27 Wiedervereint
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Ihr alle, die ihr die Quest von Unnamed_1 verfolgt – fragt euch doch mal: Warum führt ihn sein Thread in letzter Zeit im Mittleren Westen im Kreis herum? Was ist dort, was unsere Freiheit dem Daemon gegenüber rechtfertigen könnte? Sind es die Paramilitärs, oder suchen diese Schweine dasselbe wie er? Also, Leute, votet diesen Post hoch und lasst uns dieser Frage gemeinsam nachgehen.
Arendel****/793 Level-9-Gartenbaufachkraft
Sebeck und Ross saßen in einem Café an der Main Street von Greeley. An ihrem Tisch befanden sich noch ein halbes Dutzend Personen, Einheimische, die Sebecks Quest und seine jüngsten Aktionen gegen Paramilitärkommandos in den Darknet-Feeds verfolgt hatten. Man hatte sich längst miteinander bekannt gemacht, das Essen war schon seit einer Weile von angeregter Unterhaltung abgelöst. Am anderen Ende des Tischs debattierte Price mit einem Onlinegaming-Ökonomen namens Modius, während die Gastgeber schallend lachten. Heute trug Price’ T-Shirt die Aufschrift: «Was würde Roy Merritt tun?»
Sebeck trank von seinem Espresso und lachte leise. Er wandte sich an Ross. «Laney hat mich bei Verstand gehalten. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn gemacht hätte.»
«Es war wohl reines Losglück, dass der Daemon ihn dafür ausgewählt hat, Sie auferstehen zu lassen.»
Sebeck wurde ernst. «Mein früheres Leben scheint mir tausend Jahre her, Jon.»
«Dieses Gefühl kenne ich.»
«Ich denke jeden Tag an meine Frau und meinen Sohn, aber wenn ich mit ihnen Kontakt aufnähme, würde ich sie nur in Gefahr bringen. Und was sollte ich auch sagen?» Sebeck hob theatralisch die Hände. «‹Ich bin kein Massenmörder, und der Daemon ist übrigens echt›?»
Er lehnte sich zurück. «Da saß ich nun im Bundesgefängnis, und Sie können sich ja wohl vorstellen, was in mir vorging, als man mir erklärte, Sie seien die ganze Zeit, die wir zusammen an den Sobol-Morden gearbeitet hatten, ein Schwindler und Hochstapler gewesen.»
Ross verzog das Gesicht. «Ja, Sie hätten mich vermutlich am liebsten erwürgt.»
«Ich dachte, Sie hätten mir das alles angehängt, Jon.» Er nippte an seinem Espresso. «Wie soll ich Sie denn jetzt nennen?» Er zeigte auf Ross’ Callout. «Sie heißen doch nicht wirklich ‹Rakh›, oder?»
«Nein.»
«Was zum Teufel bedeutet denn ‹Rakh›?»
«Es ist russisch. Hören Sie, ein Vorteil des Darknets ist, dass niemand wissen muss, wer man war. Weil die Leute wissen, wer man ist.»
Sebeck deutete auf Ross’ Darknet-Rufwert. «Offenbar jemand, auf den man sich verlassen kann.»
Ross nickte. «Das ist doch das einzig Wichtige, oder?»
Sebeck dachte darüber nach. «Tja, was Sobol angeht, hatten Sie damals tatsächlich recht. Wir hätten auf Sie hören sollen.»
«Ach ja?» Ross deutete auf das geschäftige Kleinstadtleben um sie herum.
Im Gegensatz zu so vielen Städten des Mittleren Westens schien Greeley eine Wiedergeburt zu erleben. Die Main Street säumten frischrenovierte Ladenfronten und Mikrofabriken, hinter deren hochgezogenen Rolltüren man Hersteller und Kunden sah, die auf D-Raum-Objekte deuteten, miteinander verhandelten und 3D-Pläne aus dem Darknet abriefen. In den Werkstatträumen brummten CNC-Fabrikationsmaschinen.
Die Straße belebten Dutzende junger Erwachsener, Familien und selbst älterer Menschen mit Callouts über den Köpfen. Sie klickten auf anderer Leute Daten und interagierten in multiplen Dimensionen, als wäre das eine vollkommen natürliche Erweiterung der Realität. Bereits so etwas wie eine zweite Natur.
Es erinnerte Sebeck an etwas, das Riley vor Monaten in New Mexico zu ihm gesagt hatte: über soziale Interaktionen, bei denen Rasse und Geschlecht keine Rolle mehr spielten. Hier waren sie alle Netzwerkmitglieder, und Sebeck hatte an sich selbst festgestellt, dass er zunehmend auf die Callouts der Leute schaute, um wirklich zu sehen, wer sie waren. Der Rufwert war jetzt wichtiger als die äußere Erscheinung, und es verblüffte ihn, wie schnell sein Gehirn die Umstellung vollzogen hatte. Im Darknet hatten alle dieselbe Callout-Farbe.
Sebeck reduzierte die Zahl der für ihn sichtbaren Layers und seine D-Raum-Sichtweite, um eine Callout-Überflutung zu verhindern. Er fragte sich, wie lange das hier schon so ging. Nach den vielen Gerüsten und im Gang befindlichen Bauprojekten zu urteilen, noch nicht sehr lange. Die meisten dieser Leute waren wohl erst kürzlich aus Großstädten und Vorstädten hierhergezogen. Oder vielleicht auch aus Großstädten und Vorstädten hierher zurückgezogen.
Auch Ross beobachtete das Kleinstadttreiben. «Auf der Grundlage dessen, was wir beide jetzt wissen, ist es manchmal schwer zu sagen, ob das damals schlecht oder gut war. Wenn der Zerfallsprozess weitergeht – wer weiß schon, ob das hier nicht am Ende Menschenleben und die Zivilgesellschaft rettet?»
«Was hat Sie denn am Ende bewogen, dem Darknet beizutreten?»
«Haben Sie je von einem Hexenmeister namens Loki gehört?»
Sebeck schüttelte den Kopf.
«Er ist der vielleicht mächtigste lebende Daemon-Agent. Er hätte mich beinah getötet. Und er hat so ziemlich alle getötet, mit denen ich zusammengearbeitet habe.»
«Und das hat Sie dazu gebracht, dem Darknet beizutreten? Da hätte ich doch die gegenteilige Reaktion erwartet.»
«Wenn dieses Netzwerk eine Zukunft haben soll, darf es nicht von blutgierigen Soziopathen wie Loki beherrscht werden. Und dann war da jemand in dieser Taskforce – ein Mann, den sie den Major nannten –, durch den ich begriffen habe, dass die bestehende Ordnung noch schlimmer ist.»
Sebeck nickte. «Der Major ist mir ein Begriff. Die Leute suchen überall nach diesem Kerl. Er hat Roy Merritt erschossen – den Brennenden Mann.»
«Ich kannte Roy. Habe mit ihm zusammengearbeitet. Er war derjenige, der mich in dieses Regierungsteam geholt hat. Der Major hat uns beide verraten.»
Sebeck zog die Augenbrauen hoch. «Dann haben Sie also mächtige Feinde.»
«Ich will Ihnen sagen, was mir Sorge macht, Pete: Das Darknet ist ein verschlüsseltes drahtloses Netzwerk, das sich ständig verändert, aber es braucht auch Elemente, die es erhalten, und ich befürchte, dass einige fähige Köpfe daran arbeiten, sich in den Daemon einzuhacken und ihn unter Kontrolle zu bringen.»
«Halten Sie das für möglich?»
Er nickte. «Wenn das gelingen sollte, könnte dieser neue Frühling der Freiheit bald vorbei sein. Und das wäre nicht mein erster falscher Frühling.»
«Und dieser Major ist …»
«Teil eines Finanzsystems, das hinter den Kulissen die Strippen zieht. Diese Leute wissen, dass die Weltwirtschaft wankt, und sie scheinen den Daemon als Mittel zu sehen, sie wieder in den Griff zu kriegen. Darknet-Feeds verzeichnen einen Anstieg repressiver Gewalt in aller Welt – gerichtet gegen resiliente Darknet-Communities. Sie wollen nicht, dass Menschen so leben …» Er zeigte auf die Stadt.
«Sie meinen, autark?»
«Genau. Wirkliche Demokratie ist etwas verdammt Seltenes. Überall wird von Demokratie geredet, aber das sind bloß Leerhülsen. Sie nennen es nur Demokratie. Sie benutzen das Vokabular, die Requisiten, aber es ist nichts weiter als Theater. Was eure Gründerväter getan haben, das war handfest und echt. Aber das Problem an Demokratien ist, dass sie schwer aufrechtzuerhalten sind. Besonders angesichts hochentwickelter Technologien. Wie soll man sich seine Freiheit bewahren, wenn die Mächtigen Softwarebots einsetzen können, um abweichende Meinungen aufzuspüren, und wenn sie Unruhestifter mit Drohnen ausschalten können? Menschen werden immer unnötiger, um in der modernen Welt Macht auszuüben.»
«Laney nennt das ‹Neofeudalismus›.»
Vom anderen Tischende kam Price’ Stimme. «Und es ist schon im Gange, Sergeant, ich sag’s Ihnen.»
Ross drehte sich zu Price. «Wie meinen Sie das?»
«Schauen Sie, im mittelalterlichen Europa konnte ein gepanzerter Ritter zu Pferd jede Menge einfaches Fußvolk besiegen.» Er stach mit einer Gabel in Ross’ Richtung. «Mit den modernen Elitekriegern ist es ganz ähnlich – sie können mit überlegener Technologie Massenheere von gewöhnlichen Wehrpflichtigen niedermähen. Und was passiert, wenn kleine Elitetrupps ganze Bürgerheere bezwingen können? Der Feudalismus zieht wieder ein – landlose Leibeigene und eine dauerhaft herrschende Klasse. Nehmen Sie nur mal die befestigten Luxuswohnanlagen, die überall hochgezogen werden, mit eigenen Sicherheitskräften. Das ist Neofeudalismus, Mann.»
Ross wandte sich wieder Sebeck zu. «Ich werde nie begreifen, wie wir das zulassen konnten.»
«Demokratie erfordert aktive Beteiligung, und früher oder später ist irgendjemand so aufopferungsvoll, anzubieten, einem die ganzen komplizierten Entscheidungsprozeduren abzunehmen, wo man doch sowieso schon so ein stressiges Leben hat. Das Darknet hingegen lädt den Menschen diese Entscheidungen wieder auf. Es verankert Demokratie in der DNA der Zivilisation. Man stimmt mehrmals am Tag über Dinge ab, die sich unmittelbar auf das eigene Leben und das Leben der Menschen um einen herum auswirken – nicht nur alle paar Jahre einmal über Dinge, die zu beeinflussen man sowieso nicht den Hauch einer Chance hat.»
Sebeck trank seinen Espresso aus. «Hören Sie, ich sehe ja, dass verteilte Demokratie in Holons wie diesem hier funktioniert, aber kann man wirklich eine ganze Zivilisation mit etwas am Laufen halten, das letztlich eine Game-Engine ist?»
«Können Sie mir irgendwas nennen, was kampferprobter wäre? Der Daemon wurde und wird von jedem Elitehacker auf diesem Planeten auf jede erdenkliche Art angegriffen. Sobol hat im Grunde ein Heer von Teenager-Gamern eingesetzt, um das Betriebssystem einer neuen Zivilisation dem Betatest zu unterziehen. All diese vielen Stunden in irgendwelchen Game-Welten waren wohl doch keine Zeitverschwendung.»
Price lachte. «Stimmt haargenau, Mann.»
Sebeck sah kurz auf die Themis-Skala seines HUDs. Lokal neigte die Anzeigenadel leicht nach links – breit verteilte Macht. «Jon, tun Sie mir den Gefallen und schauen Sie mal auf die Themis-Skala.»
«Okay.» Ross klickte auf D-Raum-Objekte. «Was ist damit?»
«Mir ist da was aufgefallen. Stellen Sie sie mal auf die weltweite Verteilung von Darknet-Macht ein.»
Ross tat es, und Sebeck wusste, was er jetzt sah: Die Nadel hatte sich drastisch nach rechts bewegt – fast auf drei Viertel der Skala. Das bedeutete, dass sich die Darknet-Macht weltweit in vergleichsweise wenigen Händen konzentrierte.
«Ist das wirklich eine Verbesserung gegenüber dem, was wir jetzt haben? Sie werden auch feststellen, dass der Rufwert bei Levelaufstieg unterdurchschnittlich ist – bei zwei von fünf Sternen. Also konzentriert sich Macht in den Händen von Leuten zweifelhaften Charakters.»
Ross prüfte das mit ein paar Klicks nach und starrte auf die Objekte im D-Raum. «Das Darknet ist in vielen Weltgegenden noch neu und wird, wie das bei Neuland meistens der Fall ist, zuerst von Misfits und Außenseitern in Besitz genommen. Bei uns war das zunächst auch so – nehmen Sie nur mal Lokis Rufwert.»
«Aber wir sollten das nicht einfach so vertrauensvoll hinnehmen. Wie sollten uns immer fragen, ob –»
«Verzeihung, ich möchte ja nicht stören …»
Sebeck blickte auf und sah einen Mann von Anfang dreißig mit Frau und Kinderwagen. Die Callouts identifizierten den Mann als Prescott3, seine Frau als Linah.
«Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe Ihr Quest-Icon gesehen. Sind Sie Pete Sebeck?»
Sebeck nickte.
«Ich verfolge Ihre Quest seit Monaten. Es ist eine Ehre, Sie hier in Greeley zu haben. Ich wollte fragen, ob wir uns vielleicht mit Ihnen fotografieren lassen dürften?»
Sebeck sah, dass Prescott3 ein Level-6-Architekt mit einem Rufwert von drei Sternen war. Er blickte wieder den Mann selbst an, und plötzlich wurde ihm bewusst, wie gründlich sich die Welt verändert hatte. «Natürlich. Gern.»
«Oh, das ist sehr nett von Ihnen. Hier …» Er hob das Baby aus dem Wagen und hielt es Sebeck hin, damit der es auf den Schoß nahm. Sebeck nahm das Baby unsicher entgegen – es war lange her, dass er eins gehalten hatte. Als er auf das Kind hinabblickte, musste er an seinen Sohn Chris denken. Sebeck war gerade siebzehn gewesen, als er Vater wurde.
Die Eltern stellten sich rechts und links neben seinen Stuhl. «Ich möchte das Foto haben, damit ich es Aaron später zeigen kann.»
Ross war jetzt aufgestanden und visierte die vier durch seine HUD-Brille an. Sebeck fiel wieder ein, dass die meisten HUD-Brillen eingebaute Kameras hatten. Daher rührten die Millionen Fotos und Videos, die die Leute ins Darknet stellten – es waren die Augen dieser verteilten Gesellschaft.
«Bitte recht freundlich …»
Alle lächelten.
Ross schob das virtuelle Foto im D-Raum den Eltern hinüber und ließ auch Sebeck eine Kopie zukommen.
Die Eltern nahmen ihren Sohn mit leuchtenden Augen wieder an sich. «Das ist toll. Vielen, vielen Dank, Rakh. Detective Sebeck. Alles, alles Gute für Ihre Quest – um unser aller willen.»
Der Vater behielt den Sohn auf dem Arm, als sie davongingen.
Ross sah ihnen nach. «Erzählen Sie mal von Ihrer Quest.»
«Was gibt’s da zu erzählen? Der Thread führt mich jetzt schon eine Woche immer im Kreis um Greeley herum. Irgendwas ist hier, das ich tun oder bekommen oder verstehen soll – aber ich habe keine Ahnung, was.»
«Glauben Sie, das Wolkentor befindet sich hier in Greeley?»
Sebeck schüttelte den Kopf. «Das Tor wird angeblich erst erscheinen, wenn die Menschen ihre Freiheit Sobol gegenüber gerechtfertigt haben – vorher nicht.»
«Und Sobol hat in keiner Weise angedeutet, wie wir unsere Freiheit rechtfertigen können?»
«Nein. Er war zum Verrücktwerden vage.»
Ross dachte nach. «Dieser Thread hat Sie bisher immer zu Ereignissen geführt – nicht an Orte. Richtig?»
«Ja. Die letzten sieben Monate sind Price und ich im Zentrum so ziemlich jeder wichtigen Veränderung gelandet. Ich habe die Entstehung der neuen Energie-Infrastruktur gesehen, die Entstehung der neuen Ökonomie, der neuen fMRT-Rechtsordnung und so fort. Dadurch ist meine Bekanntheit im Darknet so schnell gewachsen. Irgendwie waren wir immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort.»
«Na ja, dann wissen wir immerhin eins.»
«Was?»
«In Greeley wird irgendwas Wichtiges passieren.»