KAPITEL DREI
Ich hatte Teece schmollend bei seinen Motorrädern zurückgelassen und lief nun in Richtung Osten nach Torley. Die Zeit drängte. Ich musste schleunigst die Spur der verschwundenen Karadji aufnehmen. Larry Heins Kundschafter schienen mir die richtigen Leute für eine solche Aufgabe zu sein. Es würde meinerseits allerdings einiger Überredungskunst bedürfen, damit Larry mir seine Männer zu Verfügung stellte.
Während ich darüber nachdachte, wie ich Larry für meine Sache gewinnen konnte, ließ ich den Blick über die Landschaft schweifen. In der flachen Ebene zwischen ›Teeces Motorradverleih‹ und Torley lag ein Gewirr heruntergekommener Villen-Blöcke, die schon vor langer Zeit ihren Stolz verloren hatten. Heute war der Tert nur noch eine Ansammlung ordinärer, nichts sagender Architektur.
Der Tert erstreckte sich in Form einer Halbinsel bis zu den südlichen Grenzen der Supercity Viva. Das verfallene und kranke Fishertown auf der einen, der brackige Filder River auf der anderen Seite: ein ausgebeutetes Stück Land, das in seiner gesamten Ausdehnung mehrere hundert Klicks maß. Es war die Heimat des Pöbels und der verlorenen Seelen.
Hier hatten einst die Anlagen der Schwerindustrie gestanden, bevor man sie abgerissen und in eine Villatropolis verwandelt hatte – zunächst waren viele Menschen hierher gezogen, doch dann waren immer mehr Einwohner an den giftigen Rückständen der Industrie erkrankt.
Heute war diese ehemals prunkvolle Villengegend nichts weiter als ein Auffangbecken für Schwerkriminelle. Das Ödland, ein lebloser Streifen Wüste, trennte den Tert vom Rest der Menschheit.
Ich blickte in die Ferne. Von weitem betrachtet schien der kurze, heftige Krieg keine Spuren hinterlassen zu haben. Die ärmlichen Behausungen der Menschen waren zerstört, aber mittlerweile ebenso behelfsmäßig wieder aufgebaut worden. Die Menschen, die ihr Leben gelassen hatten, ließen sich natürlich nicht so einfach ersetzen.
Tausende waren in den wenigen Tagen getötet worden, die die Kämpfe gedauert hatten. Der Gestank der verwesenden Köper war so unerträglich gewesen, dass die Milizen angerückt waren, um für Ordnung zu sorgen. Sie verbrannten die Leichen auf einem Stück Ödland, das in der Nähe von Teeces Haus lag. Manchmal, wenn ich in der Nacht aufwachte, lag der süßliche Geruch von verbranntem Menschenfleisch noch immer in der Luft.
Die Medien räumten den Toten eine Unmenge ihrer kostbaren Sendezeit ein. One-World, Out-World, das Allgemeine Netz – alle hatten sie darüber berichtet. Nichts trieb die Einschaltquoten derart in die Höhe wie ein Haufen brennender Körper entbehrlicher Menschen.
Raubvögel – Journalisten-Piloten in bewaffneten Helikoptern mit ihre immerzu filmenden Verhör-Mechas – überwachten das Ganze und drängten bei Gelegenheit sogar ihre Handlanger von den Milizen zur Seite, um eine Nahaufnahme zu bekommen. Aasgeier!
Ich konnte dieses unmenschliche Treiben nicht lange ertragen und besorgte mir einige Boden-Luft-Raketen. Nur Teece konnte mich davon abhalten, sie auf diese Hyänen abzufeuern.
Ich rannte, bis meine Lungen brannten und meine Kräfte mich verließen. Mit schweren Schritten ging ich in ein Café und bestellte mir Bier und etwas zu essen.
Durch ein großes Fenster blickte ich auf die Straße hinaus. Dort wimmelte es nur so von Scootern und Robokids. Letztere hatten mir als Transportmittel nie behagt. Es erschien mir einfach nicht richtig, auf dem Rücken eines Kindes herumzufahren, selbst wenn sein Körper halb mechanisch war. Jemand mit einer pragmatischeren Weltsicht hätte vielleicht gesagt: »Ja, du hast sicherlich Recht, Parrish. Aber die Robokids brauchen das Geld, das du ihnen gibst.«
Das Essen in dem Café war annehmbar und das Bier gut. Auch das war eine dieser makaberen Eigenarten des Tert: Die Menschheit mochte auf der Überholspur in Richtung Hölle rasen, doch an diesem Ort würde man jederzeit ein gutes, kühles Bier bekommen. Ich leerte mein Glas und genoss es, seit langer Zeit zum ersten Mal wieder alleine zu sein.
Trotzdem wusste ich nur allzu gut, dass ich ständig beobachtet wurde. Seitdem Jamon das Zeitliche gesegnet und ich einen Formwandler namens Io Lang ins Jenseits befördert hatte, kannte mich jedermann im Tert. Manchmal gereichte mir meine Berühmtheit zum Vorteil, doch meistens war ich gezwungen, mir die Leute vom Hals zu halten.
In der Vergangenheit hatte ich immer wieder Schwierigkeiten gehabt, meine Aggressionen zu kontrollieren. Das lag zum Teil an dem Parasiten; er manipulierte meine Emotionen. Je mehr Adrenalin durch meinen Körper floss, desto schneller wuchs diese Kreatur heran. Ich würde mich wohl damit abfinden müssen, dass ich allmählich meine Menschlichkeit verlor.
Ich meditierte regelmäßig, um die Kontrolle über meinen Geist und meinen Körper zu behalten; doch manchmal machte mich dieses Wesen so wütend, dass ich fast den Verstand verlor. In solchen Phasen fühlte ich mich wie ein Mensch, der sich in einen Werwolf verwandelte – damit will ich natürlich nicht sagen, dass ich jemals Zeuge einer solchen Metamorphose geworden wäre.
Mein verändertes Äußeres strahlte sicherlich Zuversicht aus, doch tief in meinem Inneren hatte sich der Kummer wie ein dunkler Schatten über meine Seele gelegt. Ich war zu jener Art Mensch geworden, die ich früher einmal bewundert hatte: jemand, mit dem sich niemand anlegte, jemand, der nichts mehr zu verlieren hatte. Aber die Wirklichkeit entsprach nicht meinen Träumen. Nicht im Geringsten.
Doch andererseits: Wann entspricht die Realität je unseren Vorstellungen?
Die Leute suchten zwar keinen offenen Streit mit mir. Dafür lauerte an jeder Straßenecke ein Konkurrent und potenzieller Nachfolger, der nur darauf wartete, dass ich einen Fehler beging.
Ich griff in meine Tasche und holte die kleine Schachtel mit Hautproben hervor, die mir der Verhör-Mecha gegeben hatte. Warum war die King Tide ein so wichtiger Zeitpunkt für die Cabal? Torley war von der Flut nicht so gefährdet wie Fishertown.
Ich leerte mein Bier und bestellte ein neues; am liebsten hätte ich mich betrunken, doch dazu hatte ich nicht keine Zeit.
Vier Tage bis zur King Tide!
Abgesehen davon blieb mir in meinem derzeitigen Zustand sogar das Vergnügen eines Vollrausches verwehrt: Der Parasit griff ein, wenn ich einen bestimmten Pegel erreichte und beraubte den Alkohol seiner Wirkung. Ich hätte nie gedacht, dass ich es jemals vermissen würde, mit hämmernden Kopfschmerzen und fauligem Geschmack im Mund aufzuwachen.
Aber ein ordentlicher Kater fehlte mir tatsächlich.
Auf dem Vid-Schirm über der Bar flimmerten die Bilder von One-World. Ich wandte mich ab; aus einem persönlichen Groll heraus verfolgte ich die Sendungen der verschiedenen Nachrichtennetze nicht mehr. Einst hatten globale Firmenkartelle und skrupellose Politiker diese Welt kontrolliert. Heute lag das Ruder in den Händen von Leuten, die die Realität manipulierten und die Wahrheit töteten; heutzutage waren die Journalisten die Lenker unserer Geschicke. Sie versuchten noch immer, mich für den Mord an Razz Retribution verantwortlich zu machen, einer beliebten Journalistin und Nachrichtensprecherin, obwohl ich dieses Verbrechen nicht begangen hatte.
Die Wut auf diese Leute und das, was sie mir angetan hatten, würde ich mit ins Grab nehmen. Ich konnte ihnen nicht vergeben. Und eines Tages würde ich mich rächen.
Im Moment war das Interesse an meiner Person abgeflaut, und die Medien ließen mich in Ruhe. Ich vermutete, dass die öffentliche Kontroverse über die Wahrheit hinter Razz Retributions Tod sie davon abhielt, mich weiter zu verfolgen. Gewöhnlich scherten sich die Medien nicht um die Wahrhaftigkeit ihrer Berichterstattung, doch in diesem Fall waren berechtigte Zweifel aufgekommen. Die Frage, ob Parrish Plessis tatsächlich hinter dem Anschlag auf Retribution steckte, hatte die Zuschauer in zwei Lager gespalten. Die einen glaubten an meine Schuld; die anderen waren sicher, dass es sich bei dem Täter um jemand anderen handelte.
Vermutlich waren die Intrigen und Verschwörungstheorien, die sich um diesen Mord rankten, für viele eine willkommene Abwechslung zu den täglichen Gewaltsendungen.
Es war ein guter Schachzug von mir gewesen, Jamon Mondo live auf dem Netzwerk ein öffentliches Geständnis abzuverlangen. Das hatte mir ein wenig Zeit verschafft. Nun konnten mich die Medien nicht mehr ohne einen ordentlichen Prozess verurteilen, und irgendwie schienen sie es damit auch nicht sehr eilig zu haben. Sie nutzten die Gunst der Stunde und trieben die Einschaltquoten in die Höhe.
Obwohl ich nicht mehr direkt im Rampenlicht stand, durfte ich mich noch lange nicht in Sicherheit wiegen. Es geschahen zu viele Dinge, die ich nicht verstand oder deren Hintergründe ich nicht kannte. Zum Beispiel mein Gespräch mit dem Verhör-Mecha: Diese Journalistin hatte versucht, mich vor irgendetwas zu warnen, was ihr dank Teeces nervösem Zeigefinger jedoch nicht gelungen war. Nun hatte ich lediglich ein paar hässliche Hautfetzen. Es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt, was es mit ihnen auf sich hatte; die Angelegenheit bereitete mir ernsthaftes Kopfzerbrechen.
Vermeintliche Freunde wie diese Journalistin, die aus dem Nichts auftauchten und in selbigem wieder verschwanden, waren mir von jeher suspekt.
Ich spülte mein Bier in einem Zug herunter und dachte weiter über diese seltsame Begegnung nach, bis sich ein junger, pomadiger Typ unaufgefordert an meinen Tisch setzte. Nachdem ich ihn mit einem schnellen Blick taxiert hatte, war ich mir sicher, dass er einer meiner neuen Konkurrenten war.
Ich hob eine Augebraue. »Gibt’s ein Problem, Kleiner?«
Er war schlank und braungebrannt; die festen Muskelpakete an seinen Armen und Schultern verrieten mir, dass er sich mit Testosteron vollgepumpt haben musste. Es war schwer zu sagen, ob seine Bizepse natürlich waren oder bei einem talentierten Chirurgen eine Unmenge Geld gekostet hatten.
»Kein Problem«, sagte er. »Ich genieße nur die Aussicht. Hab gehört, du seist ’ne gefährliche Braut. Richtig?«
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Der winzige Funke Neugierde, den sein Aussehen in mir ausgelöst hatte, erlosch sofort wieder. »Du musst mich mit jemandem verwechseln.«
»Schade«, sagte er. »Ich hätte die Frau gerne getroffen. Sehr schade.«
»Warum?«, erkundigte ich mich mit wieder aufflammendem Interesse.
»Hab gehört, sie könnte es mit jedem aufnehmen. Soll verdammt gut im Kampf Mann gegen Mann sein.«
»Aha.«
Nun, da er einmal angefangen hatte zu reden, schien ihn nichts mehr aufhalten zu können. »Ja. Ich wollte mein Stück vom Kuchen, bevor man sie aus dem Weg räumt«, plapperte er ungezügelt weiter.
»Aus dem Weg räumen?« Jetzt hatte er meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Es gibt da ein Gerücht«, sagte er in geheimnisvollem Tonfall und rutschte auf meine Seite herüber. »Jemand hat ein Kopfgeld auf die Frau ausgesetzt. Ein Freund hat mir das erzählt.«
Obwohl ich darauf bedacht war, immer einen Sicherheitsabstand zu anderen Leuten zu wahren, ließ ich ihn näher an mich herankommen. Mit einer Hand öffnete ich den Verschluss meines Pistolenhalfters.
Der Mann erstarrte mitten in der Bewegung, als er sah, was ich tat, doch ich zog blitzschnell die Luger und presste sie ihm zwischen die Beine.
»Keine Bewegung, Bürschchen.«
Die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht.
»Ich wusste, dass du es bist«, sagte er begeistert.
Langsam irritierte mich sein Verhalten. »Wer hat das Kopfgeld auf mich ausgesetzt?«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich kann es dir verraten, aber dann muss ich dich töten. Ist es das wirklich wert?«
Das war nun schon das zweite Mal, dass mich das jemand am heutigen Tag fragte; doch im Gegensatz zu Teece durfte dieser Kerl nicht mit meinem Mitgefühl rechnen.
Ich musterte ihn genau und berührte mit einer Hand meine Halskette mit den giftigen Spitzen. »Ich mache dir ein Angebot: Du darfst deine Augen behalten, und mit ein wenig Glück wirst du vielleicht keine Transplantate für die Knochen brauchen, die ich dir brechen werde!«
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und in seinen Augen war deutlich Angst zu sehen. Offenbar war mir mein schlechter Ruf wieder einmal vorausgeeilt.
Ich drückte die Luger fester zwischen seine Beine, in der Hoffnung, dass er darauf erpicht war, seine Geschlechtsorgane in einem funktionstüchtigen Zustand zu erhalten.
»Los, ich will Namen hören«, zischte ich.
Auf seiner Oberlippe bildeten sich Schweißtropfen und sein Haar-Frost taute auf.
»Irgend… Irgendjemand in Tower Town hat das Kopfgeld ausgesetzt«, haspelte er.
Mir stockte der Atem. Tower Town, das war Daacs Gebiet.
Verfluchter Bastard!
Der Junge sah meine Reaktion und holte tief Luft, als ahnte er, was ich als nächstes tun würde.
Ich feuerte die Pistole ab, und der Tisch zersplitterte in tausend Einzelteile. Ich registrierte nur noch vage, wie die Gäste panisch aus dem Café flüchteten. Mein Bewusstsein schwand, als der Parasit mit Hilfe des Adrenalins, das mein Körper produzierte, die Kontrolle über mich ergriff.
Irgendwie hatte es der Junge geschafft, meinem Schuss auszuweichen. Auf allen Vieren kroch er in Richtung Ausgang.
Ich ließ ihn entkommen, schnippte dem Wirt ein paar Kredits als Entschädigung für das Schlamassel zu und machte mich aus dem Staub.
Die ganze Wucht der neurochemischen Reaktionen in meinem Körper traf mich erst, als das Café bereits außer Sichtweite war. Ich sackte an einer Mauer zusammen, als die Halluzination von mir Besitz ergriff. Es war die gleiche wie letztes Mal und dem Mal davor…
Ein Engel erhob sich aus einem Strom aus Blut. Rote Tropfen spritzten von seinen gewaltigen Schwingen. Blut. Mein Blut.
»Die Verwandlung ist nahe, Mensch.«
Ich weigerte mich, schrie verzweifelt auf. Ein langes, schreckliches Geräusch.
Ich schrie noch immer, als ich die Augen öffnete und sich mein Blick langsam wieder aufklarte.
»Oya?«, sagte eine dumpfe, ängstliche Stimme.
Um mich herum hatte sich eine Gruppe von Straßenkindern versammelt. Abgesehen von den Atemmasken, die jedes von ihnen trug, sahen sie völlig harmlos aus – aber der Krieg hatte die Bewohner des Tert eines Besseren belehrt; niemand würde sie jemals wieder unterschätzen. Die Straßenkinder trugen Biowaffen mit tödlichen, sich schnell verbreitenden Viren an ihren Körpern.
Ich erkannte einen von ihnen, einen hageren, groß gewachsenen Jungen, der mir früher einmal geholfen hatte.
»Was… Was tut Ihr hier?«, stotterte ich.
Der Junge blickte sich kurz in der Straße um. Ich erkannte, wie sich einige verschwommene Gestalten in der Nachmittagssonne an uns vorbei bewegten.
Er nahm die Atemmaske ab. »Wir haben bereits auf deine Rückkehr gewartet. Jemand will dir großes Leid zufügen, Oya. Wir beschützen dich.«
Wir beschützen dich.
Ich unterdrückte ein Lachen.
Die Straßenkinder wichen ein paar Schritte zurück, während ich mich mühsam aufrappelte. Dann stütze ich mich auf die Schulter des Jungen. »Wie ist dein Name?«
»Link«, antwortete er und zog die schwarzen Augenbrauen in seinem schmalen, kantigen Gesicht zusammen.
»Link, ich habe einen Platz gefunden, an dem Ihr alle leben könnt. Verbreitet die Nachricht: Die Baracken in Torley werden für euch hergerichtet.«
Die Augen des Jungen leuchteten vor Freude. Er gab zweien der Kinder eine kurze Anweisung und sah ihnen hinterher, bis sie in der Menschenmasse verschwunden waren. Dann drehte er sich wieder zu mir um. Er griff in die Tasche seiner zerschlissenen Jacke und holte eine weitere Atemmaske hervor. »Wir werden bei dir bleiben. Wir sind Oyas Wächter«, versprach er.
Ich wollte die Atemmaske nicht annehmen, doch Link hatte sie mir bereits in die Hand gedrückt.
»Du wirst nicht bemerken, dass wir in deiner Nähe sind. Ich verspreche es. Halte diese Maske immer griffbereit.«
Resigniert atmete ich tief durch und fand mich mit meinen neuen Leibwächtern ab.
Ich setzte meinen Weg nach Torley ohne weitere Unterbrechungen fort. Die ständige Angst vor einer erneuten Halluzination und das Wissen, dass jede meiner Bewegungen von einer Gruppe Kinder beobachtet wurde, hatten mir den Spaß an meiner Einsamkeit genommen.
Ich rannte so schnell ich konnte über den aufgeplatzten Asphalt der Straßen und zwischen den Schutz bietenden Villenblöcken hindurch. Einige Male benutzte ich auch die verwinkelten Treppenhäuser der Gebäude als Abkürzung. Es dauerte nicht lange, bis meine Lungen brannten und mir der Schweiß den Rücken hinunter lief. Die längere Ruhepause bei Teece war mir nicht gut bekommen; ich hatte mich über einen Monat lang kaum bewegt, und nun war ich schwach und außer Form. Die Weisheit, Sex alleine reiche, um sich fit zu halten, stimmte also nicht ganz.
Ich erreichte Torley am späten Nachmittag. Am Himmel über der Stadt kreisten unzählige Raubvögel, und das Heulen ihrer Turbinen sorgte für ein ständiges Hintergrundgeräusch.
Ich sah zu ihnen hinauf.
Wonach suchten sie? Nach wem suchten sie? Was machte den Tert für diese Aasgeier so interessant?
Bald wurde der Lärm der Maschinen durch den Straßenlärm und das Stimmengewirr der Menschen überlagert – die typische Geräuschskulisse des Tert. Obwohl die Bars in Torley rund um die Uhr geöffnet hatten, füllten sie sich gewöhnlich erst nach Sonnenuntergang. Ich hatte Link und seine Bande nun schon eine Weile nicht mehr gesehen, doch ich hegte keinerlei Zweifel daran, dass sie sofort zur Stelle sein würden, sollte ich in Schwierigkeiten geraten oder wieder in Ohnmacht fallen. Allerdings beruhigte es mich nicht wirklich, von mit Viren bewaffneten Straßenkindern beschützt zu werden. Mit jedem Tag stand ich tiefer in der Schuld der Menschen, die mich umgaben.
Obwohl jeder Muskel meines Körpers vor Aufregung gespannt war, versuchte ich, einen gelassenen Eindruck zu erwecken. Würde Larry Hein mir helfen?
Ich befand mich in einer schwierigen Situation: Zwar hatte ich die Kontrolle über Jamons ehemaliges Territorium an mich gerissen, doch ich hätte meinem Anspruch darauf umgehend mit Taten Nachdruck verleihen müssen. Stattdessen hatte ich mich mit Teece zurückgezogen, um meine Wunden zu heilen. Einige Leute würden mein Verhalten als Schwäche auslegen – vielleicht gehörte auch Larry zu ihnen. Nun musste ich mich wieder mit aller Konsequenz und Härte ins Geschäft bringen.
Jamon hatte vor seinem Tod den nördlichen Teil des Tert kontrolliert: die Bars und Clubs in Torley, Shadouville und das Geschäftsviertel am nördlichen Ende der Wohnblöcke, das alle nur den Stretch nannten. Mondo war kein wirklicher Zuhälter gewesen, doch er hatte die Mädchen, die für ihn arbeiteten, beschützt und gut bezahlt. Er hatte dafür gesorgt, dass sich jeder auf seine Art amüsieren konnte: Drogen, Sensil-Kabinen – Sensoren gestützte Illusionen –, Glücksspiel und sogar Hundehahnkämpfe.
Wenn es nach mir ginge, würde sich hier einiges ändern. Natürlich würde das gewissen Leuten missfallen, doch dann wollte ich sie meine Überzeugungskraft spüren lassen.
Der Gedanke an mögliche Auseinandersetzungen ermahnte mich, meine Waffen zu kontrollieren, bevor ich mich an die Arbeit machte. Das bloße Gewicht der Würgedrähte in meiner Unterwäsche versicherte mir, dass sie jederzeit griffbereit waren. Die beiden Luger befanden sich durchgeladen in ihren Holstern; dazu enthielt mein Gürtel einige Betäubungsgranaten, einen Sprungdolch, eine Oxygenfackel, Ersatzpatronen und eine kleine Sammlung von Wurfmessern sowie ein Gashalluzinogen (Minoj, mein Waffenhändler, hatte dafür gesorgt, dass die Granate nur durch meinen Speichel aktiviert wurde, nachdem ich Teece und mich selbst einmal fast aus Versehen in die Luft gesprengt hatte. Ich hatte Minoj versprochen, dass ich ihm jeden seiner verbliebenen Zähne einzeln mit einem Schraubenzieher herausrammen würde, sollte er diese Geschichte weitererzählen). Das Halsband mit den giftigen Pfeilspitzen vervollständigte mein Arsenal.
Konnte man einer Frau wie mir überhaupt widerstehen?
Nun ja, durchaus. Eine Seite meines Gesichts war von Narben zerfurcht, und meine Nase nach mehrfachen Brüchen nicht besonders ansehnlich; dennoch hatte ich eine Schönheitsoperation nie in Betracht gezogen.
In Torley hatte sich während meiner Abwesenheit nicht viel geändert. Das Stimmengewirr der Menschenmasse, das geschäftige Treiben auf den Straßen, alles war noch genau wie früher, und wieder hier zu sein war für mich wie eine Heimkehr. Draußen vor Heins Bar führten ein paar King-Tide-Verrückte unter einem Leuchtplakat mit der Aufschrift ›Das Ende der Welt ist nahe!‹ ein billiges Theaterstück auf.
Im Inneren sah Heins Bar genauso aus wie immer: graue Betonwände, Gefühlstühle und hier und da einige Blutspritzer. Lediglich die Abwesenheit von Jamon Mondos Dingomutanten, von denen es hier früher nur so gewimmelt hatte, war eine willkommene Veränderung. Der überwiegende Teil von Jamons Mutantenarmee hatte das Weite gesucht, als ich die Kontrolle über sein Territorium an mich gerissen hatte. Nur der harte Kern der intelligenteren Dingos hielt sich noch immer im Tert auf und verdingte sich als Leibwächter.
Obwohl der Abend gerade erst begonnen hatte, war Heins Bar bereits gut gefüllt. Ich erkannte nur wenige der Gäste, doch jeder von ihnen erkannt mich. Einige von ihnen riefen mir einen Willkommensgruß entgegen. Andere wiederum zogen sich rasch in die Com-Kabinen zurück, was bedeutete, dass ich eventuell noch mit Ärger zu rechnen hatte.
Larry Hein stand wie gewohnt an seinem angestammten Platz hinter der Theke und dirigierte die Bedienungen mit einem Wink seines Küchentuches. Larry war eigentlich ein bodenständiger Mann, doch er putzte sich gerne heraus. Heute Abend trug er einen hautengen, blassgrünen Lurex-Anzug mit Schlitzen an der Seite – vor einem Monat hatte er noch Chiffon getragen. Vielleicht sollte ich ihn mit Ibis bekannt machen, dann könnten sie sich über die neuesten Modetrends austauschen.
Als Larry mich sah, blitzte das Weiße in seinen schwarz unterlaufenen Augen hervor.
Ich ging zu ihm hinüber. »Hast du Buch darüber geführt, was ich dir schulde, Larry?«
Er nickte steif und tat so, als hätte ihn meine Frage gekränkt.
»Na also, dann schau mich nicht so nervös an.«
Er lehnte sich auf den Tresen, und der herbe Geruch seines billigen Aftershaves drang zu mir herüber.
»Wo hast du gesteckt, Parrish? Es war verdammt schwer, die Dinge hier im Griff zu behalten, und nun sind diese ganzen Verrückten wegen der verfluchten King Tide noch verrückter geworden.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. »Dort draußen erzählt man sich, du seiest tot. Oder du hättest dich verwandelt. Einige Dingomutanten wollen dir dein Territorium streitig machen.«
›Verwandelt‹ bedeutete, die Leute glaubten, der Parasit habe sich meiner bemächtigt. Jamon und Io Lang war es vor mir bereits so ergangen. Lang hatte sich hier im Heins vor den Augen der Gäste als Formwandler entpuppt, nachdem ich ihm eine Kugel direkt in seine Adrenalindrüsen gejagt hatte. Die Geschichte über dieses unglaubliche Ereignis hatte sich natürlich schnell im Tert verbreitet. Allerorts wusste man, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Man munkelte, das Böse habe sich in den Formwandlern manifestiert und suche nun diese Welt heim.
Die Sage von den Formwandlern gab es bereits, seit sich die Menschen Geschichten erzählten; doch nun war sie Dank der Eskaalim Wirklichkeit geworden. Mit verrückten Geschichten von Vampiren und Werwölfen hatte das Ganze nichts mehr zu tun.
Ich zog eine Luger aus dem Holster. Es war eine gute Waffe, doch sobald ich Zeit finden würde, Minoj, meinen Waffenhändler, aufzusuchen, würde ich ihn um eine Spezialanfertigung bitten.
Ich stützte die Ellbogen auf die Bar und deutete mit der Pistole auf Larrys Magnumflasche Malt Whisky. Noch nicht einmal seine Stammkunden konnten sich einen Schluck aus dieser Flasche leisten; aber tatsächlich hätte Larry ihnen sein kostbarstes Getränk ohnehin nie gegeben. Larry putzte die Flasche regelmäßig, damit das Etikett stets lesbar blieb, und wenn es ihm einmal schlecht ging, öffnete er die Flasche, aber nur, um kurz den Geruch des Whiskys zu inhalieren.
»Larry, habe ich mich in irgendeiner Weise ›verwandelt‹?«
Er antwortete mir mit einem steifen Lächeln, als hätte bei ihm bereits die Leichenstarre eingesetzt: »Nein. Du bist noch immer die gleiche, alte Parrish Plessis.«
»Ich habe mir nur eine kleine Auszeit gegönnt. Ich werde mich in Jamons altem Quartier einrichten. Sieh zu, dass diese Nachricht die Runde macht. Hier werden sich einige Dinge ändern. Stehst du noch auf meiner Seite?« Ich fixierte Larry mit prüfendem Blick.
Er dachte über meine Frage nach, während er mir einen Tequila einschenkte. Mit einem übertriebenem Seufzen sagte er dann: »Es ist mir ein Vergnügen, für eine Lady wie dich zu arbeiten.«