32 Der brennende Mann

 

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Die Vertreter der Konzerninteressen wollen es unmöglich machen, dass Menschen unabhängig leben können, ohne in eine Hippiekommune ziehen zu müssen. Wir jedoch haben bewiesen, dass das Volk eine hochentwickelte, hochtechnisierte Gesellschaft erschaffen kann, die in engem Bezug zu ihrer unmittelbaren Umwelt, aber auch zur gesamten Welt steht. Die Darknet-Communities müssen gerettet werden. Wir müssen durch Hochvoten klarmachen, dass diese Angriffe eine Gefahr für das gesamte Netzwerk darstellen, deren Abwehr höchste Priorität hat.

 

Vitruvius-E*****/4103  Level-18-Journalist

 

 

Von schrecklichen Ahnungen erfüllt, starrte Jon Ross auf die beiden Benachrichtigungen, die soeben in seiner HUD-Anzeige erschienen waren:

 

Chunky Monkey – ausgeloggt 08:39:36

 

Unnamed-1 – ausgeloggt 08:40:33

 

Ross hatte Sebeck und Price seiner Freundesliste hinzugefügt, damit er über Veränderungen ihres Netzwerkstatus informiert wurde. Er hatte alle paar Minuten die Position ihrer Callouts gecheckt. Sie waren durch die feindlichen Linien gelangt, aber etwa eine Meile dahinter waren ihre Callouts verschwunden.

Er atmete tief aus und legte den Kopf in die Hände. Er konnte sich kein Szenario vorstellen, in dem das kein schlechtes Zeichen war.

Es war jetzt fast neun Uhr, und die Situation in Greeley hatte sich zugespitzt. Die Sonne schien – wieder ein brütend heißer Tag. Fast alle Farmen außerhalb der Stadt waren niedergebrannt worden: Schwarze Rauchsäulen standen am Horizont. Und inzwischen traf die Zerstörung auch schon die Häuser am Stadtrand.

Ross wusste, dass früher oder später Darknet-Videomaterial ins Internet hinausgelangen würde. Er fragte sich, wie die Leute dort draußen darauf reagierten. Doch dann ging ihm auf, wie viele Bilder von gewaltsamen Auseinandersetzungen in verschiedensten Weltgegenden er selbst schon gesehen hatte. Was würde die Welt denken? Vermutlich, dass Amerika endgültig den Verstand verloren hatte. Aber ansonsten würde alles weitergehen wie gehabt.

In den kurzen Kampfpausen hatte Ross über sein HUD die Farce der offiziellen Berichterstattung verfolgt. Angeblich wurden sie von einer Besetzung durch Aufständische «befreit». Jemand hatte von außerhalb des Stromausfallbereichs einen Mainstream-Nachrichten-Feed ins Darknet eingerichtet.

Ross und eine Gruppe von vierzig bis fünfzig Männern und Frauen hatten den Morgen weitgehend damit verbracht, aus den vielen ausrangierten Autos Barrikaden rings ums Zentrum zu errichten, während die Söldner sich damit beschäftigten, Stadtrandbereiche zu verwüsten. Außerdem hatte Ross geholfen, Sandsäcke, die eigentlich wohl für Überschwemmungen gedacht waren, zu füllen und an den Außenmauern der Mittelschule zu stapeln.

Immerhin waren die Helikopter vor ein paar Stunden verschwunden und nicht wieder zurückgekehrt. Auch die Cessna mit den Hellfire-Raketen war davongeflogen. Entweder sie holten Munitionsnachschub, oder aber sie hatten ihre Funktion erfüllt.

Um die von Ross mitgebrachten Überwachungsdrohnen hatten sich die Söldner bislang zum Glück nicht gekümmert. Und den Darknet-Sprechfunk zu stören war ihnen auch noch nicht gelungen. Ultrabreitband erwies sich als recht widerstandsfähig. Aber diese Truppen schienen ja auch weit mehr daran interessiert, die Menschen zu töten, als ihre Kommunikation zu unterbinden.

Unablässiges Gewehrfeuer, durchsetzt mit dem lauteren Knallen von Jagdflinten, erfüllte die Luft. Ross beugte sich um einen gemauerten Stützpfeiler herum und blickte die leere Main Street nach beiden Seiten entlang.

Sie war mit Glassplittern und Trümmern übersät. Am Ende des Blocks stand ein brennendes Auto mitten auf der Fahrbahn. Der Asphalt und die Hauswände waren schartig von Geschossen, und mehrere Gebäude an der Main Street brannten von Raketentreffern. Weiter weg war eine Wand aus schwarzem Rauch und Flammen. Lodernde Häuser. Alle paar Minuten hörte er einen ohrenbetäubenden Knall, und Trümmer flogen zig Meter durch die Luft.

Sie zerstörten die Stadt Häuserblock für Häuserblock.

Ross blickte zur Straßenmitte. Dort befand sich eine umzäunte Grünfläche mit einem Denkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs und einigen Sitzbänken. Die Fahrbahnen führten im Bogen darum herum. Das Denkmal war ein hoher Granitobelisk auf einem quadratischen Sockel, flankiert von zubetonierten Kanonen.

Hinter dem Sockel sah Ross die Callouts von Oorah und Hank_19. Er klickte auf beide und sprach über den Sprechfunkkanal. «Hank! Braucht ihr mich?»

OohRahs Callout blinkte, als er antwortete.

[OohRah]: «Ein Paar Augen im Rücken könnten wir schon brauchen. Kommen Sie rüber. Schnell rennen und unten bleiben. Wir sind unter Scharfschützenbeschuss.»

Ross blickte noch einmal nach beiden Seiten und rannte dann geduckt zur Grünfläche hinüber. Er sprang über den niedrigen Eisenzaun und hechtete in den Schutz des Denkmals, wobei er das benachbarte, kleinere Vietnamkriegsdenkmal als Deckung zur entgegengesetzten Seite hin nutzte.

Hank und der Sheriff nickten ihm zu.

Ross brachte seine AK-47 in Anschlag, um ihre Flanken zu decken. «Wo sind sie?»

Der Sheriff schob gerade Patronen in einen Reserveclip, während Hank die Main Street beobachtete. «Suchen Sie sich eine beliebige Richtung aus und laufen Sie los, dann haben Sie sie schnell gefunden.»

Fossen nickte. «Wild gewordene Gangmitglieder im Osten, Berufsmilitär im Westen.»

«Wenn’s nach den Sprechpuppen im Fernsehen geht …»

Ross musterte den Denkmalssockel. «Das Ding hier müsste eine ganz gute Deckung abgeben.»

Der Sheriff schüttelte den Kopf. «Nicht vor einer Granate. Wir dürfen sie nicht rankommen lassen.»

Wieder eine ohrenbetäubende Detonation am Ostrand der Stadt.

«Verdammt, was machen die da?» Ross rief ein D-Raum-Videopanel auf, das die Luftaufnahmen einer Überwachungsdrohne zeigte. Er sah deutlich die Vormarschlinie und die Wüstenei, die die Privatfirmentruppen zurückließen.

Der Sheriff mahlte mit den Zähnen. «Sie werfen Sprengsätze in Häuser. Feuern mit Flammenwerfern in Kellerfenster. Brennen alles nieder.»

Ross konnte es auf den Luftaufnahmen klar erkennen. Dann flog die Drohne in eine Rauchwolke, und das Bild war weg. Ross sah die beiden an. «Und wenn sie zur Mittelschule durchkommen? Da sind doch bestimmt sechshundert Leute drin.»

Der Sheriff spähte durch die Zielvorrichtung seines M16 über den Denkmalssockel hinweg. «Wir werden entweder verhindern, dass sie dorthin kommen, oder bei dem Versuch draufgehen. Alle werden bis zum Letzten Widerstand leisten.»

Hank_19 kniete sich hin und nickte Ross grimmig zu. «Meine Frau und meine Tochter sind dadrin. Die Farm ist mir egal, Häuser kann man wiederaufbauen, aber …»

Ross tippte ihm auf die Schulter. «Wenn Sie hinwollen, um bei ihnen zu sein, verstehe ich das.» Ross sah den Sheriff an.

Der Sheriff nickte.

Fossen schüttelte den Kopf. «Nein. Wenn wir durchhalten, haben wir vielleicht noch eine Chance. Schauen Sie sich doch die Darknet-Feeds an. Meine Tochter sagt, da ist der Teufel los. Die Angriffe hier im Mittleren Westen sind eine Bedrohung für das gesamte Netzwerk. Ich wette, noch nie ist irgendwas so hochgevotet worden.» Er sah Ross an. «Die Welt verfolgt, was hier passiert.»

Der Sheriff zuckte die Achseln. «Und wennschon? Selbst wenn alle da draußen betroffen sind? Was nützt uns das? An der Lage hier ändern wütende Posts und beste Wünsche einen Dreck. Öffentliche Empörung hat diese Schweine noch nie aufgehalten.»

Fossen sah entschlossen drein. «Jon, wir beide sind nur Level 2. Was kann ein Level-12-Schurke, das uns helfen könnte?»

Jon räusperte sich. «Ich kann unentdeckt irgendwohin gelangen, an Orte und in Netzwerke und wieder raus, aber in so einer Situation …»

Plötzlich unterbrach ihn eine mächtige Explosion, die die letzten Fensterscheiben entlang der Main Street zerschmetterte.

Sie duckten sich alle drei, spähten aber um den Denkmalssockel herum zum Ende der Straße. Ein M1117-Panzerwagen kam um die Ecke, flankiert von zwanzig, dreißig gutgerüsteten Fußsoldaten. Der Geschützstand des Panzerfahrzeugs drehte sich und feuerte Granaten in die Obergeschossfenster. Flammen barsten aus Mauern und Fenstern, und Trümmer flogen.

Ein Kamerateam mit Helmen und Schutzwesten tauchte auf und filmte, wie die Soldaten mit Granatwerfern auf die Ladentüren zu beiden Seiten feuerten und in die Ladenräume stürmten, während ihre Kameraden die Häuserwände und Straßen mit MG-Garben bestrichen.

Leuchtspurgeschosse pfiffen am Denkmal vorbei, und Ross und die beiden anderen duckten sich tief, als es Steinbrocken regnete. Metall schoss jaulend in den Himmel empor.

«Gütiger!»

«Wie ich sehe, ist die Propagandaeinheit hier, um unsere Retter in Aktion zu filmen.»

Fossen robbte ein Stück davon, um in die Querstraße zu spähen. «Den nächsten Block kommen sie auch schon runter.»

Es folgten weitere Explosionen in den Häusern an der Straße. Ross riskierte einen kurzen Blick und stellte fest, dass der Geschützturm und das Koaxial-MG des Panzerfahrzeugs jetzt in ihre Richtung zeigten. Von den übrigen Soldaten war nichts zu sehen.

Der Sheriff stopfte frischgeladene Reserveclips in Taschen seines Holsters. «Diese Schweine verstehen anscheinend ihr Handwerk. Sie halten sich an Regel Nummer eins des Häuserkampfs.»

«Und die heißt?»

«Weg von der verflixten Straße. Sie sprengen sich durch die Mauern und zerstören jeweils das Haus hinter sich.»

Plötzlich rollte das Panzerfahrzeug wahllos schießend vorwärts. Dann hallte ein gewaltiger Knall durch die Stadt, und sie hörten Mauerwerk einstürzen und Holz bersten, als ein ganzes Haus sich wie eine Lawine auf die Straße ergoss. Das dieselgetriebene Panzerfahrzeug rollte immer noch auf sie zu.

Der Sheriff ballte die behandschuhte Faust. «Scheiße. Wir müssen was tun. Wir können nicht einfach nur hier herumliegen.»

Ross spähte kurz über das Vietnamdenkmal, hinter dem Fossen lag, und sah von der nächsten Querstraße her weitere Soldaten kommen. «Kopf runter, Hank. Nochmal etwa zwanzig Mann und ein Panzerfahrzeug von da drüben.»

«Na, dann wollen wir mal.» Der Sheriff robbte zu Fossen hinüber. «Wir nehmen uns die zweite Gruppe vor, wenn sie die Straße überquert.» Er holte tief Luft. «Okay?»

Ross nickte.

Fossen auch.

«Auf drei. Eins. Zwei …»

Um das massive Denkmal herum und über den Sockel hinweg feuerten sie auf einen Söldnertrupp, der etwa hundert Meter weiter über die Straße rannte.

Ross bediente seine AK im halbautomatischen Modus und konzentrierte sich auf eine Reihe von Männern in schwarzen Schutzwesten und taktischer Ausrüstung. Die Soldaten stoben sofort auseinander und fielen zu Boden. Auf die Distanz von mehr als der Länge eines Footballfelds war nicht auszumachen, ob sie getroffen waren oder sich einfach nur hinwarfen.

Doch nur Sekunden nachdem die drei das Feuer eröffnet hatten, schwenkte der Geschützturm des Panzerfahrzeugs in ihre Richtung und begann, mit einem Kaliber .50 MG zu feuern.

Sie zogen sich sofort zurück und pressten sich auf den Boden, während wuchtige Hochgeschwindigkeitsgeschosse von der anderen Seite in das Denkmal schlugen und es nach und nach zerfraßen. Ross fühlte Steinsplitter wie Nadeln auf seinen bloßen Hautpartien.

Dann waren da jenseits des größeren Weltkriegsdenkmals wieder laute Explosionen – Granateinschläge, die alles erbeben ließen. Und genauso plötzlich hörte es auf.

Der Sheriff robbte ans andere Ende der Grünfläche und zog einen zylindrischen Blechbehälter aus seinem Gurtzeug. «Auf die andere Straßenseite! Hinter die Säulen der Bank!»

Zusätzlich zu dem MG bestrichen jetzt auch noch Dutzende von Kleinwaffen ihre improvisierte Stellung.

Der Sheriff überbrüllte das Inferno: «Wenn ich die Rauchgranate zünde, wartet noch kurz, und dann …» Er zeigte mit dem Daumen zur Bank hinüber. Er zog den Splint und warf den Blechbehälter über den Zaun mitten zwischen die beiden feindlichen Trupps. Gleich darauf quoll weißer Rauch empor – was sofort noch heftigeren Beschuss auslöste.

Der Sheriff rollte sich über den niedrigen Alibizaun der Grünfläche. Ross und Fossen taten es ihm nach und folgten ihm, halb robbend, halb auf allen vieren krabbelnd, in Richtung der Bankeingangstreppe.

Sie waren schon halb über die Fahrbahn, als zwischen den Denkmälern, wo sie eben noch gelegen hatten, Granaten detonierten. Ross sah eine weitere Granate im Bogen über der Straße heranfliegen: Der Obelisk wurde vom Sockel gesprengt und fiel um. Noch immer schwirrten MG-Geschosse über sie hinweg, und plötzlich stieß Fossen einen Schrei aus und kippte auf den Asphalt.

Ross und der Sheriff krochen zurück, packten ihn unter den Achseln und schleiften ihn, unter Zurücklassung seines Gewehrs und seiner HUD-Brille, in die relative Sicherheit des Säulenvorbaus der Bank.

Ross lud, hinter einer Säule stehend, seine AK-47 nach.

Der Sheriff lud ebenfalls nach. Kopfschüttelnd rief er über den ohrenbetäubenden MG-Lärm hinweg: «Sie haben zu viel Feuerkraft!» Er musterte die Hausmauern und die massive Holztür hinter ihnen. «Hier sitzen wir in der Falle.»

«Ich glaube nicht, dass sie gesehen haben, wie wir hier rüber ausgewichen sind.» Ross blickte auf Fossen hinab, der an der Hauswand lag und sich aufzurichten versuchte. Um ihn herum breitete sich eine Blutlache aus.

«Verdammt.» Der Sheriff kroch zu Fossen und legte sein Gewehr hin. «Lass sehen, wo du getroffen worden bist, Hank!»

Fossen schüttelte den Kopf. «Ich bin geliefert, Dave. Meine Eingeweide brennen wie Feuer.»

Eine Kugel schlug einen Meter rechts von ihnen gegen die Hauswand, prallte ab und sprang durch den Vorbau.

Fossen zuckte nicht mal zusammen. «Geht in die Schule zurück. Passt auf Lynn und Jenna auf.»

Der Sheriff nahm seine HUD-Brille ebenfalls ab und sah Fossen in die Augen. «Wir bleiben hier. Wir sind schon an unserer Auslinie, Hank. Hörst du? Da ist kein Raum mehr, den wir hergeben könnten.» Der Sheriff umfasste Fossen, und jetzt erst bemerkte Ross, dass auch das dunkle Hemd des Sheriffs Blutflecke hatte.

Der Sheriff hielt Fossen fest, damit er die Wand nicht wieder hinunterrutschte. «Weißt du noch, als wir klein waren? Weißt du noch – das Wetterleuchten? Und der Bach?»

Fossen nickte matt.

Von draußen kamen wieder eine ohrenbetäubende Explosion und das Klirren von berstendem Glas.

Fossen sah den Sheriff an. «Begrabt mich neben meinem Dad, okay, Dave? Und pass auf meine Mädels auf, okay …?» Dann fiel ihm der Kopf vornüber, und der Sheriff hielt ihn schluchzend in den Armen.

Ross stand immer noch mit dem Rücken zu einer der Säulen. Draußen hörte er die Panzerfahrzeuge heranrollen und Sprengladungen in benachbarten Häusern detonieren.

Der Sheriff ließ den Leichnam seines besten Freundes zu Boden gleiten. Ohne seine HUD-Brille an sich zu nehmen, kam er mit einiger Mühe auf die Beine. Dann hob er sein M16 auf, wischte sich mit dem Ärmel die Nase und postierte sich ebenfalls hinter einer Säule.

«Lassen Sie mich nach Ihrer Verwundung sehen.»

«Scheiß drauf. Die wird’s nicht sein, woran ich sterbe.»

«Wenn wir versuchen wollen, sie nicht zur Schule durchkommen zu lassen, dann wohl jetzt oder nie.»

Der Sheriff nickte und sah Ross an.

Sie machten beide gerade eine auffordernde Kopfbewegung, als Ross plötzlich auf seiner HUD-Anzeige eine Reihe sehr seltsamer D-Raum-Alerts sah – alle von höchster Priorität. Sie verkündeten den Start diverser Prozesse, von denen er noch nie etwas gehört hatte, aber eine Zeile sprang ihm ins Auge: Burning Man instanziiert.

«Moment …»

Der Sheriff sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an. «Was ist?»

Ross sah gerade etwas die Main Street herabkommen – ein D-Raum-Callout, wie er noch nie eins gesehen hatte. Es war von einem Flammenkranz umgeben und lautete Burning Man, Level-200-Streiter. Von einem so hohen Level hatte Ross noch nie gehört.

Es kam auf sie zu.

«Setzen Sie Ihre HUD-Brille auf, Sheriff. Da tut sich irgendwas.»

Der Sheriff machte ein Gesicht, als hätte er von Games mehr als genug, verschwand aber aus Ross’ peripherem Gesichtsfeld, als dieser weiter auf die Straße hinausspähte.

Ross sah zwei Panzerfahrzeuge, die von Stadtbewohnern aus benachbarten Häusern beschossen wurden. In dem Moment flog das Haus direkt gegenüber mit einem gewaltigen Knall in die Luft. Backstein, Holz, Glas und Staub stoben auf die Straße.

Durch die Staubwolken aber schritt in selbstbewusster Haltung – eine Art zu gehen, die Ross bekannt vorkam – ein Avatar. Er marschierte genau auf sie zu, glitt wie ein Geist durch mehrere Söldner und ein Panzerfahrzeug hindurch.

Der Avatar trug eine Art Taktik-Anzug mit kugelsicherem Helm, Gesichtsmaske und Schutzweste. Er hatte zwei .45er Pistolen in Oberschenkelholstern stecken, war aber ansonsten unbewaffnet. Als der Avatar am Fuß der Eingangstreppe anlangte, blickte er Ross an und klappte das Visier hoch.

Roy Merritt nickte Ross grüßend zu und sagte in seinem charakteristischen, ruhigen Ton: «Das bekommen wir alles in den Griff, Sir. Sie müssen nur Ruhe bewahren und mir sagen, wo die Übeltäter sind …»

 

Der Major stand in einem als Kommandozentrale dienenden Anhänger, an dessen Wänden sich Dutzende von LCD-Bildschirmen und Kontrollboards reihten. Operatoren und Drohnenpiloten mit Headsets saßen an den Pulten und überwachten sämtliche Aspekte von Operation Prairie Fire aus der Luft.

Die Argus-R-7-Überwachungsblimps waren gerade mal fünfundzwanzig Meter lang, konnten aber mit Hilfe der Solarzellen auf ihrer Oberseite bis zu zwei Wochen über einem Operationsgebiet ihre Aufgabe erfüllen. Einer der Luftfahrtkonzerne aus ihrer Gruppe hatte sie entwickelt und bereits mehrere hundert Stück an Diktaturen in Afrika, Asien und Nahost verkauft.

Da die Blimps ohne verräterische Kondensstreifen in sechzigtausend Fuß Höhe flogen, waren sie mit bloßem Auge praktisch nicht auszumachen, und ihre Long-Range-Kameras konnten Individuen oder größere Gemeinschaften erfassen und überwachen, insbesondere in Kombination mit Telekommunikations- und Einkaufsdaten. Für Radar und sonstige Detektoren waren die Blimps zwar nicht unsichtbar, aber sie sollten ja auch der Überwachung der Zivilbevölkerung dienen, nicht der militärischer Gegner.

Die Bildschirme vor dem Major zeigten Infrarot- und Farbüberwachungsaufnahmen von Darknet-Communities in mehreren Staaten des Mittleren Westens. Die Schemen auf dem Bildschirm flohen, kämpften, versteckten sich – näherten sich aber in jedem Fall der Niederlage, da die Privatfirmentruppen sie immer mehr in die Enge trieben.

Neben dem Major stand der baumlange südafrikanische Colonel Andriessen. «Gute Nachrichten von Ihrer Spezialeinheit.»

Der Major nickte. «Ja, aber sie haben ihr Fahrzeug verloren.»

Laute Piepsignale und rote Lämpchen aktivierten sich an mehreren Kontrollboards.

«Und wie’s aussieht, wird das eh alles bald abgewickelt sein.»

Der Major nickte wieder, während sich das Piepen durch die Reihe der Luftkontrollboards fortpflanzte. Mehrere Drohnenpiloten nahmen ihre Headsets ab und sprachen hektisch mit ihren Elektronikoffizieren. Einige LCD-Bildschirme zeigten jetzt nicht mehr stabile Nahaufnahmen von Straßenkämpfen, sondern verschwommene Bewegung, dann Schwarz, dann wieder verschwommene Bewegung.

Der Major ging zu einem der Piloten, der mit seinen Bedienelementen rang. «Was ist da los? Warum sind die Videoaufnahmen weg?»

Der Pilot stellte die akustischen Alarmsignale ab und zeigte auf einen anderen Bildschirm, wo eine Kolonne roter Zahlen neben kritischen Messgrößen zu sehen war. «Die Temperaturwerte unserer Avionik sind gerade in den roten Bereich gestiegen. Ich glaube, wir haben Feuer an Bord.»

Der Elektronikoffizier beugte sich heran. «Unser Brandbekämpfungssystem hat sich aktiviert. Also geben Sie uns einen Augenblick Zeit …»

Der Major blickte nach beiden Seiten die Reihe der Drohnenanzeigen entlang. Auf über der Hälfte der Kontrollboards blinkten jetzt rote Lämpchen.

Der Colonel sah ihn beunruhigt an.

Der Major ging die Reihe entlang und sah immer mehr schwarze Bildschirme, Temperaturanzeigen und Pop-ups mit dem Wort Feuer!

Binnen einer Minute blinkten praktisch alle Kontrollboards rot. Die Bildschirme waren schwarz. Was als hektischer Flüsterchor begonnen hatte, ähnelte jetzt einem Lesesaal: Überall Techniker, die in ringgehefteten Handbüchern blätterten.

Der Major brüllte dem immer noch in der Mitte der Reihe stehenden Südafrikaner zu: «Was zum Teufel ist da los, Colonel?»

Der Colonel blickte auf all die dunklen Bildschirme und sagte nichts.

«Wie kann das sein, verdammt nochmal? Der Daemon hat irgendwie unsere Verschlüsselung geknackt und unsere Avionik lahmgelegt.» Er schnappte sich ein Headset vom nächsten Kontrollboard und feuerte es mit solcher Wucht auf den Antistatik-Boden, dass es in Einzelteile zersprang. «Herrgott nochmal! Was ist das hier, eine verflixte Amateurveranstaltung? Ich dachte, wir hätten das beste Elektronische-Abwehrmaßnahmen-Team zusammengestellt, das zu haben ist.»

Der Colonel hielt es offenbar für das Klügste zu schweigen, bis er direkt gefragt wurde.

Die ganze Reihe der Kontrollboard-Operatoren blickte jetzt auf den Major. Sie waren blind – abgeschnitten von einer multidimensionalen Operation, die eine exakte Koordination über sechs Staaten erforderte.

Der Major durchbohrte sie mit einem sengenden Blick und stapfte dann aus dem Anhänger. «Colonel, schaffen Sie wieder Verbindung zu diesen Drohnen oder schaffen Sie neue heran.»

«Die wären nicht rechtzeitig hier.»

«Dann setzen Sie Amateurastronomen mit Ferngläsern in eine verdammte Cessna – aber besorgen Sie mir Echtzeit-Information über meine Gefechtszone. Ist das klar?»

«Ja, Major.»

Sie gingen jetzt zwischen mehreren großen Anhängern hindurch, die in einem Flugzeughangar standen. Aus jedem kamen dicke Kabelbündel heraus.

Ein Nachrichtenoffizier von Korr Military Solutions streckte den Kopf aus einem der Anhänger. «Major! Das müssen Sie hören.» Er hielt ihm ein Funk-Headset hin.

«Es kommt über unsere sämtlichen verschlüsselten Kanäle.»

Der Major zögerte, setzte dann das Headset auf. Und hörte über Sprechfunk eine Stimme, die ihm vage bekannt vorkam …

 

Ross hörte die Donnerstimme über die Stadt hallen. Sie schien vom Himmel zu kommen und war laut genug, um selbst nahes MG-Feuer zu übertönen.

«Achtung, an die feindlichen Truppen: Sie sind rechtswidrig in diese Stadt eingedrungen. Werfen Sie die Waffen weg und ergeben Sie sich, dann passiert Ihnen nichts.»

Das Schießen und die Explosionen hatten ausgesetzt. Es herrschte jähe Stille, während die Stimme vom Himmel abermals sprach, jetzt in einer fremden Sprache, die irgendwie slawisch klang, aber nicht russisch. Ross erkannte die Stimme dennoch als die von Roy Merritt.

Der Sheriff hatte inzwischen seine HUD-Brille wieder aufgesetzt und runzelte verwirrt die Stirn. «Was zum Teufel ist das?»

Ross zeigte auf die Straße. «Er.»

Beide blickten hin und sahen den Merritt-Avatar, die Hände als Schalltrichter um den Mund gelegt, sein Ultimatum durch die ganze Stadt «rufen».

«Aber es kommt doch vom Himmel.»

«Hypersonic Sound.» Auf den fragenden Blick des Sheriffs hin erklärte er: «Hochfrequenter Schallstrahl. Ich erkläre es Ihnen später – hören Sie einfach zu …»

Als Reaktion kam Gelächter von den Privatfirmen-Soldaten, die hinter ihren Panzerfahrzeugen standen oder in benachbarten Häusern kauerten.

«Sie haben sich gewaltsam über den Willen einer kritischen Masse der Bevölkerung hinweggesetzt – was mich ermächtigt, Sie in Gewahrsam zu nehmen, notfalls mit Gewalt.»

Irgendwoher kam ein lautes «Leck mich!», gefolgt von Feuerstößen aus automatischen Waffen.

«Ich habe Sie gewarnt.»

Merritts Avatar hob die Hand und blickte zum Himmel empor – wo Ross jetzt plötzlich ein Gitter aus numerischen Callouts sah, das sich langsam näherte. Dann kamen auch physische Objekte in Sicht – am ehesten beschreibbar als spiegelnde Punkte oder winzige Kugeln, die sich aus der Höhe herabsenkten. Wie groß sie wirklich waren, ließ sich mangels Vergleich schwer sagen, aber in seinem durch die Säulen eingeschränkten Blickfeld erkannte er mindestens fünf – in geordneter Formation. Merritts Avatar senkte die Hände und holte die Punkte noch weiter herab. Sie schimmerten und schienen sich sehr schnell zu drehen.

Der Sheriff blickte ebenfalls empor. «Was ist das?»

Ross klickte auf eins der Callouts und las die Eigenschaften. «Mit Warmlichtspiegelfacetten verkleidete … schnell rotierende Inertialgyroskope … siehe Feuerschlag …» Er klickte auf einen Link. «Einhundert-Kilowatt-Festkörperlaser … infrarot.» Er sah den Sheriff an. «Ich glaube, hier geht gleich ganz schön was ab …»

Eine Kugel pfiff an ihnen vorbei und prallte von der Wand zurück.

Ross duckte sich, hörte dann aber Merritt wieder sprechen. «Netzwerk-Bürger! Ich brauche eure Hilfe, um den Feind auszumachen. Richtet jede Art von D-Raum-Zeigegerät auf feindliche Kämpfer, bis diese ihre Waffen wegwerfen und die Hände hochnehmen. Sobald sie sich ergeben, müsst ihr es re- spektieren. Wenn das hier vorbei ist, werdet ihr Ehrlichkeitstests unterzogen. Bitte Haustiere und kleine Kinder nicht ins Freie lassen. Danke.»

Ross und der Sheriff sahen sich verdutzt an, aber dann legte Ross seine AK-47 hin und aktivierte seinen D-Raum-Zeiger. Der glich einem Laserpunkt, war aber nur im D-Raum sichtbar. Er spähte vorsichtig hinter der Säule hervor, zeigte mit dem Finger auf einen MG-Schützen im Geschützturm des nächststehenden Panzerfahrzeugs und lenkte so den Zeigerpunkt genau auf den Kopf des Mannes.

Unmittelbar darauf schoss ein greller Strahl aus der am nächsten über dem Panzerfahrzeug stehenden Lichtkugel herab und brannte sich durch die von Partikeln erfüllte Luft. Als er in Bodennähe ankam, war er unsichtbar geworden, aber der Soldat fuhr hoch, riss sich schreiend den Helm herunter und kippte aus dem Geschützturm. Andere Soldaten sahen es und rannten hin, um ihm zu helfen. Ross richtete schnell den Pointer auf sie, und jeder, auf den er zeigte, ließ gleich darauf abrupt von seinem Tun ab und floh mehrere Meter weit.

«Sheriff, können Sie mit Ihrem Zeiger umgehen?»

Der Sheriff fuhr bereits in seinen Haptik-Handschuh. «Das kann doch jeder …»

Binnen Sekunden fuhren weitere Energiestrahlen vom Himmel herab, und die Soldaten wimmelten planlos durcheinander wie Ameisen unter einem Vergrößerungsglas. Es dauerte nicht lange, bis Dutzende weiterer Darknet-Mitglieder hinter Sandsäcken und Fensterläden mitmachten. Aber es dauerte auch nicht lange, bis die Söldner ihre MGs auf die fernen Spiegelkugeln richteten, die aus der Luft Schrecken säten. Leuchtspurgeschosse zischten in den Himmel. Doch die Flugkörper waren entweder weiter weg, als es aussah, oder extrem widerstandsfähig. Und wenn auch schließlich einer ins Trudeln geriet und abstürzte, waren doch genug andere da.

Schon nach wenigen Minuten flohen die Soldaten von ihren Posten. Selbst die in den Fenstern waren nicht sicher – die Formation der Spiegelkugeln schien immer einen Vektor zustande zu bringen, der sie erwischte. Sie wichen ins Schattendunkel zurück.

Mittlerweile war der Sheriff mit der Leidenschaft eines Hardcore-Gamers bei der Sache. «Verbrutzelt, ihr Schweine!»

Der Merritt-Avatar stand ruhig da und schien das Geschehen zu beobachten. «Feindliche Kämpfer, Sie dürfen dieses Gebiet nicht verlassen. Sie müssen sich ergeben. Wenn Sie die Waffen wegwerfen und sich ergeben, geschieht Ihnen nichts.»

Der ferngesteuerte Geschützturm des nächststehenden M1117 bestrich die umliegenden Häuser, während sich die Soldaten dutzendweise zurückzogen – aber keine Deckung fanden, da sie ja alle Gebäude zwischen hier und dem Stadtrand zerstört hatten.

Ross und der Sheriff konzentrierten sich auf das feuernde Panzerfahrzeug und sahen, dass sich viele weitere Pointer ebenfalls auf den Motorlüftern und den großen Gummireifen drängten. Sengende Hitzestrahlen brachten auf dem Weg über ihr Zielobjekt Staubpartikel zum Glühen, und bald schon drang Qualm aus dem Motorraum des Panzerfahrzeugs.

Der Sheriff starrte gespannt hin. «Weh euch, wenn ihr da rauskommt, ihr Hunde …»

Etliche Soldaten knieten bereits mit erhobenen Händen auf der Straße. Mehrere Sturmgewehre lagen auf dem Asphalt. Einer der zurückweichenden Soldaten feuerte auf die Kapitulierenden und mähte ein paar von ihnen um, ehe sich eine interne Schießerei entspann. Doch auch die war bald erstickt, und zu seiner Verblüffung sah Ross jetzt eine ungeordnete Verteilung von knienden Soldaten, die sich die Straße hinab zog.

Die übrigen Panzerfahrzeuge röhrten im Rückwärtsgang dorthin zurück, wo sie hergekommen waren, und Soldaten versuchten aufzuspringen und sich festzuklammern.

Merritt rief wieder: «Sie dürfen sich nicht entfernen. Jeder Versuch wird unterbunden. Ergeben Sie sich!»

Von Widerstand war nichts mehr zu bemerken. Der Feind zog sich auf ganzer Linie zurück. Ross musste lächeln, als er Roy Merritts Erscheinung ungerührt auf dem Platz stehen sah.

Er drehte sich zum Sheriff um, der jetzt an einer Säule lehnte.

«Wegen der Wunde – ich glaube, ich brauche jetzt doch einen Arzt …»