1
Dreiundzwanzig Jahre später
Die Stille in dem großen Büro war unerträglich. Nur das Heulen des Novemberwinds war von jenseits des großen Doppelfensters zu hören. Frost und Schnee verheißend, pfiff er durch das Parkgelände der Waldklinik, fegte die letzten Blätter von den Bäumen und zerrte an den Fensterläden des Altbaus.
Jan Forstner bemühte sich, seine Unruhe zu verbergen - dieses schleichende Unbehagen, das ihn stets befiel, wenn es um ihn herum so still wurde, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
Stille rief schlimme Erinnerungen hervor, ganz gleich, wie sehr sich Jan dagegen sträubte. Wenn es still war, kamen Bilder in ihm hoch, die ihn schaudern ließen.
Nacht. Schnee. Der menschenleere Park …
Wäre er jetzt zu Hause oder mit dem Auto unterwegs gewesen, hätte er das Radio eingeschaltet. Irgendeinen Sender. Hauptsache Stimmen und Musik, die der Stille ein Ende setzten.
Doch hier, in Prof. Dr. Raimund Fleischers Büro, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf einen Trick zurückzugreifen, der sich in solchen Situationen schon mehrmals bewährt hatte. Jan rief sich eine eingängige Melodie in Erinnerung - die nächstbeste, die ihm in den Sinn kam. Der Trick bestand darin, sich ganz und gar auf die Musik zu konzentrieren, bis er glaubte, sie tatsächlich im Raum zu hören. Diesmal war es »Clocks«, ein Stück von Coldplay, das im Radio gelaufen war, als Jan auf den Besucherparkplatz des Verwaltungsgebäudes gefahren war. Das Ablenkungsmanöver gelang leichter als gedacht. Die sich ständig wiederholenden Klavierakkorde und der stampfende Rhythmus hallten in Jans Kopf nach, und die Erinnerungen verschwanden.
Fleischer schien von alldem nichts mitzubekommen. Mit entrücktem Gesichtsausdruck saß der leitende ärztliche Direktor in seinem Ledersessel und studierte Jans Unterlagen, als wollte er jedes Detail darin auswendig lernen. Ein Anblick, der Jan an seinen Vater erinnerte, wenn er spätabends in seinem Arbeitszimmer gesessen, Akten durchgeblättert und Berichte diktiert hatte.
Wenn man erwachsen ist, erscheint einem vieles kleiner als in Kindheitserinnerungen, doch Fleischer bildete für Jan eine Ausnahme. Noch immer war der Professor für ihn ein Hüne. Der graue Kaschmirpullover spannte ein wenig an den breiten Schultern und verriet einen durchtrainierten Körper. Anders als die meisten Professoren, die Jan bisher kennengelernt hatte, schien Fleischer viel Wert auf Sport und eine ausgewogene Ernährung zu legen. Der Psychiater hatte die fünfzig längst überschritten, wirkte aber entschieden jünger. Sicherlich lag dies auch an seinem dichten graumelierten Haar, das er mit Frisiercreme zu bändigen versuchte. Mit seinen markanten Gesichtszügen, den breiten Wangenknochen, der Denkerfalte zwischen den buschigen Brauen und der großen Lesebrille erinnerte er Jan an Gregory Peck als Atticus Finch in dem Filmklassiker Wer die Nachtigall stört. Im Fall einer Neuverfilmung hätte Fleischer sicherlich beste Chancen auf die Hauptrolle gehabt.
Jan ließ den Blick durch das geräumige Büro wandern. In die Wand zur Rechten war ein Bücherregal eingelassen, das von oben bis unten mit medizinischer Fachliteratur und einigen Jahrgängen der Psychiatrischen Praxis gefüllt war. Die gegenüberliegende Seite des Raums nahm ein polierter Besprechungstisch ein, auf dem eine voluminöse Vase mit frischen Schnittblumen thronte. Die Wand dahinter zierte ein großformatiges abstraktes Gemälde, in dem Gelb- und Rottöne dominierten. Daneben hingen mehrere gerahmte Urkunden und Fotos.
Die meisten dieser Fotos zeigten Fleischer bei feierlichen Anlässen und Kongressen. Ganz unten hing eine deutlich ältere Aufnahme, auf der eine Gruppe junger Menschen dem Betrachter entgegenstrahlte. Jeder von ihnen hatte den Ausdruck im Gesicht, der typisch ist für Schüler auf Abschlussfotos - Erleichterung und Stolz, es geschafft zu haben, und Neugier auf das, was die Zukunft bringen wird. Jan konnte Fleischer sofort in der Gruppe ausmachen. Er überragte die Mitschüler in seiner Reihe um mindestens eine Kopflänge. Schon damals trug er sein dichtes Haar streng frisiert, nur seine Statur war um einiges hagerer als heute.
Am äußeren Rand der kleinen Galerie fanden sich zwei Familienfotos, die in einem Doppelrahmen gefasst waren. Auf dem älteren spielten zwei kleine Mädchen im Sand, während sich das Elternpaar in Liegestühlen sonnte und dem unsichtbaren Fotografen zuwinkte. Auf dem anderen Foto nahmen zwei hübsche junge Frauen ihren Vater in die Mitte und legten lachend ihre Köpfe an seine Brust.
»Mein ganzer Stolz«, sagte Fleischer, und erst jetzt merkte Jan, dass der Professor ihn beobachtet hatte. »Die ältere ist Livia. Ihre Schwester haben wir nach ihrer Großmutter benannt. Annabelle. Sie wird uns demnächst selbst zu Großeltern machen.«
Jan erwiderte sein Lächeln. »Aus Kindern werden Leute.«
Ein besserer Kommentar fiel ihm in diesem Augenblick nicht ein. Für Smalltalk war er viel zu aufgeregt, denn wie auch immer das Ergebnis dieser Unterhaltung ausfiel, es würde über Jans weiteren Werdegang entscheiden.
Er hatte sich schon mit dem Gedanken abgefunden gehabt, nie wieder zu praktizieren, als er plötzlich vor zwei Wochen Fleischers Einladung im Briefkasten fand. Zum ersten Mal schöpfte er wieder Hoffnung. Natürlich war ihm klar, dass die Einladung noch keine Zusage war, aber nach all den Absagen, die Jan in den letzten Monaten erhalten hatte, war dieses Vorstellungsgespräch zumindest eine Chance - und es war fraglich, ob er noch eine weitere erhalten würde. Nicht nach dem, was geschehen war.
»Wohl wahr. Aus Kindern werden Leute, und aus den Eltern werden alte Leute. Tja.«
Fleischer seufzte und sah ein wenig wehmütig drein. Dann legte er Jans Bewerbungsmappe vor sich auf den Tisch und nickte anerkennend.
»Und wie ich hier sehe, Jan, ist aus Ihnen auch etwas geworden. Hervorragendes Abitur, Studium der Medizin in Heidelberg, mehrere Assistenzstellen bei namhaften Kollegen und ein exzellenter Abschluss Ihrer Facharztausbildung. Noch dazu an einer der forensischen Einrichtungen, an denen einem die Arbeit ein ziemlich gutes Nervenkostüm abverlangt. Alle Achtung, Bernhard wäre stolz auf Sie.«
»Das Gebiet hat mich schon während meines Studiums interessiert«, warf Jan fast schon entschuldigend ein. Das Lob machte ihn verlegen.
»Triebtäter?« Fleischer hob die Brauen und nahm seine Lesebrille ab. »Kein einfacher Bereich, beileibe nicht. Umso beeindruckter bin ich von Ihrer Dissertation. Summa cum laude. Da waren Sie besser als ich. Wenn ich richtig informiert bin, wird das von Ihnen entwickelte Instrument zur Typisierung pädophiler Straftäter inzwischen an mehreren Institutionen angewandt.«
»An zwei, um genau zu sein. Wobei man sagen muss, dass sich der Fragebogen in einem Fall erst in der Erprobungsphase befindet und es noch nicht sicher ist, ob er tatsächlich implementiert werden soll.«
Fleischer grinste. »Mir kommt es vor, als säße ich Ihrem Vater gegenüber. Er war wie Sie, Jan, voller Ehrgeiz, aber mit Lob wusste er nichts anzufangen.«
»Nun ja, ich wollte nicht …«
»Nein, das ist schon in Ordnung«, unterbrach ihn Fleischer mit einer abwehrenden Handbewegung. »Das gefällt mir. Genau deshalb mochte ich Bernhard. Diese Haltung zeichnete ihn schon während unseres Studiums aus. Er war keiner dieser eingebildeten Kerle, die sich für die künftigen Halbgötter in Weiß hielten. Umso mehr freut es mich, nun auch bei Ihnen diesen Wesenszug wiederzufinden. Mir sind Menschen zuwider, die sich auf ihren Lorbeeren ausruhen. Wie heißt es doch so trefflich: Wer glaubt, etwas zu sein, hört auf, etwas zu werden. Insofern haben Sie die besten Zukunftsaussichten.«
Im Moment liegen meine beruflichen Zukunftsaussichten eher im Nullbereich, und das wissen wir beide, dachte Jan.
»Wie Sie sich bestimmt denken können«, fuhr Fleischer fort, »habe ich Erkundigungen über Sie eingezogen, ehe ich Sie zu diesem Gespräch eingeladen habe. Aber ich muss auch sagen, dass ich Sie seit jener … nun ja, sagen wir: seit jener Tragödie damals nie ganz aus den Augen verloren habe. Vor allem nicht, nachdem ich erfuhr, dass Sie in Bernhards Fußstapfen getreten sind, wenngleich auch auf einem anderen Fachgebiet.« Er tippte auf die Mappe und sah Jan mit wissendem Blick an. »Der Grund, warum Sie sich ausgerechnet darauf spezialisiert haben, liegt ja gewissermaßen auf der Hand - Ihre Vita lässt kaum einen Zweifel aufkommen. Nun frage ich mich, ob Ihre Suche nach der Wahrheit zu einem Ergebnis geführt hat?«
Jan musste schlucken. Er hatte sich lange auf dieses Gespräch vorbereitet, war sämtliche möglichen Fragen im Geiste durchgegangen, und hatte gewusst, dass es zwei große Hürden zu meistern galt. Natürlich spielte Fleischer mit seiner Frage auf Sven an, und es lag an Jan, diese erste Hürde zu nehmen, ohne dabei zu stolpern.
Wie immer, wenn jemand seinen Bruder erwähnte, kam es Jan so vor, als sei alles erst gestern geschehen. Jan hatte sich gut überlegt, wie er dieses heikle Thema angehen sollte. Er wusste, dass Fleischer von ihm die Wahrheit hören wollte, und dass diese Wahrheit sehr persönlich war. Jemandem, der ihn von Kindesbeinen an kannte, konnte und durfte er nichts vormachen. Dennoch hatte er sich vorgenommen, so sachlich wie irgend möglich zu antworten.
»Offen gesagt weiß ich nicht, ob ich wirklich zu einem Ergebnis gelangt bin. Ich wollte die Tat begreifen, indem ich versuchte, die Motivation des Täters zu verstehen. Jedes Jahr werden bundesweit fast zwölftausend Fälle von Kindesmissbrauch registriert, eine unfassbare Zahl, und die Dunkelziffer wird weitaus höher geschätzt. Doch ebenso unfassbar ist, dass nur etwa achtzig Prozent dieser Fälle aufgeklärt werden.«
Jan spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. Er fühlte sich unwohler denn je. Am liebsten wäre er aufgestanden und hinausgerannt, doch das hätte das endgültige Aus für seine Karriere bedeutet. Dies war seine Chance auf einen Neuanfang - und alles, was er dafür tun musste, war, Fleischer gegenüber Ehrlichkeit zu zeigen.
Der Klinikleiter schien Jans Gedanken gelesen zu haben. Er sah ihn verständnisvoll an und nickte aufmunternd.
Jan atmete tief durch, ehe er fortfuhr. »Irgendwo in dieser Statistik befindet sich der Fall meines kleinen Bruders, von dem man nie mehr fand als seine …«, Jan schluckte, »seine Unterwäsche auf einem Autobahnparkplatz. Weder der Täter noch …«, wieder musste Jan schlucken, »noch Svens Leiche wurden je ausfindig gemacht. Und was mit meiner übrigen Familie geschehen ist, wissen Sie ja.«
Betreten sah Fleischer aus dem Fenster in den bleigrauen Himmel.
»Ja, das weiß ich. Und es tut mir alles aufrichtig leid für Sie.«
»Ich habe nach Antworten gesucht«, sagte Jan. »Also habe ich mit Sexualstraftätern gesprochen. Es waren fast ausschließlich Männer. Sie stammten aus allen Bevölkerungsschichten. Lehrer, Handwerker, Arbeitslose, Alkoholiker, Priester, einmal sogar ein Psychiater. Dabei machte ich die Beobachtung, dass alle Täter zwei Dinge gemein hatten. Einerseits hatten sich alle zu ihren Opfern hingezogen gefühlt. Sie sprachen von Liebe und inniger Zuneigung, wobei sie andererseits keinerlei Skrupel gehabt hatten, ihre Opfer aus Furcht vor Entdeckung zu töten.« Jan zuckte mit den Schultern. »Aus psychiatrischer Sicht waren bei den meisten eine starke Triebhaftigkeit und ein durchgängiges Verhaltensmuster hinsichtlich ihrer mangelnden Schuldeinsicht erkennbar, was man als Antwort hätte akzeptieren können. Doch für mich persönlich habe ich nie eine zufriedenstellende Antwort gefunden. Nicht in Svens Fall. Er ist und bleibt verschwunden.«
Nun war es heraus. Jan spürte, wie seine Anspannung ein wenig nachließ. Er hatte es endlich geschafft, über das düsterste Kapitel seines Lebens zu sprechen, auch wenn er sich dabei wie ein Referent angehört haben mochte.
»Mein Vater hat einmal gesagt, das Leben stellt uns manchmal Fragen, auf die es keine Antworten gibt«, fügte er hinzu. »Ich habe mich lange nicht damit abfinden können, aber inzwischen denke ich, dass er Recht damit hatte. Wenn Sie so wollen, ist das das Ergebnis meiner Suche.«
Für einen Moment herrschte wieder die für Jan unerträgliche Stille. Dann löste Fleischer den Blick vom Fenster und sah ihn an.
»Auf dieser Suche haben Sie sich weit vorgewagt, Jan. Das war überaus mutig, wenngleich Sie am Ende über Ihr Ziel hinausgeschossen zu sein scheinen.«
Nun waren sie also beim zweiten großen Thema angelangt: Jans Zusammenbruch. Der Grund, warum er beinahe seine Approbation verloren hatte. Davon hing nun alles ab. Fleischer die Hintergründe seines Werdegangs offenzulegen war das eine gewesen. Ob er ihn nun davon überzeugen konnte, dass er aus seinen Fehlern gelernt hatte, stand auf einem anderen Blatt.
»Vor knapp einem Jahr stand ich unter einer starken psychischen Belastung, was ich mir zu jenem Zeitpunkt jedoch nicht eingestehen wollte«, erklärte Jan. »Meine Tätigkeiten als forensischer Gutachter und Stationsarzt lasteten mich völlig aus, aber ich sah darin eine berufliche Herausforderung und hatte zudem gute Chancen auf eine Oberarztstelle, die bald frei werden sollte. An manchen Tagen arbeitete ich fast rund um die Uhr. Kurz zuvor hatte meine Frau die Scheidung eingereicht, und ich hatte ihr zugesagt, mich nach einem Käufer für unsere gemeinsame Wohnung umzusehen. Als ich dann auch noch den Fall Laszinski übernahm, wurde mir alles zu viel. Leider habe ich das erst begriffen, als alles schon passiert war.«
»Laszinski«, sagte Fleischer und verzog das Gesicht. »Eine hässliche Geschichte.«
In der Tat. Der Fall Peter Laszinski hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt. Ein gefundenes Fressen für die Medien.
Bis zu seiner Verhaftung hatte der sechsundvierzigjährige Küster ein unscheinbares Leben in einer kleinen Gemeinde geführt. Er galt als höflich, wenn auch verschlossen, und die Tatsache, dass er trotz seines Alters noch immer Junggeselle war, schrieb man seiner als bösartig verschrienen Mutter zu. Laszinski hatte sie über viele Jahre aufopfernd gepflegt, und als sie vor drei Jahren ihrem Darmkrebsleiden erlegen war, gab es viele, die von einer Erlösung für den armen Peter gesprochen hatten.
Als im Januar letzten Jahres zwei kleine Mädchen aus Laszinskis Heimatort verschwunden waren, kam niemand auch nur im Entferntesten auf den Gedanken, er könnte etwas damit zu tun haben. Erst bei einem erfolgreichen Schlag gegen einen Kinderpornoring im Internet war das Bundeskriminalamt auf Laszinski aufmerksam geworden. Zwölf Tage nach dem Verschwinden der Mädchen stellte man Laszinskis Computer sicher, auf dem sich Tausende von Fotografien und Videos befanden. In einem Interview äußerte ein Pressesprecher der Behörde, die Aufnahmen dokumentierten sadistische Praktiken von unvorstellbarer Grausamkeit.
Bei einer weiteren Durchsuchung des alten Bauernhofs der Laszinskis fand man auch die beiden Mädchen im großräumigen Keller. Das eine Kind war in der Gefangenschaft gestorben, das andere hatte überlebt, schwebte aber noch lange Zeit in Lebensgefahr. Wie sich herausstellte, hatte Laszinski die Entführung von langer Hand geplant. Er hatte eigens hierfür zwei Zellen in das Gewölbe gemauert, in die er die Mädchen getrennt voneinander eingesperrt hatte.
Nach der ersten Sitzung, in der ihm Laszinski mit ungerührter Miene erzählte, was in diesem Keller vor sich gegangen war, hatte Jan ernsthaft überlegt, ob er dem Fall gewachsen war. Rückblickend wusste er, dass dies der richtige Moment gewesen wäre, den Fall abzugeben.
Was ihn dennoch veranlasst hatte, weiter mit diesem Mann zu arbeiten, war die Art des Verbrechens gewesen. Laszinski fiel nicht in das Schema der Pädophilen, mit denen Jan bis dahin zu tun gehabt hatte. Sein Handeln war nicht triebgesteuert oder spontan gewesen. Und ein inneres Gefühl sagte Jan, dass Svens vermutlicher Mörder vielleicht ähnlich gehandelt hatte.
Die Bilder, die Laszinskis Schilderungen in ihm hervorriefen, gingen Jan noch lange nach. Der Küster hatte die Mädchen nicht vergewaltigt. Abgesehen von der Entführung selbst, hatte er sie nie angerührt. Stattdessen zwang er beide, allabendlich nackt und frierend auf dem sandigen Kellerboden zu knien und das Ave Maria zu beten. Nur dann erhielten sie die - wie er es nannte - »Kommunion«: ein Glas Milch, in das er zuvor ejakuliert hatte. Anfangs hatten sie sich geweigert, aber nach ein paar Tagen hätten die Mädchen vor Hunger und Durst alles getan, hatte Laszinski behauptet, und die Gefühlskälte seiner Worte hatte Jan das Blut in den Adern gefrieren lassen.
Dennoch hatte sich Jan zu einer weiteren Sitzung mit ihm getroffen, um sein Gutachten abzuschließen. Und dabei war es zu jenem verhängnisvollen Vorfall gekommen.
Jan selbst konnte sich kaum noch an seine Raserei erinnern. Erst als ihn zwei Vollzugsbeamte gepackt und aus dem Raum gezerrt hatten, war er wieder Herr seiner Sinne gewesen.
Jan sah Laszinski, der sich heulend in einer Blutlache am Boden wand, und stellte fest, dass er selbst ebenfalls voller Blut war. Später hatte Jan erfahren, dass er unvermittelt auf den Küster losgegangen war und wie von Sinnen auf ihn eingeschlagen hatte.
Nun hoffte Jan inständig, dass Fleischer ihn nicht nach dem Grund für diesen Kontrollverlust fragen würde. Auf diese Frage hatte er keine Antwort parat.
Fleischer fragte nicht. Stattdessen nickte er Jan nur wieder aufmunternd zu.
»Nach diesem Vorfall wechselte ich meinen Wohnort«, fuhr Jan fort. »Ein Bekannter, mit dem ich seit dem Studium in Kontakt stand, bot mir an, für einige Zeit bei ihm zu wohnen. Also habe ich die letzten Monate im Allgäu verbracht. Der Abstand zu allem hat mir gutgetan. Ich fühle mich wieder stabil und möchte jetzt einen beruflichen Neuanfang unternehmen.«
Fleischer lächelte, und seine Stimme nahm einen väterlichen Ton an.
»Ich weiß nicht, wie ich mich in Ihrem Fall verhalten hätte, Jan. Nicht dass ich Ihre Handlungsweise gutheißen möchte, aber ich kann mir keinen Kollegen vorstellen, den dieser Fall kaltgelassen hätte. Berücksichtigt man noch Ihre private Belastung, empfinde ich die Haltung mancher Kollegen Ihnen gegenüber als ziemlich übertrieben. Deshalb habe ich Sie auch eingeladen. Ich finde, ein ehrgeiziger junger Arzt wie Sie hat eine zweite Chance verdient. Und damit wir uns richtig verstehen: Diese Haltung hat nichts damit zu tun, dass Ihr Vater und ich gute Freunde waren. Mein Angebot bezieht sich einzig und allein auf Ihre Leistungen.«
»Danke«, sagte Jan. »Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.«
Fleischer nickte und beugte sich dann wieder über den Tisch, wobei sein Ledersessel einen ächzenden Laut von sich gab.
»Unternehmen Sie Ihren Neuanfang hier, und wenn Sie erst einmal eine Weile in der Allgemeinpsychiatrie tätig waren, wird kein Hahn mehr danach krähen, was in der Vergangenheit gewesen ist. Allerdings …«, er sah Jan eindringlich an, »allerdings knüpfe ich dieses Angebot an eine Bedingung.«
Jan hielt Fleischers Blick stand. »Und was für eine Bedingung ist das?«
Fleischer wiegte den Kopf, als wolle er seine Worte darin zurechtschütteln.
»Sehen Sie, Jan, ich kann mir nicht recht vorstellen, dass jemand, der so viele Jahre versucht, sein Kindheitstrauma zu bewältigen, nun auf einmal über alles hinweg ist. Wir sind beide lange genug in diesem Geschäft, um zu wissen, dass das nicht von heute auf morgen möglich ist.«
Jan spürte einen leichten Schauer. Natürlich hatte Fleischer Recht, aber dennoch stellten seine Worte eine gewisse Kränkung für ihn dar.
»Herr Fleischer, ich versichere Ihnen, dass ich mich wieder völlig im Griff habe. Dieser Bekannte aus Füssen, den ich erwähnte, ist ein hervorragender Psychotherapeut. Die Gespräche mit ihm waren mir eine große Hilfe, und wenn Sie mir eine berufliche Chance geben, werde ich Sie davon überzeugen.«
»Das glaube ich Ihnen gern«, entgegnete Fleischer. »Aber als Arzt und Freund rate ich Ihnen, weitere Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ein langjähriger Freund und Kollege, Dr. Norbert Rauh, ist seit einiger Zeit wieder an unserer Klinik tätig. Er könnte Ihnen ein überaus erfolgversprechendes Therapieangebot machen. Selbstverständlich absolut diskret.«
Jan verstand, worauf Fleischer hinauswollte. »Das ist also die Bedingung?«
»Ich denke dabei nur an Sie, Jan«, sagte Fleischer und nickte. »Natürlich steht es Ihnen frei, mein Angebot abzulehnen, aber Sie sollten es zumindest überdenken. Ich möchte wirklich etwas für Sie tun und Ihnen nicht einfach nur einen Arbeitsplatz anbieten. Für Ihren Neuanfang bedarf es mehr, und ich denke, dies wäre auch ganz im Sinne Ihres Vaters. Hören Sie in sich hinein, dann werden Sie mir zustimmen.«
Jan sah nachdenklich aus dem Fenster. Was blieb ihm für eine andere Wahl? Konnte er Fleischers Bedingung ablehnen? Nicht, wenn er sich baldmöglichst rehabilitieren wollte. Andernfalls würde er über kurz oder lang irgendeinen Aushilfsjob annehmen und damit einen endgültigen Schlussstrich unter seine Karriere ziehen müssen. Welche Klinik würde noch einen Arzt beschäftigen, den man wegen schwerer Körperverletzung entlassen hatte und der nach längerer Auszeit sein Geld in einer Frittenbude oder bei irgendeinem Kurierdienst verdient hatte?
Abgesehen davon sah es auf seinem Konto inzwischen mehr als mau aus. Die Scheidung und der Verdienstausfall hatten den Erlös aus dem Verkauf seiner Wohnung längst aufgezehrt. Danach hatte er seine Ausgaben nur noch aus den Mieteinnahmen bestritten, die er für sein Elternhaus bekam - und das war nicht gerade die Welt, zumal er auch Rücklagen für Renovierungsarbeiten bilden musste -, ehe auch diese Einnahmequelle versiegt war.
Natürlich hätte er das Haus zum Verkauf anbieten und so die Zeit überbrücken können, bis er eine andere Stelle bekam. Bei den gegenwärtigen Immobilienpreisen in der Region Fahlenberg wäre dies allerdings eine überaus schlechte Idee gewesen.
Vor allem aber konnte Jan nicht darauf hoffen, dass er noch ein weiteres Stellenangebot bekam, das mit diesem mithalten konnte. Und vielleicht hatte Fleischer Recht. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, eine Therapie zu machen, statt nur mit einem Freund über seine Probleme zu sprechen. Es war zumindest einen Versuch wert.
»Also gut«, sagte Jan und sah, wie Fleischers Gesicht aufstrahlte. »Ich bin einverstanden. Wann kann ich anfangen?«
»Gleich am Montag, wenn es Ihnen passt.«
Als Jan wieder auf dem Parkplatz stand, sah er noch einmal zu Fleischers Bürofenster hoch. Es gab da noch eine Frage über die Vergangenheit, die er dem Professor gern gestellt hätte. Doch während ihres Gesprächs hatte er sich dagegen entschieden. Andernfalls hätte Fleischer ihm nie geglaubt, dass er mit den Geschehnissen von damals abgeschlossen hatte. Tief in seinem Innern glaubte Jan auch, dass Fleischer die Antwort nicht gewusst hätte.
Manchmal stellt das Leben Fragen, auf die es keine Antworten gibt, dachte er und stieg in seinen Wagen. Aber es gibt uns immer wieder die Möglichkeit für einen Neuanfang.
Kalte Stille - Kalte Stille
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