DREIUNDZWANZIG

 

Knapp fünfundzwanzig T-Tage nach dem Aufbruch von Spindle überquerte Michelle Henkes Flaggschiff die Alpha-Mauer ins Sonnensystem von Monica. Michelle saß in ihrem Kommandosessel auf der Flaggbrücke der Artemis, musterte ihre Displays und fragte sich, welcher Empfang sie und ihre Schiffe wohl erwartete.

Das Kurierboot mit den Befehlen für O’Malley war vom Lynx-Terminus direkt nach Monica ausgelaufen, ohne den Umweg über Spindle zu machen. Damit hatte es gut elf Tage Reisezeit eingespart, und das Boot, das Kopien seiner Befehle nach Spindle brachte, war drei Tage vor Michelles Aufbruch eingetroffen. Wenn sie richtig gerechnet hatte, musste O’Malleys Kampfgruppe ihren Marschbefehl also vor nicht ganz zwei T-Wochen erhalten haben. Vorausgesetzt, die Reparaturen an der Hexapuma und der Warlock waren planmäßig verlaufen, so hätten die beiden Schiffe bereits vorher reiseklar sein müssen. O’Malley hätte daher seine Order befolgen und augenblicklich abziehen können, ohne sich Sorgen um ihre Sicherheit machen zu müssen. Unter der Voraussetzung, dass alles so verlaufen war, wie es sollte, würde kein einziges manticoranisches Kampfschiff Michelle im Monica-System erwarten.

Und irgendwie glaube ich nicht, dass »President Tyler« besonders froh sein wird, mich zu sehen, auch wenn wir jetzt einen »Friedensvertrag« haben, dachte sie bissig. Vielleicht wäre es also gar keine schlechte Idee, zunächst den Raum zu sondieren, ehe es systemeinwärts geht.

Der Planet Monica lag elf Lichtminuten innerhalb der 20,6 Lichtminuten weiten Hypergrenze seiner Sonne vom Spektraltyp G3, und die Annäherungsgeschwindigkeit von Captain Conners Division lag bei knapp zweitausend Kilometern pro Sekunde. Unter Maximalschub, ohne Sicherheitsspielraum für den Kompensator, betrug die Maximalbeschleunigung der Artemis etwas über sechseinhalb Kilometer pro Sekundenquadrat, was ein Drittel mehr war als die Beschleunigung eines Vorkriegsschiffes ihrer Tonnage. Selbst mit Vollschub, den achtzig Prozent des Maximalschubs, auf den die Höchstbeschleunigung manticoranischer Kampfschiffe normalerweise begrenzt wurde, schaffte sie 5,3 Kps2, was noch immer einen halben Kilometer pro Sekundenquadrat besser war als der Wert, den die alten Kompensatoren unter maximaler Belastung ermöglicht hätten. Angesichts der gegenwärtigen … empfindlichen Beziehungen zur Solaren Liga hatte die Admiralität beschlossen, dass es klüger wäre, das tatsächliche Leistungsvermögen aller RMN-Einheiten nicht zur Schau zu stellen, wenn solarische Kriegsschiffe es vielleicht beobachteten. Nach den günstigsten Schätzungen des ONI kannten die Solarier viele manticoranische Leistungswerte und Möglichkeiten noch nicht. Einige Offiziere − darunter Michelle − genossen diese Bewertung mit Vorsicht, doch auch sie mussten zugeben, dass dieser Sachverhalt in Bezug auf die Solarier nicht ganz so absurd wirkte, wie wenn man über irgendeine andere Raumstreitkraft gesprochen hätte.

Für jeden, der je mit der Navy der Solaren Liga zu tun gehabt hatte, war es offensichtlich, dass die SLN an einem außerordentlich schweren Fall professionellen Tunnelblicks litt. Die Navy der Liga war in zwei Hauptgruppen unterteilt: Schlachtflotte und Grenzflotte. Von beiden war die Schlachtflotte größer und prestigeträchtiger, während die Grenzflotte den Löwenanteil der anfallenden Aufgaben erledigte. Angesichts der gewaltigen Ausdehnung, Bevölkerung und Industriekraft der Liga überraschte es kaum, dass die SLN die bei Weitem größte Flotte der Menschheitsgeschichte besaß. Zum Unglück der Liga wusste die SLN, dass sie die größte, kampfstärkste, technisch fortschrittlichste Flotte aller Zeiten war … und wenigstens eine, möglicherweise aber sogar zwei dieser wohlbekannten Feststellungen entsprachen nicht mehr der Wahrheit.

Das maßlose Überlegenheitsgefühl der Liga, was »neobarbarische« Sternnationen anging, gehörte zwar nicht zu ihren gewinnenden Eigenschaften, bedrohte in der Regel aber nicht unmittelbar ihre Sicherheit. Sobald die Navy dem gleichen Überlegenheitsgefühl verfiel (und es mit der institutionellen Arroganz einer Streitkraft pflegte, die seit Jahrhunderten existierte und niemals eine Niederlage erlitten hatte), galt das nicht mehr. Während etliche Mitgliedssysteme der Liga aus ihren Systemverteidigungskräften, die sie lokal rekrutierten und unterhielten, Beobachter sowohl nach Manticore als auch nach Haven entsandt hatten, war von der SLN, soweit Michelle es wusste, kein einziger abgestellt worden. Schließlich gab es keinen Grund, sich Gedanken zu machen, was zwei unwichtige, neobarbarische Sternnationen an der Rückseite des Nirgendwo so trieben. Selbst wenn Manticore und Haven nicht damit ausgelastet gewesen wären, einander gegenseitig den Garaus zu machen (ohne Zweifel mit den Gegenstücken von Keulen und Feuersteinbeilen), könnten beide auch zusammen unmöglich eine Flotte bauen, die so groß wäre, dass sie die Liga bedrohte. Allein die Vorstellung, zwei solch unbedeutende sogenannte Sternnationen könnten die Technik, die die unvergleichliche Solarien League Navy einsetzte, merklich verbessert haben, war schlichtweg lächerlich.

Beim ONI bezweifelte niemand, dass die Beobachter der Systemverteidigungskräfte ihre Berichte der SLN angeboten hatten. Die Mehrheit der Experten vertrat allerdings die Ansicht, dass bei der SLN die Scheuklappen so fest saßen, dass diese Berichte still und leise abgelegt und ignoriert worden waren … vorausgesetzt, man hatte sie nicht einfach gelöscht. Die Systemverteidigungskräfte waren schließlich nur lokale Abwehrstreitkräfte − die zweitrangige Miliz nach der erstrangigen, professionellen SLN. So jemand musste in seinen Ansichten beschränkter sein, und ohne die solide Ausbildung und die gewaltige Erfahrung der SLN neigten sie zudem zu unangemessener Schwarzseherei. Ganz zu schweigen davon fehlte ihren »Beobachtern« der solide Kern des institutionellen und beruflichen Könnens der regulären Navy, sodass es wahrscheinlicher wurde, dass sie missverstanden, was fragliche Neobarbaren sie sehen ließen − und es war sogar durchaus möglich, dass sie vorsätzlich getäuscht wurden. Selbst wenn der solarische Flottennachrichtendienst sich für ihre Aufrichtigkeit verbürgt hätte − die etablierten Analysemethoden, die auf getestete und bewährte Techniken setzten, mussten verlässlicher sein als Berichte von Leuten, die im Grunde wenig mehr waren als beobachtende Reservisten, die wahrscheinlich von den Neobarbaren an der Nase herumgeführt wurden, damit sie sahen, was sie sehen sollten.

So jedenfalls verstand das ONI die gegenwärtige Haltung und die aktuellen Entscheidungsprozesse der SLN, und dass die Solarier keine Anstrengungen unternommen haben, ihre Waffen und ihr Gerät zu verbessern, schien diese Deutung zu untermauern. Nicht nur Michelle zog es allerdings vor, nicht allzu sehr auf diese spezielle Annahme zu bauen. Dass kein neues Gerät eingesetzt wurde, bedeutete nicht unbedingt, dass nichts entwickelt wurde, und aller Arroganz und Herablassung zum Trotz blieb die Tatsache bestehen, dass die Liga über den größten Pool an menschlichem Talent und Reichtum aller politischen Gebilde der Menschheitsgeschichte verfügte. Wenn die SLN jemals den Kopf aus dem Sand zog, konnte sie dank dieses Talents und Reichtums rasch so furchterregend werden, wie sie bereits zu sein glaubte.

Ob nun mehr geforscht und entwickelt wurde, als bekannt war, oder nicht, die Quellen des ONI innerhalb der SLN schienen darin übereinzustimmen, dass eine gewaltige Mehrheit der solarischen Raumoffiziere den offenbar wild übertriebenen Behauptungen über manticoranische und havenitische Wehrtechnik nur sehr wenig Glauben schenkte. Auf der Grundlage von Spuren aus der Schlacht von Monica mussten die Solarier (oder wenigstens einer ihrer größeren Rüstungskonzerne) mit Raketengondeln neueren Typs zumindest experimentieren, was man zuvor für unter ihrer Würde gehalten hatte, und die Antriebe ihrer Raketen hatten sich als stärker und ausdauernder erwiesen als erwartet. Doch keine der abgefeuerten Raketen − oder genauer, an Monica gelieferten Lenkwaffen − war eine Mehrstufenrakete gewesen, die Gondeln verfügten nicht über Gravkatapulte neuester Generation, die einen wesentlichen Bestandteil der manticoranischen Baumuster darstellten, und es hatte keine Berichte über Verbesserungen bei den Beschleunigungswerten solarischer Kampfschiffe gegeben, die im Vergleich zu denen der Manticoranischen Allianz oder sogar der Republik Haven niedrig und ineffizient waren. Nachdem das Office of Naval Intelligence all das zusammengerührt und sorgsam überdacht hatte, war es zu dem Schluss gelangt, dass man von der SLN zumindest einige Verbesserungen zu erwarten habe, bei denen es sich wahrscheinlich um das Ergebnis privat finanzierter Forschung und Entwicklung von Konzernen wie Technodyne handeln würde, wesentliche Neuerungen aber zumindest kurzfristig unwahrscheinlich seien.

Aufgrund dessen hatte die Admiralität alle Kommandanten angewiesen, in Gegenwart solarischer Kriegsschiffe siebzig Prozent des Maximalschubs nicht zu überschreiten. Die Benutzung von Geisterreiter und Überlichtcom sollte so weit wie möglich vermieden werden. Außerdem durften in solarischem Hoheitsraum keine Feuerübungen mit Mehrstufenraketen abgehalten werden.

Daher betrug die maximal erlaubte Beschleunigung der Artemis nur 4,7 Kps2, sodass sie bis zum Parkorbit um Monica fast dreieinhalb Stunden benötigte mehr als genug Zeit, dass Aufklärungsdrohnen, die sich die Umgebung genau ansahen, auch lichtschnell berichten konnten.

»Gut, Dominica«, begann Michelle und blickte Commander Adenauer an. »Vergewissern Sie sich, dass die Gravimpulscoms abgeschaltet sind, dann feuern Sie sie ab.«

»Aye, aye, Ma’am«, antwortete der Operationsoffizier. Sie blickte auf ihre Anzeigen und gab den Befehl ein. »Drohnen sind gestartet, Ma’am.«

»Sehr gut.«

Michelle kippte den Kommandosessel zurück und übte sich in Geduld, während die Artemis und die anderen Schiffe der 1. Division konstant − wenn auch langsam − in Richtung Monica beschleunigten.

 

»Na, was für eine schöne Bescherung«, murmelte Michelle eine Stunde später mit Blick auf die Lichtkennungen im Hauptplot.

Die Operationszentrale der Artemis hatte die allmählich eintrudelnden lichtschnellen Signale der Aufklärungsdrohnen analysiert, und es war offensichtlich, dass sich tatsächlich einiges geändert hatte, seit Vizeadmiral O’Malleys letztem Bericht an Vizeadmiral Khumalo. Die Abwesenheit aller manticoranischen Schiffe war kaum eine Überraschung, und obwohl Michelle den Besuch eines Schlachtkreuzergeschwaders der Grenzflotte ebenfalls nicht als Überraschung betrachten konnte, war die Anzahl der Schiffe eindeutig unangenehm.

»OPZ findet acht ihrer neuen Nevada-Klasse, Ma’am«, sagte Dominica Adenauer und markierte die fraglichen Icons. »Die anderen neun Schlachtkreuzer sind Indefatigables. Die Identifikation der Zerstörer erfolgt unter größerem Vorbehalt. OPZ glaubt, dass sie alle der Rampart-Klasse angehören, kann es aber nicht garantieren.« Sie verzog das Gesicht. »Die Grenzflotte hat an den Ramparts derart umgebaut und nachgerüstet, dass kaum zwo ihrer Emissionssignaturen übereinstimmen.«

»Ich glaube nicht, dass die Blechdosen wirklich wichtig sind«, erwiderte Michelle, ohne den Blick von den Icons zu nehmen. Dann wandte sie sich um und sah Edwards an. »Noch kein Signal von ihnen, Bill?«

»Nein, Ma’am.« Edwards’ Ton hätte nicht respektvoller sein können, doch er war unbestreitbar … geduldig, und ein Lächeln glitt über Michelles Lippen.

Ich bin wohl ein bisschen nervöser, als ich vorzugeben versuche. Wenn dort drüben jemand mit uns reden wollte, hätte Bill es mir gesagt. Vielleicht sollte ich Fragen stellen, die weniger offensichtlich nur dem Zeitvertreib dienen, wenn ich während dieser kleinen Stressmomente unerschütterlich wirken möchte?

Dennoch, sie konnte sich wohl vergeben, ein wenig angespannt zu sein, wenn sie siebzehn solarische Schlachtkreuzer in der Kreisbahn um den Planeten Monica vorfand; das mögliche Bedrohungsniveau hatte sich dadurch entscheidend erhöht. Was auch geschehen mochte, sie hatte den unangenehmen Verdacht, die Anwesenheit dieser Schiffe beweise, dass die Solare Liga doch nicht plante, still und leise den Schwanz einzuziehen.

Beschwöre keinen Ärger herauf schalt sie sich. Es könnte sich auch einfach um eine beruhigende Geste an ihren alten »Verbündeten« President Tyler handeln. Die Grenzsicherheit möchte schließlich nicht den Eindruck erwecken, dass sie ihre Spießgesellen beim kleinsten Anlass im Stich lässt. Sie könnten einfach nur deshalb hier sein, um Flagge zu zeigen und das Ansehen der Liga in der Gegend zu verbessern, nachdem Monica diese Abreibung kassiert hat.

Das Problem an beiden beruhigenden Erklärungen war nur, dass man zu beiden Zwecken nicht zwei volle Geschwader Schlachtkreuzer benötigte. Und dass niemand die Ankunft ihrer eigenen vier Schiffe zur Kenntnis zu nehmen geruhte, erschien Michelle als schlechtes Zeichen. Entweder hatte man sie noch nicht bemerkt, was … unwahrscheinlich war, oder man ignorierte sie vorsätzlich, als sei sie es nicht würdig, dass man sich mit ihr befasse. Das hätte ganz gut zu der herablassenden Arroganz gepasst, mit der die Solarier schon allzu vielen manticoranischen Offizieren begegnet waren.

Und wenn diese Schiffe ausgesandt wurden, um ein Statement abzugeben, und der kommandierende Offizier ein typischer arroganter, aufgeblasener Trottel ist, dann könnte es recht unschön werden, dachte sie.

»Möchten Sie die Schiffe anrufen, Ma’am?«, fragte Cynthia Lecter leise.

»Irgendwann muss einer von uns mit dem anderen reden«, erwiderte Michelle trocken. »Ich möchte zwar nicht so einen Kindergartenstreit anfangen, wo der verliert, der als Erster wegguckt, aber ich will verdammt sein, wenn wir das weinerliche, nervöse kleine Kind sind, das den frechen Schläger anbettelt, doch Notiz von ihm zu nehmen.«

Lecter nickte, doch in den Augen ihrer Stabschefin glaubte Michelle zumindest einen leisen Schatten von Sorge zu entdecken. Wenn sie recht hatte, überraschte es sie nicht. Zu den Aufgaben einer Stabschefin gehörte es auch, sich zu überlegen, wo die Vorgesetzte sich vielleicht irrte, statt die Jasagerin zu spielen.

»Wir sind noch immer zwoeinhalb Stunden von der Kreisbahn entfernt«, sagte Michelle, »und sie liegen bereits im Orbit. Außerdem senden unsere Transponder, und technisch ist es noch immer monicanischer Hoheitsraum.«

Lecter nickte erneut. Nach akzeptierter interstellarer Konvention eröffnete die Flotte im Besitz eines Sonnensystems den Kontakt mit etwaigen Neuankömmlingen. Wurde der Kontakt nicht gesucht und keinen Einwand gegen die Annäherung ausgesprochen, so hieß es, dass die das System innehabende Flotte nicht plante, auf jemanden zu feuern, der ihr zu nahe kam. Und wie Michelle gerade betont hatte, war die Republik Monica kein Mitgliedssystem der Solaren Liga, wodurch alle solarischen Schiffe in monicanischem Hoheitsraum genauso Gäste waren wie die 1. Division. Ohne Zweifel war jedem klar, dass Monicas Souveränität soweit man davon sprechen konnte , im Augenblick nur geduldeterweise existierte, doch der Anschein musste nach wie vor gewahrt werden. Daher sollte, solange die Solarier das System nicht offiziell besetzt hatten, jeder Kontaktversuch und jeder Einwand von der monicanischen Verkehrsleitung kommen, und nicht von den Solariern. Oder von Manticore.

»Irgendwie glaube ich, dass uns ein interessanter Zwischenhalt bevorsteht, Ma’am«, sagte Lecter leise.

»Oh, ich glaube, darauf könnten Sie beruhigt einen Tausender wetten, Cindy.«

 

»Wir werden von den Monicanern angerufen, Ma’am«, sagte Captain Armstrong auf Michelles Combildschirm. »Endlich.«

Ihre Stimme war trocken wie Staub, und Michelle lachte leise, als ihre Flaggkommandantin das letzte Wort hinzufügte.

»Und was sagen sie?«, erkundigte sie sich.

»Und sie heißen uns im Monica-System willkommen, Ma’am. Nach allem, was passiert ist, als Schiffe der Königin beim letzten Mal hier eintrafen, nehme ich an, man lügt diplomatisch und mit zusammengebissenen Zähnen, aber wenigstens ist man höflich.«

»Wurden die solarischen Gäste erwähnt?«

»Eigentlich nicht. Wir wurden aber aufgefordert, eine Parkbahn mit mindestens achttausend Kilometern Abstand zum nächsten Solly einzunehmen.«

»Wahrscheinlich keine schlechte Idee, auch wenn wir nicht diese offizielle Anweisung erhalten hätten«, sagte Michelle. »Also gut, Vicki. Nur zu, parken Sie uns.«

»Jawohl, Ma’am. Armstrong aus.«

Sie nickte Michelle respektvoll zu, dann verschwand sie vom Display, und Michelle wandte sich Lecter, Edwards und Adenauer zu, die den Kommandosessel in einem weiten Halbkreis umstanden.

»So weit, so gut«, sagte sie. »Weiß Gott möchte ich nicht mehr solarische Federn zerzausen als unbedingt nötig. Dennoch, Dominica, wäre es eine gute Idee, sie genau im Auge zu behalten. Nur passiv, aber wenn eine Mücke an Bord eines dieser Schiffe mit den Flügeln schlägt, möchte ich es wissen. Und informieren Sie alle Schiffe, dass wir bis auf Weiteres auf Bereitschaftsstufe Zwo bleiben.«

»Jawohl, Ma’am.«

Adenauer zeigte eine nüchterne Miene, und Michelle konnte es ihr nicht verdenken. Bereitschaftsstufe 2 war auch als »Alle Mann auf Gefechtsstation« bekannt. Dabei waren sämtliche Maschinen- und Lebenserhaltungssysteme des Schiffes voll bemannt, was selbstverständlich war, aber außerdem noch die Operationszentrale und die Taktische Abteilung. Die passiven Sensoren waren voll bemannt; die aktiven Sensoren befanden sich in Funktionsbereitschaft. Die Lasercluster der Nahbereichsabwehr waren aktiv und unter Computersteuerung feuerbereit; die Antiraketenwerfer hatten Geschosse in den Rohren und Ersatzgeschosse auf den Ladearmen; die passiven Abwehrsysteme und die Eloka waren klar und bereit für augenblickliche Aktivierung. Die Offensivraketenwerfer waren klar und geladen; die menschliche Ersatzbedienung für die Hälfte der Energiewaffen war in die Panzerkapseln eingeschlossen, während aus ihrer Umgebung die Atemluft abgepumpt worden war, um sie vor Druckwellen zu schützen. Die andere Hälfte der Energiewaffen wurde auf Rotationsbasis klargemacht und bemannt, damit immer einige Bedienungsmannschaften ruhen konnten, und fünfundzwanzig Prozent der Wachen in allen anderen Abteilungen waren Ruhepausen erlaubt, damit Bereitschaftsstufe 2 für längere Zeiträume aufrechterhalten werden konnte.

Kurz gesagt, bis auf das Hochfahren des Impellerkeils und der Seitenschilde und das Ausrennen der Energiewaffen waren die Artemis und jeder einzelne andere Schlachtkreuzer in ihrer Begleitung klar, fast augenblicklich auf jeden aggressiven Akt der Solarier zu reagieren.

Natürlich ist dieses »fast augenblicklich« der springende Punkt, überlegte Michelle. Besonders bei diesem winzigen Abstand. Mit ihren Laserclustern könnten sie uns treffen, ganz zu schweigen von den Breitseiten-Energiewaffen! Doch wenn wir Keile und Seitenschilde im Parkorbit aufrechterhielten, würde man es uns als feindseligen Akt auslegen, und das zurecht. Aber wenn nun jemand entscheidet, auf den Feuerknopf zu drücken, schießt er uns zusammen, ehe wir reagieren können. Na ja, trotzdem ist es der Gedanke, der zählt.

»Wir werden nichts tun, was man in irgendeiner Weise als Provokation auslegen könnte, Cindy«, fuhr sie laut fort und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Stabschefin.

Nicht dass Lecter es nicht bereits genau gewusst hätte, doch Michelle hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es weit besser war, etwas absolut klarzustellen, als dann auf die harte Tour herausfinden zu müssen, dass jemand etwas doch nicht ganz so genau gewusst hatte − oder etwa gar nicht.

Als Lecter nickte, fuhr Michelle fort: »Gleichzeitig will ich uns von den Sollys keinen ›Donnerkeil‹ unterschieben lassen, während wir hier ahnungslos herumsitzen. Deshalb helfen Sie bitte Dominica bei der Beaufsichtigung der OPZ. Wenn wir eine Statusänderung an Bord irgendeines solarischen Schiffes auffangen, möchte ich davon hören, ehe sie es selber wissen.«

»Jawohl, Ma’am.«

»Gut. Und jetzt« − Michelle holte tief Luft und wandte sich Edwards zu − »ist es wohl Zeit, dass ich meine Pflicht tue und mich unseren Gastgebern persönlich vorstelle. Und natürlich« − sie lächelte ernst − »den anderen Gästen in dieser hübschen kleinen Ecke des Universums. Bitte geben Sie mir den monicanischen Hafenadmiral, Bill.«

»Jawohl, Ma’am.«

 

Das Gespräch mit Konteradmiral Jane Garcia, dem befehlshabenden Offizier der monicanischen Raumverkehrsleitung, verlief besser als Michelle erwartet hatte.

Garcia versuchte nicht einmal zu heucheln, sie sei glücklich, Michelles Schlachtkreuzer zu sehen, und das konnte Michelle ihr nicht verübeln. Als ehemalige Kriegsgefangene verstand sie besser als viele manticoranische Offiziere, wie bitter die Pille gewesen sein musste, der Vernichtung der so gut wie gesamten monicanischen Navy zusehen zu müssen. Ohne Zweifel waren zahlreiche Freunde Garcias − und sehr wahrscheinlich auch Familienmitglieder, wenn man bedachte, dass bei den meisten Sternnationen der Militärdienst sich in bestimmten Familien häufte − dabei getötet worden. Und so sehr Monica in Manticores Augen ein korruptes, heimtückisches Werkzeug der Grenzsicherheit war, war und blieb die Republik Garcias Sternnation. Die schimpfliche Kapitulation und die Art, in der Manticore später die Friedensbedingungen diktiert hatte, konnten Garcias Erbitterung nur verschlimmert haben.

Dennoch hatte sie sich korrekt und professionell benommen. Sie hatte Michelle nicht im Monica-System willkommen geheißen, sich davon abgesehen aber überraschend höflich benommen. Als Michelle sie bat, President Tyler ihre Empfehlungen auszusprechen, hatte Garcia ganz leicht die Lippen zusammengekniffen, aber dann fast unbefangen genickt und Michelle gefragt, ob eines ihrer Schiffe wartungsbedürftig sei.

Nachdem das erledigt war, hatte Michelle leider keinen weiteren Vorwand, den befehlshabenden solarischen Offizier nicht zu kontaktieren. Immerhin hatte Garcia den Namen des Sollys fallen gelassen.

»Also gut, Bill«, seufzte Michelle. »Rufen Sie Admiral Byngs Flaggschiff. Ich nehme an −«

»Einen Augenblick, Ma’am«, unterbrach Cynthia Lecter sie respektvoll.

Michelle hielt inne und sah ihre Stabschefin an, eine Augenbraue hochgezogen, und Lecter wies mit einer Kopfbewegung auf das Display an ihrer Befehlsstation.

»Ich habe mir gerade die ONI-Akten angesehen, Ma’am«, sagte sie. »Ich habe Admiral Byng eingegeben, und es sieht so aus, als hätte ich einen Volltreffer gelandet.«

»Wirklich?«

Michelle blickte überrascht auf. Das Office of Naval Intelligence gab sich größte Mühe, um die höheren Offiziere anderer Raumstreitkräfte im Auge zu behalten, doch seine Akten über die SLN waren dünner als die über etwa die Republik Haven oder das Andermanische Reich. Obschon manticoranische Handelsschiffe tief ins Ligagebiet vordrangen, besaß die solarische Navy seit ungefähr einem halben Jahrhundert eine weit geringere Priorität als nähere − und unmittelbarere − Gefahren. Hinzu kam, dass die SLN reichlich groß war. Die bei den Solariern gleiche Absolutzahl an Offizieren vertrat einen weit geringeren Anteil am gesamten Offizierskorps als bei anderen Raumstreitkräften, und deshalb war es eher unwahrscheinlich, über einen bestimmten solarischen Offizier etwas in der Datenbank zu finden.

»Ich glaube es jedenfalls«, antwortete Lecter. »Natürlich ist es möglich, dass sie mehr als einen Admiral Josef Byng haben.«

»Bei dieser riesigen Navy?« Michelle schnaubte. »Ich würde sagen, die Chancen dafür sind ziemlich groß.« Sie zuckte die Achseln. »Na, dann schicken Sie mir mal, was Sie gefunden haben.«

»Jawohl, Ma’am.«

Der Eintrag, der im nächsten Moment auf Michelles Display erschien, war überraschend lang − aus Gründen, die deprimierend klar wurden, als sie ihn durchsah.

Das Aktenfoto zeigte einen großen, aristokratisch wirkenden Mann mit kastanienbraunem Haar, das an den Schläfen gerade grau zu werden begann, und scharfen blauen Augen. Er hatte ein kräftiges Kinn und trug einen gesträubten Schnurrbart und ein säuberlich gestutztes Ziegenbärtchen. In seiner makellosen, maßgeschneiderten weißen Paradeuniform sah er jeden Zentimeter aus wie der vollendete Berufsraumoffizier.

Die biografische Zusammenfassung, die zu diesem zackigen Bild passte, war allerdings − rein optisch − weniger erfreulich.

»Hier steht, er ist ein Offizier der Schlachtflotte«, sagte Michelle, und selbst in ihren eigenen Ohren klang sie wehleidig, wie jemand, der beklagte, dass da ein Fehler geschehen sein müsse.

»Das weiß ich, Ma’am.« Lecter sah zutiefst bekümmert drein.

»Ich hoffe − oh, wie sehr ich das hoffe −, dass Sie entweder den Falschen erwischt haben oder dass es nur ein sehr unglücklicher Zufall ist«, sagte Michelle, und Lecter nickte.

In vielerlei Hinsicht war Josef Byng, dem ONI-Dossier zufolge, ein typisches Produkt der SLN. Er stammte aus einer Familie, aus der seit fast siebenhundert T-Jahren hohe Offiziere der Liga-Navy hervorgingen; er war Absolvent der Flottenakademie auf Alterde; er war sofort zur Schlachtflotte gekommen, die bei Weitem prestigeträchtiger war als die Grenzflotte. Er war ein Prolong-Empfänger zweiter Generation und etwas über ein T-Jahrhundert alt; die letzten zweiunddreißig T-Jahre hatte er als Admiral gedient. Anders als in der Royal Manticoran Navy war es in der SLN nicht üblich, höhere Offiziere regelmäßig aus dem Flottenkommando zu nehmen, damit sie sowohl operativ als auch administrativ auf der Höhe blieben, und wie es aussah, besaß Byng (oder seine Familie) genügend Einfluss, um ihm für so gut wie seine gesamte Zeit als Flaggoffizier, zumindest technisch, Kommandos im Weltraum zu sichern.

In der Schlachtflotte bedeutete dies nicht so viel wie in anderen Raumstreitkräften, da ein gewaltiger Prozentsatz der solarischen Wallschiffe die Zeit in einem Zustand verbrachte, den die SLN euphemistisch als »Bereitschaftsreserve« bezeichnete. Ein Admiral konnte durchaus etliche T-Jahre mit dem Befehl über ein Geschwader Superdreadnoughts verbringen und die Seniorität ansammeln, die damit einherging − und den dazugehörigen Sold kassieren −, auch wenn seine Großkampfschiffe nichts anderes taten, als eingemottet in der Parkbahn zu liegen, ohne dass eine einzige Menschenseele an Bord war.

Im Moment interessierte Michelle aber viel mehr, dass vor neunundfünfzig T-Jahren der junge, aufstrebende Captain Josef Byng offiziell getadelt − und zweihundert Namen auf der Kapitänsliste nach unten gesetzt − worden war, weil er manticoranische Handelsschiffe schikaniert hatte.

Ihr suchender Blick verharrte an dieser Stelle, dann las sie ihn noch einmal und verzog das Gesicht. Trotz des trockenen, recht pedantischen Schreibstils des ONI-Auswerters war es nicht schwierig, zwischen den Zeilen zu lesen: Captain Byng war eindeutig einer jener solarischen Offiziere, die Neobarbaren − Manticoraner zum Beispiel − auf der Evolutionsleiter zwei oder drei Sprossen unterhalb des Schimpansen einordneten. Außerdem schien es, als sei seine reiche, aristokratische Familie (wenngleich es auf Alterde keine Aristokratie gab − offiziell) tief in den interstellaren Handel verstrickt.

Im Sternenkönigreich von Manticore war es sehr verbreitet, dass Familien, die in der gewaltigen Handelsschifffahrt tätig waren, auch der Navy Offiziere stellten, und Michelle kannte etliche Fälle, in denen ein solcher Offizier seine Autorität im Interesse seiner Familie gebraucht oder missbraucht hatte. Wurden der RMN solche Fälle gewahr, ergriff sie in der Regel Schritte. Bei den seltenen Gelegenheiten − die bei Weitem nicht mehr so häufig auftauchten, wie es einmal üblich gewesen war −, in denen der fragliche Offizier zu gute Beziehungen besaß, als dass die Militärgerichtsbarkeit ihn zu fassen bekam, wurde er in Zukunft normalerweise für kein Kommando mehr berücksichtigt, das ihm Gelegenheit gab, seinen Verstoß zu wiederholen.

Leider verhielt es sich in der Solaren Liga anders; dort waren Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch üblich und akzeptiert. Besonders in der Schale und dem Rand nutzten Offiziere mit »auskömmlichen« Beziehungen zur örtlichen OFS-Struktur ihre Positionen routinemäßig, um ihr Nest zu polstern oder Eigeninteressen voranzutreiben. Captain Byng hatte offenbar keinen Grund gesehen, dies nicht auch zu tun, und seine Schikanen waren weit offensichtlicher gewesen als üblich. Er war so weit gegangen, drei manticoranische Frachter wegen an den Haaren herbeigezogener Schmuggeleianklagen festzusetzen, und die Besatzung eines dieser Schiffe hatte beinahe zwei T-Jahre im Gefängnis verbracht, ohne je einem Richter vorgeführt zu werden.

Das Sternenkönigreich hatte versucht, das Problem vor Ort zu lösen, ohne daraus einen größeren diplomatischen Zwischenfall zu machen, doch Byng hatte schlichtweg jedes Gespräch darüber mit den örtlichen manticoranischen Handels- und Justizattachés verweigert. Die Begriffe, in die er seine Ablehnung kleidete, waren … wenig diplomatisch, und beim zweiten Mal zeichnete der Justizattaché ohne Byngs Wissen das gesamte Gespräch auf. Diese Aufzeichnung wurde sodann vom manticoranischen Botschafter in der Solaren Liga dem solarischen Außenminister offiziell überbracht mit der höflichen, aber bestimmten Bitte, dass der Minister sich um die Angelegenheit kümmern möge. Und zwar bald.

Zum Unglück Captain Byngs besaß das Sternenkönigreich von Manticore erheblich mehr Einfluss als andere »Neobarbaren«, die er zu tyrannisieren pflegte. Angesichts der höflich verhüllten Drohung, dass eine Weigerung, die festgesetzten Schiffe freizugeben − und die Besatzungsmitglieder mit Entschuldigung und Schadensersatz auf freien Fuß zu setzen − zu erhöhten Wurmlochknoten-Transitgebühren für alle solarischen Handelsschiffe führen könnte, setzte sich die Liga-Bürokratie schwerfällig in Bewegung. Es dauerte noch weitere sechs T-Monate, aber am Ende ließ man die Schiffe und die gefangen gesetzten Besatzungen frei, die Liga hatte einen beträchtlichen Schadensersatz gezahlt, und Captain Byng wurde gezwungen, sich formell dafür zu entschuldigen, »seine Kompetenzen überschritten« zu haben. Dennoch war er unglaublich glimpflich davongekommen für jemanden, der durch sein Handeln − und seine Dummheit − eine ganze Sternnation blamiert hatte, fand Michelle. Man hatte ihm sogar gestattet, seine Entschuldigung schriftlich zu machen statt persönlich, und jeder manticoranische Offizier, der sich derart aufgeführt hätte, wäre ohne Zweifel aus dem Dienst der Königin entlassen worden. In Byngs Fall allerdings hatte nie irgendeine Chance bestanden, dass es so weit kam. Im Grunde war es erstaunlich, dass man ihn auf der Beförderungsliste zurückgestuft hatte.

Aus dem weiteren Verlauf seiner Akte ging hervor, dass er für diese Strafe jeden außer sich selbst verantwortlich machte. Ohne Zweifel hatte sie seine Beförderung in den Admiralsrang um mehrere T-Jahre verzögert, und es schien festzustehen, dass Manticore die ganze Schuld an seinem Unglück trug.

Michelle hätte diese Lektüre unter gleich welchen Umständen nicht erfreut, doch dass Byng hier draußen war und eine Kampfgruppe der Grenzflotte kommandierte − die ungeachtet der Tatsache, dass sie größer war als alles, was man normalerweise am Rand sah, für einen Offizier seiner Seniorität recht klein wirkte −, veranlasste sie nicht gerade zu Freudensprüngen.

Die Schlachtflotte und die Grenzflotte waren einander nicht grün. Die Schlachtflotte erhielt trotz der Tatsache, dass keines ihrer Großkampfschiffe seit über zwei T-Jahrhunderten einen Schuss im Zorn mehr abgefeuert hatte, den Löwenanteil am Etat der SLN und war bei Weitem die prestigeträchtigere Teilstreitkraft. Ihr Offizierskorps bestand fast ausschließlich aus Offizieren mit Familien wie die Byngs, sodass sie beinahe eine geschlossene Kaste darstellte. Während es in der RMN einen bemerkenswert hohen Anteil an »Mustangs« gab − Offizieren, die aus dem Mannschafts- und Unteroffiziersstand stammten −, existierte so etwas in der Schlachtflotte überhaupt nicht. Dieser Umstand trug zu einer (nach manticoranischen Standards) unglaublichen Beschränktheit des Horizonts und Interesses beim überwiegenden Teil der Schlachtflottenoffiziere bei. Sie neigten nicht nur dazu, von unfassbar weit oben auf alle nichtsolarischen Raumstreitkräfte hinabzusehen − und sogar die Verteidigungskräfte der wichtigsten solarischen Planetensysteme −, sie betrachteten sogar ihre Gegenstücke in der Grenzflotte als überschätzte Polizisten, Zollbeamte und Neobarbaren-Prügler, die es offenbar nicht geschafft hatten, bei einer echten Navy unterzukommen.

Bei der Grenzflotte andererseits galten Schlachtflottenoffiziere als überzüchtete Drohnen mit zu kleinen Gehirnen, deren veraltete Großkampfschiffe genauso überholt und nutzlos waren wie sie selbst, die aber unsägliche Finanzmittel aufsogen, die bei der Grenzflotte dringend gebraucht wurden. Persönlich wäre Michelle noch erboster darüber gewesen, dass ein guter Teil dieser Finanzmittel, die offiziell zum Unterhalt der Großkampfschiffe ausgegeben wurden, in die Taschen diverser Schlachtflottenoffiziere, ihrer Freunde und Familien flossen, aber sie nahm an, dass es unrealistisch gewesen wäre, von der Grenzflotte zu erwarten, das Gleiche zu empfinden. Schließlich waren Bereicherung durch Amtsmissbrauch und »Familieninteressen«, bei der Grenzflotte genauso sehr ein Teil der institutionellen Kultur wie bei der Schlachtflotte. Und um fair zu bleiben, wurde auch die Grenzflotte von einer quasierblichen Offizierskaste beherrscht, die ihren Gegenstücken in der Schlachtflotte die üppigeren Möglichkeiten zur Veruntreuung neidete. Dennoch gab es in den Reihen dieser Offiziere einen beträchtlich höheren Anteil an »Außenseitern« und sogar eine kleine Handvoll Mustangs.

Wer dies alles wusste, musste sich im Klaren sein, dass kein Admiral der Schlachtflotte Freude empfinden konnte, wenn er das Kommando über eine Kampfgruppe der Grenzflotte erhielt. Und keine Kampfgruppe der Grenzflotte begrüßte es, so jemanden zum Kommandeur zu haben. Unter allen Umständen, die Michelle einfallen wollten, musste ein Schlachtflottenoffizier von Byngs Rangdienstalter ein solches Kommando als Degradierung empfinden, vielleicht sogar als Beleidigung seines beruflichen Könnens, und er hätte eigentlich die Familienbeziehungen haben müssen, um so etwas zu verhindern.

Natürlich nur wenn er es hatte verhindern wollen.

Oh, mir gefällt das gar nicht, dachte sie. Dieser Bastard hat bestimmt »Ich hasse Manticore« in die Unterwäsche gestickt, und das heißt, dass die Lage hier soeben um ein Vielfaches brenzliger geworden ist. Ich möchte wissen, ob das allein Byngs Idee war? Eigentlich hoffe ich das sogar. Denn wenn nicht, wenn jemand anderes die Fäden gezogen hat, damit er hier mit dieser Kampfgruppe eingesetzt wird, und er es sich hat gefallen lassen, dann können wir wohl sicher sein, dass es nicht aus einem Grund geschah, der uns gefallen wird. Andererseits bezweifele ich, dass ich etwas sagen könnte, was ihn veranlasst, uns mehr zu mögen, also mache ich am besten einfach nichts und gebe mich, wie ich immer bin, unendlich taktvoll.

»Gut«, sagte sie schließlich. »Ich sollte nun wohl lieber mit ihm reden. Geben Sie mir eine Minute, damit ich mein fröhliches Gesicht wieder aufsetzen kann, dann rufen Sie ihn an, Bill.«