Dezember 1973
Als Carlos Montero nach Hause kommt, wartet Ana, die Freundin seiner Tochter, im Treppenhaus auf Marga. Er hat dieses Mädchen immer gemocht, das jetzt schon fast eine Frau ist und bezaubernd aussieht mit den dunklen Locken, die sich unter der roten Wollmütze hervorringeln, und dem überlangen Schal in der gleichen Farbe.
»Na, Mädels? Auf Männerfang?«
»Ach, Papa!« Marga, die die Treppe heruntergerannt kommt, wobei sie wie immer zwei Stufen auf einmal nimmt, ist ernst. »Ana und ich und César und Magda gehen auf die Demonstration.«
Der Vater schluckt.
»Was für eine Demonstration?«
»Du kriegst aber auch gar nichts mit. Die Demonstration gegen die Todesstrafe für Puig Antich, den Studenten, der angeblich den Guardia Civil ermordet hat.«
»Das ist illegal.«
»Natürlich ist das illegal! Aber es ist auch illegal, ihn für etwas hinzurichten, das er nicht getan hat.«
»Was weißt denn du, ob er es getan hat oder nicht?«
»Das spielt doch keine Rolle. Niemand hat das Recht, einen anderen Menschen zu töten.«
»Und der Staat am allerwenigsten«, bekräftigt Ana.
»Kommt überhaupt nicht infrage. Du wirst das Haus nicht verlassen, Marga.«
»Das kannst du mir nicht verbieten.«
»Selbstverständlich kann ich es dir verbieten. Ich bin dein Vater, und du bist minderjährig. Wenn ihr schon so gut Bescheid wisst, dann werdet ihr auch darüber informiert sein, was in den Großstädten passiert. Die Polizei hat Anweisung, die Demonstranten zu stoppen. Habt ihr denn keine Angst vor den ›Grauen‹? Angeblich hat man welche von außerhalb geholt, weil die hier die Leute nicht kennen und niemanden schonen.«
»Natürlich haben wir Angst vor ihnen«, sagt Ana. »Deshalb schicken sie sie ja los, damit die Leute Schiss bekommen und nicht teilnehmen, aber es ist unsere moralische Pflicht.«
»Sprüche, Sprüche! Ihr immer mit euren großen Sprüchen, aber die ›Grauen‹ schlagen erst zu und fragen dann. Ihr habt das ganze Leben noch vor euch. Wartet mit dem Protestieren, bis es wirklich etwas bringt. Was hat dieser junge Mann oder sonst jemand davon, wenn sie euch mit einem Knüppel den Schädel einschlagen?«
»Man muss einen Rechtsstaat fordern. Wenn wir viele sind und laut schreien, müssen sie uns anhören.«
Carlos verzieht das Gesicht.
»Was seid ihr für Kindsköpfe. Los! Rauf mit euch, da könnt ihr fernsehen oder Schallplatten hören!«
»Es ist uns ernst, Papa. Unsere Freunde warten auf uns.«
»Freunde? Welche Freunde? Sole macht da bestimmt nicht mit und Candela und Tere auch nicht.«
»Nein, natürlich nicht«, sagt Ana und bemüht sich um einen sachlichen Tonfall. »Tere ist die Tochter eines Guardia Civil, und die beiden anderen stammen aus Familien von Rechten. Sie haben noch kein politisches Bewusstsein. Aber Magda kommt sehr wohl mit.«
»Weil sie eine Rote ist«, entfährt es Carlos, der zwar stolz auf seine republikanischen Eltern ist, aber nicht zulassen will, dass seine Tochter sich in Gefahr begibt.
»Ja«, sagt Ana, »wie ich.«
»Was um alles in der Welt weißt du denn schon von Roten und Blauen? Wann bist du geboren, 1957, 58?
»56, genau wie Marga. Ich werde achtzehn. Ich bin alt genug, eigene Entscheidungen zu treffen und mein Möglichstes dazu beizutragen, dass es in diesem Land wieder anständig zugeht.«
Carlos schnaubt.
»Über dich kann ich natürlich nicht bestimmen, aber über meine Tochter schon. Los, geh nach oben!«
Marga sieht ihren Vater fest an, und er begreift, dass sie nicht ohne Weiteres nachgeben wird.
»Du kannst ja mitkommen, wenn du willst«, sagt seine Tochter herausfordernd.
»Ich will aber nicht.«
»Als Carrero Blanco, Francos rechte Hand, umgebracht wurde, hast du Freudentänze aufgeführt. Allerdings nur daheim im Kreis der Familie, schon klar. Meinst du nicht, es ist an der Zeit, auf die Straße zu gehen und etwas zu unternehmen?«
Carlos möchte diese Dinge in Anas Gegenwart nicht diskutieren, also beschränkt er sich darauf, den Kopf zu schütteln.
»Ich frage mich, woher du das hast, Marga.«
»Auch unsere Familie war immer rot, oder etwa nicht? Wir sind immer stolz darauf gewesen, gegen Franco zu sein. Jetzt haben wir Gelegenheit, es zu beweisen.«
Carlos setzt sich auf die zweite Treppenstufe und blickt von unten zu ihnen auf: zwei mutige Mädchen, blutjung, naiv, die keine Ahnung haben, was ihnen alles blühen kann.
»Ist euch denn nicht klar, dass es nicht nur Prügel setzt, wenn ihr beim Demonstrieren erwischt werdet, sondern dass ihr damit auch polizeilich registriert seid? Womöglich lässt euch die Universität dann gar nicht mehr rein.«
»Franco lebt nicht ewig«, sagt Ana sehr ernst.
»Da bin ich mir manchmal nicht so sicher.« Carlos fährt sich mit der Hand über die Stirn. Er fühlt sich plötzlich erschöpft. Einerseits befriedigt es ihn, seine Tochter zu einem so unerschrockenen Mädchen erzogen zu haben, andererseits hat er Angst um sie. Seine Erinnerungen, die eigenen und die seiner Eltern, sind ihm noch sehr gegenwärtig.
Man hört beschwingte Schritte die Treppe herunterkommen, und Tony steht vor ihnen; er trägt Turnschuhe und zieht den Reißverschluss seines Anoraks hoch.
»Geht ihr auch hin?« Offenbar hat er seinen Vater nicht bemerkt. »Los, wir kommen zu spät! Hallo, Papa!« Auf seinem Gesicht erscheint ein breites Lächeln, als sei er angenehm überrascht, ihn dort zu sehen. »Kommst du mit?«
Carlos erhebt sich schwerfällig, und sein Körper fühlt sich mit einem Mal an wie aus Blei.
»Pass auf sie auf, mein Sohn. Kommt nicht so spät zurück.«
Er wendet sich ab und steigt die Treppe hinauf, ohne sich umzusehen.
»Feigling!«, faucht Marga leise.
»Mit seinem Gewissen muss jeder selbst klarkommen«, sagt Ana und öffnet die Haustür. »Ganz abgesehen davon ist das sowieso eine Generation von Duckmäusern, Marga, sie können nichts dafür, die Angst steckt ihnen in den Knochen. Denk nicht mehr dran.«
»Habt ihr Schuhe an, in denen ihr rennen könnt?«, fragt Tony. »Wenn wir getrennt werden, treffen wir uns nachher in Arturos Bar.«
Die Nacht ist kalt, dennoch hat die Atmosphäre etwas Aufgeheiztes. Es ist, als spränge jedes Mal ein elektrischer Funke über, wenn ihre Blicke sich mit denen anderer junger Leute kreuzen, die in dieselbe Richtung gehen, zur Plaza Castelar, wo sich alle bei der Statue des früheren Politikers treffen.
Auf der Treppe am Eingang des kleinen Parks warten César, Magda und zwei weitere Schulkameraden auf sie. Alle tragen Mützen bis über die Augenbrauen, und einige Demonstranten haben sogar die Kapuzen übers Gesicht gezogen, damit man sie nicht gleich erkennt, wenn die Polizei kreuz und quer in die Menge fotografiert.
Untergehakt marschieren sie inmitten anderer Gruppen, die in immer geschlosseneren Reihen zum Denkmal strömen. Dort gibt es weder Reden noch Kundgebungen; sie wollen nichts weiter, als sich dort versammeln, Transparente hochhalten, auf denen sie Amnestie für Puig Antich fordern, und geordnet zum Rathaus ziehen oder zumindest so weit, wie die Polizei es ihnen gestattet. Alle wissen, dass die Regierung mit gewohnter Brutalität einschreiten wird, damit niemand glaubt, sie sei am Ende, und deshalb ist es ihnen wichtig, ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen, ihre Ablehnung staatlicher Gewalttätigkeit.
Kaum einer der Anwesenden hat schon einmal an einer öffentlichen Demonstration teilgenommen, obschon viele der Gymnasiasten Sitzstreiks veranstaltet haben, mit denen nie viel erreicht wurde. Und das Wissen, unter polizeilicher Beobachtung zu stehen, während die Beamten in ihren gepanzerten Autos auf was auch immer warten, ist zwar einschüchternd, löst aber auch eine angenehme Erregung aus, eine kribbelnde Angst, die ihnen das Gefühl gibt, Teil von etwas zu sein, für das sie nicht einmal einen Namen haben, etwas, das sich manchmal in den schlichten Begriff »Freiheit« fassen lässt.
»Falls wir uns aus den Augen verlieren, in Arturos Bar«, flüstert Ana ihren Gefährten zu.
Plötzlich steigt ein Mann auf den Sockel des Castelar-Denkmals und umreißt in wenigen Sätzen das Begehren der Demonstranten: Amnestie für Salvador Puig Antich zu verlangen und deutlich zu machen, dass das Volk nicht länger bereit ist, die kriminellen Übergriffe einer veralteten Regierung widerspruchslos hinzunehmen.
Hier und da erhebt sich eine Stimme über den Applaus, Rufe nach »Amnestie und Freiheit«, in die der Chor nach und nach einfällt, bis die beiden Worte zu einem einzigen Brüllen angeschwollen sind.
Ana, Marga und Magda gehen Arm in Arm und schauen sich ab und zu an, um ihre eigene Freude auch in den Augen der anderen zu erkennen, die Freude, auf einem öffentlichen Platz herauszuschreien, was sie bisher immer nur leise im Familienkreis oder in ihrem Zimmer ausgesprochen haben, wenn sie den Liedern von Joan Baez und Violeta Parra lauschten.
Der Park ist voller Menschen, nicht nur junge, auch viele ältere sind da, die die schreckliche Nachkriegszeit und die Unterdrückung durch die Franco-Diktatur am eigenen Leib erfahren haben und jetzt, umringt von der neuen Generation, wieder den Mut finden, für ihre Überzeugungen einzutreten.
Es ist ein magischer Moment, in dem sich alle, ihre Freundinnen und Schulkameraden und sogar die Unbekannten um sie herum, mit einem Mal verbunden fühlen, solidarisch, Teil eines so großen und starken Ganzen, dass es ihnen den Atem raubt und zugleich Flügel verleiht.
Dann schlägt die Polizei los.
Unversehens sind sie alle verstreut, laufen kopflos durch die kreischende Menge, versuchen, den Knüppeln auszuweichen, die von überallher auf sie niederregnen, springen über Demonstranten hinweg, die in die Blumenrabatten und auf die Treppen gestürzt sind, suchen einen Ausweg aus diesem Park, der ihnen allen seit ihrer Kindheit vertraut ist, wo sie auf den Steinbänken gesessen und tonnenweise Sonnenblumenkerne verspeist haben, und der jetzt zu einer Mausefalle geworden ist.
Beschimpfungen, Drohungen, Schmerzensschreie ertönen, und alle hasten, stolpern und rempeln, ohne einander zu erkennen. Marga versteckt sich für einen Moment hinter dem Stamm einer Pinie, um sich einen Überblick zu verschaffen, in welcher Richtung die Fluchtchancen am größten sind, oder zumindest ihren Bruder oder einen ihrer Freunde zu entdecken, aber überall sind nur Anoraks und Kapuzen und tief in die Stirn gezogene Mützen und graue Uniformen und Helme und Knüppel, als gäbe es in diesem Getümmel keine menschlichen Wesen mehr, sondern nur noch die Uniformen der einen und der anderen Seite.
Sie sieht eine Flut von Menschen die Straße hinauflaufen, hofft, in der Masse Schutz zu finden, schließt sich ihnen an und rennt verzweifelt weiter, während sie insgeheim dankbar ist, in einem Ort zu leben, dessen Park nicht von einem Eisengitter, sondern lediglich von einem kaum kniehohen Mäuerchen umgeben ist. Statt also weiter zu dem Tor zu fliehen, das hinaus zur Calle Martínez Anido führt, schlüpft sie hinter ein paar Büsche und hastet bergan auf die Inmaculada-Kirche zu.
Von der anderen Straßenseite aus beobachtet sie ein Polizist, und ihr scheint, als zögere er einen Augenblick und überlege, ob er sie verfolgen soll oder nicht, aber sie hetzt weiter, ohne sich umzublicken, und eine Minute später hat sie das Getöse hinter sich gelassen und hört nur noch das Geräusch ihrer Schuhe auf dem Pflaster. Die Straße ist verwaist, trotzdem biegt sie noch um mehrere Ecken, um eventuelle Verfolger abzuschütteln, obwohl sie weiß, dass sie allein ist, dass der Polizist es nicht für nötig gehalten hat, sich zu verausgaben, indem er einem Schulmädchen nachläuft.
Sie drückt sich in einen Hauseingang, um zu verschnaufen, weil sie vor lauter Seitenstechen kaum noch Luft bekommt. Dann reckt sie vorsichtig den Kopf, vergewissert sich, dass die Straße immer noch leer ist, stopft ihre Mütze in die Tasche und macht sich langsam auf den Weg zu Arturos Bar, die wie ein orangefarbener Stern am Ende der Straße leuchtet.
Wenige Minuten später sind sie alle dort, schweißgebadet, erschöpft von dem Wettlauf, glücklich. Niemand hat Blutergüsse, niemand ist festgenommen worden. Sie umarmen sich, den Tränen nahe, lächelnd, und spüren die Kraft, die von ihren verschwitzten Körpern ausgeht.
Im hinteren Teil des Lokals, unter dem Schwarzweißfoto einer brasilianischen Stadt, sitzt Mati neben Nieves, die auch aus Novelda ist, und blickt ihnen mit ihrem schiefen Grinsen entgegen. Sie hat einen Kugelschreiber in der Hand und führt auf ihrem Spiralblock eine Liste, unentwegt lächelnd und ohne einen Hehl daraus zu machen, was sie notiert: die Namen all derer, die sich an der Demonstration beteiligt haben.