker haben ein

besonderes Hurenhaus. Da können Männer bezahlen,

um ihren Saft in Creeker zu spritzen, wie die, von denen ich dir erzählt habe; die so ganz verdreht und

falsch und eklig sind, mit riesigen Köpfen und zehn

Fingern an jeder Hand …«

Und Zähnen wie Kevin Furmans Bul dogge, erinnerte

sich der Junge.

KLATSCH!

Der kleine Junge sah hoch. Eagle hatte die Kröte

schließlich doch noch erwischt.

Ihre Innereien spritzten in einem streifigen roten

Nebel umher.

An diesem Tag hatte Eagle ihm erklärt, das Huren-

haus der Creeker sei ein Geheimnis. Niemand sprach

darüber, genauso wie niemand über Mrs. Nixerman

sprach. Nicht jeder konnte dort hingehen, denn es war

214

etwas Besonderes – nur Männer, die mit den Creekern

befreundet waren. Das alles faszinierte den kleinen

Jungen. Diese Frauen – man nannte sie Huren – ließen

einen für Geld all diese Dinge mit sich anstellen, be-

sonders die Creekerfrauen …

Doch nun juckte die Neugier in ihm. Viel, viel

schlimmer als seine Haut unter dem Gips von Doc

Smith.

Am nächsten Tag bekam Eagle Hausarrest von sei-

nem Vater, weil er seine beiden Brüder Ricky und Billy

verprügelt hatte; sie hatten ihn »Weißkopfadler« ge-

nannt, und das durften nur Eagles Freunde.

Doch der kleine Junge brannte immer noch vor

Neugier, verspürte einen unschuldigen Wissensdurst.

Er wollte die »Dinge« sehen, von denen Onkel Frank

erzählt hatte.

Also wanderte der kleine Junge während der Zeit,

die Eagle zu Hause festsaß, trotzdem durch die Wäl-

der. Gleich nach der Schule. Manchmal schaute er

noch beim Polizeirevier vorbei, um dem alten Chief

215

Mullins Hallo zu sagen, der diesen ekligen Tabak kau-

te, aber ein netter Mann zu sein schien und ihm

manchmal sogar Lakritzstangen schenkte. Einmal hat-

te er ihm sogar einen Pfriem Tabak angeboten, aber

den wollte der Junge nun wirklich nicht in den Mund

nehmen.

Der Sommer verwandelte die Stadt – seine ganze Welt

– jedes Jahr aufs Neue in ein wunderbares, behäbiges

Traumland. Er hatte Ferien, trug morgens die Zeitun-

gen aus, mähte nachmittags Rasen und manchmal

zahlte Chief Mullins ihm ein paar Dollar, damit er die

Polizeiautos wusch oder im Revier aufräumte. Das

meiste Geld, das er verdiente, gab er seiner Tante, um

mit den Rechnungen zu helfen, doch im Sommer blieb

immer noch etwas für Cola oder Actionfiguren übrig.

Und wenn er mit der Arbeit fertig war, streifte er

durch die Gegend.

In den Wäldern.

216

Vielleicht nahm Eagles Onkel Frank sie nur auf den

Arm. Bisher war er den »Dingen« nicht einmal nahe-

gekommen. Viel eicht gibt’s die gar nicht, dachte er,

während er durch die bewaldeten Hügel auf der ande-

ren Seite des Baches stapfte. Er wollte uns wohl nur

Angst einjagen …

Aber warum hätte Onkel Frank das tun sollen?

Es war Mitte August, der heißeste Tag des Jahres.

Sein Magen fühlte sich an diesem Tag nicht gut an.

»Zu viel Eiscreme«, hatte seine Tante am Morgen ge-

sagt, als er von seiner Zeitungsroute zurückkam, aber

er wusste es besser. Es waren diese gefüllten Paprika-

schoten, die sie am Abend zuvor mal wieder aufge-

tischt hatte. Doch wie die meisten Zehnjährigen ließ

er sich von ein wenig Bauchschmerzen nicht zu Hause

festhalten. Er fühlte sich sogar noch schlechter, als er

am Nachmittag Rasen mähte. Ein paarmal glaubte er,

er müsste sich übergeben. Mrs. Young wird mich be-

stimmt feuern, wenn ich ihr gefül te Paprika auf den Ra-

sen kotze, dachte er. Er hätte zu Hause bleiben sollen, 217

doch er konnte sich nicht zurückhalten. So schlecht

sich sein Bauch auch fühlte, als er den Rasenmäher

gereinigt und zurück in den Schuppen gestellt hatte,

machte er sich auf in die Wälder.

Vorsichtig überquerte er den schnell fließenden Bach

auf den Trittsteinen, die Eagle und er im letzten Jahr

hineingeworfen hatten. Ein grünes, schleimiges Zeug

war auf einigen der Steine gewachsen und er musste

höllisch aufpassen. Ballen von Froscheiern hingen an

Stöcken im Wasser und am anderen Ufer wäre er bei-

nahe auf eine große, braune Schnappschildkröte getre-

ten, die er für einen Matschklumpen gehalten hatte.

Onkel Frank sagte, die Biester würden einem die Fin-

ger abbeißen, wenn man ihnen zu nahe kam.

Er stieß ein Stück Holz mit dem Fuß um und ent-

deckte zwei dicke, glänzende Salamander mit gelben

Flecken, was er toll fand. Doch als er ein weiteres

Stück Holz umdrehte, stockte sein Herz. Ein Nest von

Babyschlangen wand sich in der feuchten Stelle, sechs

insgesamt, doch für ihn sah es nach hunderten aus. Sie

218

waren braun mit karoförmigen Köpfen. Eigentlich

harmlos – es waren nur harmlose Nattern – doch ein

zehnjähriger Junge hielt alles, was braun war und sich

auf dem Boden schlängelte, gleich für eine gefährliche

Klapperschlange.

Er kletterte über einen umgestürzten Baumstamm

die Böschung hinauf und wagte sich tiefer in die Wäl-

der vor. Igitt! , dachte er, als er mitten durch ein Spinnennetz lief, das unsichtbar zwischen zwei Bäumen

hing. Der Pfad verzweigte sich in verschiedene Rich-

tungen (er und Eagle hatten längst noch nicht alle er-

forscht), also nahm er den Weg ganz links und wan-

derte einfach drauflos …

Vielleicht würde ihn einer der Pfade zu den »Din-

gen« führen.

Er konnte sich nicht wirklich vorstellen, was für

Dinge Onkel Frank meinte. Möglicherweise würde er

noch mehr von diesen schimmligen Magazinen mit

den nackten Frauen drin finden oder …

Sein Herz schlug heftiger.

219

Vielleicht finde ich eine Frau, die verwaltigt wurde,

dachte er aufgeregt.

Er hoffte, dass das nicht passieren würde. Was sollte

er dann tun? Zum alten Chief Mullins gehen?

Die Sonne brannte zwischen den Bäumen hindurch;

Schweiß tropfte ihm in die Augen und sein T-Shirt

klebte an ihm. Er überquerte einen weiteren Bach, den

er nie zuvor gesehen hatte, und war plötzlich von Mü-

ckenschwärmen umgeben. Als er weglaufen wollte –

MATSCH! – trat er versehentlich auf eine dicke Kröte.

Oh, wie eklig, dachte er. Der feiste Körper des Tieres zerplatzte unter seinem Schuh wie eine Puddingpa-ckung.

Die Mücken stachen ihn überall und je heißer die

Augustsonne hinabschien, desto schlechter ging es

ihm. Nicht nur sein Bauch tat nun weh, auch sein Hals

schmerzte und sein Kopf fühlte sich ausgestopft an.

Mehrere Male glaubte er, sich übergeben zu müssen.

Ich werde nie wieder gefüllte Paprikaschoten essen, schwor er sich. Nie wieder!

220

20 Minuten später wurden seine Bauchschmerzen

wirklich übel. Das ist blöd, dachte er. Da sind keine Dinge im Wald. Onkel Frank redet nur Unsinn. Er wollte

sich gerade umdrehen und nach Hause gehen, als et-

was mit einem Krachen zerbrach. Ein Zweig?

Er blieb ganz still stehen.

Dann hörte er eine Stimme:

»Hey du.«

Ein weiterer Ast brach. Direkt hinter ihm.

Seine Augen huschten umher. Es war eine Frauen-

stimme, so viel konnte er sagen, aber sie klang irgend-

wie … komisch. Ein bisschen wie die seiner Tante

freitagabends, wenn sie aus der großen Weinflasche

trank, die sie im Kühlschrank aufbewahrte.

»Wonach suchst, he? Hast dir verlaufen?«

Im ersten Moment konnte er sie nicht sehen. Ihr al-

tes, fleckiges Sommerkleid verschmolz mit den Bäu-

men. Doch dann erschien sie wie herbeigezaubert,

während er mit zusammengekniffenen Augen in die

Richtung starrte, aus der die Stimme kam. Wenige

221

Meter vor ihm stand ein Mädchen zwischen zwei

Bäumen. Sie hatte tiefschwarzes, glattes Haar, das ihr

zerzaust und strähnig ins Gesicht hing. Außerdem trug

sie keine Schuhe und ihre Beine waren völlig ver-

dreckt. Sie stand einen Moment lang da und betrach-

tete ihn durch die Strähnen ihrer Haare. Als er ein

paar neugierige Schritte auf sie zu machte, kam auch

sie näher und stand nun im vollen Sonnenlicht.

Sie war wohl etwas älter als er, vielleicht zwölf oder

13, denn unter ihrem Kleid zeichneten sich bereits

kleine Brüste ab, so wie bei den Mädchen aus der sieb-

ten Klasse. Er konnte sogar die kleinen Knospen unter

dem Stoff sehen. »Busenknospen«, nannte Dave the

Cave sie. »Tittenknospen. Wenn du dran saugst,

kommt Milch raus.« Das klang ziemlich albern. Wa-

rum sollte Milch in ihren Busen sein, hatte er sich gefragt, wo man sie sich doch bequem aus dem Kühlschrank

holen kann? Aber das war schon eine ganze Weile her

und erschien ihm in diesem Moment völlig unwichtig.

Er konnte die Knospen dieses Mädchens sehr deutlich

222

erkennen, denn ihr verschwitztes Kleid klebte an ihr,

genau wie sein Shirt mit dem Green-Hornet-

Schriftzug an ihm klebte. Sie gefiel ihm, auch wenn sie

ganz dreckig war und ihr das wirre Haar ins Gesicht

hing. Ja, sie gefiel ihm und er konnte sehen, dass sie

hübsch war. Und noch etwas fiel ihm auf.

Hügelvolk! , erkannte er. Sie ist eine Hinterwäldlerin.

Lebt hier bestimmt irgendwo in einer Hütte. Geht ver-

mutlich nicht mal zur Schule …

»Heya, du«, sagte sie. Die schwarzen Strähnen über

ihrem Mund tanzten, während sie sprach. »Wie is’n

dein Name, du?«

Er starrte sie an, nicht sicher, was sie gesagt hatte.

»Äh, Phil«, sagte er. »Phil Straker. Und deiner?«

»Dawnie, ich.« Sie schaute sich um, als wäre sie ner-

vös. »Ich bin Name Dawnie, ich.« Wieder tanzten ihre

Haare auf und ab, pust-pust-pust.

Das Mädchen faszinierte ihn und auch sie schien ihn

irgendwie interessant zu finden, denn eine Zeit lang

standen sie nur da und schauten sich gegenseitig an.

223

Doch schließlich kam er sich dumm vor, als ob er ir-

gendetwas sagen müsste, und so plapperte er das erste

dahin, was ihm in den Sinn kam: »Ich geh auf die

Summerset-Grundschule. Wo gehst du hin?«

»Wa-has?«, antwortete sie.

Was für eine blöde Frage! , schimpfte er mit sich selbst.

Hinterwäldler gehen nicht zur Schule! Dann sagte er:

»Ich wohne bei meiner Tante, gleich dort unten an der

Landstraße. Wo wohnst du, Dawnie?«

»Da hinten, weg.« Sie deutete hinter sich in die

Wälder hinein, und der kleine Junge fragte sich, wo

genau und worin sie wohnte. Wohnte sie wirklich in

einer Hütte oder einem Wellblechschuppen? Hinter-

wäldler hatten überhaupt kein Geld und konnten sich

kein Haus kaufen. Sie konnten sich nicht einmal Essen

leisten und mussten Tiere essen, die sie im Wald fin-

gen. Das hatte zumindest Onkel Frank behauptet …

»Was, he?«, fragte sie jetzt und trat ganz nah heran.

Er erstarrte, als sie ihre Hand auf seine Brust legte und

sein T-Shirt befühlte. »Was ’n das, he-a?«

224

»Green Hornet«, murmelte er. Dawnie wusste wohl

kaum, wer die Grüne Hornisse war, weil sie wahr-

scheinlich noch nie einen Comic gesehen hatte. Dann

fühlte er sich plötzlich hitzig und kribblig. »Was ’n

das?«, fragte sie wieder und fingerte am Bund seiner

Unterhose herum, der über den Gürtel lugte.

»Das ist eine … Unterhose!«, rief er. Er fühlte sich

erregt und schwindlig. Sein Ding war plötzlich steif.

Ihre Hände fühlten sich seltsam an, aber angenehm.

Ihr Atem, der durch ihre Haare blies, roch ein wenig

nach Milch. Dann blickte er auf ihre Hände –

Heiliger Kuhmist!

– und sah, dass sie an einer Hand sieben Finger hat-

te, an der anderen nur vier; dafür fehlte der Daumen.

Dann schaute er auf ihre Füße –

Sie ist ein –

– die jeweils mindestens acht Zehen hatten.

Creeker!

Neugierig zog sie am Saum seiner Unterhose und

mit einem Mal fühlte sein Piephahn sich ganz komisch

225

an, so als würde bald irgendwas passieren. Der kleine

Junge hatte allerdings keine Ahnung, was das sein

könnte. Er starrte sie an, bewegte sich nicht. Sie ist ein Creeker! , dachte er wieder, langsamer diesmal. Sie

musste einer sein, so wie Eagle sie beschrieben hatte.

Sie waren falsch, sie waren verdreht. Wie sonst konnte

sie so viele Zehen haben, wenn sie kein Creeker war?

Ihr kohlrabenschwarzes Haar schwang vor ihrem

Gesicht hin und her …

»Kannst mich küssen, du willst«, sagte sie, und eine

Sekunde später küsste sie ihn, richtig feucht, und

schob ihm die Zunge in den Mund. Zuerst fand er es

widerlich, doch schon sehr bald begann es ihm zu ge-

fal en. Dann –

»Dawn!« Eine Stimme schoss durch die Wälder wie

ein Gewehrschuss. »Dawn! He-a! Sofort, Kind!«

Dawnie zuckte zurück. »Ich muss nu geh’n«, flüsterte

sie in Panik und warf einen Blick über die Schulter.

»Tschüss!«

226

»Warte!« Seine Stimme brach. Er dachte nicht ein-

mal nach. Er wollte nicht, dass sie ging. Er wol te …

sie weiter küssen. Doch ihre Füße trugen sie davon.

Was soll ich machen? , fragte er dümmlich. Die Ant-

wort war einfach.

Er lief ihr nach.

Sie hatte bereits einen anständigen Vorsprung. Laub

und Zweige knirschten unter seinen Turnschuhen, als

er vorwärts durch das Unterholz preschte. Ranken und

Dornen zerrten an seinem Gesicht und seinen Armen,

doch das war ihm egal. Er merkte es nicht einmal. Sei-

ne Augen blickten nach vorn. Wo war sie hin? Alles,

was er sah, waren Bäume, Wald, Spinnweben. Dann

schob er sich durch ein weiteres Dickicht und spürte

die Sonne auf seinem Gesicht …

Er stand vor einem unbefestigten Weg, der einen

Hügel hinaufführte. An seinem Ende befand sich ein

Haus. Ein großes, windschiefes, zweigeschossiges

Bauernhaus. Giebel überschatteten die oberen Fenster;

altes, graues Holz schaute unter dem Putz hervor und

227

dem Dach fehlten mehrere Schindeln, was ihn an Mrs.

Nixermans fehlende Zähne erinnerte. Das Dach schien

einzusinken …

Er fasste immer noch keinen klaren Gedanken und

lief den Weg hinauf. Er konnte Dawnie nirgendwo

sehen, doch er wusste, dass sie hier wohnen musste,

denn es waren keine anderen Häuser weit und breit zu

sehen. Das Haus wurde größer, als er durch den Staub

rannte. Gewaltige Insekten schwirrten um seinen Kopf

herum.

Wettergegerbte Bohlen knarzten, als er die Stufen

erklomm. Einen Moment lang verharrte er auf der Ve-

randa, dann wandte er sich langsam nach rechts –

Ging auf das erste Fenster zu.

Er schirmte die Augen mit den Händen ab, um sie

vor den blendenden Sonnenstrahlen zu schützen.

Dann drückte er sein Gesicht an die Scheibe und sah

hinein …

228

NEUN

TRAUM. Der Gedanke pochte trocken in seinem

Kopf.

Phil tauchte wie aus einem dunklen Abgrund auf

und starrte an die Decke seines Zimmers. Vereinzelte

Sonnenstrahlen stachen durch die Lücken der Jalousie

und wiesen die falsche Nacht, die er sich aufgrund sei-

ner Arbeitszeiten verschaffen wollte, in ihre Schran-

ken. Trotz der bulligen Hitze im Raum fühlte er sich

wie in kalten Schlamm getaucht.

Ein Traum …

Weniger ein Traum als vielmehr eine Wiederholung,

ein geistiges Abschleppseil, das ihn zu jenem Tag vor

25 Jahren zurückgezogen hatte. Die in seiner Erinne-

rung aufgefrischten Bilder ließen es wie gestern er-

scheinen …

Die feuchten Wälder. Summende Insekten. Das

kleine Creekermädchen. Der lange Pfad, der sich den

229

Hügel hinaufwand, den er bis zu diesem Tag noch nie

gesehen hatte. Und …

Das Haus, erinnerte er sich.

Und das war alles, an das er sich zu erinnern wagte

das Haus. Nicht die Dinge, die er dort gesehen hatte

oder gesehen zu haben glaubte. Gott sei Dank war er

aufgewacht, bevor der Traum auch diese Fragmente

seiner Erinnerung hervorgeholt hatte …

Er stöhnte, schwang sich aus dem Bett und verzog

grimmig das Gesicht, als er die Jalousien öffnete.

Nachts zu arbeiten, hieß natürlich, tagsüber zu schla-

fen. Er hatte sich daran gewöhnt, abgesehen von dieser

ersten groben Attacke der Sonne. Es war ein seltsames

Gefühl, um 15 oder 16 Uhr nachmittags aufzustehen,

während der Rest der Welt den Tag am Morgen be-

gann. Immerhin, sagte er sich, muss ich mich nicht mit dem Berufsverkehr herumschlagen.

Das winzige Apartment mit Schlafzimmer, das er

von Old Mother Crane mietete, war nicht gerade ein

Penthouse in den Trump Towers, aber der Preis

230

stimmte. Es war alles, was er im Moment brauchte.

Der einzige Nachteil war die fehlende Klimaanlage;

ein Umstand, der sich an heißen Tagen besonders un-

angenehm bemerkbar machte. Er schaltete den riesi-

gen Fensterventilator an, schnappte sich ein Handtuch

und ging ins Badezimmer. Er hielt kurz vor dem Spie-

gel an, lange genug, um sich selbst zu verspotten. Siehst

gut aus, Phil. Hübsch gebräunt auch. Er fand, dass er für seine 35 Jahre gut in Form war, doch zehn Jahre Polizeiarbeit – ganz zu schweigen von seinem Job als

Wachmann auf Nachtschicht – hatten ihn blass wie

einen Fischbauch werden lassen. Sein Anblick im

Spiegel ließ ihn auflachen: bleich und nackt, Bartstop-

peln im Gesicht, sein dunkelblondes Haar völlig

durcheinander nach sechs Stunden schweißgetränktem

Schlaf. So kommst du nicht aufs Cover von GQ, dachte

er. Selbst seine sonst so klaren haselnussbraunen Au-

gen wiesen dunkle Ringe auf. Der Traum hatte ihn

erschöpft, all diese schrecklichen Erinnerungen …

231

Die kalte Dusche fühlte sich bei der Hitze lauwarm

an. Kaum hatte er sich abgetrocknet, begann er bereits

wieder zu schwitzen. Er hatte noch mehrere Stunden

Zeit, bevor seine Schicht begann, wusste aber nicht

recht, was er damit anfangen sol te. An der Feuerwache

rumhängen? Eine gemütliche Spazierfahrt durch die schöne

Altstadt von Crick City unternehmen? Himmel … Er

wusste, dass er sich ablenken musste, sonst würde er

wieder über den Traum nachdenken oder die Sache

mit Vicki Steele. Er musste aufhören, sich solche Ge-

danken zu machen, aber wie sollte er das anstellen,

jetzt, wo er zurück in der Stadt war und ständig die

vertrauten Menschen und Örtlichkeiten um sich her-

um hatte? Fang mit Rasieren an. Er schäumte sich das

Gesicht ein und ließ dann beinahe die Rasierklinge

fallen, als jemand an der Tür klopfte.

Wer zum … Meine Miete ist noch nicht fäl ig, oder? Ich

wohne erst seit drei Tagen hier. Ist es vielleicht der Mann von der Lotterie, der mir meine 15 Mil ionen Dol ar

232

bringt? Er musste unwil kürlich grinsen, wickelte sich ein Handtuch um und ging zur Wohnungstür.

»Ich habe schon im Büro gespendet«, sagte er, als er

sah, wer es war.

Das hübsche Gesicht schenkte ihm ein schneidendes

Lächeln. Die blonde Eishexe, erkannte er. Susan, unsere liebenswerte, gut gelaunte Leitzentrale.

»Hübsches Handtuch«, bemerkte sie.

»Hätte ich gewusst, dass Sie vorbeikommen, hätte

ich mir eine Krawatte umgebunden. Okay, was kosten

die Pfadfinderinnen-Kekse?«

»Sie sind wirklich furchtbar sarkastisch«, antwortete

Susan Ryder.

Phil konnte sich vorstellen, wie albern er aussehen

musste. Grünlicher Rasierschaum trocknete auf seinem

Gesicht und alles, was seine Blöße bedeckte, war ein

mickriges Handtuch. »Also gut, lassen Sie es mich an-

ders formulieren. Was zur Hölle wollen Sie?«

»Nun, ich bereue es zwar schon, aber ich dachte, ich

lade Sie zum Abendessen ein.«

233

Abendessen? , dachte Phil schwammig. Die Frau hasst mich. Sie glaubt, ich erschieße Gettokinder. Und jetzt will sie mich zum Essen einladen?

»Oder vielleicht sollte ich sagen«, korrigierte sie, »wie

immer wir Nachtschichtler die erste Mahlzeit des Ta-

ges auch nennen. Ich schätze, es ist unser Frühstück.«

Mit einem Mal wirkte sie zittrig und nervös. »Sozusa-

gen als Friedensangebot, verstehen Sie?«

»Friedensangebot?«, bemerkte Phil etwas dümmlich.

»Sind Sie so ein Holzkopf?«, fauchte sie plötzlich.

»Ich versuche, mich zu entschuldigen! Großer Gott!«

»Entschuldigen?« Phil stand weiter auf dem

Schlauch. Der Rasierschaum trocknete ungeduldig vor

sich hin. »Ähm … für was entschuldigen?«

Ihre hübschen blauen Augen verengten sich in Ver-

ärgerung oder Zorn. »Dafür, dass ich Sie heute Mor-

gen so mies behandelt habe. Aber wenn Sie sich wie

ein Arschloch aufführen wollen, vergessen Sie’s.«

»Oh. Ah«, kam Phils eloquente Antwort. Das Ganze

hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt. »Gut, in die-

234

sem Fall nehme ich Ihre Entschuldigung und die Ein-

ladung an. Kann ich mich noch umziehen oder soll ich

so gehen?«

»Sie können so rausgehen, wenn Sie wollen«, sagte

sie lächelnd. »Aber wenn dieses Handtuch runterfäl t,

müssen Sie sich selbst wegen Erregung öffentlichen

Ärgernisses verhaften.«

»Oder ungesetzlicher öffentlicher Zurschaustellung

von Rasierschaum«, antwortete er und fand al mählich

seine Schlagfertigkeit wieder. »Kommen Sie rein, ich

brauch nur eine Minute. Das Zimmermädchen hat

heute frei, verzeihen Sie also den aktuellen Zustand

meiner Behausung.«

Susan Ryder trat ein und wandte sich sofort dem Bü-

cherregal in seiner Besenkammer von Wohnung zu.

Hauptsächlich Fachtexte über Rechtswissenschaften

und Kriminologie aus der Zeit seines Masterstudiums.

»Meine Thomas von Aquins und Jungs sind noch im

Karton«, sagte er, »aber ich habe alles von Jack

Ketchum, was je veröffentlicht wurde.« Er schnappte

235

sich ein paar Klamotten und schlüpfte ins Bad. Er ra-

sierte sich hektisch und bemerkte seine Nervosität, als

er sich um ein Haar Raumspray unter die Achseln ge-

sprüht hätte. Warum sollte ich nervös sein? , witzelte er.

Ich habe ständig hübsche Blondinen zu Besuch.

Sie war definitiv attraktiv. Vielleicht hatte er das bei

ihrer ersten Begegnung angesichts der Umstände nicht

wirklich zur Kenntnis nehmen wollen. Er ließ die Ba-

dezimmertür einen Spaltbreit offen stehen. Im Spiegel

konnte er sehen, wie sie sich über sein Bücherregal aus

Sperrholz beugte, schlicht gekleidet in Jeans, Turn-

schuhen und einer gebleichten, lindgrünen Bluse. Ja,

sie ist wirklich hübsch, erkannte er, während er sich mit einer Hand die Zähne putzte und mit der anderen seine Jeans überstreifte. Unbehandeltes, weißblondes

Haar leuchtete auf ihren Schultern. Netter Hintern

auch, du Machoschwein, kommentierte er die Art, wie

ihre Haltung ihr wohlgeformtes Gesäß zur Geltung

brachte. Doch er wusste, was es wirklich war – nicht

ihr gutes Aussehen, sondern die ganze Sache mit der

236

Entschuldigung. Entschuldigungen schienen absolut

nicht ihr Ding zu sein, doch –

Er kannte sie nicht wirklich, oder? Wie konnte er al-

so ein solches Urteil über sie fällen, wo er sie heute

Morgen noch wegen ihrer Voreingenommenheit ange-

fahren hatte? Wer vorverurteilt hier wen? , musste er

sich ehrlich fragen, den Mund voller Zahnpasta.

»Oh«, rief sie vom Schlafzimmer herüber, »wussten

Sie, dass Sie im Schlaf reden?«

Phil spuckte Zahnpasta ins Waschbecken. »Was?«

»Sie reden im Schlaf«, wiederholte sie, immer noch

über sein Bücherregal gebeugt. »Sie sind eine regel-

rechte Quasselstrippe.«

Phil starrte in den Spiegel. Zahnpasta war auf seinen

Lippen verschmiert wie die weiße Schminke eines be-

trunkenen Clowns. Er wusste natürlich, dass er gele-

gentlich im Schlaf sprach – die Frauen in seinem Le-

ben hatten es stets kommentiert – doch wie zum Teu-

fel konnte Susan das wissen?

237

»Sie haben entweder übersinnliche Kräfte oder aber

eine Wanze in meinem Zimmer versteckt.«

»Weder noch.« Im Spiegel beobachtete er, wie sie

den Stapel von Mitgliedsmagazinen der Law En-

forcement Alliance of America in einer Kiste durch-

blätterte. »Ich wohne im Zimmer direkt über Ihnen.«

Phil hätte beinahe erneut Zahnpasta gegen den

Spiegel geschleudert. »Sie wohnen hier? «

»Ja. Ist Mrs. Crane nicht großartig? Wie auch im-

mer, Sie werden bald feststellen, dass die Heizungs-

rohre ein hervorragendes Kommunikationssystem ab-

geben. Sie sollten sich also besser knebeln, bevor Sie

ins Bett gehen, wenn ich nicht all Ihre Geheimnisse

erfahren soll.«

Na toll, dachte Phil und zog sich sein Highpoint-

College-Shirt an, während er nach einer schlagfertigen

Antwort suchte.

»Die Heizungsrohre, ja? Daher also dieses laute, vib-

rierende Geräusch, das ich jeden Tag von oben höre.«

Er bereute den Witz sofort. Er kannte sie nicht beson-

238

ders gut, und ganz bestimmt nicht gut genug, um sol-

che Sprüche zu klopfen.

»Wenn Sie es unbedingt wissen müssen«, kam die

schnelle Antwort, »ich benutze Orgasmuskugeln und

keinen Vibrator.«

Jesses. Er vermutete, dass sie einen Witz machte.

Hoffte es wenigstens. Er kam aus dem Bad und wollte

etwas sagen, als sie sich zu ihm umdrehte. Er zögerte.

Die Pause währte nur eine Sekunde, doch es schien

ihm, als wären es Minuten. Großer Gott, sie ist wirklich

schön, schoss ihm durch den Kopf. Kein Make-up, nur

ein einfaches, hübsches Landmädchen-Gesicht, ein

schlanker, trotzdem angenehm gerundeter Körper und

hohe Brüste, Körbchengröße B, die prall wie Äpfel

wirkten. Für einen Augenblick wirkte ihr Gesicht in

seinem Rahmen aus rein blondem Haar wie von einem

Scheinwerfer angestrahlt. Ihre Augen, von einem

wunderschönen Meeresblau, funkelten wie Edelsteine.

»Sie können mich zum Abendessen oder Frühstück

ausführen, oder wie immer wir Nachtschichtler auch

239

die erste Mahlzeit des Tages nennen«, erklärte er. »Ich

werde mein bestes Sportsakko anziehen, wenn es ein

teures Restaurant wird.«

»Ist Ihnen Chuck’s Diner nobel genug?«

Phil hielt ihr die Tür auf und folgte ihr nach drau-

ßen. »Chuck’s Diner? Ich schätze, ich ziehe besser

meinen Frack an.«

Sie nahmen ihren Wagen, einen netten kleinen Ma-

zda-Zweitürer, wofür Phil dankbar war. Er schämte

sich zwar nicht für seinen verbeulten, rostigen, ziegel-

roten 76er Malibu, aber … es war womöglich etwas

mehr als Scham. So unreif es auch schien, kein richti-

ger Mann wollte eine attraktive Frau in so einer Karre

irgendwo hinfahren. Susans Wagen war sauber und

ohne überflüssigen Schnickschnack, genau wie sie. Er

betrachtete ihr im Fahrtwind flatterndes Haar. »Kein

Einparkservice?«, scherzte er, als sie auf dem Parkplatz

vor Chuck’s hielten.

240

»Nur am Wochenende«, antwortete sie. Sie ent-

schieden sich für eine Sitznische im hinteren Bereich

des Restaurants. Noch so eine Begegnung mit der Vergan-

genheit, überlegte Phil. Er war vor mehr als zehn Jah-

ren das letzte Mal hier gewesen. Chuck’s Diner war ein

typisches Lokal für den kleinen Geldbeutel, wenn auch

sauberer als die meisten anderen Vertreter seiner Art.

Eine Kellnerin mittleren Alters mit Schürze und

Häubchen nahm ihre Bestellung entgegen.

»Also, was tragen Sie?«, fragte Susan.

»Tragen?«

Susan runzelte die Stirn und fragte erneut. »Welche

Art von Waffe tragen Sie außerhalb des Dienstes?«

»Oh, das meinen Sie.« Aber was für eine seltsame

Frage. »Eine Beretta Kaliber 25.«

»Das ist ja ’ne Erbsenpistole!«, rief sie. Die Kellnerin

brachte das Essen. Dann fuhr Susan fort. »Was wollen

Sie denn mit einer 25er erschießen? Schnaken?«

Phil beäugte seinen Hackbraten mit Eiern. »Eigent-

lich habe ich nicht vor, etwas zu erschießen, außer viel-

241

leicht die Kellnerin, wenn sie mir nicht ganz schnell

Salz und Pfeffer bringt.«

»Polizisten sollten rund um die Uhr auf Ärger vorbe-

reitet sein. Was, wenn irgendein zugedröhnter Spinner

Sie abknallen will?«

»In Chuck’s Diner? Schön, wenn jemand meinen

Hackbraten haben will, dann soll er ihn haben.«

»Ich würde mich mit nichts Kleinerem als einer auf-

gemotzten Neun-Millimeter erwischen lassen«, sagte

sie und biss lässig in ihren Cheeseburger. »Im Moment

habe ich eine 45er SIG dabei.«

»Sie tragen eine Waffe?«, fragte Phil erstaunt.

»Natürlich. Mul ins hat mir einen Waffenschein be-

sorgt. Meinte, ansonsten könnte ich nicht für ihn ar-

beiten. Es ist eine verrückte Welt, an jeder Ecke lauert

ein Irrer.«

Phil nickte. »Eher zwei an jeder Ecke.« Und er war

ihnen bei der Metro überall begegnet. Ihm war da-

nach, ein paar Anekdoten zu erzählen, doch bevor er

dazu kam, sagte Susan: »Schauen Sie mal!« Dann öff-

242

nete sie ihre Handtasche, um die große, klobige Au-

tomatikwaffe daraus hervorzukramen.

»Stecken Sie die weg«, sagte Phil. »Das ist ein Res-

taurant, keine Asservatenkammer.«

Sie zuckte mit den Achseln und verstaute die Waffe

wieder in ihrer Tasche. »Ich denke drüber nach, mir

eine von diesen Maschinenpistolen von Heckler &

Koch oder eine gebrauchte Bren-10 zuzulegen.«

Was sagt man dazu? , dachte Phil. Dirty Harry hat eine Schwester. »Wenn Sie meine Meinung hören wollen,

bleiben Sie bei einfachen Schießeisen.«

Sie funkelte ihn über den Tisch hinweg an, als habe

er sie tödlich beleidigt. »Oh, weil ich eine Frau bin?

Können Frauen mit großen Kalibern etwa nicht um-

gehen?«

Phil stieß ein frustriertes Seufzen aus. »Beruhigen

Sie sich, Annie Oakley. Warten Sie ab, bis Sie mal ei-

nes Nachts in eine Schießerei verwickelt werden und

ihrer geliebten Automatik ’ne Kugel im Lauf stecken

bleibt. Sie würden ihre Seele für einen Colt verkaufen.«

243

Sie zuckte erneut mit den Achseln, als könnte sie

sich nicht so recht entscheiden, ob sie zustimmen sollte

oder nicht.

»Wie fühlt es sich an, zurück zu sein?«

»In Ordnung, schätze ich. Ein Job ist ein Job.«

Sie spielte mit einer Fritte, den Blick gesenkt. »Noch

einmal, ich möchte mich wirklich dafür entschuldigen,

wie ich Sie heute Morgen behandelt habe. Ich hatte

kein Recht, so mit Ihnen zu reden.«

»Machen Sie sich keinen Kopf«, antwortete Phil. Ei-

gentlich fand er es inzwischen ganz witzig. Vor ein paar

Stunden hat sie mich praktisch des Mordes bezichtigt und

jetzt lädt sie mich zum Hackbraten ein. »Ich schätze, wir erwischen alle mal einen schlechten Tag.« Doch er

wechselte lieber schnell das Thema. »Was hat es mit

den Büchern auf sich, die Sie immer lesen? Gehen Sie

aufs College?«

Sie nickte. »Ja. Es geht langsam, aber beständig vo-

ran. Mein Hauptfach ist Kriminologie, mein Neben-

244

fach Geschichte. Ich bin jetzt im letzten Semester,

Gott sei Dank. Ein paar Abendkurse jede Woche.«

»Das ist großartig«, sagte Phil anerkennend. »Was

wollen Sie danach machen? Weiter für Mullins arbei-

ten?«

»Nicht in diesem Leben. Ich will zur Drogenfahn-

dung oder vielleicht auch zum Zoll. Und es gibt immer

noch die County-Abteilungen im Norden. Das Letzte,

das ich sein will, ist ein Cop in Crick City …« Sie un-

terbrach sich und hielt sich erschrocken eine Hand vor

den Mund. »Entschuldigung. Es war nicht böse ge-

meint.«

»Schon in Ordnung«, lachte Phil. »Es ist auch das

Letzte, das ich sein wollte, aber ich habe im Moment

keine große Auswahl.«

Ihr Blick schweifte abwesend zum Fenster. »Es ist

diese Stadt, wissen Sie? Sie ist so langsam, so verzwei-

felt und rückständig. Es ist deprimierend. In derselben

Minute, in der ich einen vernünftigen Job gefunden

habe, bin ich hier weg.«

245

»Ich weiß genau, wovon Sie reden, glauben Sie mir«,

sagte Phil und er spürte, wie ihm die Kehle trocken

wurde. Das Gleiche hatte er zu Vicki gesagt, oder

nicht? Niemals würde er in einem solchen Niemands-

land arbeiten. Er war zu gut für Crick City. Und nun

war Vicki eine Nutte und Phil war –

Er musste den Gedanken nicht mal zu Ende denken.

»Wie lange arbeiten Sie schon für Mullins?«

»Etwas unter einem Jahr«, antwortete sie. »Er ist ein

anständiger Kerl, wenn auch etwas grantig, und er hat

mir den Job in der Leitstelle angeboten, als er hörte,

dass ich was suche, um mir die Abendschule zu finan-

zieren. Er kannte meine Eltern, als sie noch lebten.«

Frag besser nicht nach, befand Phil, obwohl er die

Gemeinsamkeit registrierte. »Sie sind also auch hier

aufgewachsen?«

»Ja«, antwortete sie bedrückt. »Mein Vater wurde

nach seiner Schussverletzung in Vietnam arbeitsunfä-

hig. Meine Mutter übernahm verschiedene Aushilfs-

246

jobs, um uns durchzubringen, doch je mehr sie schuf-

tete, desto schwieriger schien es zu werden.«

Die Geschichte spielte sich so oder ähnlich bei prak-

tisch jeder Familie in dieser Gegend ab. Arme Leute,

die sich abmühten, nur um irgendwie über die Runden

zu kommen, es aber doch nie ganz schafften. Phil war

zu jung gewesen, um sich wirklich an seine Eltern er-

innern zu können, aber bei ihnen war es fast genauso

gelaufen. Er konnte sehen, dass das Thema Susan zu

schaffen machte. Das Strahlen war aus ihrem Gesicht

verschwunden, die leuchtend blauen Augen nicht mehr

ganz so hell. Er forschte angestrengt nach optimisti-

scherem Gesprächsstoff, doch ihm fiel auf die Schnelle

nichts ein. Dann erinnerte er sich, dass sie begeistert

von Waffen und Polizeiarbeit im Allgemeinen war.

»Was wissen Sie über Cody Natter?«, fragte er.

Sie schob ihren Teller zur Seite. Die Fritten hatte sie

kaum angerührt. »Nicht viel. Der einzige Ort, an dem

man ihn halbwegs regelmäßig sieht, ist das Sallee’s.

Der Laden gehört ihm jetzt, wie Sie sicher wissen.«

247

»Ja, Mullins erwähnte das. Halten Sie das nicht für

seltsam?«

»Natürlich ist das seltsam. Ein Typ wie Natter? Kein

erkennbares Einkommen, nicht mal ein eigenes Bank-

konto. Ich glaube nicht, dass der Kaufpreis für Sallee’s

besonders hoch war, aber trotzdem fragt man sich, wie

er das notwendige Geld zusammengekratzt hat.«

»Ich frage mich noch mehr, warum er das Ding

überhaupt gekauft hat.«

»Ich stimme Mullins zu«, meinte Susan. »Ein abge-

legener Stripclub wie dieser ist der perfekte Treff-

punkt, wenn man Drogen unters Volk bringen will.

Letztes Jahr hat Mullins die Rechnungsprüfer auf ihn

angesetzt, doch seine Bücher waren astrein. Keine

Chance, ihn wegen der Steuern dranzukriegen. Ich hab

keine Ahnung, wie er das angestellt hat.«

Phil war das egal. »Ich will ihn nicht wegen Steuer-

hinterziehung oder unrechtmäßiger Bereicherung fest-

nageln. Ich will den Kerl wegen Herstellung und Ver-

kauf von Drogen hochnehmen.«

248

»Dann brauchen Sie eindeutige Beweise, die ihn mit

seiner Drogenküche in Verbindung bringen, und das

dürfte schwierig werden«, erinnerte Susan ihn. »Das

Labor selbst zu finden, dürfte ohnehin so gut wie un-

möglich sein.«

»Wieso?«

»Natter ist ein Creeker. Sein Labor muss irgendwo

oben in den Hügeln sein. Sind Sie schon mal dort ge-

wesen? Es ist ein einziges Labyrinth. Wir reden hier

von 3.000, viel eicht sogar 4.000 Quadratkilometern

unerforschtem Waldgebiet. Es gibt Straßen da drau-

ßen, die Sie nicht mal auf dem Kartengitter des Coun-

ty finden. Natters Drogenküche aufzuspüren wäre so

was wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Na

ja, sagen wir eher in zehn Heuhaufen.«

Das war ein stichhaltiges Argument, dem sich Phil

nicht verschließen konnte. »Sicher, aber vielleicht

packt einer seiner Leute aus.«

»Vergessen Sie’s. Natters Leute sind Creeker. Die

werden niemals reden; erstens, weil sie Angst vor Nat-

249

ter haben – er ist so was wie ihr Gott – und ein weite-

rer Grund ist, dass die meisten schlicht nicht sprechen

können. Nehmen wir mal an, Sie erwischen einen

beim Dealen. Kein Richter dieser Welt wird seine

Aussage akzeptieren. Warum? Nun, juristisch gesehen

sind sie allesamt geistig Zurückgebliebene, die das Ge-

setz als nicht zurechnungsfähig einstuft.«

Phil verzog das Gesicht. Sie hatte schon wieder

recht. »Aber was ist mit Natter selbst?«, führte er ins

Feld. »Haben Sie je mit dem Kerl geredet? Der ist cle-

ver wie ein Fuchs. Er ist klug, belesen, er ist eloquent.

Ich würde kaum behaupten, dass er geistig unzurech-

nungsfähig ist.«

»Phil, bleiben Sie realistisch. Der Typ ist ein Cree-

ker; gegen ihn sieht Frankensteins Monster wie Tom

Cruise aus. Wenn sie ihn ohne hieb-und stichfeste

Beweise vor Gericht bringen, muss er sich nur dumm

stellen und der Richter schleudert die ganzen Prozess-

akten in hohem Bogen zum Fenster raus. Der einzige

Weg, Natter dranzukriegen, ist, ein paar seiner Front-

250

männer oder Verteiler zu erwischen – Leute, die keine

Creeker sind – und die zum Reden zu bringen. Sie

müssen eine eindeutige Verbindung zwischen Natter

und auf frischer Tat ertappten Drogendealern herstel-

len. Zumindest hat Mullins Sie auf die richtige Idee

gebracht. Das Sal ee’s eine Weile zu observieren, um

sich einen Eindruck von Natters auswärtigen Kontak-

ten zu verschaffen – nur so werden Sie Natter etwas anhängen können, das haften bleibt.«

Phil verzichtete darauf, sie aufzuklären, dass das sein

Einfall gewesen war und nicht der von Mullins. Aber

sie lag mit allem, was sie sagte, goldrichtig. Dies würde

mindestens genauso kompliziert werden wie jeder sei-

ner PCP-Fälle in der Großstadt, wenn nicht ange-

sichts der atypischen Umstände sogar deutlich kompli-

zierter. »Trotzdem will ich dieses Labor finden«,

murmelte er mehr zu sich selbst. »Kein Richter wird

sich vor klaren fotografischen Beweisen verschließen.«

251

Susan machte ein amüsiertes Gesicht. »Was, Sie

glauben wirklich, Sie können ein Foto von Natter in

seinem Labor schießen?«

»Warum nicht? Es wäre ein wasserdichter Fall.«

»Keine Chance, Phil. Natter ist viel zu clever für so

etwas. Er hat womöglich noch nie selbst einen Fuß in

das Labor gesetzt. Darauf wette ich.«

Phil grummelte. Schon wieder hatte sie recht. Ja, das

ist mit Sicherheit nicht die große weite Welt, dachte er.

Bei der Metro Police war er einer der besten Drogen-

fahnder gewesen, doch all seine Erfahrung schien ihm

nun völlig nutzlos zu sein. Hier liefen die Dinge völlig

anders und es galten gänzlich unterschiedliche Regeln.

»Phil!«, flüsterte Susan plötzlich. »Sehen Sie nur!«

Er sah von den Überresten seines Hackbratens auf.

Susan starrte gebannt aus dem Fenster. Zwei Teena-

ger, ein Junge und ein Mädchen, kamen auf dem Sei-

tenstreifen die Landstraße herunter. Beide trugen

kaum mehr als Lumpen am Körper. Ihre Köpfe waren

von struppigem schwarzem Haar bedeckt und sie gin-

252

gen unsicher. Windschief, fand er eine passende For-

mulierung. Der Junge trug in Auflösung begriffene

Arbeitsschuhe, das Mädchen lief ungeachtet der spit-

zen Kiesel am Straßenrand barfuß. In der hellen, hei-

ßen Nachmittagssonne wirkten die beiden wie bizarre

Gespenster.

»Creeker«, murmelte Phil leise.

»Gott, sie tun mir leid«, sagte Susan, während sie

nach draußen sah. »Wo man schon vom Teufel spricht

… die haben wirklich nichts zu lachen.«

Phil schluckte. Ihre Bemerkung verursachte ein

Schuldgefühl in ihm. Bei all seinen eigenen Proble-

men, hier waren zwei Kinder mit echten. Sie waren zu

weit entfernt, sodass er ihre Gestalt nur undeutlich er-

kennen konnte, aber das war schon mehr als genug.

Der Hals des Jungen wirkte doppelt so lang, wie er

sein sollte, und sein übergroßer Kopf hing dadurch zu

einer Seite. Das Mädchen hingegen schien überhaupt

keinen Kiefer zu haben. Während ihr linker Arm nor-

253

mal aussah, wirkte ihr rechter traurig verkümmert. Die

Hand ragte aus dem El bogen.

»Ich frage mich, wie viele von denen es gibt«, warf

Phil in den Raum.

Susans Blick wich nicht von ihnen, bis sie winzig

klein hinter der nächsten Kurve verschwunden waren.

»Wer weiß?«, antwortete sie.

ZEHN

BACK IN BLACK, erkannte Paul Sullivan, als der

Song aus der Anlage dröhnte. Ein höllisch scharfer

Rotschopf wirbelte wie ein aufgeilender Sturm über die

Bühne. Sie hatte große Titten wie ein Playboy-Bunny

und schier endlose Beine. Vicki Steele, so lautete ihr

Name. Paul und sein Kumpel Kevin Orndorf kamen

gerade von einer Lieferung draußen bei Waynesville.

Das Krazee Sallee’s schien der perfekte Ort, um nach

Feierabend noch ein paar Bierchen zu zischen. Es war

254

außerdem der perfekte Ort, um ihre Partner und Ver-

teiler zu treffen, ein paar schnelle geschäftliche Dinge

zu regeln und Vorkehrungen zu treffen. Natürlich

würden sie den Stoff niemals hier verkaufen – das wäre

einem Selbstmord gleichgekommen. Paul und seine

Leute rühmten sich, richtige Geschäftsmänner zu sein,

keine Blender und Aufschneider. Kevin selbst befand

sich auf einem kleinen Trip. Er hatte sich auf dem

Parkplatz einen PCP-Joint angesteckt und nun flog er.

Paul hatte lediglich einmal daran gezogen. Er wollte

nicht riskieren, dass sich sein Gehirn in Brei verwan-

delte, und gönnte sich nur hier und da mal einen

Kurzausflug.

Der Laden war voll. Die Rothaarige auf der Bühne

war pures verdammtes Dynamit, der heißeste Körper,

den er an diesem Abend hier gesehen hatte. Ich frag

mich, was so ’n Mädel wohl kostet, schweiften seine Gedanken ab. Ein paar Hundert mindestens. Vielleicht 500?

Aber das wäre es ihm wert.

255

»Zu blöd, dass die hier diese verfickten G-Strings

tragen müssen«, beschwerte sich Kevin und strich sich

über seinen Ziegenbart. »Wette, die hat ’ne Fotze röter

als ein Grubenfeuer.«

»Und diese Titten?«, ergänzte Paul. »Jesus. Da

kannst du Hut und Mantel dran aufhängen.«

»Bin gleich wieder da, Kumpel. Muss mal den

Schlauch leer machen.« Kevin erhob sich angetrunken

und schlängelte sich durch die verstopften Gänge. Die

Musik dröhnte so laut, dass die alten Holzwände des

Sallee’s regelrecht anzuschwellen schienen. Strobo-

skoplicht pulsierte zum Rhythmus und begleitete die

aufreizenden Bewegungen der rothaarigen Tänzerin.

Ihre großen, festen Brüste wackelten, als sie auf den

Endlosbeinen über die Bühne stolzierte. Dollarscheine

regneten wie Konfetti …

Mann, die könnte dem Papst nur mit ’nem Lächeln den

Schwanz aus der Hose locken, überlegte Paul. Was ich für nur ’ne halbe Stunde mit diesem Stück Torte nicht alles

geben würde.

256

Nicht, dass er Grund zur Klage hatte. Darleen, seine

aktuelle Freundin, war ein zähes Ding und ihre Titten

nicht viel schlechter als diese hier. Und im Bett ging

sie ab wie Sandra Scream in diesen Pornofilmen, die

manchmal bei den Pokerabenden mit seinen Kumpels

im Hintergrund liefen. Doch, Himmel, es gab so viele

Frauen da draußen … Sich mit nur einer zu begnügen,

wäre dasselbe, als ginge man jeden gottverdammten

Tag zu McDonalds und bestellte immer nur einen Big

Mac. Ab und an braucht ein Mann eben auch mal ein

paar McNuggets oder einen Fischburger.

Oder etwa nicht?

Die Musik dröhnte in seinen Ohren. Paul fiel es

schwer, seine Gedanken zu sammeln. Nicht, dass er

jemals besonders viel denken musste. Er zündete sich

eine Lucky an und blickte auf. Kevin, offensichtlich

halb besoffen, sprach an der Klotür mit einem unheim-

lich aussehenden Jungen. Dieser Blödarsch versucht hof-

fentlich nicht, hier was von dem Dust zu verkaufen, dachte Paul nervös, doch dann verschwand Kevin durch

257

eine andere Tür an der Seite, während der unheimliche

Junge noch eine Minute stehen blieb und dann die

Treppe hochging.

»Hey, was ist denn in dem Hinterzimmer da?«, frag-

te er die Kellnerin, als sie vorbeikam. Eine typisch ge-

stresste Redneck-Mutti. Sie hatte vermutlich schon

acht Kinder geworfen, bevor sie 30 war, und sah inzwi-

schen aus wie 50.

Sie leerte einen überfüllten Aschenbecher aus und

fragte: »Willst noch ’n Carling?«

»Klar«, sagte Paul. »Und was ist in dem Hinterzim-

mer da? Hab gerade meinen Kumpel reingehen sehen.«

»Flipperautomaten«, antwortete sie schnell. »Du

wolltest noch ’n Carling, richtig?«

»Richtig.«

Eine halbe Stunde später wurde Paul allmählich be-

trunken. Kevin war immer noch nicht zurück. Flipper?

Auf so ’nen Scheiß steht der nicht. Wäre ja was ganz Neues.

Die Rothaarige hatte ihre Show längst beendet. Eine

dürre, tätowierte Brünette, die selbst halb besoffen aus-

258

sah, tänzelte kraftlos zu einem Song von Motörhead.

Ein Vorhang aus Zigarettenqualm wehte vor der

schummrig erleuchteten Bühne. Die Brünette verlor

das Gleichgewicht und polterte zu Boden. Lautes Ge-

lächter ertönte. Es wurde langweilig; Paul sah sie nicht

einmal an. Er mochte Tattoos an Frauen nicht beson-

ders und dieses Mädel tanzte außerdem auch noch

verdammt beschissen. Und –

Wo zur Hölle ist Kevin?

Es war beinahe Zapfenstreich und sie hatten eine

Lieferung am nächsten Morgen auf der Agenda. Die

frühen Fahrten selbst machen zu müssen, ging ihm

mächtig auf den Keks. Aber jedes Mal, wenn sie ein

paar neue Fahrer anheuerten, machten sich die Wich-

ser nach kurzer Zeit wieder aus dem Staub. Haben

Schiss, vermutete er. Kinder, die meisten von ihnen.

Doch ihm fiel ein, dass in letzter Zeit auch einige der

wichtigeren Leute ausgestiegen waren. Gutes Personal

ist heutzutage schwer zu finden …

259

Als Paul gerade aufstehen wollte, um nach seinem

Partner zu suchen, erschien Kevin wieder an der Tür

neben dem Klo und steuerte auf ihren Tisch zu. Er

schien zappelig vor Aufregung, als er sich setzte, aber

vielleicht lag es auch nur an dem Stoff, den er geraucht

hatte. Sein ziegenbärtiges Grinsen schwebte über dem

Tisch. »Mann, du glaubs’ nich’, was die da hinten ha-

ben, Alter! Da sind …«

»Flipperautomaten«, unterbrach Paul ihn. »Tol e Sa-

che.«

Kevin Orndorfs breites, bärtiges Gesicht zuckte ei-

nen Moment lang verblüfft. »Flipperautomaten? Wo-

von redest du? Was die da haben, das is’ noch ’ne Büh-

ne und mehr Tänzerinnen. Doch die Sache is’, die

Mädchen da hinten sind Creeker.«

»Creeker?« Nun war Paul verblüfft. »Die strippen?«

»Ja, Mann. Du wirst’s nicht glauben, das is’ geil!«

Geil? Er konnte sich nicht vorstellen, was an einer

Bande Creekerfrauen, die in einem Stripclub tanzte,

geil sein sollte. Er hatte öfter schon Creeker gesehen.

260

Sie waren inzüchtig und entstellt, besaßen Köpfe wie

Heißluftballons und schräg stehende Augen. »Alter,

bist du bescheuert? Diese Creekermädels sind alle

hässlich wie die Nacht. Die haben Gesichter wie

Schweine.«

»Die nicht, Mann. Diese Mädchen sind heiß, das sag

ich dir! Sind ’n bisschen verdreht, sicher, aber immer

noch echte Hingucker«. Dann legte Kevin, sein Ge-

sicht wie von einer mystischen Offenbarung erleuchtet,

seinen Teil der Rechnung auf den Tisch. »Hier is’ die

Knete für mein Bier. Ich muss los.«

Paul verzog das Gesicht. »Wohin?«

»Ich kauf mir eine.«

»Du willst mich wohl verscheißern!« Paul dachte, er

müsse seine acht Carling direkt hier auf den Tisch kot-

zen. »Du bezahlst für ’ne Creekerhure? «

»Ja, Mann«, kicherte Kevin. Sein boshaftes, zuge-

dröhntes Grinsen und der spitze Bart ließen ihn wie

eine Proletenversion des Teufels aussehen. »Da is’ ein

261

Mädel – du wirst es nich’ glauben – das hat vier Tit-

ten!«

»Oh, Mann«, beschwerte sich Paul. »So ’n Scheiß

kannste nicht machen. Wir haben morgen früh ’ne

größere Lieferung.«

»Ich werd da sein, keine Sorge.« Kevin rieb sich seine

beeindruckenden Pranken in perverser Vorfreude. »Ich

kann’s nich’ erwarten, mir ein Stück von der Schlampe

zu holen. Wir sehen uns morgen.«

Paul sah ihm finster nach. Kevin verließ den Laden

mit dem Jungen, mit dem er vorher gesprochen hatte.

Auch ein Creeker, vermutete Paul, bei diesem komisch

geformten Kopf. Und … hatte der Typ zwei Daumen?

Sah ganz so aus. Wenn das nicht der größte Scheiß ist, den ich je gehört habe, dachte Paul und leerte den letzten Rest seines Biers. Die Anlage wurde ausgeschaltet, die

letzte Tänzerin stolperte betrunken und unter wenig

Applaus von der Bühne und das Licht im Saal ging an.

»Letzte Runde!«, rief der Barkeeper, ein dürrer Kerl

262

mit Haarausfall und einem T-Shirt, auf dem stand:

Halt’s Maul und besorg’s mir. »Bestellt oder haut ab!«

Ich hau ab, entschied Paul. Er war immerhin ein

Drogenhändler mit professionellem Verantwortungs-

bewusstsein. Hab ’ne wichtige Lieferung zu erledigen,

muss also früh raus. Keine Zeit, es mit Huren zu treiben.

Manchmal verstand er Kevin nicht. Er war ein echter

Hengst. Warum zur Hölle wollte er so ein deformier-

tes Creekermädel mit vier Titten bumsen? Dieser Rot-

schopf hingegen, überlegte Paul. Das ist was anderes, das ist natürlich. Aber … ein Creeker? So ein kranker Scheiß war einfach nicht Pauls Ding …

Paul schlurfte durch die Menge, die sich in alle

Windrichtungen zu zerstreuen begann. Scheinwerfer-

licht erhellte den Parkplatz, als ein Pick-up nach dem

anderen startete und davonfuhr. Die heiße Nacht lag

wie erstarrt da. Das große, blinkende KRAZEE SAL-

LEE’S-Logo erlosch. Der Mond leuchtete über den

Baumwipfeln auf dem Hügelkamm, ein hässliches, kä-

siges Gelb. Es erinnerte ihn an die Haut seines Vaters,

263

als der alte Wichser an Bauchspeicheldrüsenkrebs ver-

reckt war. Paul kletterte in seinen Truck und rollte im

ersten Gang vom Gelände. Er schaute sich nach

Kevins Wagen um, sah ihn aber nirgends. Schätze, er

ist schon weg, er und seine Creekernutte mit den vier Tit-

ten.

Womit Paul Sullivan recht hatte. Kevin war weg.

Kevin Orndorf war für immer weg.

In der nächsten Woche folgte Phil mehr oder weniger

der gleichen nächtlichen Routine. Er beobachtete das

Krazee Sallee’s – in Zivil und in seinem eigenen Auto

– bis kurz nach der Sperrstunde, schoss ein paar Fotos

und notierte jedes Kennzeichen auf dem Parkplatz, um

später nach Querverbindungen zu suchen. Anschlie-

ßend zog er seine Uniform an und beendete seine

Nachtschicht auf Patrouille im Streifenwagen.

Die Polizeiroutine in Crick City war verdammt

langweilig, was kaum überraschend kam, aber immer-

hin trugen die nächtlichen Observierungen dazu bei,

264

eine ansonsten grauenvolle und monotone Zwölf-

Stunden-Schicht aufzulockern. Bei ein paar Gelegen-

heiten hatte er Vicki Steele gesehen, wie sie das Sallee’s

mit Natter verließ und mit ihm zusammen in seinem

eleganten Chrysler Imperial davonfuhr. Doch er hatte

weder Vicki noch irgendeines der anderen Mädchen

bei Prostitution auf dem Parkplatz beobachten kön-

nen. Trotzdem gelang es ihm nicht, die Schnappschüs-

se, die Mullins ihm so widerstrebend gezeigt hatte, aus

seinem Gedächtnis zu verdrängen …

Zwischen seinen Runden hielt er sich im Revier auf

und quatschte mit Susan, die er zu mögen begann. Sie

schien aus anderem Holz geschnitzt zu sein, überhaupt

keine typische Frau aus Crick City, sondern hochgra-

dig motiviert, Ausbildung und Karriere voranzutrei-

ben, um eines Tages diesem Kaff für immer den Rü-

cken zu kehren. Er hoffte, dass sie dabei ein glückli-

cheres Händchen haben würde als er selbst. Sie ent-

puppte sich als ungeheuer vielseitig interessiert, war

sehr klug und belesen, wusste über eine Menge Dinge

265

Bescheid, von denen er noch nie gehört hatte, doch

ihre Persönlichkeit beschränkte sich nicht auf diese

Wissbegierde allein. Sie war frech, starrsinnig, gele-

gentlich sogar hitzköpfig; wenn sie einmal nicht einer

Meinung waren, zögerte sie nicht, ihm das deutlich zu

zeigen. Phil bewunderte das an ihr.

Er bewunderte auch ihr Aussehen. Sie ist wunder-

schön, fiel ihm jedes Mal auf, wenn er auf einen Kaffee bei ihr hereinschaute. Auf gewisse Weise verkörperte

sie für ihn den Inbegriff von heiler Welt; ihre Schön-

heit – eine sehr echte, unaufdringliche und ungeküns-

telte Schönheit – brachte sie in seinen Augen zum

Strahlen. Wie kommt man an eine solche Frau heran? ,

fragte er sich beinahe ständig. Er hatte sie dreimal um

eine Verabredung gebeten und sie hatte dreimal höf-

lich abgelehnt, weil ihre Abendkurse es zeitlich angeb-

lich nicht erlaubten. Viel eicht war Phil paranoid, aber

ihm schien es, als ob sie zwar gerne mit ihm zusam-

menarbeitete, aber keinerlei Verlangen verspürte, mit

266

einem Landbullen auszugehen. Er konnte nur hoffen,

dass er sich irrte.

Chief Mullins bemerkte davon erwartungsgemäß

nichts. Er kaute seinen Tabak, schlürfte seinen grau-

enhaften Kaffee und nörgelte über alles, wonach ihm

in seiner Proletenmanier gerade war. Er erkundigte

sich eher selten nach dem Stand der Ermittlungen und

sonstigen Vorfällen im Dienst, aber das war typisch für

Mullins. Als Chief erwartete er nicht, fragen zu müs-

sen, sondern informiert zu werden. Ehrlich gesagt, gab

es außer ein paar harmlosen Strafzetteln auch nichts,

was Phil in das sogenannte »Wachbuch« hätte eintra-

gen können.

Doch nach seiner zweiten Woche im Dienst fragte

Mullins tatsächlich: »Also, wie läuft’s mit deiner Ob-

servierung?«

»Ganz okay, denke ich«, antwortete Phil und trug

seine Beobachtungen in ein offizielles Berichtsformular

ein. »Noch zu früh, um wirklich was Konkretes sagen

zu können.«

267

»Ist das so?«, grummelte Mullins und schüttete etwas

von dem schwarzen Schleim, den er als Kaffee be-

zeichnete, in seinen Becher. »Ich dachte, du wol test

die Angelegenheit ins Rollen bringen?«

Phil sah ärgerlich von seinem Tisch auf. »Ich arbeite

darauf hin. Rom wurde auch nicht an einem Tag er-

baut, wissen Sie?«

»Scheiß auf Rom. Das hier ist Crick City. Machst du

da draußen irgendwelche Fortschritte oder beglotzt du

nur deine Ex-Freundin durchs Fernglas?«

Manchmal könnte ich ihn umbringen, dachte Phil.

»Chief, ich mache es so, wie wir es besprochen haben.

Ich notiere die Kennzeichen der Stammkunden, damit

wir irgendwann ein paar vernünftige Querverbindun-

gen herstellen können. So was dauert immer seine

Zeit.«

»Ach ja?« Mullins stopfte sich ein Stück Red-Man-

Kautabak in den Mund und spülte mit Kaffee nach.

»Zu lange, wenn du mich fragst.«

268

Phil hätte beinahe seine Arme in einer verzweifelten

Geste in die Luft geworfen. »Also gut, Boss. Sie woll-

ten, dass ich das PCP-Netzwerk in der Stadt angehe.

Wenn Sie denken, dass ich es falsch mache, sagen Sie

mir, wie es richtig geht.«

»Brich nicht gleich in Tränen aus, Phil. Ich sagte

nicht, dass du’s falsch machst. Ich sagte nur, du

brauchst zu lange.«

»Nun gut, wie ich sagte, Rom wurde nicht an einem

Tag erbaut«, wiederholte Phil stur und machte sich

wieder an seine Schreibarbeit.

»Richtig, es hat 1.000 Jahre gebraucht. Das ist in

Ordnung für Rom, aber mein Geduldsfaden ist deut-

lich kürzer. Bist du sicher, dass du nicht ein wenig Zeit

schindest?«

Diesmal verzog sich Phils ganzes Gesicht zu einer

grimmigen Miene. »Zeit schinden wofür, um Him-

mels willen?«

»Nun, du sitzt jede Nacht auf dem Parkplatz vorm

Sallee’s und schreibst wie ein braver Junge Nummern-

269

schilder auf, sicher. Aber meinst du nicht, du solltest

mal ein bisschen Bewegung reinbringen? Ich meine,

wie viele Kennzeichen kannst du aufschreiben, bevor

dir die Hand wehtut?«

Phil lehnte sich im Stuhl des Chiefs zurück und ver-

schränkte selbstgefällig die Arme. »Chief, machen Sie’s

kurz, okay? Was wollen Sie damit andeuten?«

»Andeuten? Ich?«, kicherte Mullins und kratzte sei-

nen beachtlichen Bauch.

»Ja, Sie.«

»Nun, vielleicht schlage ich lediglich vor, dass es Zeit

für den nächsten Schritt wird. Immerhin war das ganze

Prozedere deine Idee.«

»Schön. Der nächste Schritt. An was denken Sie?«

»Siehst du? Du schindest Zeit. Du hast lange genug

Kennzeichen gesammelt, Phil. Du observierst den

Parkplatz in deinem Privatauto, trägst Zivilklamotten

und kein Mensch weiß, dass du wieder in der Stadt

bist. Und wenn sie es wüssten, würde sich keiner mehr

270

an dich erinnern. Es ist höchste Zeit, findest du

nicht?«

Phil wusste immer noch nicht, wovon der Chief re-

dete. »Höchste Zeit für was, Chief? Dass die Yankees

die Meisterschaft gewinnen?«

»Nein, höchste Zeit, deinen Arsch ins Sallee’s zu verfrachten und sich den Laden mal genauer anzusehen.«

»Klar«, stimmte Phil zu, »aber meinen Sie nicht, dass

es dafür noch etwas zu früh ist?«

»Scheiße, nein! Warum gibst du’s nicht zu: Du

machst Ausflüchte. Du willst nicht rein, weil–«

»Weil was, Chief? Weil ich weiß, dass ich da Vicki

begegne? Ist es das, worauf Sie hinauswollen?«

»Nun ja«, antwortete Mullins und spuckte in seinen

allgegenwärtigen Pappbecher. »Ich glaube, du hast ein

wenig Schiss, ihr zu begegnen. Herrgott, du hast das

Mädel damals stehen lassen wie den Müll von letzter

Woche.«

Phil kochte in seinem Stuhl. »Ich habe sie nicht ste-

hen lassen, Chief. Und vergessen Sie nicht, dass ich

271

seit zehn Jahren ein Cop bin. Ich weiß, wie ich meine

private Vergangenheit von meinem Job zu trennen ha-

be.« Phil war sich dessen sicher, doch er verspürte auch

eine gewisse Nervosität im Bauch. »Sie wollen, dass ich

da reingehe, Chief. Schön, ich mach’s.«

Mullins schob sich ein weiteres Stück Red Man in

den Mund – wenn es Tabak war, dann kaute er ihn,

egal ob Schnupftabak, Blätter oder Pfriem. »Schön, das

zu hören, Phil.« Dann spuckte er einen großen Klum-

pen aus. »Beweg deinen Arsch noch heute Nacht da

rein.«

ELF

»WESHALB BIST DU SO NERVÖS?«, erkundigte

sich Susan von ihrem Platz hinter der Motorola-

Sendeanlage aus.

»Ich bin nicht nervös«, versicherte Phil ihr. Er war

gerade in Mullins’ Büro in seine Zivilkleidung ge-

272

schlüpft und betrat nun den Funkraum. Es war kurz

nach Mitternacht.

»Nicht nervös, ach ja?« Lächelte Sie etwa? »Für mich

sieht es aus, als würdest du dir bald in deinen Slip ka-

cken.«

»Woher weißt du, dass ich keine Boxershorts trage?«,

wechselte Phil hastig das Thema. Ihm war bewusst,

dass er das tat, weil er tatsächlich nervös war. Der

Grund dafür lag auf der Hand.

Offensichtlich kannte Susan ihn auch. »Es ist das

Mädchen, oder? Vicki Irgendwas, deine Ex-Verlobte?«

Phil schäumte. »Nein, ist es nicht. Himmel, kann

Mullins denn gar nichts für sich behalten?« Ihm

schauderte beim Gedanken, was sein tratschwütiger

Chef ihr sonst noch erzählt haben mochte.

»Hast du sie wirklich verlassen, weil sie nicht hier

weg wollte?«

»Nein, habe ich nicht, verdammt!«

»Reg dich nicht so auf. Ich frag ja nur«, sagte sie und

drehte am Frequenzregler. »Und wenn ich das so sagen

273

darf, du gibst einen tollen reaktionären Hinterwäldler

ab.«

»Ich habe mich nie geschmeichelter gefühlt.« Doch

er vermutete, dass sie recht hatte. Er trug jetzt enge,

taillierte Levis über spitzen Arschtreter-Stiefeln, ein

großes Jagdmesser am Gürtel und ein schwarz-rotes

Flanellhemd. Es erstaunte ihn, wie sehr die gemeinhin

als ›Rednecks‹ bezeichnete gesellschaftliche Gruppe

darauf bestand, sogar mitten im Hochsommer Flanell-

hemden zu tragen. Er hatte sich zusätzlich die Haare

mit Brillantine zurückgegelt.

»Sieh es positiv«, erklärte Susan und spielte an ihrem

Mikrofon. »Wie viele Männer werden schon dafür be-

zahlt, sich in einen Stripclub zu hocken?«

»Hm, das stimmt natürlich. Es ist ein schmutziger

Job, aber irgendjemand muss ihn schließlich erledigen.

Kann genauso gut ich sein. Also, ich bin dann mal

weg. Dürfte so gegen zwei Uhr zurück sein.«

»Moment! Warte!«, rief sie plötzlich. Sie kam hinter

ihrer Konsole hervor. »Weißt du denn gar nichts über

274

Redneck-Mode? Du darfst dein Haar nicht so verste-

cken.«

»Wie bitte?«

Sie trat ganz nah an ihn heran, so nah, dass er ihr

Kräutershampoo riechen konnte. Phil war ziemlich

genau 1,80 groß, Susan etwa zehn Zentimeter kleiner.

Er blickte auf sie herab und nahm instinktiv die

schlanke Kompaktheit ihres Körpers wahr, die Propor-

tionen ihrer Taille und Hüften und das umwerfende

weißblonde Haar. Im kleinen V-Ausschnitt ihrer Bluse

erspähte er in einen beigefarbenen BH gehüllte Brüste.

Ihr schlichter, wunderschöner Anblick brachte ihn

beinahe zum Zittern. Dann begann sie, sein Hemd

aufzuknöpfen.

»Was, ääähm«, fragte er, »was tust du da?«

»Sagte ich doch. Du musst mehr Haar zeigen. Die

Krawatte der Rednecks.«

»Oh«, entgegnete Phil.

Sie öffnete sein Hemd bis zum Bauchnabel und plus-

terte es ein wenig auf. »So, schon viel besser. Jetzt

275

siehst du wie ein wahrer Crick City Redneck aus.« Ihre

Augen verengten sich für einen Moment und ihre

Mundwinkel zuckten in der Andeutung eines Grin-

sens. »Nette Brustmuskeln übrigens. Wenn ich das mal

so sagen darf.«

Jesus, dachte er, als sie wieder in ihrem Funkraum

verschwand. »Das ist alles? Nur nett? «

»Verschwinde!«, sagte sie und lachte.

Nette Brustmuskeln. Na gut, dachte er. Er hatte seit

fünf Jahren keine Hanteln mehr angefasst, aber im-

merhin hatte ihm Susans Bemerkung, selbst wenn sie

nicht ernst gemeint war, auf der Fahrt zum Sallee’s ei-

ne willkommene Ablenkung geboten. Er erkannte nun

voll und ganz, dass Mullins’ Anschuldigung am Mor-

gen mitten ins Schwarze getroffen hatte. Ich bin ein

verdammtes nervöses Wrack, gestand er sich ein, als er auf dem staubigen Schotterplatz vor dem Club parkte.

Zwei weitere Dinge wurden ihm ebenso deutlich be-

wusst:

Vicki wird dort drin sein und sie wird mich sehen.

276

Er deponierte seine private Beretta im Handschuh-

fach. Das Letzte, was er gebrauchen konnte war, dass

irgendein betrunkener Redneck die Waffe in seinem

Hosenbund entdeckte. Es gab einen weiteren Grund:

Vicki wusste, dass er bei der Metro Police gewesen

war. Er hatte sich eine Geschichte über einen angebli-

chen neuen Job zurechtgelegt, der nichts mit Polizeiar-

beit zu tun hatte. Er konnte es ebenso wenig gebrau-

chen, dass jeder in dem Laden wusste, dass ein Cop in

ihrer Mitte lauerte. Das würde die ganze Operation

sofort zum Teufel jagen.

Das große Neonlogo von KRAZEE SALLEE’S fla-

ckerte, als er aus seinem Malibu ausstieg. Er überquer-

te den Parkplatz, Kies knirschte unter seinen Stiefeln.

Grelles Licht überschwemmte ihn am Eingang. Ein

stiernackiger Türsteher beäugte ihn und ließ ihn dann

passieren. Phil wappnete sich für dröhnende – und

grässliche – Heavy-Metal-Musik oder Country. Statt-

dessen betrat er eine nur zur Hälfte gefüllte Bar, in der

in ähnliche Flanellhemden gekleidete Rednecks an Ti-

277

schen saßen, auf denen sich Bierflaschen und Aschen-

bechern stapelten, und miteinander redeten. Ich dachte,

das hier sei ein wilder Stripclub, dachte er, als er die leere Bühne bemerkte. Er hatte mit lauter Musik und split-ternackten Frauen gerechnet. Stattdessen wurde er

Zeuge einer lethargischen Versammlung bodenständi-

ger Typen, die bei einer Flasche Black Label oder

Schmidt’s palaverten.

Niemand schien ihn zu bemerken, als er sich im

Club umsah. Er versuchte den Eindruck zu erwecken,

als suche er jemanden. In Wirklichkeit hielt er nur

nach einem geeigneten Sitzplatz Ausschau. Das Innere

des Sallee’s hatte sich kein bisschen verändert. Billige

Tische drängten sich um improvisierte Gänge, der

Fußboden verschwand unter einem Teppich aus Erd-

nussschalen und Bierpfützen, im Hintergrund warteten

verzogene Holzwände mit speckigen Sitzbänken auf

Gesellschaft. Werbeartikel der Brauereien bedeckten

fast jeden freien Zentimeter: Budweiser-Spiegel,

Wandlampen von Schlitz, Neonröhren mit Michelob-

278

Schriftzug, ein Kilian’s-Wandbild und eine von hinten

beleuchtete Uhr mit Mil er Genuine Draft-Schriftzug.

In der Luft hing ein beweglicher – und nahezu leben-

dig wirkender – Vorhang aus Zigarettenqualm. Phil

hatte nie geraucht, doch er vermutete, dass er hier

mehr Teer und Nikotin einatmen würde, als wenn er

eine Schachtel Camel am Stück vernichtete. Beim

nächsten Mal ziehst du besser eine Gasmaske zum Flanell-

hemd an, Kumpel! , dachte er.

Er suchte nach einem unauffälligen Platz, um einen

möglichst großen Teil des Ladens im Blick zu behal-

ten, doch der Barkeeper, ein dünner blonder Kerl in

einem Jeffrey-Dahmer-Shirt, winkte ihn zu sich hin-

über. »Hier sind noch genug freie Plätze an der Bar,

Bruder.«

Passt schon, befand Phil. An der Ecke der Bar würde

er nicht weiter auffallen. Er wusste, er würde ein Bier

bestellen müssen, obwohl er sich im Dienst befand.

Wenn man verdeckt in einem Stripclub ermittelte,

279

machte es einen nicht unbedingt glaubwürdiger, wenn

man Pepsi bestellte.

Das Problem war, dass Phil amerikanisches Bier

hasste.

»Heineken«, bestellte er.

»Haben wir nich’, Bruder«, klärte ihn der Barkeeper

auf. »Wir sind hier alle Amerikaner. Willste, dass dein

Geld nach Holland geht? Was haben die für dich ge-

tan, außer im Zweiten Weltkrieg den Schwanz einzu-

kneifen, während dein Alter von der Waffen-SS be-

schossen wurde?«

»Dann ’ne Flasche Bud.« Phil stöhnte beinahe.

»Kommt sofort.«

Phil sah zu dem Fernseher hoch, der über der hinte-

ren Ecke der Bar hing. Er fragte sich, was die Yankees

gerade machten, doch alles, was er auf dem Farbbild-

schirm sah, war eine traurige Wrestling-Darbietung.

Ein Schwarzer und ein großer blonder Vol idiot schlu-

gen sich vor einer sabbernden Menge den Schädel ein.

Als der Barmann sein Bier brachte, fragte Phil: »Wie

280

wär’s, wenn du was Baseball anmachst? Die Yanks sind

heut dran und prügeln hoffentlich die Scheiße aus Bal-

timore.«

»Was denn, is’ Catchen nich’ gut genug für dich? Is’

der amerikanische Sport.«

Der Barkeeper schien von Phils Bitte regelrecht be-

leidigt zu sein. Er deutete auf den Bildschirm. »Ric

Flair gegen Bruce Reed, Bruder. Und du willst lieber

die Yankees? «

Mach keinen Ärger, ermahnte Phil sich. »Ach, Schei-

ße, Mann, ich hab nich’ gemerkt, dass es Bruce Flair

is’. Lass an, Mann.«

Der Barkeeper runzelte die Stirn. »Der heißt Ric

Flair, Bruder. War ja nur verdammte zehn Mal

Schwergewichtsmeister.«

»Sicher, sicher, Ric Flair. Der beste schwarze Wrest-

ler im Business.«

Der dünne Barkeeper runzelte erneut die Stirn.

»Reed is’ der Schwarze.«

281

»Richtig«, stammelte Phil. »Hab ’ne Weile schon

kein … Catchen … mehr gesehen.«

Der Barkeeper verschwand und ließ Phil allein an

der Bar zurück. Er fühlte sich wie ein Vollidiot. Kann

ich was dafür, dass ich nicht weiß, wer dieser verdammte

Ric Flair ist? Im Fernsehen sah es so aus, als würde der schwarze Typ Mr. Flair gerade ordentlich den Scheitel

bürsten. Dann bemerkte Phil das offensichtliche Miss-

verhältnis. Beide Wrestler sahen aus, als hätten sie sich

drei Pfund Mettwurst in ihre Shorts gestopft. Entwe-

der haben diese Jungs 30 Zentimeter lange Schwänze oder

sie stehen ungemein auf Kartoffeln aus Idaho.

Das war es also, was Rednecks taten? In Stripclubs

rumhängen, keine Mädchen auf der Bühne, sich

Wrestling anschauen und Budweiser trinken? Das Le-

ben musste mehr zu bieten haben. »He, Mann!« Phil

winkte den Barkeeper wieder heran.

»Ja, Bruder?«

»Is’ das hier ’n Stripclub oder ’n Buchclub?« Phil

deutete auf die leere Bühne. »Ric Flair is’ ja ganz nett,

282

aber ich hatte gehofft, hier ’n paar Weiber sehen zu

können.«

»Du bist nich’ von hier, oder?«, wischte der Barkee-

per seine Frage beiseite. »Hab dich hier noch nich’ ge-

sehen.«

»Eigentlich bin ich aus der Gegend, aber grad erst

zurückgezogen. Ich bin Phil.« Er streckte die Hand

aus.

Der Barkeeper schlug nicht ein. »Wayne. Wir haben

grad ’ne Pause. Wenn du Weiber willst, reiß dich noch

’n Moment am Riemen. Dann haben wir ’n paar Frau-

en für dich, die mähen dich um wie ’ne Truppe von

Gefängnisgärtnern.

»Klingt gut«, log Phil. Allerdings .. eine Truppe von

Gefängnisgärtnern?

»Außerdem gibt’s heute Abend zwei Hotdogs zum

Preis von einem«, fuhr der Barmann wie eine lebende

Reklametafel fort. »Der beste Hotdog, den du je ge-

gessen hast.«

283

Phil verstand schnell. Auf einem beleuchteten Grill

lagen zwei einsame Würstchen, die aussahen, als ob sie

schon seit einem Monat dort auf einen Abnehmer

warteten. Regel Nummer Eins, dachte er, rede niemals schlecht über Wrestling in einem Redneck-Stripclub.

Das Bud schmeckte grauenvoll. Man sollte mich dafür

bezahlen, diese Pisse zu trinken. Er langweilte sich so schnell, dass er sogar überlegte, einfach zu bezahlen

und abzuhauen, doch das würde seine Tarnung eben-

falls auffliegen lassen, oder? Versuch, dich anzupassen, riss er sich zusammen. Er widmete seine Aufmerksamkeit erneut dem Kampf. Mr. Flair schlug dem Schwar-

zen gerade einen Metal stuhl über den Kopf und nahm

ihn in den Schwitzkasten. Die Menge tobte in einer

Euphorie, die man nur als soziopathisch bezeichnen

konnte. Doch dann zuckte Phil zusammen, denn im

selben Moment begannen die Leute im Krazee Sallee’s

mit dem gleichen Enthusiasmus zu klatschen.

Phil drehte seinen Kopf und schaute zur Bühne.

284

Unter tobendem Applaus, der so laut wie Kanonen-

schüsse war, betrat eine in durchscheinende blutrote

Schleier gehüllte Frau auf 15-Zentimeter-Absätzen die

Bühne. Zerzaustes rotes Haar leuchtete um ihren Kopf

wie ein flammender Heiligenschein. Lange, kraftvolle

Beine trugen einen schlanken Körper mit perfekten

Kurven und fantastischen Konturen. Mit gespreizten

Beinen und den Händen auf den Hüften besah sie sich

die Menge mit dem Blick eines Raubtiers. Ihre Brüste

zeichneten sich unter dem dünnen Stoff ab, eng anlie-

gende Chiffonkreise so groß wie Pampelmusen.

Die Stereoanlage schmetterte einen lauten, aufdring-

lichen Heavy-Metal-Song aus den Boxen und das

Mädchen auf der Bühne begann zu tanzen.

»Jetzt zufrieden, Bruder?«, fragte der Barkeeper und

wischte ein Glas an seinem Dahmer-Shirt ab.

Phil spürte, dass er zusammensank wie eine Pflanze,

die von einer parasitischen Wurzel ausgedörrt wurde.

Die Frau auf der Bühne war Vicki Steele. Noch

schlimmer war, dass sie nach ihrer ersten Drehung im

285

pulsierenden Licht der Bühnenscheinwerfer den ersten

Schleier abwarf, sich auf dem Absatz umdrehte und

Phil direkt in die Augen sah.

Die Nacht – eine wunderschöne Nacht – entfaltete sich vor Cody Natters inzüchtigen roten Augen. »Schöne

Dinge sind für Nächte wie diese gemacht. Glorreiche

Dinge. Machtvolle Dinge …«

»Hä?«

Es machte ihm nichts aus. So viele Mitglieder seiner

Sippe waren schwachsinnig. Wie konnte er da erwar-

ten, dass sie ihn verstanden, wenn er laut dachte? Gott

hatte sie alle verflucht, oder nicht?

Ona, dachte er müßig. Mannona, komm zu uns …

Eines Tages, das wusste er genau, würde er im glei-

chen Ruhm thronen und Gott in sein frommes Ge-

sicht pissen.

»Glühwürmchen!«, rief Druck. »Schau-da!«

»Ja. Sie sind wunderschön, nicht? Wie die Nacht,

wie der Mond über uns. Wie die Welt.«

286

»Wie Ona?«

»Ja.«

Druck kratzte seine stoppelige Wange mit den zwei

Daumen seiner linken Hand. In der rechten hielt er

das Messer.

Natter sah auf die Leiche herunter. Auch sie ist schön, erkannte er. Selbst im Tod lag sie wie ein vollendetes

Gemälde da, trotz der Zeichen ihres gottgegebenen

Fluchs. Der fahle Mond schien schwach auf ihre noch

warmen Brüste, ihre schlanken Beine und das tief-

schwarze Haar. In ihren offenen Augen spiegelte sich

die Nacht wie das makel ose Antlitz des Kosmos.

Druck kauerte auf einem Knie und betrachtete ab-

schätzend den hohlen Kürbis, der ihr Unterbauch ge-

wesen war. Schmieriges Blut glitzerte auf seiner Klin-

ge. Mit der anderen Hand rührte er geistesabwesend

im nicht gerade kleinen Haufen entnommener Einge-

weide …

Manchmal übertrieb der Junge es.

»Du beerdigst sie jetzt besser, Druck.«

287

Druck sah verwirrt aus. »Aber … Fres-hauter?«

»Nein, Druck. Begrab sie einfach.«

Der scheinbar ewige Lärm der Nacht – Frösche,

Grillen, Vögel – schwoll um sie herum an. Drucks

simples Idiotengesicht schaute nach oben. Eine Frage

zappelte in seinen verdrehten, ungleichen roten Augen.

Das süße Fleisch ihrer Milz baumelte schlaff in seiner

Hand. »Darf ich erst was von ihr essen? Bevor ich sie

in die Erde leg?«

»Ja, Druck«, erlaubte Natter. »Du darfst erst von ihr

essen.«

Das Budweiser machte ihn fertig. Genau wie die blit-

zenden Lichter und die infernalische Musik. Der Zap-

fenstreich rückte näher. Vicki hatte vier Songs lang

ihren verführerischen Auftritt hingelegt und war dann

verschwunden, um durch andere Frauen ersetzt zu

werden, die in gleicher Manier tanzten, herumwirbel-

ten und sich von ihren Klamotten befreiten, bis sie nur

noch einen knappen G-String trugen. Phil beachtete

288

sie nicht. Vicki zu sehen, hatte ihn genug erschüttert.

Er war sicher, dass sie ihn bemerkt hatte, doch nach

ihrem Auftritt war sie wortlos von der Bühne ver-

schwunden und hatte sich in ihre Umkleide zurückge-

zogen. Sie nach dieser langen Zeit wiederzusehen, kam

ihm wie die Begegnung mit einem Geist vor.

Die letzte Tänzerin ließ ihre Hüften zu Twisted Sis-

ter kreisen und entblößte ihre Brüste wie ein zähne-

fletschender Wolf. Sie war durchaus attraktiv, aber

Phil zog es vor, in sein Bier zu starren. Was mache ich

hier? , fragte er sich angewidert. Er machte jedenfalls keine relevanten Beobachtungen. Und wo war Vicki?

Was machte sie? Was machte sie gerade jetzt?

Wahrscheinlich lutscht sie draußen auf dem Parkplatz

einem Drecksack von Redneck den Schwanz, war seine

schlimmste Vorstellung.

»Letzte Chance, Bruder.« Es war der Barkeeper, der

hinter der Theke hin und her lief, während sich die

Gästeschar allmählich ausdünnte.

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Aus irgendeinem Grund erinnerte der Kopf des Bar-

keepers Phil an eine große Süßkartoffel. »Nein, danke,

für mich keins mehr.«

»Nee, ich meine die Hotdogs.« Der Barkeeper deute-

te auf die schrumpeligen, vor Fett triefenden Dinger,

die gemächlich auf dem Grill rotierten. »Wenn du sie

nich’ willst, nehm’ ich sie.«

Phil fühlte sich an die Gondeln eines herunterge-

kommenen Riesenrads erinnert. »Sie gehören dir, Bru-

der«, sagte er.

»Wie du willst. Weißt ja nich’, was du verpasst.«

Wird Zeit, aus diesem Loch rauszukommen, beschloss

Phil. Ich hab Besseres zu tun, als mit diesem Typen über

Hotdogs zu philosophieren. Er wollte gerade nach seiner Brieftasche greifen, um für die Trümmer dieser

schrecklichen Nacht zu bezahlen, als plötzlich –

»He! He Mann!«

Eine Hand stieß ihn von hinten an. Bin ich schon auf-

geflogen? , dachte er, als die Hand damit fortfuhr, ihn in den Rücken zu schubsen.

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»Bist du nich’ Phil Straker?«

Jesus! Phil drehte sich auf seinem Barhocker um und

sah sich einem bulligen Kerl gegenüber, der das gleiche

Redneck-Outfit wie er selbst trug. Er hatte blondes,

mehr als schulterlanges Haar. »Ja, ich bin Phil Stra-

ker«, gab er zu.

Das halb betrunkene Grinsen verbreiterte sich. »Ich

schätze, du erinnerst dich nich’ an mich – zugegeben,

is’ ja auch ’ne Weile her. Wir sind zusammen zur

Schule gegangen. Ich bin …«

»Heilige Scheiße«, entfuhr es Phil, als die Erinne-

rung schließlich einsetzte. »Eagle? Eagle Peters?«

»Richtig, Alter.«

Was für eine Überraschung. Sie schüttelten sich

kräftig die Hand. »Himmel«, meinte Phil, »ich hab

dich seit der High School nicht mehr gesehen. Was

hast du so gemacht?«

»Nicht viel, das gleiche Rumeiern«, antwortete Ea-

gle. »Hatte vor ein paar Jahren ein wenig Ärger weiter

oben im Norden, aber jetzt bin ich wieder in der Spur.

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Ich staple Steinplatten im nördlichen County, wenn’s

Arbeit gibt. Ich hörte, du wärst ’n Cop in der Groß-

stadt.«

Phil vermutete, dass Eagle weit mehr »gehört« hatte,

also passte er seine Geschichte ein wenig an. »Nicht

mehr. Wurde gefeuert, aber der Job war eh Mist. Die-

ser Cop-Scheiß war nichts für mich. Ich arbeite jetzt

bei ’nem Landschaftsgärtner.«

»Büsche pflanzen und Unkraut jäten scheint mir

nicht grad dein Stil zu sein.«

»Ist es nicht, aber Geld ist Geld.«

Eagle lachte. Phil bezahlte seinen Deckel – gewaltige

sechs Dollar – und ging mit seinem Jugendfreund auf

den Parkplatz hinaus. Kiesstaub flirrte in der Luft, als

unzählige Pick-ups langsam Richtung Ausfahrt rollten.

»Muss ’n Schlag gewesen sein, was?«, sagte Eagle.

»Was?«

»Weißt schon. In den Laden kommen und sehen,

wie deine Ex ’nen Strip hinlegt.«

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»War keine große Sache«, log Phil. »Ich hörte schon,

dass sie hier arbeitet. Sieht immer noch gut aus, das

sag ich dir.«

»Sie is’ die schärfste Braut im Laden«, erklärte Eagle.

»Aber sie ist echt abgestürzt, seit du weg bist.«

»Wie meinst du das?«

»Vergiss es, Mann. Lass dir nur eins sagen: Sie steckt

in ’ner Menge Scheiße, von der du lieber nichts wissen

willst.«

Doch, will ich! , wollte Phil schreien. Doch er hielt

sich zurück. Eagle war genau die Art von Informati-

onsquelle, die Phil dringend brauchte, um einen Draht

zur Unterwelt der Stadt zu bekommen. Es war besser,

ihn nicht zu bedrängen und langsam sein Vertrauen

zurückzugewinnen. Außerdem meinte Eagle vermut-

lich lediglich Vickis Abrutschen in die Prostitution,

was dank Mullins’ fotografischer Aufklärungsarbeit

nichts Neues für ihn war. Ich hoffe, dass er das meint, dachte Phil. Was könnte noch schlimmer sein?

293

»Ich muss los«, sagte Eagle. »Muss morgen früh ar-

beiten, Gipssäcke stapeln in Millersville.«

»War toll, dich mal wiederzusehen, Eagle. Bist du

öfter hier?«

»An den meisten Abenden. Lass uns bald mal treffen

und über alte Zeiten quatschen.«

»Machen wir. Pass auf dich auf.«

Sie trennten sich. Eagle stieg in einen verbeulten

Vier-Gang-Chevy – Phil merkte sich das Kennzei-

chen; ein Automatismus, den der Job mit sich brachte

– und schloss sich der Pick-up-Karawane an. Wie ko-

misch. Phil hatte jahrelang keinen Gedanken mehr an

Eagle Peters verschwendet, bis er ihm vor wenigen Ta-

gen in seinen Erinnerungen wieder begegnet war, und

nun stand er plötzlich leibhaftig vor ihm. Was hatte er

mit dem Ärger weiter im Norden gemeint? Und was

war das für eine Geschichte mit Vicki – konnte Eagle

mit der Bemerkung noch auf etwas anderes angespielt

haben als Prostitution oder wurde Phil langsam para-

noid?

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Ich bin paranoid, sagte er sich. Er stieg in seinen Malibu, startete den Motor und blieb einen Moment lang

still sitzen. Der Parkplatz war dermaßen in Kieselstaub

eingehüllt, dass man kaum die Hand vor Augen sehen

konnte. Zu viele Gedanken ließen auch seinen Kopf

im Dunst abtauchen; zu viele, die aus zu vielen unter-

schiedlichen Richtungen auf ihn hereindrängten: Mul-

lins PCP-Ermittlung, Eagle, Susan, die Sache bei der

Metro und natürlich ... Vicki.

Sie steckt in ’ner Menge Scheiße, von der du lieber nichts wissen willst.

»Gott«, murmelte er. Es half alles nichts. Er hatte

zwei Bier getrunken, doch er fühlte sich betrunken von

der Flut der Bilder in seinem Kopf. Ihre Tanznummer

lief in einer Endlosschleife in seinem Hirn ab, wie ein

versauter, überbelichteter Filmstreifen – grelle Lichter

betatschten ihren makellosen Körper, das rote Haar,

wie dunkles Feuer auf ihren geschmeidigen Schultern,

die großen Brüste, die er einst von Liebe erfüllt ge-

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streichelt hatte, ausgestellt wie Filetstücke im Schau-

fenster eines Metzgers …

Köder für ihr neues Gewerbe, zweifellos.

»Ja, die schärfste Braut in dem Laden, und ich habe

sie geliebt.«

Er fühlte sich erbärmlich. Wie ein Idiot. Wie ein

Schlappschwanz. Jammerte einer Beziehung hinterher,

die nicht funktioniert hatte. Aber –

Warum hatte es nicht funktioniert?

Wegen mir, dachte er. Sie ist eine Stripperin und Hure geworden … weil ich sie in diesem Drecksloch von Stadt

sitzen gelassen habe.

Er schaltete die Scheinwerfer an und wollte gerade

vom Parkplatz und zurück zum Revier fahren. Doch

durch den Vorhang aus Staub sah er Cody Natters

großen roten Chrysler zum Eingang des Sallee’s rum-

peln. In der Öffnung der Tür stand Vicki Steele, High

Heels verliehen ihren langen Beinen einen formvollen-

deten Abschluss. Ein hautenges, blaues Paillettenkleid

umschloss ihren Körper wie eine Frostschicht. Sie

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beugte sich vor, bereit in Natters Wagen zu steigen,

doch sie zögerte. Sie richtete sich auf. Und drehte sich

um …

Sie starrte durch den grauen Staub direkt auf die

Scheinwerfer von Phils Wagen. Ihm sackte das Herz

in die Kniekehlen. Ein vorbeifahrender Pick-up wir-

belte weiteren Staub auf und als der Schleier sich legte,

war Vicki zusammen mit Natters langem, dunkelrotem

Gefährt in der Nacht verschwunden.

ZWÖLF

PHIL KEHRTE GEGEN SIEBEN UHR MOR-

GENS von seiner Schicht aufs Revier zurück, um den

angefallenen Papierkram der letzten Nacht zu erledi-

gen und – was noch viel wichtiger war – den Kaffee

aufzusetzen, bevor Chief Mullins um acht hereinkam.

Susan hatte nicht gefragt, wie es im Sallee’s gelaufen

war, als er zurückkam, um seine Uniform wieder anzu-

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ziehen. Vielleicht hatte sie seinen aufgewühlten Zu-

stand bemerkt.

Was für eine Nacht …

Der gesamte Rest seiner Schicht wurde von Gedan-

ken an Vicki Steele dominiert.

Er versuchte, den Kopf freizukriegen, und setzte sich

an Chief Mullins’ Schreibtisch, um seinen täglichen

Bericht zu verfassen, doch dann bemerkte er den Bo-

gen Papier auf der Schreibunterlage. VERMISS-

TENANZEIGE stand darauf. Jemand namens Orn-

dorf war von einem anderen Mann namens Sullivan als

vermisst gemeldet worden. »He, Susan«, rief er. »Was

ist mit der Vermisstenanzeige hier auf dem Schreib-

tisch?«

Susans Antwort aus ihrer Kabine klang etwas herab-

lassend. »Das ist eine … Vermisstenanzeige.«