9. KAPITEL

Steve nahm einen Schluck von seinem Kaffee und nickte dann langsam. “Na gut, wenn du ohnehin in die Stadt fährst, wäre es schön, wenn du mich mitnimmst.” Lacey senkte den Blick, um sich ihre Freude nicht anmerken zu lassen. Steve brauchte nicht zu erfahren, dass sie erst vor Kurzem eingekauft und nicht beabsichtigt hatte, am nächsten Tag wieder nach Bridgetown zu fahren. Aber Lacey liebte die Geschäfte an der Broad Street und der High Street, und dort wollte sie bummeln gehen, während Steve im Büro arbeitete. Anschließend würde sie ihn ins Krankenhaus fahren, wo er seinen Gehgips bekommen sollte.

Sie freute sich, dass sie auf diese Weise mehr Zeit mit Steve verbringen konnte. Die Ferien neigten sich langsam dem Ende zu, und sie wollte ihm beweisen, dass sie nicht seines Geldes wegen an ihm interessiert war. Aber würde er es ihr jemals glauben?

“Wann möchtest du morgen früh fahren?”, fragte sie, während sie noch immer auf ihre Tasse starrte. Lacey wagte es nicht, Steve anzusehen, weil sie befürchtete, dass er ihre Nervosität bemerken und seine Absicht ändern würde.

“Im Laufe des Vormittags, wenn es dir recht ist”, antwortete er. “Ich arbeite ein paar Stunden im Büro, dann muss ich ins Krankenhaus. Die Geschäfte öffnen gegen zehn, nicht wahr?”

Lacey nickte. “Ich würde gern einmal einen Blick in dein Büro werfen”, sagte sie, in der Hoffnung, dass Steve diese Bitte nicht für aufdringlich hielt.

Er zuckte die Schultern. “Büros sehen alle gleich aus, aber wenn du unbedingt möchtest. Wie ist deins übrigens eingerichtet?”

“Ich habe nur einen winzigen Raum, in dem ich mich kaum aufhalte. Entweder bin ich im Studio, beim Produzenten oder in einer Sitzung. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Sitzungen wir abhalten.”

“Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Sitzungen in einem exklusiven Restaurant, so genannte Geschäftsessen, während deren man sich von der Öffentlichkeit bewundern lassen kann”, bemerkte Steve sarkastisch. Plötzlich hatte er wieder einen bitteren Zug um die Mundwinkel.

“Bewundert werden nur die Stars”, erklärte Lacey. “Für mich ist es meistens harte Arbeit. Ich fange frühmorgens an und bleibe, bis die Aufnahmen beendet sind. Wenn ich Glück habe, kann ich um fünf oder sechs Uhr abends gehen, aber wenn es Probleme gibt, komme ich oft erst nach Mitternacht nach Hause.”

Lacey wollte die Verbitterung von Steves Gesicht vertreiben. Sie zwang sich zu einem Lächeln und erzählte ihm einige der amüsanten Begebenheiten, die sie im Laufe der Jahre im Showgeschäft erlebt hatte, von den Eitelkeiten der Stars, den Einfällen der Drehbuchautoren und von Problemen am Set.

Allmählich entspannte sich Steve, und er hörte interessiert zu. Er lachte gerade über eine besonders lustige Episode, als sein Blick aus dem Fenster fiel und von dem Sonnenuntergang angezogen wurde.

“Ich liebe diese Zeit der Dämmerung”, sagte er leise.

Lacey schaute ebenfalls aus dem Fenster und bewunderte den Himmel, der eine Palette der verschiedensten Rottöne aufwies und vor dem sich die Palmen im Abendwind wiegten.

“Es ist wirklich wunderschön”, stimmte sie zu und beobachtete, wie der Himmel sich allmählich tiefrot färbte. Die Palmen waren jetzt nur noch als schwarze Silhouetten zu erkennen und bildeten sekundenlang einen Kontrast zum Purpur des Himmels, bevor es ganz dunkel wurde.

“Das sind die schönsten Augenblicke des Tages”, sagte Steve lächelnd. “Ich genieße das Farbenspiel am Abendhimmel. Nun habe ich fast mein ganzes Leben auf der Insel verbracht, aber ich glaube, ich habe nie zwei identische Sonnenuntergänge gesehen.”

“Das werde ich vermissen, wenn ich wieder zu Hause bin”, gestand Lacey. “In Kalifornien bin ich immer viel zu beschäftigt, um zuzuschauen, wie die Sonne im Meer versinkt. Außerdem, bei dem häufigen Smog in Los Angeles sind die Sonnenuntergänge nicht besonders aufregend.”

“Reist du bald ab?”, fragte Steve betont beiläufig.

“In etwa einer Woche.”

“Zurück zur Arbeit?”

Lacey nickte, erstaunt, wie weit entfernt ihr ihre Arbeit auf einmal erschien. Sie hatte sich in Barbados verliebt, den sympathischen Tonfall der Menschen, die liebliche Landschaft, die strahlend weißen Gebäude und die leuchtenden Blumen, die die Luft mit ihrem betörenden Duft erfüllten. Lacey liebte alles auf dieser Insel – besonders den Mann, der neben ihr saß.

Bei dieser Erkenntnis wurde ihr das Herz schwer. Wie sollte sie es über sich bringen, dies alles zu verlassen, sich von Steve zu verabschieden? Konnte sie einfach in ein Flugzeug steigen und gen Westen fliegen, in dem Bewusstsein, Steve nie wiederzusehen? War es möglich, dass er niemals erfahren würde, was sie für ihn empfand? Für einen Moment war Lacey von dieser Vorstellung überwältigt, und sie spürte Panik in sich aufsteigen. Nein, das schaffe ich nicht, dachte sie verzweifelt.

Steve würde lachen, wenn er ihre Gefühle erriet, und sie beschuldigen, dass sie auch nicht besser war als Elizabeth. Schlimmer noch, er würde behaupten, dass sie, Lacey, lediglich für ihn schwärmte wie einst Suzanne.

Ich muss abreisen, dachte Lacey traurig, auch wenn es mir das Herz bricht. Steve durfte niemals wissen, wie viel er ihr bedeutete. Ihre Liebe war zu kostbar, als dass sie durch den Spott eines Mannes zerstört werden sollte.

Steve nahm seine Krücken und stand auf. “Ich gehe jetzt nach Hause, Lacey. Vielen Dank für das Abendessen.”

Lacey war froh, endlich allein zu sein, bevor Steve ihr Geheimnis erraten konnte. “Ich freue mich, dass du vorbeigeschaut hast”, meinte sie nur, obwohl es so viel gegeben hätte, was sie ihm gern gesagt oder von ihm gehört hätte. Schweigend sah sie zu, wie Steve das Haus verließ und langsam zu seinem eigenen zurückging.

Sie stand noch lange am Fenster und schaute ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen und seine Schritte auf dem Kies nicht mehr zu hören waren. Mit einem kleinen Seufzer drehte Lacey sich schließlich um und ging zurück zum Tisch, um abzudecken.

Sie spülte das Geschirr, räumte die Küche auf und sehnte sich dabei die ganze Zeit danach, noch einmal in Steves Armen zu liegen, seine Lippen auf ihren, seine Hände auf ihrer Haut zu spüren. Nur Steve konnte diese herrliche Erregung in ihr wecken, aber er durfte niemals von ihrer Liebe erfahren. Lacey wünschte sich, er wäre geblieben, und war gleichzeitig froh, dass er gegangen war.

Am nächsten Morgen zog Lacey ein weiß-rosa Sommerkleid mit engem Oberteil und weit schwingendem Rock an. Das Haar fasste sie im Nacken mit einem rosa Band zusammen, und die zarten Farben brachten ihre Sonnenbräune und ihre blaugrauen Augen vorteilhaft zur Geltung.

Pünktlich um zehn Uhr verließ sie das Haus und war erstaunt, dass Steve, an ihr kleines Auto gelehnt, bereits auf sie wartete. Er hatte einen Koffer bei sich und trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine dezent gemusterte Krawatte.

Für einen Moment kam Lacey sich wie die Chauffeuse eines Generaldirektors vor. Sie verstaute den Koffer im Kofferraum und legte die Krücken auf den Rücksitz. Als sie Steve auf den Beifahrersitz half, amüsierte sie sich über seine frustrierte Miene. Lacey wusste, er ärgerte sich, dass er von ihr abhängig war.

Die Fahrt nach Bridgetown verlief recht schweigsam. Lacey war sich Steves Nähe sehr bewusst, aber sie versuchte, es zu ignorieren und sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Noch immer fiel es ihr schwer, auf der linken Seite der Straße zu fahren, und sie wollte keinen Fehler machen und sich nicht vor Steve blamieren.

Erst als sie den Stadtrand erreicht hatten, sagte sie: “Du musst mir jetzt den Weg weisen. Ich weiß nicht, wo dein Büro ist.”

“Da bin ich überrascht”, murmelte er leise und nannte ihr die Richtung.

“Warum? Ich bin noch nie dort gewesen.” Lacey steuerte den Wagen vorsichtig durch den dichten Verkehr.

“Bist du noch nie an dem Gebäude vorbeigegangen, in der Hoffnung, dass ich dich sehen und hineinbitten würde?”, fragte er.

“Warum sollte ich so etwas Albernes tun?”

“Suzanne hat es getan.”

“Typisch Teenager, nur bin ich kein Teenager, und ich bin auch nicht in dich verknallt.” Sie sah ihn flüchtig von der Seite an, blickte dann aber sofort wieder geradeaus.

“Manchmal wirkst du nicht viel älter als ein Teenager, besonders wenn du mit einer verbrannten Nase am Strand herumläufst. Bieg an der nächsten Kreuzung links ab, und anschließend kannst du rechts auf den Parkplatz fahren. Schaffst du die Kurve?”

“Keine Angst, ich fahre, seit ich sechzehn Jahre alt bin. Nur kommt mir hier alles seitenverkehrt vor.”

“Für uns ist das ganz normal”, sagte Steve. “Ich fühle mich in den USA im Verkehr verloren.”

Nachdem Lacey den Wagen auf den Parkplatz gelenkt hatte, stellte sie den Motor ab. “Schaffst du es von hier aus allein?”, fragte sie, doch sie wusste, dass er sich nicht von ihr helfen lassen würde, wenn seine Mitarbeiter ihn sehen konnten.

“Ja, es geht. Um zwei Uhr muss ich im Krankenhaus sein. In meinem Koffer habe ich Sachen zum Umziehen. Die brauche ich erst dort.”

“Ich werde dich rechtzeitig abholen”, versprach Lacey.

Steve öffnete die Tür, um auszusteigen, zögerte dann einen Moment. “Wo willst du zu Mittag essen?”

“Ich nehme irgendwo einen kleinen Imbiss zu mir. Keine Angst, ich komme nicht zu spät zurück.”

Steve seufzte und drehte sich noch einmal zu Lacey um. “Sei gegen halb eins hier, und wir essen zusammen, bevor wir ins Krankenhaus fahren.”

Laceys Augen waren fast blau, als sie Steve anlächelte. Sie wusste, dass er sie eigentlich nicht zum Mittagessen einladen wollte, aber sie nahm, was sie bekommen konnte.

“Vielen Dank, ich werde um halb eins hier sein”, versicherte sie.

Er kletterte aus dem Wagen und humpelte zu der großen gläsernen Eingangstür seiner Firma, auf der “The Chandlery, Import/Export” stand. Lacey wartete, bis sich die Tür hinter Steve geschlossen hatte. Dann startete sie den Wagen und fuhr davon.

Bereits vor halb eins kam sie zurück. Sie hatte ihre Einkäufe erledigt, sogar noch einen Eistee in einem der Straßencafés in der Nähe der Creenage getrunken, und trotzdem war ihr der Vormittag lang geworden. Sie stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab und betrat das Gebäude, in dem Steve vorhin verschwunden war.

Eine Empfangsdame lächelte sie freundlich an.

“Ich bin gekommen, um Mr. Carmichael abzuholen”, sagte Lacey.

“Nehmen Sie den Aufzug zum sechsten Stock. Dort ist sein Büro”, erklärte die junge Dame.

Lacey stieg im obersten Stock aus. Obwohl dieses Haus bei Weitem nicht so hoch war wie die in Los Angeles, war es für Bridgetown ein großes Gebäude. Die Chefetage war luxuriös eingerichtet, mit weichem dunkelgrauen Teppichboden und hellgrauen Wänden, an denen sich farbenfrohe Bilder befanden.

Auch hier saß eine freundliche Dame an einem Empfangstisch, die Lacey zu Steves Büro führte.

Er war nicht in seinem Zimmer, aber seine Sekretärin meinte, dass er nichts dagegen hätte, wenn Lacey dort auf ihn wartete. Ob Steve seiner Sekretärin von mir erzählt hat, überlegte Lacey, als die junge Frau ihr die Tür zu Steves Büro offen hielt.

Lacey ging hinüber zu dem großen Fenster hinter Steves Schreibtisch, das einen herrlichen Blick über einen großen Park und das Zentrum von Bridgetown bot. Die weißen Gebäude schimmerten in der Sonne, und bunte Blumen blühten im Park und schmückten die Fensterbänke des gegenüberliegenden Hauses. Am Ende der Straße konnte Lacey das Meer schimmern sehen und den Hafen, in dem die farbenprächtigen Boote auf dem Wasser schaukelten.

Sie drehte sich um, um Steves Büro genauer zu betrachten. Es war sehr groß, mit einem repräsentativen Schreibtisch, einem Sofa an der Wand und einem kleinen Konferenztisch, um den sechs Stühle gruppiert waren. Obwohl Akten und Papierstapel auf dem Schreibtisch lagen, sah alles viel ordentlicher aus als auf ihrem Schreibtisch in Los Angeles, wie Lacey sich eingestand.

Da es ihr allmählich langweilig wurde, setzte sie sich auf die Schreibtischkante und schlug die Beine übereinander. Dann zog sie den Saum ihres Kleids ein wenig hoch und lehnte den Kopf zurück. Das war die typische Haltung einer Sekretärin, die nicht tippen konnte und ihren Sex-Appeal einsetzen musste, um den Chef zu beeindrucken. Lacey zog den Kleidersaum noch höher, stützte sich mit den Händen ab und schaute mit einem kleinen Seufzer aus dem Fenster.

“Lass dich bitte nicht von mir stören.”

Erschrocken drehte Lacey sich zur Tür um. Dort stand Steve, auf seine Krücken gestützt, und musterte anerkennend und amüsiert ihre nackten Beine.

“Bitte stellen Sie jetzt keine Anrufe durch, Carol”, rief er seiner Sekretärin über die Schulter zu, dann schloss er die Tür hinter sich und kam in den Raum.

Lacey hatte einen Augenblick gebraucht, bevor sie sich gefasst und ihr Kleid heruntergezogen hatte. Es war ihr ausgesprochen peinlich, in dieser Haltung von Steve beobachtet worden zu sein.

Er kam zu ihr herüber und lehnte sich an den Schreibtisch. “War das eben die Pose eines Starlets?”, fragte er belustigt.

Lacey bedachte ihn mit einem wütenden Blick. “Ich habe nicht gemerkt, dass du hereingekommen bist. Ich dachte, ich sei allein, und mir war heiß.” Sie sagte das Erstbeste, was ihr einfiel, denn sie wollte auf keinen Fall verraten, wovon sie geträumt hatte.

“Ich finde es hier angenehm kühl, aber wenn dir so heiß ist, dann zieh dein Kleid doch ganz aus.” Steve schob ihr den Saum wieder über das Knie.

“Wie fühlt sich das an?” Seine Stimme war tief und verlockend, während er seine Finger über die weiche Haut ihres Oberschenkels gleiten ließ. Laceys Herz klopfte wild, und das Atmen fiel ihr immer schwerer.

“Bitte nicht.” Sie wollte sich zurückziehen, aber Steve legte ihr den Arm um die Taille und hielt sie fest. Lacey schaute zu ihm auf, sich ihrer wachsenden Erregung nur allzu sehr bewusst. Steve war so nahe, und gleich würde er sie küssen.

Als er sich vorbeugte, nahm sie den Duft seines Aftershaves wahr – ein frischer, herber Duft, der sie von nun an immer an Steve erinnern würde.

“Blondinen wirken im Allgemeinen kühl und zurückhaltend, aber du nicht, Lacey. Du bist eine feurige, leidenschaftliche Frau.” Steve richtete den Blick auf ihren Mund, und sein Gesicht näherte sich ihrem. Schon spürte sie seinen warmen Atem, und sie schloss die Augen.

Plötzlich klingelte das Telefon, so dass Lacey zusammenschrak.

“Verdammt! Ich habe sie doch gebeten, keine Anrufe durchzustellen.” Steve griff hinter Laceys Rücken nach dem Telefon und zog es heran, bevor er den Hörer abnahm. Lacey war mit der Telefonschnur an Steves Körper gefesselt.

“Carmichael … Sam ruft heute Nachmittag dort an … Nein, das stimmt nicht … Darüber müssen Sie mit Sam verhandeln … Nein, ich gehe gleich weg. Wenden Sie sich an ihn.” Steve legte den Hörer auf, wandte sich um und lehnte sich mit der Hüfte an den Schreibtisch.

Lacey nutzte die Gelegenheit, um vom Tisch zu rutschen und ihr Kleid glatt zu streichen. Dabei musste sie ihre Enttäuschung bekämpfen. Sie war froh, mit Steve zusammen zu sein, und er musste sie nicht küssen. Doch sie musste sich eingestehen, dass sie es sich gewünscht hätte.

“Wollen wir jetzt essen gehen?” Nichts in seinem Tonfall erinnerte mehr an die zärtlichen Momente vor dem Anruf.

“Ja.” Lacey hatte sich jetzt unter Kontrolle und gab sich gleichgültig und kühl. Zumindest hoffte sie, dass sie diesen Eindruck vermittelte, denn innerlich zitterte sie noch immer und sehnte sich nach Steves Umarmung und seinen Zärtlichkeiten.

Steve führte sie in ein kleines Restaurant in der Nähe des Krankenhauses, in dem sie sofort einen Platz bekamen. Das Essen war ausgezeichnet, und Steve zeigte sich von seiner charmantesten Seite.

Lacey entdeckte, dass er sehr amüsant sein konnte, solange sie nicht auf persönliche Dinge zu sprechen kam. Als sie eine Frage nach seiner Firma stellte, presste er sofort verärgert die Lippen zusammen und wechselte das Thema. Lacey beließ es bei diesem einen Versuch, aber sie war frustriert. Warum gab er ihr keine Gelegenheit, ihn näher kennen zu lernen? Wollte er auch nichts über sie erfahren?

Sie wurde immer bedrückter. Sie hatte so viele unausgesprochene Fragen an Steve, sie war traurig, dass er sich offensichtlich nicht für ihr Leben interessierte. Sie bedeutete ihm nichts.

Nach dem Essen fuhren sie zum Krankenhaus, und Lacey begleitete Steve hinein. Sie trug den kleinen Koffer, in den Steve ein paar alte Kleidungsstücke gepackt hatte, die er anziehen wollte, bevor der Gips gewechselt wurde. Kyle Lincoln erwartete sie vor der Röntgenabteilung.

“Guten Tag, Lacey. Hallo, Steve. Wie geht’s, alter Junge?”

Falls der Arzt sich über Laceys Anwesenheit im Krankenhaus wunderte, ließ er es sich nicht anmerken. Für einen Augenblick spürte Lacey Steves Anspannung, registrierte seinen flüchtigen Blick in ihre Richtung, aber nach Kyles lockerer Begrüßung fing er sich wieder.

“Mir wird es sehr viel besser gehen, wenn ich endlich einen Gehgips habe.” Steve reichte seinem Freund die Hand.

Lacey beobachtete die beiden Männer, die sich eine Weile unterhielten. Der Arzt erkundigte sich nach dem Befinden seines Patienten und gab ihm Ratschläge für eine schnelle Genesung.

Selbst auf Krücken und mit dem Fuß in Gips strahlte Steve noch immer Kraft und Stärke aus. Kyle war von einer ähnlichen Aura umgeben, wie man sie von einem Arzt an seinem Arbeitsplatz erwartete. Doch Patienten wirkten in einer solchen Situation meist eingeschüchtert, aber Steve benahm sich, als würde er sich in seinem eigenen Büro befinden.

Eine Krankenschwester kam mit einem Rollstuhl zu ihnen. “Ich kann Mr. Carmichael jetzt in den Röntgenraum bringen, Dr. Lincoln”, sagte sie.

“Sehr schön. Sobald dein Fuß geröntgt ist, kommt der Gips runter und der Gehgips rauf. Danach wird noch eine Aufnahme gemacht, und dann kannst du nach Hause.”

“Ich brauche keinen Rollstuhl”, protestierte Steve.

“Das ist bei uns so üblich”, erklärte Kyle.

“Ich kann laufen”, beharrte Steve.

“Sei nicht kindisch, Steve. Du wirst schneller gesund, wenn du die Anweisungen deines Arztes befolgst”, sagte Lacey und wollte ihm die Krücken abnehmen.

“Und ich will nicht …”

“… dass du mir sagst, was ich zu tun habe”, beendete sie den Satz gleichzeitig mit ihm. “Das habe ich jetzt oft genug gehört. Lass dir mal was Neues einfallen”, ergänzte sie schnippisch.

Steve hob die Augenbrauen. “Warte nur, bis ich hier fertig bin”, drohte er, als er Lacey widerwillig die Krücken überließ. Dann setzte er sich in den Rollstuhl und ließ sich den Koffer geben.

Kyle lachte leise und drehte sich zu Lacey um, als Steve davongeschoben wurde.

“Ich bin froh, dass Sie es ihm gesagt haben. Wenn ich das gewagt hätte, hätte er mich mit der Krücke niedergeschlagen.”

“Das bezweifle ich. Er leidet nur darunter, so unbeweglich zu sein. Wird die Prozedur lange dauern?”

“Nein, aber Steve muss eine Weile warten, bis der Gips so fest ist, dass er das Krankenhaus verlassen kann. Auch dann darf er den Fuß noch einen Tag lang nicht belasten, bis die Masse hart ist. Ich werde mir jetzt die erste Röntgenaufnahme ansehen, und danach können wir beide eine Tasse Kaffee zusammen trinken, während Steve seinen Gehgips bekommt.”

“Das hört sich gut an. Ich warte hier auf Sie.”

Lacey setzte sich ins Wartezimmer und blätterte ein Magazin durch. Es dauerte nicht lange, bis Kyle zurückkam und mit ihr in die Krankenhauskantine ging. Sie unterhielten sich eine Weile, bis Kyles Pieper ertönte.

“Wahrscheinlich ist Steve jetzt so weit, dass wir die zweite Röntgenaufnahme machen können. Danach dürfen Sie ihn mit nach Hause nehmen”, sagte der Arzt.

“Vorausgesetzt, dass er nicht wieder ins Büro will. Er hat dort heute Vormittag gearbeitet, wussten Sie das?”, erzählte Lacey, als sie Kyle zur Röntgenabteilung begleitete.

“Danach wird ihm bestimmt nicht zumute sein”, erwiderte Kyle. “Es tut höllisch weh, wenn ein Gips abgenommen und ein neuer angelegt wird. Ich glaube, er wird sich jetzt eine Weile ausruhen wollen.”

Als Lacey Steve wiedersah, wusste sie, dass Kyle Recht hatte. Steve wirkte müde, und man merkte ihm an, dass er an Schmerzen litt. Er erhob keine Einwände, als die Schwester ihn im Rollstuhl hinaus zum Parkplatz fuhr. Er trug jetzt alte Jeans, von denen er das linke Hosenbein bis zum Knie abgeschnitten hatte, und dazu ein blaues T-Shirt. Lacey nahm der Schwester den Koffer mit Steves Anzug ab und legte ihn in den Kofferraum. Sie bot Steve keine Hilfe an, da er diese ohnehin abgelehnt hätte. Kyle würde hoffentlich darauf achten, dass sein Freund sich nicht übernahm.

Kyle begleitete sie bis zum Auto und wartete, bis beide darin Platz genommen hatten. Erst dann sagte er beiläufig: “Lynn und ich möchten euch beide heute Abend gern zum Essen zu uns einladen, wenn es dir gut genug geht, Steve. Wir wollen auf der Terrasse grillen.”

“Wenn Lacey uns fährt”, sagte Steve, ohne sie anzusehen.

“Ich komme gern. Kann ich etwas mitbringen?”, fragte Lacey und beugte sich aus dem Fenster, um Kyle besser sehen zu können. “Soll ich Lynn anrufen, wenn ich zu Hause bin?”

“Das wäre schön. Und, Steve, belaste den Gips nicht vor morgen früh. Bis später dann.”

Lacey lenkte den Wagen vorsichtig vom Parkplatz und fuhr dann in die Richtung nach Hause. Als sie an einer Ampel halten musste, schaute sie Steve an und sah, dass er sich mit geschlossenen Augen in seinem Sitz zurückgelehnt hatte. War er eingeschlafen?

“Wie war es?”, fragte sie leise, denn sie wollte ihn nicht aufwecken, falls er schlief.

“Es tut fast so weh wie an dem Tag, als ich gestürzt bin.”

“Kyle hat mir gesagt, dass es sehr schmerzen würde. Haben sie dir Tabletten mitgegeben?”

“Ja, aber ich will jetzt keine nehmen. Vielleicht heute Abend, bevor ich schlafen gehe. Ich kann warten.”

Es war noch früh am Nachmittag, und auf den Straßen herrschte nur leichter Verkehr. Schon bald hatte Lacey den Spring Garden Highway erreicht, auf dem sie nach Norden fuhr. Vom Meer wehte ein kühler Wind durch das offene Wagenfenster und blies ihr die Haarsträhnen, die sich im Nacken gelöst hatten, ins Gesicht.

Lacey genoss das Gefühl des angenehmen Luftzugs auf der Haut, denn die Sonne schien warm durch die Windschutzscheibe. Die verschiedenen Grüntöne der Bäume und Büsche am Straßenrand vermittelten die Illusion von Kühle. Schon bald bog Lacey in ihre Straße ab und stoppte den Wagen vor Steves Haus.

Steve rollte den Kopf auf dem Sitz zur Seite und öffnete die Augen. “Möchtest du heute Abend dahin fahren?”, fragte er. “Wir können immer noch absagen.”

“Was möchtest du denn? Wie fühlst du dich überhaupt?”

“Im Augenblick grässlich. Aber wenn ich mich eine Weile hingelegt habe, geht es mir bestimmt besser.”

“Dann warten wir ab, wie du dich nachher fühlst”, schlug sie vor. “Ich komme um sechs Uhr rüber, und dann entscheiden wir uns. Oder ist das zu spät?”

“Nein, ich rufe Lynn an und sage ihr Bescheid. Vielen Dank, dass du mich heute in die Stadt gefahren hast.” Steve drehte sich um und schaute auf den Rücksitz. “Wo sind deine Einkaufstüten?”

“Im Kofferraum.” Dort befand sich nur eine Tüte, aber Lacey wollte Steve nicht wissen lassen, dass sie keineswegs nach Bridgetown gefahren war, um einzukaufen.

Er griff nach ihrer Hand und legte sie auf seinen Oberschenkel. Da er die Augen geschlossen hatte und sich nicht rührte, wagte Lacey ebenfalls nicht, sich zu bewegen, um den Zauber des Moments nicht zu zerstören. Steve umschloss ihre zarte Hand mit seinen langen, festen Fingern, und Lacey fühlte die harten Muskeln an seinem Oberschenkel.

“Wenn ich nicht gleich aussteige, schlafe ich hier ein”, sagte Steve, die Augen noch immer geschlossen.

“Und das wäre sehr unbequem. Hinaus mit dir. Brauchst du Hilfe?” So ungern Lacey dieses friedliche Zusammensein auch beendete, wusste sie doch, dass er müde war und sich ausruhen musste.

“Nein.” Steve zog Lacey an sich und drückte ihr einen kleinen Kuss auf die Wange.

“Das nächste Mal nehmen wir meinen Wagen. Da haben wir mehr Platz.” Er öffnete die Tür und kletterte hinaus. Ohne sich noch einmal umzusehen, humpelte er zu seinem Haus.

Lacey schaute ihm nach, während ihr Herz heftig pochte. Das nächste Mal, hatte er gesagt, als ob er plante, öfter mit ihr wegzufahren. Sie seufzte und fuhr den Wagen hinüber zu ihrer Einfahrt. Es gab noch diesen Abend, und was kam danach? Bald musste sie abreisen, und es blieb nicht mehr viel Zeit für gemeinsame Unternehmungen.

Dabei konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen.