KAPITEL ZWEI
Weniger als eine Woche bis zur King Tide!
Mir blieb nicht viel Zeit. Diese Gewissheit grub sich tief in mein Unterbewusstsein, als ich auf dem Bildschirm das Fenster mit den wellenförmigen Zeichen der Gezeitentafel schloss und mich Teece zuwandte.
Seit Tagen orakelten die Meteorologen auf One-World, uns stehe die größte Flut in der neueren Geschichte der südlichen Hemisphäre bevor: Knapp dreißig Meter werde die Welle an einigen Orten erreichen, bedingt durch Vollmond und einige andere Einflüsse, die die Experten aufgrund der kurzen Sendezeiten nur mit zungenbrechenden Fachbegriffen erklären konnten.
An jeder Straßenecke stilisierten sich die Verrückten zu Propheten hoch, und die Religionsgemeinschaften besaßen nun ohnehin Carte blanche: Der Tag es Jüngsten Gerichts stünde kurz bevor, behaupteten ihre Anhänger allenthalben. Die ersten Schaulustigen hatten bereits die Stranddünen besetzt, um einen guten Blick auf das Spektakel zu haben; andere, gescheitere Tert-Bewohner, flüchteten in Scharen zu den inneren Grenzen.
Und die Milizen waren vollauf damit beschäftigt, die panischen Einwohner der Megametropole Vivacity vor sich selbst zu schützen.
»Du bist verrückt!«, beschwerte sich Teece.
Mit dieser Beleidigung erlangte er endlich meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Ich stemmte die Hände in die Hüften und widerstand der Versuchung, meine Faust in sein Gesicht zu rammen.
»Sie sind doch nur Kinder, Teece. Sie brauchen ein Zuhause.«
»Nur Kinder sagst du? Diese Kinder tragen Biowaffen, um Himmels Willen. Außerdem gibt es von denen ohnehin zu viel!«
Die Straßenkinder des Tert, über die Teece und ich uns stritten, fielen unter mein Protektorat, und ich hatte mir geschworen, ihnen ein neues Zuhause zu geben.
Im Tert hatte bis vor kurzem ein erbarmungsloser Krieg getobt. Es war einer jener Konflikte gewesen, den die Geschichtsbücher als den »Sechs-Tage-Krieg«, den »Fünfzehn-Tage-Krieg« oder den »Kurzen-Krieg« notieren würden – abgestempelt mit einer der vielen lächerlichen Phrasen, die die wahren Geschehnisse nur ungenügend zusammenfassten. Tatsächlich hatte der Krieg fünf Tage gedauert, und die meiste Zeit davon war diese Auseinandersetzung in tödlicher Stille und mit kalter Brutalität ausgetragen worden.
Die Straßenkinder waren ein Grund dafür gewesen, dass ich den Krieg überlebt hatte. Einer von ihnen war ich zu besonderem Dank verpflichtet: Tina. Sie hatte sich selbst geopfert und damit die Geschehnisse entscheidend beeinflusst. Ich schuldete ihr und ihresgleichen sehr viel; aber natürlich war das eine Schuld, die ich niemals würde begleichen können.
Dennoch versuchte ich, mich erkenntlich zu zeigen, und ich wollte einen Anfang machen, indem ich den Straßenkindern eine Unterkunft mit fließendem Wasser, Strom und einer San-Einheit verschaffte. Ich sorgte mich um die Kinder, obwohl mir bewusst war, dass ich in nicht allzu ferner Zukunft sterben oder mich in ein Wesen verwandeln würde, das keinen Pfifferling um das Leben dieser Kinder gab. Wollte ich dem zuvorkommen, musste ich sehr bald eine Lösung für mein Problem finden.
Die Cabal hatten mir neue Hoffnung gegeben. Nun brauchte ich nur noch jemanden, der sich um das Tagesgeschäft kümmerte, wenn ich mich auf meine Mission begab.
Und dieser jemand würde Teece sein. Er würde meine gefährliche Unternehmung sicherlich nicht gutheißen, doch er würde mir helfen, da war ich sicher. Teece schuldete mir noch etwas, und ich scheute nie davor zurück, eine alte Gefälligkeit einzufordern.
»Die Dingomutanten sind bis auf ein paar versprengte Einzelgänger größtenteils verschwunden. Wenn wir ihre alten Baracken umbauen, dann könnten die Kinder darin wohnen«, schlug ich vor.
»Moment mal, wen genau meinst du mit ›wir‹?«, knurrte Teece.
Ich ließ langsam meine Finger über seine nackte Brust gleiten und berührte den Bund seiner abgetragenen Bikerhose. Normalerweise war es nicht meine Art, das schüchterne, unschuldige Mädchen herauszukehren und meine weiblichen Reize für meine Zwecke einzusetzen; doch Teece und ich waren uns recht nahe gekommen, seit die Cabal einen Speer in Jamon Mondos Brust gerammt hatten. Ich wusste genau, wie ich ihn manipulieren konnte.
Ich wohnte nun bereits seit einigen Wochen bei Teece, und seine Nähe half mir dabei, mich zu entspannen. Teece schien meine Anwesenheit ebenfalls zu genießen.
Er ergriff meine Hand und drückte sie.
»Ist es das wirklich wert?«, fragte er mit einem schiefen Lächeln.
Ich wich zurück und musterte Teece mit festem Blick: eine starke, große Brust, lange, sonnengebleichte Haare und blassblaue Augen. Teece war eine perfekte Mischung aus Biker und Surfer. In technischen Dingen kannte er sich bestens aus und besaß dazu noch einen scharfen Geschäftssinn.
Teece erwiderte meinen Blick. Ich fragte mich, was er in mir sah. Hatte ich mich verändert? Äußerlich unterschied ich mich ohne Zweifel von der alten Parrish Plessis, die er einmal gekannt hatte: meine Dreadlocks hatte ich gegen einen struppigen Kurzhaarschnitt getauscht. Auch meine hautengen Nylonstrumpfhosen hatte ich abgelegt. In einer Hinsicht hatte ich mich hingegen überhaupt nicht verändert. Ich trug noch immer ein umfangreiches Waffenarsenal bei mir. Gerade im Moment steckten in den Halftern an meinen Hüften zwei gut sichtbare Pistolen. Dazu schmückte meinen Hals eine Kette mit giftigen Pfeilspitzen, und meine Unterwäsche zierten ein Paar Würgedrähte.
Es war August und zu dieser Jahreszeit so kalt im Tert – dem heruntergekommenen Villengebiet, in dem Teece und ich lebten –, dass selbst die härtesten Männer in dicken Mänteln umherliefen. Dank meiner inneren Hitze musste ich hingegen nicht einmal den Reißverschluss meiner knapp geschnittenen Lederjacke schließen. Diese Macho-Kluft hatte mir mein Freund Ibis geschenkt, der sie angeblich in einem ›Antiquariat‹ in Vivacity erstanden hatte. Wenn es um Kleidung ging, hatte Ibis wirklich nicht den besten Geschmack.
Doch das waren alles nur Äußerlichkeiten.
Die wahren Veränderungen hatten in meinem Inneren stattgefunden. Der Parasit ernährte sich von dem Adrenalin in meinem Körper. Er wuchs in meinem Inneren beständig heran, und die Ohmacht, nichts dagegen ausrichten zu können, trieb mich allmählich in den Wahnsinn.
Teece wusste, was in mir geschah – die Halluzinationen, die Stimmen in meinem Kopf, meine beschleunigte Wundheilung –, doch wir redeten nicht viel darüber, und ich sorgte dafür, dass er sich nicht mit meinem Blut infizierte.
Infiziertes Blut… Das war ein Weg, auf dem sich die Parasiten übertrugen, allerdings ein sehr langsamer. Ich war einer der wenigen Menschen auf der Welt, die dieses Schicksal ereilt hatte – bis jetzt. Vermutlich gab es nicht mehr als fünfzig von uns, und bald würde es mir wie den anderen Wirten vor mir ergehen: Der Parasit würde die Kontrolle über meinen Körper übernehmen und mich vernichten.
Ich war fest entschlossen, mir das Leben zu nehmen, wenn ich diese Wesen nicht aufhalten konnte. Teece und ich sprachen nicht über solche Schreckensszenarien. Nur manchmal ertappte ich ihn dabei, wie er mich in einem unbeobachteten Moment mit schmerzerfülltem Blick betrachtete.
Teece liebte mich und das von ganzem Herzen, so wie es bei wahrer Liebe sein sollte.
In einer perfekten Welt hätte ich ihm die gleichen Gefühle entgegen gebracht, doch das tat ich nicht. Ich respektierte und mochte ihn sogar sehr, aber mein tiefstes Verlangen galt einem anderen Mann: Loyl Daac.
Willkommen im wirklichen Leben.
Teece verschränkte die Arme wie ein dickköpfiges Kind. »Ich frage dich nochmals: Ist es das wirklich wert, Parrish?«
Ich dachte einen Augenblick lang nach. »Erinnerst du dich an die Brough Superior?«
»Ja«, antwortete er zögernd.
»Ich werde mein Versprechen halten.«
Teece betrachtete mich ungläubig. Dann packte er mich und hob mich in die Luft. Das war ein kleines Kunststück, denn immerhin war ich knapp zwei Meter groß und wog über achtzig Kilo. Teece reichte gerade einmal bis zu meinen Ohren, doch dafür besaß er die Statur eines Gewichthebers.
»Setzt mich ab, oder ich schlitz dir die Kehle auf«, schrie ich ihn an, während meine Hand instinktiv nach einem Würgedraht griff. Scheinbar war ich nervöser, als ich bereit war zuzugeben.
Teece kannte mich gut genug und lachte ob meiner Impulsivität. »Kannst du mir wirklich eine Brough besorgen?«
»Natürlich. Wirst du mir dann mit den Baracken helfen?«
»Da sage ich nicht ›Nein‹.«
Ich hatte Teece schon einmal mit diesem Versprechen geködert. Die Brough SSI 100 war eines der ersten Superbikes gewesen, und heute gab es höchstens noch eine Handvoll gut erhaltener Sammlerstücke. Was Motorräder betraf, besaß Teece eine nostalgische Ader. Er verdiente sein Geld mit einem Transportunternehmen, das Motorräder an Leute verlieh, die das Ödland überqueren wollten, das im Westen die Grenze zwischen dem Tert und Vivacity markierte. Auf diesem einsamen Flecken Erde hatten wir in den vergangenen Wochen und Monaten miteinander gelebt; doch das würde sich nun ändern.
Ich verspürte einen gewaltigen Tatendrang, und ich sah keine Möglichkeit, Teece die Neuigkeit schonend beizubringen. Also sagte ich es ihm geradewegs ins Gesicht.
»Ich werde dich verlassen. Heute noch.«
Teece erstarrte. »Wovon redest du?«
»Ich muss mich um einige dringende Angelegenheiten kümmern. Meine Schaltzentrale wird ab sofort Jamons altes Anwesen sein. Und dort werde ich auch wohnen.«
Natürlich spielte ich ein gewagtes Spiel. Ich vertraute darauf, dass Teece mir folgen würde; doch ich war mir nicht sicher, ob er wirklich zu mir halten würde. Gespannt hielt ich den Atem an.
Kurz wirkte Teece verunsichert. Seine Unterlippe bebte, doch er fand schnell seine Selbstbeherrschung wieder. Dann sagte er mit zitternder Stimme: »Ich hatte mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, Parrish. Deine Zuneigung, das… das ist immer nur eine Leihgabe, richtig?«
Seine Worte verletzten mich; die Wahrheit konnte manchmal sehr unangenehm sein.
Ich zog die Schultern hoch. »Ich werde die Kontrolle über mein Territorium verlieren, wenn ich mich nicht dort blicken lasse. Außerdem warten auf mich noch einige andere… Aufgaben.«
Ich ließ Teece stehen und ging zu der Com-Anlage hinüber, unfähig, dem verletzten Blick meines Verehrers zu begegnen.
Ich gab einen Code in Vivacity ein.
Auf dem Com-Schirm erschien ein pummeliger Mann mit heller Haut und einem koketten Grinsen: Ibis.
»Parrish, Liebling? Wie schön, dich zu sehen.«
Ich lächelte ihn an. »Verstehst du etwas von Inneneinrichtung?«
»Oh, ich bin ein Experte auf diesem Gebiet. Was kann ich für dich tun?«, fragte er neugierig.
»Wenn das so ist, habe ich einen Job für dich. Hier im Tert.«
Die Farbe wich aus seinem Gesicht; einen Augenblick lang schien es, als würde er in Ohmacht fallen.
Dann öffnete er seinen runden Mund und schrie mit erstickter Stimme: »Bist du verrückt?«