ZWO

 

»Signal von Ihrer Hoheit, Ma’am«, sagte Lieutenant Kaminski leise, und Michelle erhob sich. Sie hatte neben dem Sanitäter am Boden gekniet, der den bewusstlosen Manfredi versorgte.

»Ich nehme es bei Ihnen an, Albert«, sagte sie und ging rasch zur Station des Signaloffiziers. Über seine Schulter hinweg blickte sie in den Aufzeichner und sah Honor auf dem Display.

»Wie schlimm steht es, Mike?«, fragte Honor rasch.

»Das ist eine interessante Frage.« Michelle gelang das Zerrbild eines Lächelns. »Captain Mikhailov ist tot, und die Lage ist … vorerst ein wenig verworren. Unsere Schienen und Gondeln sind noch intakt, und unsere Feuerleitung sieht ziemlich gut aus, aber unsere Nahbereichsabwehr und die Energiearmierung hat ziemlich viel eingesteckt. Am Schlimmsten scheint es aber beim Heckimpellerring zu sein. Totalausfall.«

»Kannst du ihn wieder in Gang setzen?«, fragte Honor drängend.

»Wir arbeiten dran. Immerhin scheint der Schaden in den Steuerleitungen zu stecken; die Emitter selbst sehen aus, als wären sie immer noch intakt, die Alphas eingeschlossen. Schlecht ist, dass wir im Heck eine Menge Rumpfschäden haben, und schon festzustellen, wo die Leitungen unterbrochen sind, wird ein Kampf erster Güte.«

»Bringt du sie raus?« Honors Stimme klang plötzlich weicher, als sie die einzige Frage stellte, die wirklich eine Rolle spielte, und Michelle sah ihrer besten Freundin vielleicht drei Herzschläge lang in die Augen, dann zuckte sie mit den Schultern.

»Ich weiß es nicht«, gab Michelle zu. »Offen gesagt sieht es nicht gut aus, aber ich bin nicht bereit, sie jetzt schon abzuschreiben. Außerdem«, sie zwang sich erneut zu einem Lächeln, »können wir nur schlecht von Bord.«

»Wie meinst du das?«

»Beide Beiboothangars liegen in Trümmern, Honor. Die Bosun sagt, sie kann den Heckhangar vielleicht freiräumen, aber das dauert wenigstens eine halbe Stunde. Und ohne Hangar …«

Michelle zuckte erneut die Achseln und fragte sich, ob sie genauso betroffen aussah wie Honor. Nicht dass Honors Gesicht den meisten Menschen etwas verraten hätte, doch Michelle kannte sie einfach zu gut.

Sie sahen einander mehrere Sekunden lang in die Augen, und keine von ihnen wollte aussprechen, was sie beide wussten. Ohne wenigstens einen funktionierenden Hangar konnte kein Beiboot an der Ajax andocken, um die Besatzung von Bord zu bringen. Rettungskapseln führte der Schlachtkreuzer nur für gut die Hälfte seiner Besatzung mit. Es hatte keinen Sinn, mehr davon zu haben, denn nur die Hälfte aller Besatzungsmitglieder hatte Gefechtsstationen so dicht an der Außenhaut, dass ihnen eine Rettungskapsel im Notfall etwas nutzte.

Und die Flaggbrücke befand sich viel zu tief innerhalb des Rumpfes, um in diese Kategorie zu fallen.

»Mike, ich …«

Honor schien die Gewalt über ihre Stimme zu verlieren, und Michelle schüttelte rasch den Kopf.

»Sag es nicht«, bat sie fast sanft. »Wenn wir den Keil wiederhaben, können wir wahrscheinlich mit allem Versteck spielen, was groß genug ist, um uns zu vernichten. Wenn wir ihn nicht wieder in Gang bekommen, kommen wir nicht aus dem Sonnensystem. So einfach ist das, Honor. Und du weißt so gut wie ich, dass du nicht den Rest des Kampfverbands zurückhalten kannst, um uns zu schützen. Nicht wo Bandit-Drei nach wie vor aufschließt. Selbst wenn du nur für die halbe Stunde hier bleibst, in der wir versuchen zu reparieren, was zu reparieren ist, kommst du in ihre Reichweite, und deine Raketenabwehr ist keinen Furz mehr wert.«

Sie sah es Honor an den Augen an. Honor wollte widersprechen, protestieren. Doch sie konnte es nicht.

»Du hast recht«, sagte Honor leise. »Ich wünschte, es wäre anders, aber du hast recht.«

»Weiß ich.« Henkes Lippen zuckten wieder. »Und wir sind wenigstens in besserer Verfassung als die Necromancer«, stellte sie fest. »Aber ich glaube, bei ihr sind immerhin die Beiboothangars intakt.«

»Nun ja, das stimmt«, erwiderte Honor. »Das ist der große Unterschied. Rafe kümmert sich gerade um die Evakuierung ihrer Besatzung.«

»Nett von Rafe«, entgegnete Michelle.

»Weich nach Systemnorden aus«, befahl Honor. »Ich werde unsere Beschleunigung für knapp fünfzehn Minuten senken.«

Michelle wollte zu einem Widerspruch ansetzen, doch Honor schüttelte rasch den Kopf.

»Nur fünfzehn Minuten, Mike. Wenn wir dann auf Maximalschub gehen, passieren wir Bandit-Drei wenigstens achtzigtausend Kilometer außerhalb seiner Reichweite mit angetriebenen Raketen.«

»Das ist zu dicht, Honor!«, erwiderte Michelle scharf.

»Nein«, entgegnete Honor tonlos, »das ist es nicht, Admiral Henke. Und nicht nur, weil die Ajax dein Schiff ist. Es sind noch siebenhundertfünfzig andere Männer und Frauen an Bord.«

Michelle wollte erneut widersprechen, doch dann hielt sie inne, holte tief Luft und nickte. Es gefiel ihr noch immer nicht, sie vermutete, dass Honors Freundschaft ihr Urteilsvermögen trübte. Doch es war genauso möglich, dass eben diese Freundschaft ihr eigenes, Michelles, Urteilsvermögen beeinträchtigte, und Honor hatte völlig recht damit, wie viele Menschen an Bord der Ajax noch in Lebensgefahr schwebten.

»Wenn die Haveniten sehen, dass unsere Beschleunigung fällt, werden sie annehmen, dass die Imperator genügend schweren Impellerschaden erlitten hat, um den Rest des Kampfverbands zu verlangsamen, und danach handeln«, fuhr Honor fort. »Bandit-Drei sollte uns auf dieser Grundlage verfolgen. Wenn du den Heckimpellerring innerhalb der nächsten fünfundvierzig Minuten bis einer Stunde wieder in Gang bekommst, solltest du dich von Bandit-Zwo fernhalten können, und Bandit-Eins ist mittlerweile nur noch Schrott. Aber wenn du ihn nicht in Gang bekommst …«

»Wenn wir ihn nicht in Gang bekommen, können wir auch nicht in den Hyperraum«, unterbrach Michelle sie. »Ich glaube, das ist das Beste, was wir tun können, Honor. Danke.«

Honor presste die Lippen zusammen, aber sie nickte.

»Richte Beth meine besten Wünsche aus, für alle Fälle«, fügte Michelle hinzu.

»Das kannst du selber machen«, versetzte Honor.

»Mach ich auch«, entgegnete Michelle. Sanfter sagte sie: »Pass auf dich auf, Honor.«

»Gott segne dich, Mike«, antwortete Honor leise. »Ende.«

 

»Ma’am, Commander Horn möchte Sie sprechen«, sagte Lieutenant Kaminski. Commander Manfredi war ins Lazarett geschafft worden, und der Signaloffizier hatte Manfredis Aufgaben als Stabschef übernommen. Zwar war er längst nicht der ranghöchste Offizier des Stabes, der noch stehen konnte, aber seine Ressortaufgaben ließen ihm im Augenblick, unter den gegebenen Umständen, die meiste Zeit − und es war nicht so, als hätte Michelle weiterhin ein Geschwader, für das man einen Stabssignaloffizier benötigte.

»Danke, AI«, sagte sie und wandte sich rasch ihrem Combildschirm zu, als dort ein Gesicht erschien.

Commander Alexandra Horn war eine stämmige, grauäugige Frau mit kurz geschnittenem brünettem Haar. Sie hatte als Erster Offizier von HMS Ajax fungiert, bis der Tod Captain Diego Mikhailovs und sämtlicher Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften auf dem Kommandodeck es änderte: Nun war sie Kommandantin des Schiffes, und Henke sah hinter ihr die Ersatz-Kommandocrew im Hilfskontrollraum des Schlachtkreuzers. Er lag am der normalen Brücke entgegengesetzten Ende des Rumpfkerns der Ajax. Die Leute saßen über ihre Pulte gebeugt und arbeiteten hektisch.

»Ja, Alex?«

Horns Stimme war rau, die Wangen hohl vor Anspannung und Müdigkeit. »Admiral, ich glaube, es ist an der Zeit, jeden zu evakuieren, der Zugriff auf eine Rettungskapsel hat.«

Michelle spürte, wie ihre Miene zu einer Maske gerann, doch es gelang ihr, fast im Konversationston zu erwidern.

»Ist es also so schlimm?«

»Vielleicht ist es sogar schlimmer, Ma’am.« Horn rieb sich kurz die Augen, dann sah sie aus dem Display Michelle an. »Es sind einfach zu viele Trümmer im Weg. Gott allein weiß, wie alle vier Schienen noch arbeiten können, denn wir haben an wenigstens vier Stellen Lecks, die bis in den Raketenkern reichen. Vielleicht sind es auch sechs. Commander Tigh vermag noch immer nicht zu sagen, wo die Steuerleitungen unterbrochen sind, und schon gar nicht, wann er den Ring vielleicht wieder in Funktion setzen kann.«

Na, das ist doch eine ziemlich emphatische Antwort auf die große Zerbrechlichkeitsdebatte, oder, Mike?, fragte eine leise Stimme in Michelles Hinterkopf. Unter den gegebenen Umständen ist es ein Wunder, wieso wir nicht gleich zusammen mit der Patrocles und der Priamos hochgegangen sind. Wie hat Honor das noch ausgedrückt?

»Mit Vorschlaghämmern bewaffnete Eierschalen«, oder? Natürlich sprach sie damals von LACs und nicht von Schlachtkreuzern, aber trotzdem …

Sie sah Horn an, während ihre Gedanken eilig den gleichen Logikbäumen folgten, die die Kommandantin bereits abgearbeitet haben musste. Lieutenant Commander William Tigh war der Leitende Ingenieur der Ajax, und Michelle wusste, dass er und seine Reparaturmannschaften im Moment auf der hektischen Suche nach dem Schaden, der die Alpha-Emitter von den Steuerleitungen abgetrennt hatte, einen Weg durch die Trümmer heckwärts des Mittschiffs stemmten, rammten und schnitten. Sie konnte nicht sagen, von Horns Vorschlag sonderlich überrascht zu sein, doch die Neuigkeit war ihr deshalb noch lange nicht willkommener.

Was Horn dachte, war unverkennbar. Sie konnten nicht zulassen, dass die Technik an Bord der Ajax den Haveniten in die Hände fiel. Haven hatte zu Beginn des Krieges genügend Exemplare manticoranischer Waffen und Elektronik erbeutet, doch die Systeme an Bord der Ajax und ihrer Schwesterschiffe waren allem, was damals aktuell gewesen war, weit überlegen. Die Allianz hatte bereits deutlich gespürt, wie rasch Haven alles, was es zu fassen bekam, zur Anwendung zu bringen verstand. Die Navy hatte die besten Sicherungssysteme eingebaut, um sicherzustellen, dass so wenig Technik wie möglich zu analysieren war, wenn ein Schiff verloren ging, und so gut wie alle Molycircs konnten durch Eingabe der entsprechenden Befehlscodes augenblicklich gelöscht werden, doch keine Sicherungsmaßnahme war perfekt. Und wenn Tigh den Heckimpellerring nicht wieder zum Funktionieren brachte, ließ sich nur auf einem Weg verhindern, dass die Ajax und alles an Bord in havenitische Hände fiel.

»Was ist mit dem achteren Beiboothangar?«, fragte Michelle schließlich.

»Die Bosun ist noch immer mit dem Trümmerräumen beschäftigt, Ma’am. Im Moment sieht es so aus, als wäre das vergebliche Liebesmüh.«

Michelle nickte verständnisvoll. Master Chief Alice MaGuire war Bootsmann der Ajax, ihr ranghöchster Unteroffizier. Im Augenblick arbeiteten MaGuire und die ihr unterstellten Reparaturtrupps mit Höchsttempo daran, wenigstens einen Beiboothangar des Schlachtkreuzers wieder benutzbar zu machen. Solange das nicht gelang, ließ sich das Schiff nur in einer funktionstüchtigen Rettungskapsel verlassen.

Technisch lag die Entscheidung bei Horn, nicht bei Michelle. Der Commander war Kommandantin der Ajax, sie war für Schiff und Besatzung verantwortlich und nicht der Admiral, der sich zufällig gerade an Bord befand. Michelle glaubte allerdings keineswegs, dass Horn versuchte, die Last der Entscheidung auf sie abzuwälzen. Das hieß aber noch lange nicht, dass Horn nicht für jeden Rat dankbar gewesen wäre, den Michelle ihr vielleicht erteilen konnte.

»Angenommen, Sie setzen die Rettungskapseln aus, haben Sie dann noch genügend Mannstärke zum Weiterkämpfen?«, fragte sie ruhig.

»Ich fürchte, die Antwort auf diese Frage lautet ja, Ma’am«, sagte Horn bitter. »Wir verlieren unsere Ersatzbedienungsmannschaften an den Lafetten der Energiewaffen und Nahbereichsabwehrcluster, aber von unseren verbleibenden Lafetten ist im Augenblick sowieso keine einzige unter lokaler Steuerung. Und unsere Schienen sind davon überhaupt nicht betroffen. Innerhalb der gegebenen Grenzen hätten wir noch immer mehr Leute, als wir brauchen, um zu kämpfen.«

Michelle nickte erneut. Die Bedienungsmannschaften an den Lafetten erfüllten allein den Zweck, die Energiewaffen zu übernehmen, sollten sie von der zentralisierten Steuerung durch den Taktischen Offizier auf der Brücke abgeschnitten werden. Es bestand eine nur geringe Wahrscheinlichkeit, dass sie irgendetwas ausrichten konnten − insbesondere gegen die Bedrohung, die sich der Ajax mit der fast doppelten augenblicklichen Beschleunigung des lahmenden Schlachtkreuzers näherte, seit Bandit-Zwo seine Verfolgung des übrigen Kampfverband eingestellt hatte. Die Hauptbewaffnung des Schiffes, seine Raketengondeln, befanden sich tief in seinem Kern. Die Männer und Frauen, die sie bedienten, waren zu tief innerhalb des Rumpfkerns, als dass irgendeine Rettungskapsel sie in Sicherheit bringen konnte.

Worauf es tatsächlich hinauslief, überlegte Michelle traurig, war die Tatsache, dass es selbst dann schon zu spät war, wenn es Tigh irgendwie gelang, den Heckring wieder in Gang zu setzen. Das Schiff war nicht mehr zu retten. Bandit-Zwo war zu nahe. Keine zwanzig Minuten, und die sechs modernen Superdreadnoughts wären auf Mehrstufenraketenreichweite herangekommen. Sobald das geschah, starb die Ajax, so oder so. Verhindern ließe es sich nur, indem man sich dem Feind ergab, und in dem Fall gelangte sämtliche unschätzbar wertvolle technische Informationen in Form funktionstüchtiger Aggregate in havenitische Hand.

Ich frage mich, ob Horn kaltblütig genug ist, um den Befehl zum Sprengen zu erteilen? Bringt sie es wirklich über sich, wo sie weiß, dass die Hälfte ihrer Besatzung mit ihr stirbt?

Dass kein Untersuchungsausschuss und kein Kriegsgericht Manticores sie je dafür verurteilen würde, ihr Schiff ehrenvoll übergeben zu haben, machte das Dilemma des Commanders nur noch schlimmer. Wenn sie nicht kapitulierte − wenn sie ihr eigenes Schiff vernichtete, mit so vielen Mitgliedern ihrer Besatzung an Bord −, dann würde ihr Name sogar zweifellos in den Schmutz gezogen von zahllosen Personen, die nicht dabei gewesenen waren, die sich nie der gleichen Entscheidung hatten stellen müssen.

Aber sie braucht es gar nicht zu entscheiden, dachte Michelle fast reglos. Wenn sie gegen derart große Feuerkraft zu kämpfen versucht, nehmen die Havies ihr die Entscheidung ab.

»Wenn Ihr Schiff dann noch gefechtstüchtig ist, Captain«, sagte sie in förmlichem Ton zu Horn, »stimme ich Ihrer Idee unter allen Umständen zu. Angesichts der taktischen Lage wäre es die richtige Entscheidung, so viele Besatzungsmitglieder wie möglich per Rettungskapsel vom Schiff zu evakuieren.«

»Danke, Ma’am«, sagte Horn leise. Es war ihre Entscheidung, aber ihre Dankbarkeit für Michelles Zustimmung ging tief, das war ihr anzusehen. Dann holte sie tief Luft. »Wenn Sie und Ihr Stab nun die Flaggbrücke räumen wollen, Ma’am, bleibt uns genügend Zeit −«

»Nein, Captain«, unterbrach Michelle sie ruhig. Horn sah sie an, und sie schüttelte den Kopf. »Die Kapseln werden vom zugeordneten Personal benutzt, beziehungsweise von den Besatzungsmitgliedern, die ihnen im Moment des Räumungsbefehls am nächsten sind«, fuhr sie mit ruhiger Stimme fort.

Einen Augenblick lang glaubte sie, Horn würde Einwände erheben. Horn besaß sogar die nötige Autorität, um Michelle und ihrem Stab zu befehlen, das Schiff zu verlassen, und notfalls sogar Gewalt anzuwenden, um ihre Anordnung durchzusetzen. Doch als Michelle dem Commander in die Augen blickte, sah sie, dass Horn begriff. Wenn Michelle Henkes Flaggschiff vernichtet werden sollte, während Menschen an Bord waren, die es nicht verlassen konnten, dann würde Michelle Henke zu diesen Menschen gehören. Aus logischer Sicht war es sinnlos, doch das spielte keine Rolle.

»Ja, Ma’am«, sagte Horn und brachte fast ein Lächeln zustande. »Wenn Sie mich nun entschuldigen möchten, Admiral, ich habe Befehle zu erteilen.«

»Weitermachen, Captain. Ende.«

»Wissen Sie, Ma’am«, sagte Lieutenant Commander Stackpole, »mir ist zwar klar, dass wir ziemlich am Ende sind, aber ich würde wirklich gern zusehen, wie ein paar von denen mitgehen.«

Sein Ton klang geradezu launig, und Michelle fragte sich, ob ihm das klar war oder ob er es ironisch meinte.

Ironie oder nicht, im Grunde stimmte sie ihm zu. Bandit-Zwo hatte seinen Versuch, den Rest des Kampfverbands zu verfolgen, nur so lange fortgesetzt, bis offensichtlich war, dass er die Imperator und die anderen Schiffe nicht einholen konnte. In diesem Moment hatte Bandit-Zwo und zwar komplett den Kurs geändert, um die Ajax zu verfolgen; die Kampfgruppe kam dabei auf einen Beschleunigungsvorteil von beinahe zweieinhalb Kilometern pro Sekundenquadrat. Durch die Schäden an dem manticoranischen Schlachtkreuzer und die Tatsache, dass Bandit-Zwo die Sehne des Kurses der Ajax hatte schneiden können, nachdem die Kampfgruppe die Verfolgung des übrigen Kampfverbands aufgegeben hatte, war es Bandit-Zwo gelungen, einen Geschwindigkeitsvorteil von mehr als zweitausend Kps aufzubauen. Mit solch einer Aufschließgeschwindigkeit und solch einem Beschleunigungsvorteil gegenüber einem Schiff, das selbst dann nicht in den Hyperraum entkommen konnte, wenn es ihm gelang, die Hypergrenze zu überschreiten, ehe es abgefangen wurde, konnte die Verfolgung nur zu einem einzigen Ende führen.

Maximalreichweite für havenitische Mehrstufenraketen lag knapp unter einundsechzig Millionen Kilometern, und der Abstand war bereits auf dreiundsechzig Millionen gefallen. Lange dauerte es nicht mehr, es sei denn …

»Ich frage mich gerade«, sagte Michelle, »wie nahe sie kommen wollen, ehe sie den Abzug drücken.«

»Nun, die Havies dürften wissen, dass unsere Schlachtkreuzer-Gondeln mit Typ 16 bestückt sind«, sagte Stackpole und blickte sie über die Schulter hinweg an. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie gern in unsere Reichweite kommen wollen!«

»An ihrer Stelle würde ich das wirklich nicht wollen«, stimmte Michelle ihm zu. »Trotzdem, ihre Daten über die Leistung der Typ 16 dürften ja doch ein bisschen lückenhaft sein. Ich weiß natürlich«, sie winkte ab, »dass wir sie schon benutzt haben, aber die äußerste Reichweite unter Antrieb haben wir bisher nur ein einziges Mal ausgenutzt, und zwar hier, innerhalb von Beschießungsplan Gamma, und darin hatten wir mittendrin eine ballistische Komponente eingebaut. Es ist durchaus möglich, dass Bandit-Zwo noch keine vollständige taktische Analyse erhalten hat.«

»Sie wollen sagen, dass sie vielleicht doch in unsere Reichweite kommen, Ma’am?« Stackpole klang wie ein Subalternoffizier, der sein Bestes versucht, um sich seine Zweifel nicht allzu offensichtlich anmerken zu lassen.

»Das ist durchaus möglich, nehme ich an«, sagte Michelle. Dann schnaubte sie. »Natürlich ist genauso möglich, dass ich nach Strohhalmen greife!«

»Nun, Ma’am«, sagte Stackpole, »ich will ja kein Spielverderber sein, aber mir fällt wenigstens ein verdammt guter Grund ein, warum sie tun, was sie tun.« Sie sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an, und er zuckte mit den Schultern. »Wenn ich eine halbwegs vernünftige Vorstellung hätte, wo die maximale Reichweite unter Antrieb unserer Lenkwaffen liegt, würde ich mich an ihrer Stelle auf keinen Fall beeilen. Ich würde versuchen, so dicht wie möglich heranzukommen und trotzdem außerhalb unserer Reichweite zu bleiben, ehe ich feuerte. Wenn wir natürlich anfangen würden, sie auf größere Entfernung anzugreifen, mit einer ballistischen Flugphase, dann würde ich mich mit dem Zurückschießen wahrscheinlich sehr beeilen.«

»Ich verstehe«, sagte Michelle.

Sie lächelte mit zusammengepressten Lippen, dann kippte sie mit dem Kommandosessel zurück. Im Grunde war es bemerkenswert, dachte sie. Was immer die Havies vorhatten, sie würde irgendwann im Laufe der nächsten Stunde sterben, und dennoch fühlte sie sich eigentlich ruhig. Dem Tode ergeben hatte sie sich noch nicht, sie wollte nicht sterben − irgendwo tief in ihr wehrte irgendein Überlebenszentrum den Gedanken vielleicht noch immer ab −, und doch wusste ihr Großhirn, was geschehen würde. Dennoch war ihr Verstand klar, erfüllt von einer Art bittersüßer Gelassenheit. Es gab so vieles, was sie sich vorgenommen hatte und was sie nun nie mehr tun könnte, und dafür empfand sie tiefes Bedauern. Für die anderen Männer und Frauen, die mit ihr an Bord der Ajax in der Falle saßen, empfand sie jedoch eine tiefere, dunklere Trauer. Dennoch, dieses Ende hatte sie an dem Tag als möglich akzeptiert, als sie in die Akademie eintrat, an dem Tag, an dem sie ihren Eid als Offizier der Royal Manticoran Navy ablegte. Sie konnte nicht so tun, als hätte sie nicht gewusst, dass er kommen konnte, und wenn sie sterben musste, hätte es in keiner besseren Gesellschaft geschehen können als der Besatzung von HMS Ajax.

Sie dachte an die Männer und Frauen, die in den verbliebenen brauchbaren Rettungskapseln des Schlachtkreuzers geflohen waren, und fragte sich, was sie dachten, während sie darauf warteten, vom Feind geborgen zu werden. Früher einmal war man bei der manticoranischen Navy nicht allzu sicher gewesen, ob havenitische Schiffe sich nach einem Gefecht tatsächlich mit Raumnotrettung aufhielten. Heute bezweifelte auf beiden Seiten niemand, dass der Sieger nach jedem Gefecht sein Bestes geben würde, um so viele Überlebende beider Seiten wie möglich zu bergen, und das trotz des Überraschungsangriffs, mit dem die Republik die Feindseligkeiten erneuert hatte.

Also hat es wenigstens doch ein bisschen Fortschritt gegeben, sagte sie sich sarkastisch. Dann riss sie sich innerlich zusammen. Das Letzte, was sie in einem Moment wie diesem tun sollte, war etwas anderes als Dankbarkeit zu empfinden, dass die Leute, die Commander Horn von der Ajax hatte schaffen können, überleben würden!

Seit Basilisk Station und Hancock Eins ist wirklich viel passiert, sagte sie sich. Ja, sogar …

»John.« Sie stellte den Kommandosessel wieder aufrecht und drehte ihn zum Operationsoffizier herum.

»Jawohl, Ma’am?« Etwas in ihrer Stimme veranlasste ihn, mit dem eigenen Sessel zu ihr herumzufahren und ihr ins Gesicht zu sehen.

»Die Havies sind doch jetzt damit fertig, Anleihen bei Ihrer Hoheit Taktik von Sidemore zu machen, oder?«

»So kann man es ausdrücken«, stimmte Stackpole zu. Er kniff die Augen zusammen.

»Na dann«, sagte Michelle mit einem Haifischlächeln, »finde ich es an der Zeit, dass zur Abwechslung einmal wir Anleihen bei ihrer Taktik aus der Ersten Schlacht von Hancock Station machen. Wollen wir die Idee ein paar Minuten lang mit Commander Horn durchgehen? Schließlich« − ihr Lächeln wurde noch dünner − »ist es nicht so, als hätten wir Besseres zu tun, oder?«

 

»Gefällt mir gut, Hoheit«, sagte Alexandra Horn grimmig auf Michelles Combildschirm.

»Nach unseren besten Daten«, sagte Michelle, »haben wir noch etwa dreihundert Gondeln auf den Schienen.«

»Dreihundertsechs, Admiral«, korrigierte Commander Dwayne Harrison aus dem Hintergrund, der in dem Augenblick Taktischer Offizier der Ajax geworden war, in dem Horn zur Kommandantin des Schlachtkreuzers aufstieg.

»Knapp über zwölf Minuten brauchen wir, um sie alle rauszurollen.«

»Jawohl, Ma’am«, stimmte Horn zu. »Benutzen wir ihre Traktorstrahler, um sie am Rumpf zu verankern, bis wir sie alle auf einmal aussetzen?«

»Genau. Und wenn wir das tun wollen, dann sollten wir lieber bald anfangen.«

»Das meine ich auch.« Horn runzelte einen Augenblick lang die Stirn, dann verzog sie das Gesicht. »Ich habe im Moment zu viele andere Sachen zu tun, Admiral. Ich glaube, Sie und Commander Stackpole sollten das zusammen mit Dwayne übernehmen, während ich mich um die Reparaturtrupps kümmere.«

»Dem stimme ich zu, Alex.« Michelle nickte nachdrücklich, auch wenn Horn genauso gut wie sie wusste, dass alle Reparaturen in der Welt keinen großen Unterschied ausmachen würden. Master Chief MaGuire und ihre Reparaturtrupps schindeten sich noch immer, um wenigstens einen Hangar zu klarieren, aber nach der letzten Schätzung der Bosun würde es noch wenigstens eine Stunde dauern, wahrscheinlich zumindest ein bisschen länger. Es war … unwahrscheinlich, dass die Ajax diese Stunde hätte.

»Verstanden, Ma’am.« Horn erwiderte das Nicken. »Ende«, sagte sie, und auf Michelles und Stackpoles Combildschirmen trat Harrisons Gesicht an ihre Stelle.

 

Die erbitterte Verfolgungsjagd näherte sich ihrem unausweichlichen Ende. Der Gedanke verwandelte Michelle Henkes Bauch in einen gewaltigen Eisenklumpen, und fast wurde ihr schwindlig. Angst herrschte natürlich vor in ihren Gefühlen − schließlich war sie nicht wahnsinnig. Aber trotzdem hielten Erregung und eine seltsame Vorfreude sie beinahe so fest gepackt wie die Furcht vor dem eigenen Tod.

Wenn das der letzte Schuss ist, den ich je abgebe, dann wird er wenigstens ein Prachtexemplar, sagte sie sich angespannt. Und wie es aussieht, erlebe ich sogar noch, wie das Feuerwerk losgeht. Kaum zu glauben.

Im Laufe der letzten siebenundvierzig Minuten war nur allzu deutlich geworden, wie genau Stackpole die Absichten des havenitischen Kommandeurs eingeschätzt hatte. Denn seit siebenundvierzig Minuten befand sich Bandit-Zwo auf eigener äußerster Raketenreichweite zur Ajax, aber der Feind hatte es eindeutig nicht eilig, den Feuerknopf zu drücken.

Und das hat auch seinen Grund, dachte Michelle. Die Haveniten besaßen jeden erdenklichen Vorteil − Schiffszahl, Beschleunigung, Feuerkraft, Antiraketenwerfer und Lasercluster, Raketenreichweite −, und nutzten ihn unbarmherzig. Michelle war, wenn sie ehrlich sein sollte, ein wenig überrascht, dass der Feind der Versuchung widerstanden hatte, früher zu feuern, doch sie begriff durchaus seinen Gedankengang. Wie Stackpole vermutet hatte, würden die havenitischen Schiffe zu einem Abstand aufschließen, auf den die Ajax sie mit manövrierfähigen Typ-16-Raketen gerade noch nicht erreichen konnte, und dann das Feuer eröffnen. Oder vielleicht zuvor die Ajax zum Streichen des Keils auffordern, denn für den Schlachtkreuzer wäre die Lage aussichtslos. Selbst für manticoranische Lenkwaffen hätte ohnehin eine Wahrscheinlichkeit von etwa Null bestanden, in Salven, wie ein einzelner Agamemnon sie feuern und leiten konnte, die Raketenabwehr von Bandit-Zwo zu durchdringen. Und wenn die Salve auch noch eine Phase des freien Falls durchlaufen musste, sank die Wahrscheinlichkeit noch weiter. Dahingegen mochte die Ajax über eine noch so gute Raketenabwehr verfügen, sie war und blieb ein einzelner Schlachtkreuzer, der sich zudem dreißig Millionen Kilometer innerhalb der Höchstreichweite von Bandit-Zwo befand. Die lichtgeschwindigkeitsbedingte Kommunikationsverzögerung wäre weit geringer, was sowohl die Feuerleitung des Gegners verbesserte als auch seine Fähigkeit, die überlegene manticoranische Eloka auszugleichen.

Natürlich könnten sich in dieser taktischen Situation dennoch ein paar kleine Hindernisse verbergen, nicht wahr?, dachte Michelle.

Erneut wandte sie sich mit dem Kommandosessel Stackpole zu. Ihr Operationsoffizier hatte die Schultern zusammengezogen, und seine Aufmerksamkeit galt ganz seinem Display. Michelle lächelte ihn mit bittersüßem Bedauern an. Er und Harrison hatten Michelles Ideen rasch und effizient umgesetzt. Jetzt …

Michelles Com piepte leise. Bei dem Geräusch erschrak sie und zuckte zusammen, dann drückte sie den Annahmeknopf. Auf dem Display erschien Alexandra Horn. Diesmal lag ein ganz anderer Ausdruck in den grauen Augen des Commanders. Sie leuchteten förmlich, und sie grinste Michelle breit an.

»Master Chief MaGuire hat den Heckhangar klariert, Ma’am!«, verkündete sie, ehe ihr Admiral etwas sagen konnte, und Michelle richtete sich auf. Die Bosun und die Arbeitstrupps hatten heldenhaft geschuftet, doch nach so langer Zeit hatte Michelle − wie gewiss jeder an Bord der Ajax − angenommen, dass McGuires Leute schlichtweg keinerlei Aussicht auf Erfolg mehr hätten.

Michelles Augen schossen zu dem Countdown in der Ecke ihres taktischen Plots, der beständig hinunterzählte, und dann wieder zu Horn.

»Wenn das so ist, bringen Sie ab sofort Ihre Leute von Bord, Alex. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass die andere Seite uns in etwa sieben Minuten gar nicht mehr leiden kann.«

 

Niemand an Bord der Ajax wäre auf Michelles Hinweis angewiesen gewesen.

Der Abstand zwischen dem Schlachtkreuzer und seinen übermächtigen Gegnern betrug 48 600000 Kilometer, sodass die Ajax sich tief innerhalb der havenitischen Lenkwaffenreichweite befand. Ohne Zweifel hatten die Lenkwaffen-Superdreadnoughts achteraus bereits etliche Sätze Raketengondeln ausgesetzt und mit Traktorstrahlen innerhalb der Impellerkeile an den Rümpfen verankert, wo sie die Beschleunigung nicht beeinträchtigten. Der havenitische Kommandeur betrachtete ohne Zweifel aufmerksam seine taktischen Displays und wartete auf das erste Anzeichen dafür, dass die Ajax nicht mehr stillhielt und einen Raketenangriff auf äußerste Reichweite versuchte. Wenn er dergleichen beobachtete, würde er sofort die eigenen Gondeln absetzen. Und wenn nicht, begänne der Angriff wahrscheinlich ohnehin innerhalb der nächsten zehn bis zwölf Minuten.

Beiboote starteten aus dem Hangar, den Master Chief MaGuire und ihre Leute − irgendwie − wieder betriebsbereit gemacht hatten. Die schlechte Neuigkeit war, dass nicht allzu viele Beiboote zur Verfügung standen. Immerhin befanden sich nur noch dreihundert Besatzungsmitglieder an Bord des Schlachtkreuzers. Natürlich brauchten einige von ihnen ein wenig länger, um den Hangar zu erreichen, als andere.

 

»Admiral«, drang eine Stimme aus Michelle Henkes Com, »es ist Zeit, dass Sie aufbrechen.«

Die Stimme gehörte Commander Horn. Michelle blickte auf das Display und schüttelte den Kopf.

»Das denke ich nicht, Alex«, erwiderte sie. »Ich bin gerade ein wenig beschäftigt.«

»Quatsch.« Als Michelle das einzelne, knappe Wort hörte, riss sie den Kopf herum, und Horn sah sie mit ernstem Gesicht an. »Sie haben hier überhaupt nichts zu tun, Admiral. Nicht mehr. Also runter von meinem Schiff − und zwar sofort!«

»Ich denke nicht −«, begann Michelle erneut, doch Horn schnitt ihr das Wort ab.

»Das ist richtig, Ma’am. Sie denken nicht. Sicher, es war Ihre Idee, aber auf der Flaggbrücke haben Sie nicht einmal eine taktische Datenverbindung zu den Gondeln. Das heißt, es bleibt an mir und Dwayne hängen, und das wissen Sie auch. Jetzt noch zurückzubleiben ist nicht Ihre Aufgabe, Admiral. Und es hat nichts mehr zu tun mit Mut oder Feigheit.«

Michelle starrte sie an und wollte Einwände erheben. Doch das konnte sie nicht − jedenfalls nicht logisch. Nicht mit Vernunft. Ihr Bedürfnis, bis zum Ende an Bord der Ajax zu bleiben, hatte nur wenig mit Logik oder Vernunft zu tun. Ihr Blick maß sich mit dem Blick der Frau, die ihr letztendlich befahl, sie und ihren Taktischen Offizier dem sicheren Tod zu überlassen. Dadurch, dass bis vor Kurzem niemand erwartet hatte, eine Gelegenheit zur Flucht zu erhalten, schnitt ihr Schuldgefühl nur noch tiefer.

»Das kann ich nicht«, sagte sie leise.

»Seien Sie nicht dumm, Ma’am!«, rief Horn scharf. Dann wurde ihre Miene weich. »Ich weiß, was in Ihnen vorgeht«, sagte sie, »aber vergessen Sie es. Ich glaube sowieso nicht, dass Dwayne oder ich rechtzeitig den Hangar erreichen würden. Aber das ändert nichts an dem, was ich gerade sagte. Außerdem ist es Ihre Pflicht, das Schiff zu verlassen, wenn Sie es können, und sich für mich um meine Leute zu kümmern.«

Michelle hatte den Mund wieder geöffnet, doch als sie Horns letzte neun Wörter hörte, schloss sie ihn wieder. Mit brennenden Augen sah sie der älteren Frau offen ins Gesicht, dann atmete sie tief durch.

»Sie haben recht, Alex«, sagte sie leise. »Ich wünschte, es wäre anders.«

»Mir geht es genauso.« Horn brachte ein Lächeln hervor.

»Leider habe ich recht. Gehen Sie jetzt. Das ist ein Befehl, Admiral.«

»Aye, aye, Captain.« Das Lächeln, mit dem Michelle reagierte, geriet ziemlich schief, und sie wusste es. »Gottes Segen, Alex.«

»Ihnen auch, Ma’am.«

Der Combildschirm wurde dunkel, und Michelle sah ihre Stabsoffiziere und deren Assistenten an.

»Ihr habt den Captain gehört, Leute!«, rief sie, und ihre rauchige Altstimme klang grell und rau zugleich. »Gehen wir!«

 

Bandit-Zwo jagte HMS Ajax weiter hinterher. Auf solch große Entfernung genügte die Auflösung havenitischer Sensoren kaum, um eine kleine Impellerquelle wie eine Pinasse oder einen Kutter zu erfassen. Für die ferngesteuerten Ortungssatelliten, die die Kampfgruppe vorgeschickt hatte, sah das schon anders aus. Sie waren zwar nicht so leistungsfähig und haltbar wie ihre manticoranischen Gegenstücke, aber sie hatten in der letzten halben Stunde die Ajax genau beobachtet. Sie waren dicht genug, um nicht nur die Impellerkeile der Beiboote zu orten, sondern auch um zu bestätigen, dass es sich in der Tat um Beiboote handelte und nicht um Raketengondeln.

»Sie verlassen das Schiff, Sir.«

Admiral Pierre Redmont wandte sich seinem Operationsoffizier zu, eine Augenbraue hochgezogen.

»Eindeutig, Sir«, sagte dieser.

»Verdammt.« Der Admiral verzog das Gesicht, als hätte er gerade in etwas Saures gebissen, doch vermochte er keine Überraschung vorzuspiegeln. Überraschend war unter den gegebenen Umständen nur, dass die Mantys so lange gewartet hatten. Offensichtlich hatten sie doch nicht die Absicht, ihm das Schiff intakt in die Hände fallen zu lassen. Sie brachten die Besatzung von Bord, ehe sie es sprengten.

»Wir könnten ihnen befehlen, nicht von Bord zu gehen, Sir«, sagte der Operationsoffizier ruhig. Redmont sah ihn scharf an, und der zuckte die Achseln. »Sie sind tief innerhalb unserer Reichweite.«

»Ja, das sind sie, Commander«, erwiderte der Admiral ein wenig gereizt. »Und sie schießen nicht auf uns. Genauer gesagt können sie von dort gar nicht auf uns schießen − jedenfalls müssten wir keinen Schweißtropfen vergießen, wenn sie es täten. Was meinen Sie wohl, wie Admiral Giscard − oder noch schlimmer, Admiral Theisman − reagieren würde, wenn ich das Feuer auf ein Schiff eröffnete, das nicht zurückschießen kann, nur um die Besatzung am Vonbordgehen zu hindern?«

»Nicht sehr gut, Sir«, räumte der Commander ein. Dann schüttelte er mit schiefem Lächeln den Kopf. »Das war wohl keiner meiner besseren Vorschläge, Admiral.«

»Nein, war es nicht«, stimmte Redmont ihm zu, doch sein kurzes Lächeln entschärfte den Tadel fast völlig, und er wandte sich wieder seinen eigenen Displays zu.

 

Michelle Henke und ihr Stab hasteten durch den Gang zu den Liftröhren. Der Gang war bereits leer, Luken standen offen. Das Schiff lief fast ausschließlich ferngesteuert, während die überlebenden Besatzungsmitglieder zum klarierten Beiboothangar eilten. Plötzlich durchfuhr Michelle ein besorgter Gedanke.

Himmel! Was, wenn die Havies auf die Idee kommen, dass alles nur ein Trick ist? Dass wir jederzeit von Bord hätten gehen können, aber es nicht taten, weil …

Sie wollte sich umdrehen und nach ihrem Handcom greifen, doch es war zu spät.

Unversehens schrillte ein Alarm.

Der Taktische Offizier des Flaggschiffs riss erstaunt den Kopf herum, als er den Ton erkannte. Das war der Annäherungsalarm, und das konnte nicht sein! Doch obwohl ihm dieser Gedanke durch den Kopf zuckte, er war erfahren und professionell. Sein automatischer Unglaube hinderte ihn nicht, sich fast automatisch der Aktivortungsstation zuzuwenden.

»Radarkontakt!«, rief einer seiner Gasten, doch es war schon zu spät; die Warnung machte keinen Unterschied mehr aus.

Manticoranische Raketengondeln neuester Generation ließen sich außerordentlich schwer orten. Eine antriebslose Rakete konnte auf etwa eine Million Kilometer von aktivem Radar erfasst werden. Lenkwaffen waren allerdings nicht darauf ausgelegt, sich so gut verbergen zu können wie die Gondeln, die sie trugen. Schließlich wurde jeder Raketenangriff bemerkt und war dank der intensiven Ausstrahlung seines Impellerkeils mithilfe passiver Sensoren geradezu lächerlich leicht zu orten. Deshalb waren Überlegungen zu den Stealth-Eigenschaften einer Rakete Zeitverschwendung.

Bei einer Raketengondel dagegen verhielt es sich ganz anders. Besonders bei Gondeln wie den neuen manticoranischen »Flatpacks« mit Bordfusionsreaktoren. Sie waren sowohl für die Systemverteidigungsrolle als auch für den Kampf Schiff gegen Schiff konzipiert worden, denn BuWeaps war der Ansicht, es sei sinnvoller, eine einzige Gondel zu entwickeln, die beide Einsatzgebiete abdeckte, solange dadurch kein Verwendungszweck eingeschränkt wurde. Auf diese Weise ließ sich die Produktion vereinfachen und die Kosten senken; im Zeitalter des Mehrstufenraketen-Gefechts war Letzteres wahrlich kein unwesentlicher Aspekt.

Infolgedessen konnten die havenitischen Radarcrews außerordentlich stolz sein, die Raketengondeln, die HMS Ajax als einzelnen, gewaltigen Satz ausgelegt hatte, überhaupt entdeckt zu haben. Ohne Zweifel hatte die Ausdehnung des Satzes trotz der Stealth-Eigenschaften der einzelnen Gondeln den Radarquerschnitt vergrößert, doch der Abstand betrug keine neunhunderttausend Kilometer mehr, als die Alarme gellten.

Leider war die Geschwindigkeit von Bandit-Zwo auf über siebenundzwanzigtausend Kilometer pro Sekunde gestiegen, und seine Sternenschiffe lagen mit der verfolgten Ajax seit über einer Stunde geradezu in Kiellinie. Die Raketengondeln waren in der Geschwindigkeit, die die Ajax ihnen beim Start mitgeteilt hatte, im freien Fall weitergetrieben, und die konstant beschleunigenden Einheiten Bandit-Zwos näherten sich ihnen mit einer Relativgeschwindigkeit von 19.838 Kps. Bei diesem Annäherungstempo blieben Bandit-Zwo genau 1,2 Minuten, um sie zu orten und auf sie zu reagieren, ehe sie eine halbe Million Kilometer hinter der Kampfgruppe lagen − und feuerten.

Es waren dreihundertsechs Gondeln, jede mit vierzehn Lenkwaffen Typ 16 bestückt. Von diesen mehr als viertausendzweihundert Raketen bestand circa ein Viertel aus Eloka-Drohnen. Die verbliebenen dreitausendzweihundert Lasergefechtsköpfe waren weit leichter als jene auf den Raketen der Großkampfschiffe; sie waren sogar zu leicht, um einem schwer gepanzerten und geschützten Wallschiff gefährlich zu werden. Doch die Flankensicherung der Lenkwaffen-Superdreadnoughts von Bandit-Zwo bestand aus Schlachtkreuzern, und Schlachtkreuzer waren nicht derart schwer gepanzert.

Den havenitischen Taktischen Offizieren blieben vierundachtzig Sekunden, um zu begreifen, was geschehen war. Vierundachtzig Sekunden, in denen auf ihren Displays Tausende angreifender Raketen aufleuchteten. Trotz der lähmenden Überraschung gelang es ihnen tatsächlich, ihre Abwehrdoktrin in die Tat umzusetzen, doch der Doktrin fehlte schlichtweg die nötige Zeit, um ihre Wirkung zu entfalten.

Der Raketensturm drang auf die havenitische Formation ein. Michelle Henke hatte in der Tat eine Anleihe bei Honor Harringtons und Mark Sarnows Taktik in der Schlacht von Hancock Station gemacht, und die Waffen, die ihr zur Verfügung standen, waren erheblich wirksamer als diejenigen, die Manticore seinerzeit besessen hatte. Obwohl der Typ 16 nicht eigens auf eine Rolle als raumgebietsverteidigende Mine ausgelegt war, besaß er Sensoren, die denen der meisten Minen überlegen war. Henke hatte sich weiterhin die verbesserten Aufklärungsdrohnen und Signalverbindungen zunutze gemacht. Zusammen mit den Raketengondeln hatte die Ajax ein halbes Dutzend Hermes-Bojen ausgesetzt − Signalrelais, die mit überlichtschnellen Gravimpulsempfängern und lichtschnellen Signallasern ausgestattet waren. Geisterreiter-Aufklärungsdrohnen hatten die Haveniten streng bewacht und der Ajax nahezu in Echtzeit Bericht erstattet, während die Ajax mithilfe ihres eigenen Überlichtcoms und der Hermes-Bojen den wartenden Raketengondeln pausenlos aktualisierte Lagebilder übermittelte.

Über eine derart improvisierte Steuerverbindung mit ihrer beschränkten Bandbreite und zusammengeschusterter Zielauswahl war jede Art von präziser Feuerleitung natürlich unmöglich. Sie genügte aber, um jeder einzelnen Rakete die Emissionssignaturen der Schlachtkreuzer einzuprogrammieren, die sie angreifen sollte. Die Erfassungsgenauigkeit mochte verglichen mit einem normalen Raketengefecht schlecht sein, und die Eloka-Drohnen und Durchdringungshilfen waren ohne individuelle Aktualisierungen aus den Bordrechnern der Ajax weitaus weniger effizient, doch der Abstand war unglaublich gering, sodass der Abwehr kaum Zeit blieb zu reagieren. Trotz aller Unzulänglichkeiten lag die Treffgenauigkeit dieser gewaltigen Salve weit höher als alles, was die havenitische Seite hätte erwarten können und nicht eine einzige ihrer Raketen verschwendete sich an ein Wallschiff.

Admiral Redmont fluchte wild, als der Raketensturm über seinen Schirm schoss. Die Raketenabwehrrechner taten ihr Bestes, und in Anbetracht dessen, wie überrascht ihre menschlichen Herren waren und wie tödlich die Geometrie des Angriffs ausfiel, war dieses Beste in der Tat erstaunlich gut. Leider war es dennoch nicht einmal im Entferntesten gut genug.

Für Antiraketenstarts blieb keine Zeit, und da der Angriff von achteraus erfolgte, war die Anzahl der Lasercluster, mit denen die anvisierten Schlachtkreuzer verteidigt werden konnten, minimiert. Hunderte einkommender Raketen wurden vernichtet, doch sie kamen zu Tausenden, und ihre Ziele schlingerten im Todesschmerz, als Laser durch ihre Seitenschilde schlugen oder direkt durch die »Kilts« ihrer Impellerkeile trafen. Rümpfe barsten, erbrachen Atemluft und Trümmerstücke, und die zerbrechlichen Menschen, die diese Schiffe bemannten, verbrannten wie Stroh in einem Hochofen.

Zwei der acht Schlachtkreuzer von Bandit-Zwo starben spektakulär mit jedem einzelnen Menschen an Bord als blendende Blitze, als die teuflischen bombenbetriebenen Laser immer wieder auf sie einstachen. Die anderen sechs überlebten, doch vier davon waren nur noch wenig mehr als zerschmetterte Wracks ohne Impellerkeil und trieben im freien Fall weiter, während in ihnen geschockte und gelähmte Überlebende sich durch die Trümmer kämpften und darin angestrengt nach Besatzungsmitgliedern suchten, die den Feuerschlag ebenfalls überstanden hatten.

Die Kiefermuskeln des havenitischen Admirals traten hervor, als seine Schlachtkreuzer starben. Dann fuhr er herum und funkelte seinen Operationsoffizier an.

»Feuer frei!«