Julius in Not
»Stellt euch vor, ich konnte gerade noch so
entwischen, bevor dieser Franky auch schon die Treppe heraufkam«,
erklärte Georg später und schob sich eine Gabel voll Pastete in den
Mund. Sie, Anne und Tante Doro saßen beim Abendbrot
beisammen.
»Was war denn das für ein Junge?«, fragte
Anne.
»Richard hat mir erklärt, dass dieser Franky der
Sprecher der Stufe ist und sich als solcher nun als der
Oberaufpasser aufspielt«, antwortete Georg mampfend. »Ziemlich
blasser Typ.«
Jetzt schaltete sich Tante Doro ein. »Liebe Georg,
hättest du wohl bitte die Güte, mir nun endlich zu erklären, was
überhaupt vorgefallen ist?«
Georg blickte zu ihrer Kusine. Anne nickte.
Georg legte die Gabel hin. »Natürlich. Entschuldige
bitte. Ich habe Anne bereits alles erzählt.«
»Wir wissen nur, dass einige Schüler bestohlen
worden sind«, erklärte Anne. »Und dass mein Bruder Richard
beschuldigt wird, der Täter zu sein. Er hat Stubenarrest und an der
Pforte haben sie uns abgewimmelt.«
»Wieso habt ihr mir denn nicht gleich davon
erzählt?«, fragte Tante Doro, weniger entrüstet als erstaunt.
»Wir wollten einfach nicht, dass du dir noch mehr
Sorgen machen musst. Aber du hast Recht, wir hätten es dir gleich
sagen sollen«, antwortete Georg. »Die Sache ist die. Alles fing
damit an, dass in der vorigen Woche einem Jungen ein Füller
gestohlen wurde. Es war ein wertvolles Erbstück mit
Goldfeder.«
Tante Doro schüttelte den Kopf. »Wie ärgerlich.
Aber vielleicht ist das auch nicht unbedingt das richtige
Schreibwerkzeug fürs Schullandheim.«
»Wie dem auch sei«, fuhr Georg fort. »Es ereigneten
sich weitere Diebstähle. Ein Junge vermisste bald darauf seine neue
Taschenlampe, ein weiterer seinen Aquarellkasten, ein dritter seine
Lupe. Bis dahin hatte die Heimleitung die Sache noch damit abgetan,
die Schüler hätten die Dinge womöglich selbst verlegt und wären in
eine Art Hysterie verfallen.«
Tante Doro nickte. »So etwas gibt es in der Tat.
Einer vermisst was, und plötzlich sind alle auf der Suche nach
irgendwas, was sie selbst irgendwohin gesteckt haben und nicht
wieder finden.«
Georg schnippte mit den Fingern. »Aber nun kommt
es. Als dann nämlich sogar einem der Schüler die Geldbörse
entwendet wurde, fühlte sich der Heimleiter genötigt, etwas zu
unternehmen, zumal ihm die anderen Gäste langsam auf die Pelle
rückten.« Georg machte ein ernstes Gesicht. »Und nun ratet, was
geschehen ist.« Aber ohne eine Antwort abzuwarten, erzählte sie
selbst weiter. »Alle Schüler mussten im Speisesaal zusammenkommen,
während sich die Jahrgangssprecher zusammen mit den
Schülersprechern daran machten, die Zimmer aller Schüler zu
durchsuchen.«
Erstaunt zog Tante Doro die Augenbrauen hoch.
»Durften sie das denn so einfach?«
Georg zuckte die Schultern. »Getan haben sie es auf
jeden Fall. Und das Schlimme ist, dass sie das gesamte Diebesgut
unter Richards Sachen gefunden haben. Sogar die Geldbörse -
versteckt im Kleiderschrank und unter dem Bett -, während Richard
nichts ahnend im Speisesaal saß.«
»Wie kann das sein?«, fragte Tante Doro
erschrocken.
»Richard und Julius haben keinen blassen Schimmer,
wie die Sachen dorthin gelangt sein könnten«,
rief Anne. »Allerdings ist es auch nicht üblich, die Zimmer
abzuschließen. Nur die Wertsachen schlie ßen sie immer in eine Lade
vom Schreibtisch oder der Kommode.«
Georg schlug mit der Faust auf den Tisch, dass das
Geschirr klapperte. »Für mich ist die Sache sonnenklar. Da will
einer Richard was anhängen. Die Frage ist, wer und warum.«
Anne nickte eifrig. »Richard hat es doch nicht
nötig zu stehlen. Das würde er niemals tun!«
Ohne die Mädchen zu fragen, gab Tante Doro ihnen
jeder noch ein Stück Pastete und füllte die Gläser auf. »Also, wenn
ich euch irgendwie helfen kann, dann sagt mir bitte Bescheid. Wenn
ich eins nicht ausstehen kann, dann ist es, wenn Menschen ungerecht
behandelt werden. Vielleicht sollte ich mal mit dem Leiter des
Schullandheims reden?«
Georg überlegte einen Moment. »Ich denke, wir
schauen erst einmal, was wir selbst herausfinden. Mit dem
Schullandheimleiter kannst du immer noch reden. Möglicherweise ist
es besser, wenn niemand davon Wind bekommt, dass wir uns
umsehen.«
»Gut, dass du die Verkleidung von diesem
Liefergehilfen
noch hast«, sagte Anne und holte tief Luft. Eigentlich war sie
satt, aber sie wollte nicht unhöflich sein und aß tapfer weiter.
»Braucht er die Sachen gar nicht mehr?«
Georg schüttelte verschmitzt den Kopf. »Dieser
Peter hat zwei Garnituren. Wenn ich die Sachen nicht mehr brauche,
kriegt er sie zurück.«
Anne seufzte. »Armer Richard. Keiner glaubt ihm und
nun hockt er auf dem Zimmer und hat Stubenarrest. So eine
Gemeinheit!«
»Na, na«, wandte Tante Doro ein.
»Nimmst du den Heimleiter jetzt etwa auch noch in
Schutz?«, rief Anne empört.
»Nein, nein«, antwortete die Tante lachend. Sie
legte die Gabel auf den Tellerrand und faltete die Hände. »Aber du
musst auch den Heimleiter verstehen. Für ihn ist Richard ein
Schüler wie jeder andere. Wenn ein Verdacht gegen ihn vorliegt,
dann muss er dem nachgehen. Glaub mir, so ein Schullandheimleiter
hat es auch nicht immer leicht. Seien wir froh, dass er noch nicht
die Polizei eingeschaltet hat.«
Die Mädchen wussten, dass die Tante Recht hatte.
Dennoch spürten sie einen heftigen Wutknoten
im Bauch. Und dagegen galt es, etwas zu unternehmen.
Nachdem sie die Mahlzeit beendet hatten, wollten
die Mädchen der Tante beim Abwasch helfen, aber diese winkte ab und
zwinkerte ihnen zu. »Geht ihr nur raus und genießt eure freien
Tage. Ihr habt sie euch verdient.«
Unterhalb von Tante Doros kleinem Haus plätscherte
ein kleiner Bach. Dorthin zogen sich Georg und Anne zurück.
Georg warf kleine Zweige ins Wasser und sah ihnen
nach, wie sie von der Strömung davongetrieben wurden. »Wir müssen
herauskriegen, ob jemand etwas gegen Richard hat«, sagte sie.
»Vielleicht will sich einer an ihm für irgendetwas rächen.«
Anne verstand nicht, worauf ihre Kusine
hinauswollte. »Was meinst du? Wofür denn rächen?«
Georg kickte ein Steinchen ins Wasser. »Was weiß
ich? Vielleicht ein Mitschüler, dem Richard den ersten Platz beim
100-Meter-Lauf abgeluchst hat, oder der Klassenprimus, dessen
Arbeit diesmal schlechter war als die von Richard.«
»Aber das ist doch kein Grund, jemanden so
heftig zu verleumden!«, protestierte Anne, doch sie wusste, dass
es sehr wohl Menschen gab, die so etwas aus gekränkter Eitelkeit
taten.
Plötzlich drehte sich Georg um. »Anne, ich habe
keine Lust, die Zeit hier zu vertrödeln. Was hältst du davon, wenn
wir dem Schullandheim heute Nacht noch einmal einen Besuch
abstatten?«
Anne riss die Augen auf. »Heute Nacht? Warum denn
das? Nachts kommen wir doch niemals hinein!«
»Abwarten! Vielleicht einfacher als am Tag …«,
entgegnete Georg. »Alles ist besser, als im Bett zu liegen und
deine Brüder ihrem Schicksal zu überlassen. Mein Bauch sagt mir,
dass es gar nicht schaden kann, sich ein bisschen dort
herumzutreiben. Tante Doro darf aber nichts merken.«
Anne seufzte innerlich. Meistens lag Georg mit
ihrem Gespür richtig. Auch wenn es ihr sicher schwer fallen würde,
sich nachts aus dem gemütlichen Bett zu quälen, so hatte Anne doch
durchaus Lust auf ein Abenteuer.
Es war bereits stockfinstere Nacht, als Georg
Anne weckte. Außer dem Klacken des Pendels von Tante Doros
Kuckucksuhr herrschte Stille im Haus. Schnell schlüpften die
Mädchen in ihre Kleider und huschten durch die Hintertür hinaus.
Georg schloß ab und steckte den Schlüssel ein.
»Wo willst du denn hin?«, flüsterte Anne, als Georg
keineswegs den Weg zur Straße nahm.
»Ich habe keine Lust zu laufen«, antwortete Georg
und steuerte auf den kleinen Schuppen hinter dem Haus zu.
»Du willst einfach Tante Doros Fahrrad mopsen?«,
fragte Anne.
»Klar, bis Tante Doro aufwacht, steht es doch
längst wieder an Ort und Stelle.« Georg hielt die Luft an, als die
Tür leise in den Angeln quietschte. Sie drückte Anne ihre
Taschenlampe in die Hand. »Komm, spring auf den Gepäckträger, ich
fahre.«
Was die Mädchen nicht wussten, war, dass Tante Doro
sie lächelnd vom Schlafzimmerfenster aus beobachtete. Sie konnte
die Abenteuerlust der Mädchen gut verstehen und seufzte. Wäre sie
noch jung, wie gern wäre sie mit ihnen auf die nächtliche Tour
gegangen!

Zu Georgs Leidwesen funktionierte der Dynamo nicht
richtig. Anne musste mit der Taschenlampe auf die Straße leuchten.
Trotzdem wäre Georg fast in einer Kurve in den Straßengraben
gefahren. Tim kläffte ärgerlich.
Das letzte Stück mussten sie das Rad schieben, denn
es ging tüchtig bergauf.
Der Innenhof des Schullandheims war hell
erleuchtet.
Wie im Gefängnis, ging es Anne durch den Kopf.
Damit niemand nachts über die Mauer springt.
»Und was machen wir jetzt?«, zischte sie, während
Georg das Rad hinter einen Busch schob.
»Ich weiß nicht«, antwortete Georg. »Warten wir
einfach mal ab.«
»Welches ist denn übrigens das Zimmerfenster von
Richard und Julius?«, fragte Anne. »Kann man es von hier aus
sehen?«
Georg brauchte nicht lange zu suchen. Das Fenster
von Annes Brüdern war das einzige auf dieser Seite des Gebäudes,
aus dem ein Lichtschein drang. »Dort«, sagte Georg und zeigte mit
dem Finger.
Anne schnaufte. »Kein Wunder, dass dort noch Licht
brennt. Richard findet sicher vor lauter Kummer keinen Schlaf und
versucht, zu lesen oder sonstwie die Nacht herumzukriegen.«
Doch Richard versank keineswegs in Selbstmitleid
und Kummer. Nein, seine Verzweiflung war einer gesunden Wut
gewichen. Er war wild entschlossen, demjenigen das Handwerk zu
legen, der ihm so übel mitgespielt hatte. Deshalb hockte er nun mit
seinem älteren Bruder am Schreibtisch und die beiden Jungen machten
sich Notizen. Sie schrieben
einfach alles auf, was ihnen zu der Sache einfiel. Jetzt in der
Nacht brauchten sie wenigstens keine Sorge zu haben, dass Franky
oder ein anderer neugieriger Kerl plötzlich ins Zimmer platzen
würde.
Julius kratzte sich nachdenklich die Schläfe. »Wie
wir es drehen und wenden, ich werde aus der Sache nicht schlau. Mir
fällt niemand ein, der eine solche Wut auf dich haben könnte, dass
er dich dermaßen in die Pfanne haut.«
Richard ging die Notizen noch einmal durch und
tippte mit dem Kugelschreiber darauf. »Was ist mit Tom?«
Julius streckte seinen Rücken. »Du meinst, weil du
ihm die Nummer eins in der Tennismannschaft abgeluchst hast?« Er
schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er so nachtragend ist.
Außerdem hat er beim letzten Turnier sein Match gewonnen und du
nicht. Trotzdem können wir ihm mal auf den Zahn fühlen.«
Ȇberlegen wir mal, wer alles Zugang zu unserem
Zimmer hatte«, erinnerte Richard.
Julius warf sich lachend zurück. »Aber, Richard, da
kannst du doch quasi die ganze Schule aufschreiben!«
Richard mahnte ihn, leise zu sein. »Ja, aber
trotzdem würde hier nicht jeder einfach rein- und rausmarschieren.
Er müsste doch Angst haben, zur Rede gestellt zu werden. Es sei
denn, es ist jemand, der etwas mit uns zu tun hat und der begründen
könnte, warum er in unser Zimmer geht.«
Plötzlich horchte Julius auf. »Was war das?«
Richard hielt die Luft an und flüsterte: »Keine
Ahnung. Ich habe nichts gehört.« Vorsichtshalber knipste er die
Schreibtischlampe aus. »Vielleicht macht die Nachtwache ihre
Runde?«
Julius schüttelte den Kopf. »Nein, die Nachtwache
ist schon durch. Es sei denn, sie machen neuerdings zwei
Runden.«
Richard seufzte. »Wundern würde es mich
nicht.«
Im Dunkeln schlich Julius zur Tür und öffnete sie
einen Spaltbreit. Auf dem Gang war niemand zu sehen. Dennoch war es
ihm, als sei eben noch jemand über den Gang gehuscht. Er machte
Richard ein Zeichen und verschwand Richtung Treppe.
Richard hielt es für schlauer, in seinem Zimmer zu
bleiben. Würde man ihn dabei erwischen, wie er nachts durchs
Schullandheim geisterte, würden sie ihm nur unterstellen, er sei
auf neuer Beutetour.
Durch die Fenster, die zum hell erleuchteten
Innenhof zeigten, drang genug Licht, dass Julius schnellen
Schrittes auf das Treppenhaus zueilen konnte. Dicht an die Wand
gepresst, schlich er hinunter.
Als er das Erdgeschoss erreicht hatte, hörte er
wieder leise Geräusche. Vielleicht war es doch nur die Nachtwache?
Ob es am besten wäre, wieder ins Zimmer zurückzugehen? Doch die
Neugier trieb ihn weiter, und als er die Rückseite des Gebäudes
erreicht hatte, sah er gerade noch, wie die Tür vom
Lieferanteneingang träge ins Schloss fiel.
Julius spürte den Herzschlag bis in die Schläfen.
Er wartete einen Moment, gab demjenigen einen kleinen Vorsprung und
wagte es dann, die Tür erneut vorsichtig zu öffnen und in den
Hinterhof zu spähen. Hier herrschte tiefe Dunkelheit, denn das
Licht im Innenhof drang nicht bis hierher.
Leise trat Julius auf den Hof. Er versäumte nicht,
die Fußmatte in die Tür zu legen, damit sie nicht ins Schloss
fallen konnte.
Den Rücken an die raue Backsteinmauer gepresst,
wagte er sich Schritt für Schritt vor, als er plötzlich hörte, wie
ein Motor gestartet wurde.
Rasch suchte er hinter der Streusandhütte Schutz und wunderte
sich, als auf einmal ein Auto aus einem der großen Schuppen
gefahren kam. Was ihn aber am meisten wunderte, war, dass das Auto
ohne Licht und im Schritttempo fuhr, sodass es beinahe lautlos
dahinrollte. Julius sah ihm noch einen Moment nach. In der
Dunkelheit konnte er das Kennzeichen natürlich nicht
erkennen.
Er hielt es für schlauer, sogleich ins Zimmer
zurückzukehren. Die Fußmatte lag zu seiner Erleichterung noch an
Ort und Stelle. Leise ließ er die Tür ins Schloss schnappen und
wollte gerade den Weg zum Treppenhaus einschlagen, als sich ihm
jemand in den Weg stellte und ihn mit der Taschenlampe
blendete.
»Aha, sieh mal einer an«, hörte er eine
wohlbekannte Stimme. Sie gehörte David, dem Schülersprecher. »Der
liebe Julius. Jetzt wo er Stubenarrest hat, schickt dein Bruder
wohl dich auf Raubzug aus, wie?«
Julius war wie vor den Kopf gestoßen. »Ich… Nein …
Ich …«
David packte ihn am Arm. »Schon gut, mein Lieber.
Du kommst jetzt mit mir.«
Ohne Widerstand ließ Julius sich von dem älteren
Schüler mitziehen. Er verstand die Welt nicht mehr.