1974

Um zwei Uhr morgens herrscht endlich Ruhe in allen Zimmern, alle Mädchen haben das Licht ausgemacht und hängen ihren Gedanken nach, während sie im Halbdunkel auf den Schlaf warten. Einige schmieden Zukunftspläne, andere beschäftigen sich mit der jüngeren oder ferneren Vergangenheit, und sie alle spüren ein Flattern in der Magengrube, eine zitternde Vorfreude auf das, was das Leben in den nächsten Tagen, in den nächsten Monaten für sie bereithalten mag.

Magda, die für gewöhnlich und sehr zum Leidwesen ihrer Freundinnen jederzeit und überall binnen Sekunden einschlafen kann, liegt immer noch wach, doch im Moment beunruhigt sie das nicht. Sie kuschelt sich gemütlich unter der Decke zusammen und lauscht auf Carmens Atemzüge. Die Nacht ist angenehm kühl, und nachdem sie die Prüfungen nun endlich hinter sich hat, fühlt sie sich entspannt, bereit für die Welt, glücklich.

Der Anblick einer Gruppe bunt gekleideter Hippies mit langen Lockenmähnen und Ledersandalen, die sie heute im Hafen von Palma gesehen hat, geht ihr nicht aus dem Sinn. Sie weiß, dass ihre Eltern das niemals gutheißen würden, aber wenn sie an ihr künftiges Leben denkt und ihren Gedanken freien Lauf lässt, wie jetzt, dann stellt sie es sich so vor: eine Folge von sonnigen Tagen ohne feste Zeiten, ohne Verpflichtungen, ohne Pläne, ohne zweckdienliche Projekte oder Ziele, die es zu erreichen gilt. Sie sieht sich in einem dieser Schwärme von Zugvögeln durch die Welt reisen, in den Tag hineinleben, den Sinn des Daseins in der kosmischen Harmonie suchen, in der freien Liebe und im Ausprobieren von allem, was ihr in den siebzehn Jahren ihres Leben versagt geblieben ist, weil es entweder gegen das Gesetz oder Sünde oder unvernünftig ist. Sie hat das Gefühl, aus einer finsteren Höhle zu kommen, bereit, sich vom Licht der offenen Welt blenden zu lassen, und spürt, dass alles da ist und sie nur die Hand auszustrecken braucht. Das Leben ist ein Fest, zu dem sie eingeladen ist. Sie muss sich nur ein Herz fassen und eintreten. Und eben darin besteht das Problem. Sie weiß, welchen Schmerz sie ihren Eltern damit zufügen würde, die sich etwas Besseres für ihre Tochter erhoffen, und fühlt sich nicht imstande, sie so schwer zu enttäuschen. Also wird sie sich mit einem Sommerkurs in England begnügen müssen, einem Monat der Freiheit, um sich auszuleben, und anschließend weiterlernen, auf die Universität gehen, einen Abschluss machen, der ihr erlaubt, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und einen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft einzunehmen, einen netten jungen Mann kennenlernen und heiraten, vorzugsweise ganz in Weiß und in Anwesenheit beider Familien, und nach ein paar Tagen Hochzeitsreise ein geregeltes Leben beginnen, mit einer komplett eingerichteten Wohnung und zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Sie weiß, dass ihre Träume von der Freiheit, vom Kommunenleben, von der freien Liebe als einer dieser sogenannten drifters, wie sie in den Zeitschriften heißen, eben das bleiben werden: Träume. Aber jetzt ist jetzt, und sie sind auf Mallorca, und die Zukunft breitet sich strahlend hell vor ihr aus. Irgendwo gibt es einen Jungen, der auf sie wartet, den Mann ihres Lebens, und während sie versucht, sich diesen Jungen vorzustellen, der irgendwo auf sie wartet, gleitet sie dahin wie auf einer riesigen Rutschbahn und schlummert lächelnd ein.

Auch Carmen im Nachbarbett schläft schon fast. Sie hat eine Weile gewartet, weil sie noch masturbieren wollte und weiß, dass Magda in Sekundenschnelle im Tiefschlaf liegt. Doch diesmal hat ihre Hoffnung sie getrogen. Ihre Freundin hat sich im Bett hin und her gewälzt, gelegentlich einen Seufzer ausgestoßen, und als sie endlich Ruhe gibt, ist auch Carmens Lust verflogen, und sie überlässt sich der Erschöpfung nach der Reise und den Aufregungen des Tages.

Sie hat es den anderen gegenüber nie erwähnt, vermutet aber, dass sie als Einzige das Gefühl entdeckt hat, das man auslösen kann, indem man sich selbst zwischen den Beinen streichelt. Sie würde gern mit einer ihrer Freundinnen darüber sprechen, aber eine innere Stimme sagt ihr, damit würde sie praktisch zugeben, anders zu sein als die anderen, liederlich zu sein. Erst vor Kurzem haben sie sich in Arturos Bar über einige Mädchen unterhalten, die in einem von Nonnen geführten Internat Abitur gemacht haben, und keine hat verstanden, warum man die Schülerinnen dort zwingt, nachts beide Hände auf die Decke zu legen, und sie bestraft, wenn die Nachtwache bemerkt, dass sie sie daruntergesteckt haben. Keine der anderen hat sich diese absurde Maßnahme erklären können, nur sie allein schien zu wissen, was die Nonnen damit verhindern wollen.

Ein Teil ihres Geistes weiß, dass es nichts Schlimmes sein kann, weil es niemandem wehtut und man hinterher ruhig und entspannt ist, aber ein anderer Teil besteht hartnäckig darauf, dass nur ein verdorbenes, abartiges Weibsstück in so etwas Befriedigung findet. Frauen sind von Natur aus gehorsam, demütig und keusch, das hat man ihr von jeher gepredigt, in der Schule, in der Religionsstunde, im nationalpolitischen Unterricht. Und alle, die nicht so sind, sind leichte Mädchen, Flittchen, Abschaum.

Carmen ist weder gehorsam noch demütig, doch bis vor Kurzem zumindest keusch gewesen, und sie ist noch Jungfrau, obwohl die Jungfräulichkeit allmählich auf ihr lastet wie eine nasse Wolldecke, weil sie Männer mag, auch wenn viele von ihnen echte Schweine sind. Sie mag es, wenn Männer sie anschauen, mit ihr scherzen und dabei so glänzende Augen bekommen, dass man ihnen deutlich ansieht, was sie denken, was sie am liebsten tun würden, wenn sie dürften. Sie trägt gern Miniröcke und steigt die Treppe in der Schule hoch, ohne mit beiden Händen den Saum zusammenzuhalten, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hat, weil sie den Jungs eine kleine Freude machen will, wenn diese von unten heraufstarren und glauben, zwischen ihren Schenkeln das Weiß der Unterwäsche blitzen zu sehen.

Oft hat sie Blutergüsse an den Beinen, weil sich ihr Vater, wenn er in Rage gerät, dort weniger zurückhält. Aber das ist nicht weiter schlimm, schließlich spielt sie in der Handballmannschaft, deren Mitglieder meistens überall blaue Flecken haben, weshalb niemand auf die Idee käme, die ihren könnten nicht nur vom Sport stammen. Wenigstens schlägt er weder ihre Schwester noch sie jemals ins Gesicht. Bei ihrer Mutter ist das etwas anderes, aber das geht sie nichts an. Und jetzt wird sie eine Woche lang von niemandem Prügel beziehen. Sie wird nicht aufpassen müssen, was sie sagt, was sie tut, was sie anzieht, wie viel Lidschatten sie sich erlauben kann. Morgen treffen sie sich mit den Jungs zu einem gemeinsamen Ausflug über die Insel, und abends werden sie in eine richtige Diskothek gehen, voller Leute aus aller Herren Länder, mit der besten englischen Musik und blonden, hochgewachsenen Ausländern wie denen, die sie heute im Speisesaal gesehen hat.

Carmen streckt sich im Bett aus, rollt sich auf die Seite, umfasst mit der rechten Hand ihre linke Brust und schläft ein.

Marga und Candela im oberen Zimmer schlafen bereits. Sie haben noch eine Weile auf der Terrasse verbracht, ein paar Zigaretten geraucht und den Schein des zunehmenden Mondes auf dem Meer betrachtet. Fast trunken vor Glück, weil sie zusammen sind, weil sie in einem traumhaften Zimmer mit eigener Terrasse miteinander allein sein können, haben sie dem Raunen der Palmen und dem Plätschern der Wellen gegen den Felsvorsprung zu ihrer Linken gelauscht. Sie haben sich erwachsen, mondän, frei gefühlt, als ob sie jetzt, nachdem sie viele Jahre lang nur Töchter und Enkelinnen waren, endlich sie selbst sein dürften, in einer ihrer neuen Eigenständigkeit angemessenen Umgebung.

Candela hat Marga den Arm um die Taille gelegt und es gewagt, ihren Hals, ihren Nacken sanft zu küssen, während Marga wohlige Schauder überrieselten. Doch Candela ist vorsichtig und zärtlich gewesen; sie hat nichts überstürzt, denn sie weiß, dass sie noch viele Tage vor sich haben und Marga Zeit braucht.

Also haben sie sich die Zähne geputzt, kichernd die Nachthemden übergestreift, das Licht gelöscht, gute Nacht gesagt und, jede von ihrem Bett aus, den bebenden weichen Schatten an der Zimmerdecke zugesehen.

Reme, allein in ihrem Zimmer, ist sofort eingeschlafen, so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Nie hat sie eine wirklich gute Freundin gehabt oder einer festen Clique angehört wie die anderen, aber sie ist nicht neidisch auf das Lachen und Lärmen aus den umliegenden Zimmern, denn sie hat bekommen, was sie wollte: ein eigenes Zimmer, nachdem sie ihres ein Leben lang mit ihren drei Schwestern hat teilen müssen. Jetzt ist sie achtzehn, und da weder sicher ist, ob man ihr das Stipendium gewährt, noch, ob ihre Eltern sie in Valencia studieren lassen, muss sie diese Woche der Unabhängigkeit nutzen, um zu erreichen, wovon sie schon so lange träumt: endlich ihre verdammte Unschuld zu verlieren. Das plant sie schon, seitdem die Abiturfahrt im Gespräch ist, und jetzt, da sie ein Einzelzimmer ergattert hat, gedenkt sie die Gelegenheit beim Schopf zu fassen, sobald sie einen Jungen findet, der ihr attraktiv erscheint, älter ist als sie und Ausländer. Letzteres ist wichtig, weil sie sich vorerst noch nicht binden will. Es erscheint ihr albern, mit dem Sex zu warten, bis sie sich verliebt. Sie ist schon lange der Überzeugung, dass Sex nicht unbedingt mit Liebe zu tun hat, trotz allem, was Don Javier und sämtliche Priester sagen mögen, die ihm als Religionslehrer vorangegangen sind. Im Lauf der Jahre hat man ihnen beigebracht, Gleichungen zu lösen, perspektivisch zu zeichnen, Griechisch und Latein zu übersetzen, tausend Dinge, die für das Leben vollkommen nutzlos sind. Man hat sie sogar Reliefstickerei gelehrt, wie man nahrhafte und preisgünstige Menüs für eine achtköpfige Familie zusammenstellt, wie man einen Säugling abstillt – bescheuert, die Prüfung im Abstillen und in der Zubereitung von Babybrei –, wie man die Gotik vom Barock unterscheidet …, aber niemals irgendetwas, das damit zu tun gehabt hätte, wie man ein befriedigendes Sexualleben führt, Schwangerschaften verhütet, selbstständige Entscheidungen in so fundamentalen Angelegenheiten wie Sex und Liebe trifft. Wie kann man nur so blöd sein und heiraten, ohne die geringste Erfahrung zu haben? Nachdem sie jahrelang zur Schule gegangen sind und sich immer wieder anhören mussten, wie wichtig Bildung ist, wenn man ein vollwertiger und eigenständiger Mensch sein will, wie kann man ihnen dann noch weismachen wollen, die Jungfräulichkeit sei der kostbarste Besitz einer Frau? Schließlich bedeutet Jungfräulichkeit doch nichts weiter als Ahnungslosigkeit und Unerfahrenheit.

Aus diesem Grund hat sie beschlossen, dass es damit ein Ende haben muss, und zwar sofort, in dieser Woche auf Mallorca. Dann wird man weitersehen.

Sie ist sicher, dass die anderen sie trotz ihres Einserdurchschnitts für ein bisschen doof halten; viel Beachtung haben sie ihr nie geschenkt. Zwar gehen sie ihr nicht aus dem Weg wie denen aus Novelda, aber sie nehmen sie auch nicht in ihre Clique auf. Sie ist nichts Besonderes; ihr Vater betreibt eine Bar, ihre Mutter ist Friseuse und steht in der Küche, sobald sie aus dem Salon kommt, also muss Reme zwangsläufig doof sein, ein Mädchen aus der Unterschicht, das in beengten Verhältnissen lebt, in einer Wohnung ohne Bücher, ohne Zeitschriften, ohne Schallplatten. Bei ihr zu Hause haben sie kein Geld für Französischstunden oder Tennis oder sonst irgendetwas, also muss sie in die Stadtbücherei gehen und sich anstrengen, um gute Noten zu haben, denn nur, wenn sie es schafft, das Stipendium zu bekommen, wird sie studieren können. Alle halten sie für eine Streberin und meinen, ihre Noten seien nicht ihrer Intelligenz, sondern ihrer Büffelei zu verdanken, aber das schert sie nicht. Sie hat längst eingesehen, dass sie von den Leuten, die sie seit Jahren umgeben, nicht viel erwarten kann, und somit setzt sie alle Hoffnung auf die Zukunft, auf die Universität, auf den Zeitpunkt, zu dem sie den Ort verlassen wird, wo jeder weiß, aus was für einer Familie sie stammt. Doch bevor sie frei sein kann, muss sie sich selbst beweisen, dass sie dazu auch fähig ist, dass sie imstande ist, eine weitreichende Entscheidung zu fällen, ohne diese mit irgendjemandem besprochen zu haben. Und genau das hat sie vor.

Die Einzige, die noch nicht im Bett liegt, ist Mati. Um zwei Uhr morgens hat sie ihren Kontrollgang beendet, wie sie es schmunzelnd nennt, sitzt verborgen im Schatten auf einem Plastikstuhl in dem kleinen Garten vor ihrem Zimmer und raucht eine filterlose Celtas. Stünde jemand an dem Geländer über der Steilküste, die dort senkrecht zu der felsigen Bucht abfällt, sähe er höchstens das Aufblinken der Glut, wenn sie an der Zigarette zieht.

Mati raucht stillvergnügt, während ihre Linke das Heft streichelt, ihren wertvollsten Besitz. Nicht dass sie es als Gedächtnisstütze gebraucht hätte, vielmehr hält sie mit diesem Heft eine Waffe in der Hand, von der alle, die es sehen und wiedererkennen, in Angst und Schrecken versetzt werden. Es ist wie das Brevier eines mittelalterlichen Alchemisten: Nicht alle Rezepturen darin sind gefährlich, manche sind wirkungslos oder nicht einmal erprobt, dennoch weiß jeder, dass es voller Formeln ist, die wirken könnten und in diesem Fall großen Schaden anrichten würden.

Sie liebt dieses furchtsame Flackern in den Augen ihrer Mitschülerinnen. Es gibt ihr ein Gefühl der Überlegenheit, das sie gegen nichts auf der Welt eintauschen würde.

Schon allein der Gedanke, dass sie Dinge in dieses Heft schreibt, mit denen sie andere bloßstellen könnte, lässt sie alle mehr oder weniger vor ihr kuschen. Wie viele Prüfungen sie bestanden hat, weil sie bei der einen oder anderen abschreiben durfte! Wie oft sie den Unterricht geschwänzt hat, in der Gewissheit, dass jemand für sie lügen und behaupten würde, sie fühle sich nicht wohl oder müsse zum Arzt oder zu einer Beerdigung! Wie viele kleine Geschenke sie angehäuft hat, nur indem sie beiläufig bemerkte, dieser Kugelschreiber oder jener Schal gefalle ihr! Aber jetzt, da sie das Abitur gepackt hat, erscheint ihr das alles nichtig im Vergleich zu dem, was vor ihr liegt. Sie will nach Valencia. Sie muss nach Valencia. Sie kann sich nicht vorstellen, in ihrem Dorf zu bleiben oder in Alicante im Fotostudio ihres Onkels zu arbeiten oder sich eine Stelle als Bürokraft zu suchen, womit sie niemals reich würde, während alle anderen studieren und zu bedeutenden Frauen mit einem Beruf, einem Diplom und einem guten Gehalt würden.

Jahrelang wollten ihre Eltern von einem Universitätsstudium nichts wissen, aber mittlerweile hat sie sie schon halb überredet, indem sie angekündigt hat, sie würde sich in Valencia Arbeit suchen, um das Studium zu finanzieren, und Candela, die Geld hat, würde ihr bei der Anschaffung von Büchern und Kleinigkeiten, die sie sonst noch benötigt, unter die Arme greifen.

Aber Candela ist schwierig. Kämpferisch wie sie selbst, dickköpfig, gelegentlich sogar aufbrausend. Aber eben darum gefällt sie ihr, weil sie beinhart ist und Widerstand bietet und es sich herrlich anfühlt, wenn es ihr gelingt, sie zu besiegen. Und jetzt verliebt sich die dumme Ziege in das Musterkind Marga.

Natürlich wird genau das nun ihr Schwachpunkt sein, und diesen gedenkt Mati weidlich auszunutzen. »Wenn du nicht erreichen kannst, dass dein Volk dich liebt, sorge dafür, dass es dich fürchtet.« Das ist das Einzige, was sie aus dem Geschichtsunterricht behalten hat. Machiavelli. Der Fürst. Wie recht Machiavelli hatte! Furcht ist viel mächtiger als Liebe, diese idiotische Empfindung, die die Menschen weich macht. Aber zum Glück nicht nur weich, sondern auch leicht beherrschbar, und sie hält viele Fäden in der Hand; nicht alle, aber viele. Und wenn sie es bisher nicht geschafft hat, innerhalb der Clique Unfrieden zu stiften, weil die sich täglich sehen und ständig zusammenhängen, wird bestimmt alles besser, sobald sie in Valencia sind: Sie werden an unterschiedlichen Fakultäten studieren, neue Freunde und Kommilitonen haben, sich nicht mehr jeden Tag sehen; dann wird es wesentlich leichter sein, sie zu manipulieren, ihnen etwas einzuflüstern, sich einzuschmeicheln …, Zwietracht zu säen, wie ihre Mutter sagt.

Nach und nach werden sie sich voneinander entfernen; sie wird sie voneinander entfernen und aus jeder Einzelnen ein wenig herausholen, genug, um davon zu leben, sich den einen oder anderen Schnickschnack zu gönnen und zu spüren, wie ihre Macht wächst. Sie wird Psychologie studieren und wissenschaftliche Methoden erlernen, um ihr angeborenes Talent zu entfalten. Die Zukunft lässt sich gut an, wenn sie ihre Trümpfe richtig ausspielt, doch dafür ist es unerlässlich, viel zu wissen, viel vom Leben der anderen zu wissen, von den banalsten Dingen bis zu den peinlichsten. Man muss immer hellwach sein, viele Gespräche belauschen, in die Fenster spähen, die Opfer beschatten, sich im rechten Moment verstecken und später hervortreten. »Wissen ist Macht.« »Gebt mir einen festen Punkt, und ich werde die Welt aus den Angeln heben.«

Nur war es manchmal schwer, diesen Punkt zu finden. Bei Candela war er klar: Ihre Familie durfte keinesfalls erfahren, dass sie eine Lesbe war. Bei Marga würde er, wenn sich ihre Vermutungen bestätigten, auch sehr bald klar sein. Carmens Vater war ein Säufer, was er ziemlich gut überspielte, und prügelte seine Frau und seine Töchter, auch wenn das bisher noch niemandem aufgefallen war. Ana war eine Rote, wahrscheinlich Kommunistin, sie hatte beobachtet, wie sie spätabends in eine Fabrik ging, wo sich ihre Gesinnungsgenossen versammelten, und ihre Mutter hatte einen Liebhaber, mit dem sie sich in einer Wohnung in Petrel traf, genau wie Doña Bárbara. So war sie zu ihrer Eins in Literatur gekommen, ohne eine Abschlussarbeit abliefern zu müssen. Gegen Magda hatte sie noch nichts in der Hand, allerdings hatte sie einmal Zigarettenpapier in ihrer Handtasche gesehen und nahm an, dass sie nicht nur Tabak rauchte. Tere war ihr ein Rätsel. Sie war seltsam, sehr seltsam, aber noch hatte sie nicht herausgefunden, warum, und das ärgerte sie, denn ihrer Erfahrung nach hatte jeder Mensch ein Geheimnis, dessen er sich schämte, selbst wenn es so schlimm gar nicht war. Jetzt musste sie sich auf Tere konzentrieren – ohne jedoch die anderen aus den Augen zu verlieren –, um spitzzukriegen, was sie bekümmerte. Anfangs hatte sie gedacht, Tere hätte vielleicht etwas mit Don Javier, weil sie die beiden nach sechs Uhr abends aus dem Religionsseminar kommen sah, als schon längst niemand mehr in der Schule war, aber sie hatte die beiden ein paarmal verfolgt und einsehen müssen, dass von dieser Seite nichts zu holen war. Solange sie nicht herausfand, was Tere zu verbergen hatte, würde sie nicht ruhig schlafen können, aber wenigstens schlief sie allein und konnte in Ruhe nachdenken.

Und Sole …

Mati streckt die Arme über den Kopf, lächelt dem Mond zu, der noch zwischen den Palmen hervorlugt und gleich hinter dem Horizont verschwunden sein wird. Mit Sole hat sie das große Los gezogen, wenngleich sie sich noch nicht ganz im Klaren ist, wann und wie sie es angehen wird, um ihr nicht nur zu sagen, was sie über sie weiß, sondern ihr auch gleich den schlagenden Beweis dafür zu liefern.

Sorgsam drückt sie die Zigarettenkippe aus, lächelt wieder und legt sich ins Bett, sicher, dass alle anderen schlafen und sie im Augenblick nichts verpassen wird. Wenn die Mädels den ganzen Tag zusammenstecken und sich unbeaufsichtigt fühlen, wird es in den nächsten Tagen gewiss eine Menge zu notieren geben.