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Obwohl es erst kurz nach sechs Uhr war, hätte man
meinen können, es sei bereits tiefste Nacht. Die Wegbeleuchtung auf
dem Klinikgelände mühte sich ab, die Schwärze zu
durchbrechen.
Doch mehr noch als die Dunkelheit war es die
Stille, die Jan bedrückte, während er den Weg zu Station 12
einschlug. Er durchsuchte seine Erinnerung nach einer Melodie, die
die Stille aus seinem Kopf vertreiben könnte. Diesmal fiel es ihm
schwer, denn statt einer akustischen Erinnerung stiegen nur Bilder
in ihm auf. Bilder einer sterbenden jungen Frau, deren
eingedrücktes Gesicht von dicken Schneeflocken benetzt wurde.
Und dann kam ihm doch ein Ton in den Sinn - auch
wenn es sich dabei nicht um Musik handelte. Vielmehr
war es eine Stimme, die sich durch eine Kehle voller Blut quälte,
um einen Laut zu formen.
Gäoh!
Weder das reale Knirschen seiner Schritte noch das
Ächzen des Windes in den Bäumen konnte den imaginären Laut in
seinem Kopf übertönen, und Jan fragte sich, ob dieser Laut nicht
sogar noch schlimmer als die Stille war.
Gääääoooooh!
Das Heulen eines Rettungswagens riss ihn in die
Realität zurück. Nur wenige hundert Meter Luftlinie von Jan
entfernt eilte ein Wagen der Notambulanz des benachbarten
Stadtklinikums zu einem Einsatz.
Noch bevor es gleich darauf wieder still wurde,
hatte Jan sein Ziel erreicht. Seufzend blieb er vor dem
Stationsgebäude stehen und besah sich das Haus mit der Nummer 12.
Ein hässlicher zweistöckiger Betonklotz, nichts im Vergleich zu der
Privatstation, die sich gleich daneben befand.
Für einen Moment überkam ihn der Drang, zu seinem
Handy zu greifen, Martinas Nummer zu wählen und ihr zu sagen, dass
sie Recht gehabt hatte. Jetzt ist der Moment gekommen,
wollte er ihr sagen. Ich habe es endlich kapiert. Ich werde mir
helfen lassen. Auch wenn ich skeptisch bin. Aber immerhin
unternehme ich jetzt etwas - etwas gegen diese unerträgliche
Stille, die wie ein lautloses Echo in mir schwingt und mich nachts
aufschreien lässt.
Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen, es
tatsächlich zu tun. Vielleicht hätte sie sich sogar für ihn
gefreut, dass er schließlich doch noch zur Einsicht gekommen war.
Aber er hätte doch nur wieder eine alte Wunde aufgerissen. Eine
Wunde, von der er hoffte, dass
sie bei Martina längst zu heilen begonnen hatte. Nein, Martina
hatte ebenso das Recht auf einen Neuanfang wie er selbst. Nach
allem, was sie mit ihm durchgemacht hatte, verdiente sie es, in
Ruhe gelassen zu werden. Auch wenn er sich das immer wieder neu ins
Bewusstsein rufen musste.
Jan musste klingeln, da sein Schlüssel für Station
12 nicht passte. Während er wartete, sah er im Fenster der
Privatstation eine Frau mit kurzen dunklen Haaren, die ihm
zuwinkte. Sie hielt etwas im Arm, das Jan für einen Teddybären
hielt. Jan winkte zurück.
Dann ertönte der Summton der Schließanlage, und
eine Schwester bat ihn, einzutreten.
»Sie sind der neue Kollege von Dr. Rauh, nicht
wahr?«, sagte sie, während sie ihn durch den Flur der geschlossenen
Frauenstation führte.
Jan gab Fleischers offizielle Version zum Besten,
nach der er bei Rauh für eine Weile hospitieren würde. Die
Schwester schien jedoch nur mäßig interessiert. Als sie die Mitte
des Ganges erreicht hatten, forderte sie Jan auf, kurz zu warten.
Sie werde Dr. Rauh Bescheid geben. Dann verschwand sie im
Stationszimmer.
Jan betrachtete die hinter Plastik gerahmten Bilder
an der Wand: Poster aus einem Naturmagazin. Die Niagarafälle, eine
neuseeländische Regenwaldidylle und der Ayers Rock in Australien.
Orte, die so manchem Patienten einer geschlossenen
Psychiatriestation mindestens ebenso fremdartig und unerreichbar
erscheinen mussten wie das Alltagsleben eines Durchschnittsbürgers
außerhalb der Klinikmauern.
»He, wer bist du?«
Eine Frauenstimme riss ihn aus seinen Gedanken. Jan
sah sich um und erschrak. Die Stimme hätte gut zu einem
jungen hübschen Mädchen gepasst, doch die Frau, die da in
Filzpantoffeln auf ihn zugeschlurft kam, war weder jung noch
hübsch. Der Großteil ihres Kopfes war kahlrasiert und durch einen
monströsen Blutschwamm bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Jan hatte
schon von solchen Gefäßmissbildungen gelesen, die vor allem bei
Frauen in Erscheinung traten. Gewaltige Hämangiome, eine
Folgeerscheinung von Blutgerinnungsstörungen, auch als das
Kasabach-Merritt-Syndrom bekannt. Jan hatte bislang nur Abbildungen
in Fachbüchern gesehen, doch die Wirklichkeit sah um einiges
schlimmer aus. Er musste an den Engländer Joseph Merrick denken,
der Ende des neunzehnten Jahrhunderts als der »Elefantenmensch«
traurige Berühmtheit erlangt hatte.
Die riesige Missbildung der Frau hatte eine
schwammartige Oberfläche, die an einigen Stellen durch blasenartige
Gebilde unterbrochen wurde. Sie nahm nahezu die Hälfte ihres
Gesichts ein und verzog den Mund der Frau zu einem unnatürlichen
Dauergrinsen.
»Glotz nicht«, brummte die Frau. »Sag mir lieber,
wer du bist.«
Jan spürte die Hitze in seinem Gesicht. Es war ihm
peinlich, sie so anzustarren. Er räusperte sich und versuchte, ihr
direkt in die Augen zu schauen.
»Ich bin Dr. Forstner von Station 9.«
»Ein Doktor also«, sagte die Frau und blieb dicht
vor ihm stehen. Sie war einen guten Kopf kleiner als Jan und musste
zu ihm aufsehen. Jan glaubte Schokolade an ihr zu riechen.
»Aber das ist nicht das Einzige, was du
bist.«
»Ach nein?«
»Nein.«
Sie schüttelte den monströsen Schädel, und für
einen
Augenblick zuckte Jan der aberwitzige Gedanke durch den Kopf, dass
er gleich ein gluckerndes Geräusch aus dem blutgefüllten Gebilde
würde hören können - was freilich absoluter Unfug war.
»Du bist einer wie viele hier. Jemand wie ich. Ein
Gefangener, der gleichzeitig sein eigenes Gefängnis ist.« Sie
zeigte auf ihren Kopf. »Da oben steckst du drin. Das sieht man
sofort.«
Jan fröstelte. Er rief sich ins Bewusstsein, dass
er mit einer Patientin auf einer geschlossenen Abteilung sprach,
einer Frau, die sicherlich nicht ohne Grund hier war. Womöglich
hatte das Hämangiom auch ihr Gehirn befallen - das war sogar sehr
wahrscheinlich, da man es ihr andernfalls längst entfernt hätte -,
und wenn dem so war, litt diese Frau unter psychischen Störungen.
Doch ihre Worte trafen ihn an seiner verwundbarsten Stelle.
Jan konnte nicht genau sagen, ob das von ihrer
Entstellung verursachte Dauergrinsen nun breiter geworden war, aber
er war sich ziemlich sicher, in den Augen dieser Frau eine Art
Zufriedenheit zu erkennen.
Sie weiß, dass sie richtig liegt, fuhr es
ihm durch den Kopf.
Doch noch bevor er in der Lage war, sich von Jan
Forstner, dem Mann mit dem Problem, in Dr. Jan Forstner, den
Facharzt für Psychiatrie, zurückzuverwandeln, fuhr die Frau fort.
»Ich bin schon weiter als du«, sagte sie und strich sanft mit der
Kuppe ihres Zeigefingers über das violette Hautgebilde. »Ich bin
dabei, aus meinem Gefängnis da oben auszubrechen. Die schlechten
Gedanken kommen aus mir heraus, und wenn alle draußen sind, wird
alles von mir abfallen. Dann bin ich frei.«
Nun war sich Jan sicher, dass sie ihn in der Tat
anlächelte.
»Du solltest Jesus um deine Freiheit bitten, dann
wird er auch dich segnen. So, wie er mich gesegnet hat.«
Damit ließ sie ihn stehen und zog von dannen.
»Hat Sibylle Sie belästigt?«
Jan sah zu der Schwester, die in der Tür des
Stationszimmers stand. Sie musste die Szene beobachtet haben.
»Im Gegenteil«, sagte Jan. »Es war eine
interessante Begegnung.«
»Dann bin ich beruhigt. Wissen Sie, seit dem
Einbruch vor vier Wochen ist die Ärmste völlig durcheinander und
redet viel wirres Zeug.«
»Hier ist eingebrochen worden?«
»Unglaublich, oder?« Die Schwester nickte und
senkte die Stimme. »Ein Patient von der Männerstation gegenüber.
Hat sich den Schlüsselbund eines Pflegers geklaut und ist dann
nachts zu uns herüber. Ob Sie’s glauben oder nicht, der Kerl wollte
hier Unterwäsche klauen. Aus der Schmutzwäsche! Stellen Sie
sich das nur vor. Sibylle hat ihn dabei entdeckt, und jetzt hat sie
Angst, er könnte wiederkommen und ihr etwas antun.«
»Und?«, fragte Jan. »Ist ihre Sorge
berechtigt?«
»I wo«, winkte die Schwester ab. »Den haben sie auf
Haus 9 gebracht, in die Geschlossene.« Sie zeigte auf die Glastür
zum Treppenhaus. »Aber jetzt sollten Sie zu Dr. Rauh gehen. Er
wartet schon auf Sie.«
Bevor Jan den Gang zum Untergeschoss betrat, sah er
sich noch einmal nach der Tür um, durch die Sibylle gegangen war.
Dort stand sie und spähte hinter dem Türrahmen zu ihm
herüber.
Ich bin schon weiter als du, hörte er sie
wieder. Ich bin dabei, aus meinem Gefängnis da oben
auszubrechen.
Und dann?, dachte Jan. Was wird sein,
wenn du es geschafft hast? Was wird dich draußen
erwarten?
Und wieder wurde das entstellte Grinsen dieser Frau
breiter.
Wart’s ab, schien dieses Grinsen zu
antworten. Wart’s einfach ab. Du wirst dich wundern.
Wenig später saß Jan in dem ungewöhnlichsten
Therapieraum, den er je gesehen hatte. Der Fußboden war mit rotem
Teppich ausgelegt, und auch die Wände waren in tiefem Rot gehalten.
Ein satter Farbton, von dem etwas Besänftigendes, aber gleichzeitig
Beengendes ausging.
Die hinter Deckenblenden verborgenen Leuchtkörper
verströmten warmes, weiches Licht, so dass man glauben konnte,
Wände und Decke seien mit Samt bezogen. Der Raum wirkte aber nicht
nur warm, er war es auch, und auch die Luftfeuchtigkeit schien
höher als im übrigen Gebäude.
Den Mittelpunkt bildete ein niedriger Tisch aus
dunklem Holz, der von einer Liege, einem Lehnsessel und einem
schlichten Stuhl umstellt war. Als weiteres Möbelstück stand eine
kleine Kommode an der Wand. Darauf waren ein Wasserkrug, eine
Thermoskanne und mehrere Tassen und Gläser in schnurgerader Linie
aufgereiht. Dem dezent-fruchtigen Aroma im Raum nach zu schließen,
vermutete Jan, dass die Thermoskanne Tee enthielt.
Abgesehen von der Kommode und den beiden dunklen
Holztüren waren die Wände frei. Es gab kein Fenster, keine Bilder,
nur eine größere Topfpflanze neben der Eingangstür.
Jan hatte den Sessel ausgewählt, woraufhin Rauh auf
dem Stuhl Platz genommen hatte, locker und entspannt, als säße er
bei sich im Wohnzimmer. Heute trug er einen beigefarbenen
Designerpullover und eine Freizeithose im selben Farbton.
»Dieser Raum«, sagte Rauh, nachdem er Jan Zeit für
einen ausgiebigen Rundumblick gelassen hatte, »dieser Raum ist das
Ergebnis jahrelanger Forschungsarbeit. Er ist so konzipiert, dass
er in uns Assoziationen mit den ersten Eindrücken unseres irdischen
Daseins weckt. Der Farbton der Wände gleicht dem des Uterus, ebenso
die Temperierung und auch das leise Geräusch im Hintergrund, das
Sie vielleicht noch gar nicht bewusst wahrgenommen haben.«
Er verstummte kurz und bot Jan Gelegenheit, in die
vermeintliche Stille des Raumes hineinzulauschen. Tatsächlich
vernahm Jan nun ein Geräusch. Hätte ihn Rauh nicht darauf
hingewiesen, wäre es ihm sicherlich nicht aufgefallen. Ein
rhythmisches Pochen wie von einem schlagenden Herzen.
»Ich bin beeindruckt.«
»Das freut mich«, sagte Rauh und schlug die Beine
übereinander. »Vor allem, da ein Großteil dieser Idee, wie Sie
wissen werden, auf Ihren Vater zurückgeht.«
»Trotzdem will ich Ihnen nichts vormachen«,
entgegnete Jan. »Im Gegensatz zu meinem Vater stehe ich der Hypnose
im Allgemeinen und solchen Suggestionen im Besonderen skeptisch
gegenüber. Um es vorsichtig auszudrücken. Natürlich gibt es
genügend Belege für deren Wirksamkeit, aber für mich hat das alles
auch einen unangenehmen Beigeschmack.«
Jan erwartete, der Forscher würde nun zu einer
feurigen Verteidigungsrede ansetzen und ihn mit Zahlen und Fakten
aus einschlägigen Publikationen konfrontieren. Doch Rauh nickte nur
und lächelte verständig.
»Sie sorgen sich um Ihren freien Willen«, sagte er
gelassen. »Mein lieber Jan, damit stehen Sie nicht allein. Fast
jeder, der zu mir kommt, äußert diese Angst.«
»Nun, immerhin handelt es sich um Beeinflussung,
oder nicht?«
»In gewisser Weise ja, aber leider vermitteln uns
die Medien ein völlig falsches Bild der Hypnose. Man lässt die
Leute glauben, sie würden jeglicher Selbstkontrolle beraubt, sie
würden womöglich das willenlose Opfer in einer Art Show.
Therapeutische Hypnose hat jedoch nichts mit Show zu tun. Ich werde
Sie weder dazu bringen, als gackerndes Huhn durch den Raum zu
laufen, noch werde ich Ihnen geheime Befehle eintrichtern, an die
Sie sich danach nicht mehr erinnern können.«
Er beugte sich zu Jan, und sein Gesicht wurde
ernst. »Das ist alles Mumpitz. Auch werde ich Ihre Trance nicht mit
einem Fingerschnippen auflösen. Das wäre unter Umständen sogar
gefährlich, da die Gefahr eines Kreislaufkollapses besteht. Nein,
Jan, alles, was wir tun werden, ist, Ihre Barrieren zu beseitigen,
damit Sie einen ungestörten Ausflug in Ihr Innerstes unternehmen
können. Sie werden auf Entdeckungsreise gehen, wie ein Detektiv
Ihre Vergangenheit erforschen und sie in klaren Bildern vor sich
sehen. So, wie sie tatsächlich gewesen ist, nicht so, wie
Sie sie erinnern. Denn Erinnerungen sind trügerisch.«
Rauh ließ sich wieder in die Lehne zurücksinken.
»Dabei werden Sie nichts tun, was Sie nicht auch im Wachzustand tun
würden. Und während alldem bin ich an Ihrer Seite, um Sie sofort
zurückzuholen, wenn ich den Eindruck habe, dass es zu viel für Sie
wird.«
Jan rieb sich unschlüssig die Hände. Noch immer
sträubte sich alles in ihm, sich auf dieses Experiment einzulassen.
Ihm machte der Rollentausch zu schaffen, der ihn, der sonst den
Platz des Therapeuten einnahm, nun zum Patienten werden ließ. Er
fühlte sich ausgeliefert.
Was würde geschehen, wenn Rauh tatsächlich Erfolg hatte? Mehr als
dreiundzwanzig Jahre hatte Jan sich abgemüht, die Geister der
Vergangenheit hinter Schloss und Riegel zu halten. Immer wieder
hatten sie versucht, sich aus ihrem Verlies zu befreien, und bei
seiner Begegnung mit Laszinski war es ihnen sogar kurzzeitig
gelungen.
Was, wenn Rauh die Verliestür ganz bewusst
aufstieß? Was, wenn all die schlimmen Dinge wieder auf Jan
losgelassen würden?
Was, wenn sie mich wie eine wild gewordene
Büffelherde niedertrampeln?
»Ich weiß nicht, ob ich dieses Wagnis wirklich
eingehen will«, sagte er schließlich. »Im Geiste bin ich unzählige
Male zu den Ereignissen von damals zurückgekehrt, aber das Ergebnis
war immer dasselbe: Ich werde nie die Antwort auf meine Fragen
bekommen.«
»Und?« Rauh legte den Kopf schief. »Stellt Sie
dieses Ergebnis zufrieden?«
Jan schlug die Augen nieder. Du hast heute Nacht
schon wieder geschrien.
»Nein. Aber ich denke, ich muss lernen, mich damit
abzufinden.«
»Das ist eine Möglichkeit«, entgegnete Rauh. »Aber
vielleicht haben Sie bisher nur den falschen Weg gewählt, um die
Antworten zu finden? Eine Reise in die Vergangenheit mittels
Hypnotherapie ist von einer völlig anderen Qualität. Die Trance
ermöglicht es, all die Schutzmechanismen außer Kraft zu setzen, die
uns einen direkten Blick auf belastende Ereignisse verwehren. Die
Hauptannahme der Hypnotherapie lautet, dass der Klient bereits
genug Informationen zur Lösung seines Problems in sich trägt. Die
Hypnose setzt diese Lösungsmöglichkeiten
frei und ist deshalb nicht selten der beste Weg zu einem schnellen
therapeutischen Erfolg.« Rauh sah Jan herausfordernd an. »Also, was
meinen Sie? Wollen Sie dem Ganzen nicht wenigstens mal eine Chance
geben?«
Dass er es allein nicht schaffen würde, war Jan
inzwischen klar. Und wenn er diese Gelegenheit nicht beim Schopfe
packte, würde er sich später nur Vorwürfe machen. Dafür kannte er
sich selbst zu gut.
Alles, was er tun musste, war, diese Furcht vor dem
Kontrollverlust über Bord zu werfen. Rauh war bei ihm und wusste,
was er tat. Er musste ihm einfach vertrauen.
»Also schön«, sagte Jan. »Versuchen wir’s. Aber
wehe, Sie bringen mich zum Gackern.«
Rauh lachte und stand auf. »Sie werden nur gackern,
wenn Ihnen selbst danach zumute ist.«
Der Therapeut ging zu der Kommode und entnahm ihr
vier Bronzeschalen. Er erklärte, dass es sich um tibetische
Klangschalen handelte, und platzierte sie an den Ecken des Tischs.
Dann brachte er sie mit einem Klöppel zum Schwingen.
»Jeder Hypnotiseur hat seine eigene Methode«,
meinte er, »und ich finde, dieser Klang ist ein guter Wegbereiter
für eine Trance.«
Jan folgte Rauhs Instruktionen. Er machte es sich
im Sessel bequem, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die
Schwingungen der Klangschalen. Zwei hohe Obertöne schwebten über
einem tiefen, gleichmäßigen Brummen.
»Lassen Sie sich von diesen Tönen tragen«, hörte er
Rauhs Stimme. Sie war irgendwo neben oder hinter ihm, doch wie aus
weiter Ferne.
»Atmen Sie ruhig und gleichmäßig, und stellen Sie
sich nun bitte Folgendes vor: Sie sitzen mitten in einem großen
Kino.«
Jan stellte es sich vor, und es fiel ihm nicht
schwer. Während seiner Jugend war er gern und häufig ins Kino
gegangen. Also stellte er sich den Fahlenberger Filmpalast vor. So,
wie es damals dort ausgesehen hatte. Er sah wieder die altmodische
Tapete mit dem knalligen Siebzigerjahremuster aus orangefarbenen
und braunen Streifen oberhalb der dunklen Holztäfelung, und
plötzlich waren da auch wieder die orangefarbenen Plastikleuchten
an der Wand.
Das Kino war bis auf den letzten Platz gefüllt.
Noch war es hell, und alles wartete gespannt auf die Vorstellung.
Es roch nach Popcorn, und jemand hinter Jan raschelte mit einer
Tüte.
»Sie sind allein in diesem Kino«, fuhr Rauhs Stimme
fort.
Augenblicklich waren die Leute um Jan herum
verschwunden. Nicht einmal der Popcorngeruch war geblieben. Rauh
sprach weiter, doch obwohl Jan ihn noch irgendwo in seiner Nähe
hören konnte, verstand er ihn nicht. Er war jetzt ganz in seinem
Gedächtniskino, wo gleich die Vorstellung beginnen würde.
Um ihn herum gingen die Lichter aus, und nur noch
der rote Vorhang war zu sehen. Es war ein Samtvorhang. Ein sehr
schwerer Samtvorhang. So schwer wie Jans Augenlider. Sie fühlten
sich wie aus Blei an, und jeglicher Versuch, sie zu heben, war
vergeblich. Aber das war auch nicht wichtig, nur dieser Vorhang vor
ihm war noch wichtig. Behäbig glitt er auseinander und gab eine
grellweiße Leinwand frei.
Die Leinwand wuchs. Sie wurde größer und größer
und immer noch größer, bis sie Jans gesamtes Gesichtsfeld einnahm.
Dann begann sie zu flackern und zeigte ein Bild, das zunächst
verschwommen und dann immer deutlicher wurde.
Und dann sah Jan sich selbst. Er war der
Hauptdarsteller. Jan Forstner an dem Tag, nach dem nichts mehr so
sein sollte wie früher.