Zwei Mäuse in der Falle
»Hör endlich auf, mich zum Narren zu halten und mir solch einen Humbug aufzutischen, Junge!«, brüllte Herr Krüger und schlug mit der Faust auf den Tisch. Er war genervt, weil er seinen Schlaf hatte unterbrechen müssen. David hatte den Lehrer, der in dieser Nacht Bereitschaft hatte, geweckt, um ihm den vermeintlichen Täter zu präsentieren, den er angeblich auf frischer Tat ertappt hatte. Nun saß ihm Julius im Verhör gegenüber, und der Lehrer machte keinen Hehl daraus, dass er Julius persönlich für die Unterbrechung seiner wohlverdienten Nachtruhe verantwortlich machte.
David blieb im Hintergrund. Mit verschränkten Armen stand er neben der Tür.
Herr Krüger hielt Julius den Zeigefinger unter die Nase. »Du kannst mir viel erzählen von irgendwelchen Geräuschen auf dem Flur und Schatten auf dem Hinterhof. Außer unserer Nachtwache hat hier niemand nachts durch das Schullandheim zu schleichen.«
Julius ließ den Kopf hängen. Es hatte wohl wenig Sinn, diesem Begleitlehrer noch einmal zu erzählen, was sich in der Nacht zugetragen hatte und warum er nachts im Gebäude unterwegs gewesen war. Er hatte es beim ersten Mal nicht geglaubt und er würde es auch beim zweiten Mal nicht glauben.
»Aber ich bin kein Dieb!«, protestierte Julius.
Der Lehrer lachte spöttisch. »Ja, ja, genauso wenig wie dein Bruder, ich weiß.«
»Das Auto war wirklich da!«, startete Julius einen letzten Versuch, den Begleitlehrer von seiner Version der Geschichte zu überzeugen. »Ohne Licht ist es gefahren.«
Herr Krüger legte Julius die Hand auf die Schulter und blickte ihn mitleidig an. »Mein lieber Julius, ich fürchte, du liest zu viele Krimis. Deine Fantasie geht mit dir durch. Merkst du denn nicht, dass du dich mit diesen Geschichten, die du mir hier auftischst, nur noch weiter hineinreitest? Weißt du was? Eine Nacht im Abstellraum wird dir deine Flausen schon austreiben. Morgen früh darf sich dann dein Klassenlehrer mit dir befassen.«
Julius war empört. Aber ich hab doch gar nichts getan! Warum lassen Sie mich nicht zurück zu meinem Bruder?«, rief er aufgeregt.
»Damit ihr gemeinsam noch mehr Dummheiten aushecken könnt? Nein, nein.« Herr Krüger nickte David zu. »Bitte seien Sie so gut und bringen den jungen Mann hier in den Abstellraum, damit er sich den Rest der Nacht ein paar Gedanken machen kann.«
Julius seufzte. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, Widerstand zu leisten. Das würde alles nur noch schlimmer machen. Außerdem gab es Schrecklicheres als den Abstellraum. Wie er bei ihrer Ankunft im Schullandheim gesehen hatte, hatte der schmale Raum sogar ein Fenster, und es gab ein Notbett. Morgen würde er mit dem Heimleiter sprechen können, der ein vernünftiger Mann war. Er würde ihm sicher glauben.
»Kannst du bitte meinen Bruder benachrichtigen?«, sagte Julius zu David. »Er wird sich wundern, wo ich bleibe.«
David grinste und klimperte mit dem Schlüsselbund. »Dein Brüderchen wird sich schon denken, was passiert ist. Schließlich steckt ihr doch beide unter einer Decke.« Damit schob er Julius in den Abstellraum und sperrte hinter ihm die Tür zu.
Wütend trat Julius von innen gegen die geschlossene Tür. »Dein blödes Lachen wird dir noch im Hals stecken bleiben!«, zischte er.
Die ganze Situation kam ihm reichlich merkwürdig vor. Das durfte alles nicht wahr sein! Hatte sich denn die ganze Welt gegen ihn und Richard verschworen?
Plötzlich hielt Julius inne, denn ein Bild trat ihm in aller Deutlichkeit vor Augen: David, wie er mit dem Schlüssel klimperte. Manches lief zu glatt. Wie kam es, dass der Kerl den Schlüssel zum Abstellraum schon parat gehabt hatte?
 
Georg und Anne hatten die ganze Szene von einem Versteck hinter einem Hortensienbusch aus beobachtet. Was sie jedoch nicht wussten, war, dass es sich bei einem der Schatten, die da durch die Nacht gehuscht waren, um Julius gehandelt hatte.
Von einem Geräusch angelockt, hatten sie sich auf die Rückseite des Gebäudes begeben. Gerade rechtzeitig, um mitzukriegen, wie im Schein einer Taschenlampe die Tür vom Lieferanteneingang geöffnet wurde und eine Gestalt hinausschlich, während eine andere die Tür von innen schloss.
Zu ihrer Verwunderung wurde die Tür ein zweites Mal geöffnet und eine Gestalt trat in den finsteren Hof. Doch diesmal war kein Taschenlampenlicht zu sehen und so verloren sie die Schattengestalt sofort wieder aus den Augen. Ihre Aufmerksamkeit wurde auch schon von etwas anderem in Anspruch genommen.
006
»Das geht ja hier zu wie im Taubenschlag!«, zischte Georg, als plötzlich ein Auto aus einem Schuppen gefahren kam, das zu ihrer Verwunderung langsam und ohne die Scheinwerfer anzuschalten vom Hof rollte. Die Mädchen duckten sich hinter den Hortensienbusch und blickten dem Auto verwundert nach.
Im selben Moment waren wieder Geräusche vom Lieferanteneingang her zu hören. Die Gestalt schlüpfte durch die Tür ins Haus und wurde von der Finsternis verschluckt. Dass Julius das gewesen war, konnten die Mädchen nicht erkennen.
»Da!«, flüsterte Anne, als plötzlich hinter den Glasscheiben der Tür wieder Taschenlampenlicht aufflackerte. Diesmal leuchtete es so hell, als würde etwas oder jemand direkt angestrahlt. Nach einer Weile entfernte sich das Licht und es kehrte wieder Ruhe ein auf dem Hinterhof.
»Georg, hast du eine Ahnung, was hier vor sich geht?«, flüsterte Anne.
Georg schüttelte den Kopf. »Aber eins ist sicher: Hier ist irgendwas im Busch. Wir sollten deine Brüder schnellstens darüber informieren. Gleich morgen früh werde ich wieder herkommen und versuchen, zu ihnen Kontakt aufzunehmen. Zum Glück habe ich ja noch Peters Kleider.«
 
Die Mädchen wunderten sich schon ein wenig darüber, dass Tante Doro sie am nächsten Morgen mit einem Augenzwinkern fragte, ob sie eine ruhige Nacht gehabt hätten. Sie konnten ja nicht ahnen, dass die Tante von ihrem nächtlichen Ausflug wusste und sich nun einen Spaß daraus machte, die beiden ein wenig an der Nase herumzuführen.
Gleich nach dem Frühstück machten sich die Mädchen wieder auf den Weg zum Schullandheim. Aber Georg musste feststellen, dass ihr Plan diesmal nicht so leicht in die Tat umzusetzen war.
Peter, der gerade dabei war, leere Brotkisten in einen Lieferwagen zu packen, machte ihnen schon von weitem ein Zeichen.
»Kommt hier rüber!«, zischte er und zog Georg und Anne eine kleine Stiege hinunter ins Kartoffellager. »Es ist besser, wenn man euch nicht hier sieht. Außerdem habe ich nicht viel Zeit, aber es gibt Neuigkeiten, die ihr wissen müsst. Julius wurde heute Nacht geschnappt. Er sitzt im Abstellraum.«
»Was?«, riefen die Mädchen im Chor.
»Ja, einer der älteren Schüler hat ihn angeblich heute Nacht dabei erwischt, wie nun auch er auf Beutezug gegangen ist«, berichtete Peter. »Nun hockt er fürs Erste in dieser Kammer. Der Begleitlehrer hat verfügt, dass er dort für heute bleiben soll, denn er habe jetzt die Faxen dicke. Und der Heimleiter auch. Hart durchgreifen will er, der Heimleiter.«
»Julius auf Beutezug?«, rief Georg ungläubig. »Da lachen ja die Hühner.«
»Sag mal, Peter, wie spät war das denn, als Julius erwischt wurde?«, erkundigte sich Anne.
Peter kratzte sich an der Stirn. »So gegen zwei, glaub ich.«
Georg und Anne warfen sich vielsagende Blicke zu. »Das ist genau die Uhrzeit, als wir hier waren.«
Peter staunte. »Ihr wart nachts hier?«
Georg machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ja, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Auf jeden Fall müssen wir Julius oder Richard eine Nachricht übermitteln.« Sie öffnete ihre Tasche, um die Verkleidung herauszuholen, doch Peter packte sie am Arm.
»Lass das lieber sein«, riet er. »Wenn sie dich bei einem von ihnen erwischen, geraten die Jungens nur noch tiefer in den Schlamassel. Aber wenn ihr wollt, kann ich ihnen eine Nachricht überbringen.«
Georg und Anne blickten sich fragend an und nickten dann. Sie waren sich sicher, dass sie Peter vertrauen konnten.
»Hier«, sagte Peter und zog einen alten, zerknitterten Lieferschein aus der Hosentasche. »Ihr könnt was auf die Rückseite schreiben. Ich bring es ihnen.«
Da es in dem Kartoffelkeller nirgendwo eine Ablage gab, bückte Anne sich, sodass Georg ihren Rücken als Schreibunterlage benutzen konnte. Peter stand ungeduldig daneben. »Beeilt euch«, mahnte er. »Wenn mein Chef das mitkriegt, gibt’s Ärger.«
Gerade hatte Georg den Zettel zusammengefaltet und ihn Peter in die Brusttasche gesteckt, da hörten sie eine Stimme über den Hof brüllen. »Peter! Verdammt, wo steckst du?!«
»Bin schon da, Chef!«, rief Peter. »Bin schon da!« Im Hinausrennen schnappte er sich einen Besen, der in der Ecke gestanden hatte. »Ich musste zwei Mäuse aus dem Kartoffelkeller vertreiben. Die verfluchten Viecher wollten sich den Bauch voll schlagen.«
Georg grinste. »Hallo, Anne, du Maus! Ich mag gar keine rohen Kartoffeln.«
Anne spähte durch eine Luke. »Aber ich fürchte, wir sitzen jetzt erst einmal in der Falle wie zwei Mäuse, denn draußen laufen plötzlich jede Menge Leute rum. Jetzt kommen wir unmöglich unbemerkt hier raus.«
Georg seufzte. »Na, jedenfalls kommen wir hier irgendwann wieder raus. Das unterscheidet uns von den Mäusen.«
 
Julius hockte unterdessen im Abstellraum und war wütend. Der Heimleiter hatte ihm am Morgen keineswegs aufmerksam zugehört, sondern mit Nachdruck verkündet, dass seine Geduld nun am Ende sei und er andere Saiten aufziehen werde. In seinem Schullandheim sollten wieder Ruhe und Ordnung einkehren.
»Auch wenn ich dich nicht als Dieb hinstellen möchte - denn das muss erst noch bewiesen werden -, sollst du doch den Tag im Abstellraum verbringen, Julius«, hatte er erklärt. »Ein Zeichen für alle, dass in diesem Schullandheim Verstöße bestraft werden. Bis wir die Diebstähle aufgeklärt haben, wollen wir die Vorfälle nicht an die Öffentlichkeit dringen lassen. Wir haben unseren guten Ruf zu verlieren.«
Julius hatte versucht zu erklären, was vorgefallen war, doch der Heimleiter hatte gleich abgewunken. So war Julius auf direktem Wege wieder in den Abstellraum gewandert, wobei er zugeben musste, dass es sich dort ganz gut aushalten ließ. In der Ferne hörte man das Rauschen des Meeres, vor dem Fenster stand ein großer Baum, in dem die Vögel zwitscherten, und die Pritsche erwies sich als bequem. Außerdem hatte Franky ihm sein Buch bringen dürfen und so hatte er bereits den halben Tag mit Lesen verbracht. Aber dass er von hier aus nicht herausfinden konnte, wer seinem Bruder und ihm so übel mitspielte, das machte ihn wirklich wütend. Und Richard saß oben im Zimmer und hatte immer noch Stubenarrest.
Plötzlich hörte er ein leises Klopfen am Fenster. Julius stieg auf den Stuhl, spähte durch das Gitter und erkannte die Kappe von Peter.
»Hallo Georg, wie gut, dass du kommst! Woher weißt du, dass ich hier bin?«
»Nein, du Schwerverbrecher, ich bin’s selbst!«, flüsterte Peter und grinste. »Aber ich habe eine Nachricht von Georg und deiner Schwester. Hier.«
Peter rollte den Lieferschein auf und steckte ihn durch das Gitter.
Hastig faltete Julius den Zettel auseinander und las, was Georg ihm geschrieben hatte.
»Peter!«, zischte er, so laut er sich traute, denn er wusste nicht, ob vor seiner Tür jemand Wache schob. »Was Georg mir hier schreibt, das bestätigt genau das, was ich Herrn Krüger heute Nacht schon gesagt habe. Da war dieses Auto, das weggefahren ist, ohne Licht anzumachen. Aber Herr Krüger meint ja, ich hätte ihm eine Lügengeschichte aufgetischt. Georg muss mit dem Heimleiter sprechen!«
Peter pfiff leise durch die Schneidezähne. »Das halte ich für keine gute Idee. Erst findet man bei Richard die Sachen, dann wirst du erwischt, und dann gibt noch eure Kusine zu, dass sie nachts hier herumschleicht. Der Heimleiter muss doch meinen, hier sei eine ganze Familien-Bande am Werk!«
Niedergeschlagen ließ Julius den Kopf hängen. »Du hast wohl Recht. Trotzdem danke, dass du mir den Brief gebracht hast. Wenn du einen Moment warten könntest, dann schreibe ich den Mädchen eben zurück. Hast du einen Stift?«
»Mist, den habe ich vergessen«, flüsterte Peter. »Verflucht, ich muss zusehen, dass ich wegkomme. Ich höre den Chef schon wieder brüllen. Er hat heute offenbar schlechte Laune. Kopf hoch, Julius! Alles wird sich aufklären.« Damit war Peter verschwunden.
Julius seufzte. »Hoffentlich hast du Recht.«