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Wie paralysiert stand Jan am Ende des Ganges der
Intensivstation und starrte aus dem Fenster. Neben ihm brummte die
Kühlung eines Getränkeautomaten, und etwas weiter entfernt war
leise Musik zu hören, die das
Transistorradio im Stationszimmer von sich gab. Irgendein
Klavierkonzert, wahrscheinlich Edvard Grieg. Draußen senkte sich
der Abend auf die Klinik herab.
Seit Beginn der Notoperation mussten Stunden
vergangen sein. Vier, fünf Stunden. Jan hatte jegliches Zeitgefühl
verloren. Er sah wieder die hölzerne Statue vor sich, die der Mann
von der Spurensicherung in der blutverschmierten Tüte getragen
hatte - den abgebrochenen Arm, der eine geschnitzte Laterne
hochgehalten hatte.
Wer tat so etwas?
Wer schlug auf einen alten Mann ein, um ihn dann
sterbend in seinem eigenen Blut liegenzulassen?
Warum?
»Herr Kollege?«
Jan schrak zusammen. Benommen sah er sich um. Ein
kleiner, dicklicher Mann mit südasiatischem Aussehen musterte ihn
besorgt durch eine runde Brille. Er hatte die Hände in den Taschen
seines Arztkittels vergraben und sah erschöpft aus.
»Mein Name ist Sikandar Mehra. Ich habe Herrn
Marenburg operiert.«
»Wie geht es ihm?« Jan kam seine eigene Stimme
fremd vor. Rissig, belegt und leise.
»Wir mussten ihn ins künstliche Koma versetzen«,
sagte Dr. Mehra. »Er hat eine schwere Schädelfraktur erlitten.
Inwieweit das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wurde, können wir
noch nicht genau sagen. Wir werden einige neurologische Tests
durchführen müssen. Aber damit will ich noch warten.«
»Heißt das, er kommt durch?«
Der Arzt schürzte die Lippen. »Das hängt davon ab,
ob er diese Nacht übersteht. Herr Marenburg hat sehr viel Blut
verloren. Wie wir festgestellt haben, muss er vor
dem Vorfall eine größere Menge blutverdünnender Schmerzmittel auf
Acetylsalicylsäurebasis eingenommen haben. Aspirin, schätze ich.
Wir haben ihm eine Transfusion verabreicht und seinen Kreislauf
stabilisieren können. Jetzt heißt es beten, dass der Organismus
nicht zusammenbricht.«
Noch immer hatte Jan einen Kloß im Hals. Es war die
Angst, die ihn seit seiner Jugend beherrschte - die Angst, wieder
einen nahestehenden Menschen zu verlieren.
»Wie stehen seine Chancen?«
»Wissen Sie«, Dr. Mehra lächelte Jan an, wobei eine
Reihe blendend weißer Zähne zum Vorschein kam, »ich glaube an die
Macht der positiven Lebenseinstellung. Wenn wir in Harmonie mit
unserem Leben stehen, dann meint es das Schicksal gut mit uns.
Deshalb ziehe ich es vor, der guten körperlichen Konstitution Ihres
Freundes zu vertrauen. Versprechen kann und will ich nichts, aber
wenn er heute Nacht den Kampf gewinnt, hat er eine Chance.«
Jan hätte das Lächeln des Arztes gern erwidert,
aber es ging nicht. Glauben, noch dazu an das Positive, fiel
verdammt schwer, wenn man sich ständig auf der dunklen Seite des
Lebens wiederfand. Trotzdem spürte er eine Art wohltuender Wärme in
den Worten des Arztes, und dafür war er dankbar.
»Ihr Freund hatte im Übrigen Glück im Unglück, wenn
ich das so sagen darf«, fuhr Dr. Mehra fort. »Der Gegenstand, mit
dem man ihn niedergeschlagen hat, muss eine Spitze, einen
länglichen Fortsatz gehabt haben …«
Jan nickte. »Ja, der Arm einer Holzstatue.«
»Das dachte ich mir«, sagte Sikandar Mehra. »Dieser
Arm hat sein Ziel buchstäblich um Haaresbreite verfehlt
und ist stattdessen seitlich am Schädel vorbeigestreift. Dadurch
wurde Herrn Marenburg zwar die Kopfschwarte durchtrennt und das
rechte Ohr fast abgerissen, aber wir haben das wieder hinbekommen.
Ihm werden nicht mehr als ein paar Narben davon bleiben.«
Jan fröstelte, als würde man ihm Eiswasser über den
Rücken gießen. »Kann ich zu ihm?«
»Ihr Freund braucht jetzt vor allem Ruhe.« Dr.
Mehra griff nach Jans Handgelenk und drückte es freundschaftlich.
»Und Sie auch, wie es aussieht. Kommen Sie morgen wieder. Bis dahin
sollten Sie auf die Macht des positiven Denkens vertrauen. Es kann
mehr bewegen, als Sie ihm zugestehen würden, glauben Sie
mir.«
Er ließ Jans Hand los und wandte sich zum Gehen.
Beim Aufzug angekommen, sah er sich noch einmal zu Jan um. »Sagen
Sie, Herr Kollege, mag Herr Marenburg klassische Musik?«
»Ich weiß nicht«, sagte Jan erstaunt. »Schätze
schon. Warum fragen Sie?«
»Ich werde ihm etwas Mozart vorspielen lassen.
Wussten Sie, dass Mozarts Musik eine heilende Wirkung hat?«
»Ich habe davon gehört.«
»Es gibt Studien, die das belegen. Versuchen Sie es
einmal bei Ihren eigenen Patienten.«
Jan zuckte mit den Schultern. »Werde ich vielleicht
ausprobieren.«
Wieder kamen Mehras strahlende Zähne zum Vorschein,
und in seinen Mundwinkeln bildeten sich zwei tiefe Grübchen. »Gut.
Man sollte nichts unversucht lassen.«
Dann verschwand er im Aufzug.
Jan nahm den Weg durch das Treppenhaus. Er folgte
der Beschilderung zum Ausgang der Stadtklinik, die ihn durch einen
Glasgang entlang des T-förmigen Gebäudes führte.
Als er an der neurologischen Intensivabteilung
vorbeikam, blieb er überrascht stehen. Er sah noch einmal durch die
Glastür, um sicherzugehen, dass er sich nicht getäuscht
hatte.
Es war tatsächlich Hubert Amstner. Er kam aus einem
der Krankenzimmer und schloss vorsichtig die Tür hinter sich, ehe
er die Station auf der gegenüberliegenden Seite verließ.
Jan sah ihm verdutzt nach. Bei wem machte der
menschenscheue Amstner einen Krankenbesuch? Neugierig betrat Jan
die Station und ging zu der Tür, aus der Amstner gekommen war.
Erstaunt las er den Namen auf dem Türschild: WAGNER, ALFRED.
Was hatte Amstner mit Alfred zu tun?
Jan folgte ihm durch den gegenüberliegenden Ausgang
und hatte ihn im Eingangsbereich der Klinik eingeholt. Amstner
stand am Kiosk und verstaute gerade zwei Flachmänner in seinen
Manteltaschen, als er Jan sah.
»Ah, der junge Forstner«, sagte Amstner. »Ich
dachte, du bist Seelenklempner?«
»Und ich dachte, Sie meiden die
Öffentlichkeit.«
»Meistens tue ich das auch.«
»Können wir reden?«
»Sicher.« Amstner nickte gleichgültig. »Aber
draußen. Hier drin ist mir zu viel los.«
Jan folgte ihm vor das Gebäude. Amstner ging zu dem
Fahrradunterstand, der sich neben dem Eingang befand. Die
Plastikwände schirmten den eisigen Wind ein wenig ab. Dafür kam nun
der Körpergeruch des Alten deutlicher zur Geltung.
»Auch einen?« Amstner hielt Jan eine kleine Flasche
Weinbrand entgegen.
Jan schüttelte den Kopf. »Was haben Sie mit Alfred
Wagner zu tun?«
»Dasselbe wie du, Junge«, sagte Amstner und leerte
mit einem Schluck die Hälfte der kleinen Flasche. »Ich kenne ihn
seit seiner Kindheit.« Er schraubte die Flasche zu, bevor er
weitersprach. »Ist’ne Schande, dass die den armen Jungen nicht
einfach sterben lassen. In dem Zustand ist das doch kein Leben
mehr.« Er hob den Kopf und sah Jan aus geröteten Augen an. »Ist ein
guter Junge, der Alfred. Er kann ja nichts dafür, dass er verrückt
ist. Das hat er von seinem Vater. Der alte Hartmut hat gesponnen,
so lange ich denken kann. Soll ein hundertfünfzigprozentiger Nazi
gewesen sein, hat es geheißen. Dann, als der Krieg verloren war,
haben ihn die Russen kassiert. Hartmut war jahrelang in irgendeinem
Arbeitslager. Als er dann zurückkam, war er vollends durch den
Wind. Hatte ständig Angst, dass die Russen kommen und ihn
zurückholen würden. Ich seh ihn noch im Supermarkt stehen - damals
gab es hier nur einen -, wie er vom Jüngsten Gericht gepredigt hat.
Ständig war er im Irrenhaus, und der arme Alfred war ganz auf sich
allein gestellt.«
»Und Sie haben sich um ihn gekümmert?«
Amstner zuckte mit den Schultern. »Hat ja sonst
keiner getan. Als Hartmut sein gesamtes Geld für diese blödsinnigen
Konserven verpulvert hatte, hat sich der ganze Ort darüber das Maul
zerrissen. Ausgelacht hat man den alten Spinner. Aber an seinen
Sohn hat keiner gedacht. Auf dem haben alle nur rumgehackt.« Er
öffnete wieder die Flasche und trank sie leer. »Und dann, als
Hartmut sich aufgeknüpft hatte, haben sie den Jungen
ins Heim geschickt. Das hat seiner Seele dann den Rest
gegeben.«
»Hatten Sie später wieder Kontakt?«
Amstner nickte und schob die leere Flasche in seine
Manteltasche. »Irgendwann stand er wieder vor meiner Tür. Völlig
pleite, keine Bleibe, keine Arbeit. Hat mir mit den Hasen geholfen.
Mit Tieren konnte er gut umgehen. Manchmal hat er für uns
Kartoffeln vom Feld geklaut oder Tannenzapfen und Holz aus dem Wald
geholt, damit wir heizen konnten. Der Wald war seine Heimat. Da hat
er sich oft tagelang rumgetrieben. Manchmal wochenlang. Bis er dann
irgendwann wieder vor meiner Tür stand. So ging das über all die
Jahre. Tja, und jetzt …«
Amstner holte die zweite Flasche heraus, besah sie
eine Weile und schob sie dann wieder in die Manteltasche.
»Alfred hat mir von Sven erzählt«, sagte Jan. »Er
behauptete, Sven sei jetzt ein … Unterirdischer. Was kann er damit
gemeint haben?«
Grinsend schüttelte Amstner den Kopf. »So gern ich
den Jungen auch habe, aber er hat in seinem kurzen Leben eine
Riesenmenge Unsinn verzapft. Mir hat er hinter die Hasenställe
gekackt, nur weil er geglaubt hat, Hitler wohne in meinem
Spülkasten. Und das war noch eine harmlose Sache. Das Geschwätz von
einem Verrückten eben.«
»Er hat Ihnen gegenüber also nie die Unterirdischen
erwähnt?«
Amstner stieß ein heißeres Lachen aus. Seine Atem
stieg in einer dicken weißen Wolke vor ihm auf. »Und ob er das hat.
Die Unterirdischen, die Außerirdischen, Pater Pio, die Madonna mit
den Klauenhänden, die hat er alle
irgendwo gesehen oder gehört. Ganz ohne Grund war er ja nicht
ständig bei euch in der Klapsmühle.«
Er wühlte einen Schlüsselbund aus seiner
abgewetzten Hose und sperrte das dicke Schloss an seinem Fahrrad
auf.
»Das ist das Erbe der Väter«, sagte er spöttisch
und schob sein Fahrrad auf den Gehweg. »Die einen werden zum
Seelenklempner, und die anderen landen in der Klapse.«
»Nicht alles, was ein psychisch Kranker sagt, muss
wahnhaft sein«, widersprach ihm Jan. »Manchmal findet sich in den
Wahnvorstellungen auch ein Quäntchen Wahrheit.«
»Wenn du meinst.« Schwerfällig stieg der Alte auf
den Sattel. »Aber pass auf, dass du das richtige Quäntchen
erwischst. Sonst kannst du dich bald selbst bei deinen Verrückten
einsperren und den Schlüssel wegwerfen.«
Keuchend trat Hubert Amstner in die Pedale. Jan sah
ihm nach, wie er mit wehendem Mantel in der Dunkelheit
verschwand.