»Übernimm ruhig die Rolle des Reitlehrers«, lachte eine junge Frau. »Wir ordnen uns gern unter.«

»Dann sitz gleich mal gerade – Fersen runter«, kommandierte Oliver, aber sein amüsiertes Grinsen nahm den Worten die Schärfe.

Eine halbe Stunde hielt Bert durch, dann erklärte er: »Ich hab genug für heute. Euch noch viel Spaß.« Er saß ab, führte seinen Schimmel hinaus und versorgte ihn mit fliegenden Fingern. Noch ein prüfender Blick in Richtung Halle – alle schienen noch gut beschäftigt zu sein.

Ohne darauf zu achten, dass der Regen ihn völlig durchnässte, lief Bert zu den Parkplätzen. Die beiden Lampen, die das Gelände erhellten, waren mit ein paar Steinwürfen außer Funktion gesetzt, so dass es dunkel war.

Mit fliegenden Fingern griff der Mann nach Spezialwerkzeug, beugte sich über das Auto des Arztes – und ohne dass die Alarmanlage losging, ließ der Wagen sich öffnen.

»Na also – geht doch noch«, grinste Bert, während er sich die Arzttasche schnappte, die im Kofferraum lag. Mit langen Sätzen rannte er zu seinem Fahrzeug.

»Hallo, was machen Sie da? Stehen bleiben!« Die helle Stimme ließ ihn zusammenzucken. Er duckte sich hinter einen Geländewagen und spähte in die Runde. Und sah – Marion Klausner! Sie schien gerade erst gekommen zu sein, denn bisher hatte er sie nicht gesehen. Jetzt ging sie zurück zu ihrem Wagen, schaltete die Scheinwerfer an …

»Verdammt!«, zischte Bert.

Langsam glitt er von Wagen zu Wagen, hielt sich im Schutz der Dunkelheit. Und wirklich gelang es ihm, sich von hinten an Marion heranzupirschen.

Sie spürte den Schlag fast nicht, der sie zu Boden streckte. Sie merkte auch nicht, dass Bert ihr noch die Tasche entriss. Alles um sie herum war dunkel – bis auf die Wagenscheinwerfer.

Leise, mit gedrosseltem Motor rollte wenig später Bert Schraders Wagen vom Hof.

Eine halbe Stunde später.

Oliver Bergstaller wurde unruhig. Wo blieb Marion nur? Sie hatte herkommen, eventuell sogar ein paar Runden auf seinem Pferd drehen wollen, das lammfromm und auch für einen ungeübten Reiter zu handhaben war.

»Janine hat mich nie überreden können, reiten zu lernen«, hatte sie einige Tage zuvor gesagt, »du schaffst es.«

»Weil ich es mir gut vorstellen kann, mit dir durch die Gegend hier zu reiten. Oder Ferien am Meer zu machen. Weißt du, was es für ein tolles Gefühl ist, wenn die Gischt aufspritzt, wenn man durchs Wasser galoppiert?«

»Geil, ja?«

»Na gut. Geil.« Er grinste. Manchmal merkte er doch, dass er um einiges älter war als Marion. Aber es störte sie beide nicht. Was für ein glücklicher Mann war er doch!

»Gert, könntest du mal kurz halten? Ich will nachsehen, ob Marion schon da ist.« Er drückte einem jungen Mann die Zügel in die Hand und ging hinaus. Die Unruhe, die ihn auf einmal erfüllte, hätte er sich selbst nicht erklären können.

Er schaltete das Außenlicht an, das auch den hinteren Teil des Gutsgebäudes erhellte und bis zum Parkplatz reichte. Noch zehn Schritte – da sah er ihren Wagen! Mit aufgeblendeten Scheinwerfern stand er da.

»Marion!« Panik schwang in seiner Stimme mit. Die vage Unruhe, die ihn erfüllt hatte, war zur Gewissheit geworden: Marion war etwas zugestoßen!

Noch ein paar suchende Schritte nach rechts und links – und er entdeckte die zusammengesackte Gestalt, die hinter einem alten Kastenwagen lag.

»Marion! Liebes!« Sein Schrei durchdrang die Stille, aber die junge Frau hörte ihn nicht. Erst als er sie sanft an der Schulter berührte, sie dann vorsichtig ein wenig zur Seite drehte und nach ihrem Puls tastete, kam ein kleiner Schmerzenslaut über ihre Lippen.

Oliver atmete auf, nachdem er sie flüchtig abgetastet hatte. Gebrochen war wohl nichts, er durfte sie bewegen, ohne befürchten zu müssen, sie noch schwerer zu verletzen. Zärtlich nahm er sie in die Arme, küsste sie, bis sie tatsächlich die Augen aufschlug.

»Was ist … passiert?«

»Du bist niedergeschlagen worden. Die Beule an deinem Kopf ist zwar ziemlich gewaltig, aber es ist nichts Schlimmes. Wie fühlst du dich? Hast du Schmerzen?« Er schwankte zwischen liebevoller Besorgnis und professioneller Sachlichkeit.

»Mein Kopf … irgendwer hämmert darin herum – aber sonst geht’s ganz gut. Kann ich jetzt aufstehen?« Sie versuchte sich in einem Lächeln, das aber kläglich misslang, als sie sich aufrichtete und den starken Schmerz verspürte, der durch ihren Hinterkopf schoss. Ihr wurde leicht übel.

»Da war Bert … Bert Schrader. Er … er war in seinem Wagen …« Sie wollte sich umdrehen, auf die Stelle weisen, wo sein Auto gestanden hatte, aber da wurde ihr so elend, dass sie sich übergeben musste und wohl gefallen wäre, wenn Oliver sie nicht festgehalten hätte.

Nachdem sie sich erholt hatte, hob er sie kurz entschlossen auf die Arme und trug sie zum Reiterstübchen. »Du hast eine Gehirnerschütterung – wenn nicht doch mehr. Gleich bringe ich dich in die Klinik, die Kollegen werden dich gründlich durchchecken.«

»Aber …«

»Sei lieb, Kleines, und hör auf den Onkel Doktor.« Seine Angst um Marion versuchte er hinter Scherzworten zu verbergen.

Kaum war Oliver mit Marion in die Reiterstube gekommen, herrschte dort helle Aufregung.

»Was ist passiert? – Ist sie gestürzt? – Wer war das?« Die Stimmen schwirrten durcheinander. Nur Klaus Rensburg, der Reitstallpächter, behielt die Nerven und rief die Polizei. »Soll ich auch die Ambulanz alarmieren, Oliver?«

»Ja. Nur Krankenwagen. Notarzt ist nicht notwendig. Ich fahre dann mit.«

Dann ging alles rasend schnell. Wenige Minuten später traf ein Streifenwagen ein, die Beamten stellten rasch fest, dass jemand versucht hatte, Olivers Wagen aufzubrechen.

»Sie haben den Täter wohl gestört. Aber … er hat die Arzttasche mitgenommen, Doktor.« Der Ältere der Beamten wandte sich an Oliver Bergstaller. »Da hat’s wohl jemand auf Ihren Rezeptblock und die Medikamente im Notfallkoffer abgesehen.«

»Ohne meine Unterschrift sieht es mit einem Rezept schlecht aus«, warf Oliver ein.

»Die lässt sich fälschen.« Der Polizist wandte sich an Marion. »Sie haben nicht zufällig gesehen, wer das war?«

Nur kurz zögerte die Verletzte. »Nein … es war ja dunkel. Und der Schlag hat mich von hinten getroffen …«

»Kein Geräusch, das Ihnen bekannt vorkam? Ein Geruch? Versuchen Sie sich zu erinnern.« Er nickte ihr freundlich zu. »Es muss nicht sofort sein, aber später, wenn Sie sich erholt haben …«

»Wenn mir was einfällt, melde ich mich selbstverständlich.« Marion biss sich auf die Lippen, ihr wurde schon wieder übel. »Mir ist schlecht«, flüsterte sie Oliver zu.

»Ganz ruhig liegen bleiben. Durchatmen … Ja, so ist es gut. Gleich sind die Sanitäter da …« Er hielt ihre Hand, bis endlich der Krankenwagen vorfuhr und die Männer Marion versorgt hatten. Erst als sie auf der Trage im Wagen lag, murmelte Marion:

»Bert Schrader … er ist vor mir zum Parkplatz gegangen und in seinen Wagen gestiegen. Aber … ich weiß nicht, ob er was gesehen hat.«

Oliver Bergstaller zog heftig die Luft ein. Bert Schrader – der Typ war ihm nicht sympathisch. Ein Aufschneider. Ein lauter, immerzu aufgesetzt fröhlich wirkender Mensch, mit oft fahrigen Gesten. Er hatte es stets auf das stressige Leben des Werbefachmanns geschoben. Diese Branche war nun mal schnelllebig, das wusste man ja.

Bert – ob er was gesehen hatte, oder … Nein, so einfach durfte er es sich nicht machen. Ohne den kleinsten Beweis durfte er niemanden beschuldigen.

Der Krankenwagen fuhr vor dem Ambulanztrakt vor, Marion wurde von einem Krankenhausarzt und zwei Pflegerinnen in Empfang genommen. Ein paar kurze Infos von Arzt zu Arzt – dann rollte die Untersuchungsmaschinerie an.

Nach einer knappen halben Stunde stand fest: Marion hatte eine mittelschwere Gehirnerschütterung und eine heftige Prellung an der Schulter.

»Das bedeutet eine Woche Bettruhe – mindestens«, sagte der Klinikarzt.

Entsetzt sah Marion ihn an. »Unmöglich! Das … das geht nicht! Ich muss ins Geschäft und …«

»Vergessen Sie’s.« Er winkte ab.

Und auch Oliver, der wenig später hereinkam, erklärte: »Du kannst unmöglich mit einer derart massiven Gehirnerschütterung arbeiten.«

»Aber das Geschäft …«

»Dafür müssen wir eben eine Lösung finden. Jetzt bist nur du wichtig – du und deine Gesundheit.« Er küsste sie liebevoll. »Versuch zu schlafen, ich kümmere mich um alles.«

Marion schloss die Augen. Es tat gut, nicht mehr denken zu müssen. Der Bienenschwarm in ihrem Kopf gewann immer mehr die Oberhand über das Denkvermögen.

 

»Was sagst du da? Oliver, nein, das ist ja …« Janine traten Tränen in die Augen. »Wie geht es Marion? Ist sie okay?«

»Sie hat Glück gehabt – der Schlag hätte auch größeres Unheil anrichten können.«

Für einen Augenblick blieb es still in der Leitung, dann sagte Janine: »Ich versuche, so schnell wie möglich zurückzukommen. Spätestens morgen Mittag bin ich da. Grüß Marion von mir – ich wünsch ihr alles Liebe. Vor allem gute Besserung.«

Als sie aufgelegt hatte, wurde ihr bewusst, wie liebevollbesorgt Oliver Bergstallers Stimme geklungen hatte. Ob er und Marion … das wäre zu schön!

Im nächsten Moment lachte sie über sich selbst. Du bist verknallt und deshalb in romantischer Stimmung, sagte sie sich. Siehst alles rosarot und versuchst allenthalben Liebespaare zu sehen. Dabei haben Marion und Oliver nun wirklich nichts gemeinsam. Und zu alt ist er auch – oder? Sie sah den sportlichen, durchtrainierten Arzt vor sich. Sah sein offenes Gesicht, hörte sein fröhliches Lachen. Nein, er war ein klasse Typ!

»Liebes, woran denkst du?« Unbemerkt war Markus hinter sie getreten und schlang die Arme um sie.

»Ich muss heim.« Langsam drehte Janine sich um. »Es ist etwas passiert. Ich muss zurück.«

»Warum?« Seine Stimme klang heiser, die Vorstellung, Janine gleich wieder zu verlieren, war entsetzlich.

»Meine Freundin … sie ist niedergeschlagen worden und liegt in der Klinik. Ich muss morgen das Geschäft aufmachen.« Janine legte ihm die Hand an die Wange. »Es tut mir so leid. Aber sobald ich kann, komme ich zurück.«

Er hielt sie eine Weile fest umarmt, während Janine das Wenige, das sie von Oliver wusste, berichtete. »Meine Reiseagentur ist nicht allzu groß, ich kann’s mir nicht leisten, ein paar Tage einfach zu schließen. Und Marion ist meine einzige Angestellte.« Sie küsste ihn. »Es ist so schade …«

»Aber diese Nacht gehört noch uns.« Er nahm ihr Gesicht in die Hände, schaute ihr lange in die Augen und küsste sie dann, dass sie alles um sich herum vergaß.

Ja, in dieser Nacht würde sie alles andere ausklammern. Diese letzten Stunden wollte sie allein mit Markus verbringen.

 

Der gelbe offene Sportwagen hielt so abrupt, dass der Kies aufspritzte. Ein Gärtner, der eben neue Pflanzen in das große Rondell vor dem Eingangsbereich setzte, bekam ein paar Steinchen ab und sah sich unwirsch um. Als er aber sah, dass Ellen van Ehrens aus dem Wagen stieg, unterdrückte er die lautstarke Beschimpfung, die ihm auf der Zunge lag. Mit der Freundin des Chefs legte er sich besser nicht an.

»Wo finde ich Markus Berger?« Ohne zu grüßen, ging Ellen an die Rezeption und wandte sich gleich an Kerstin Ahlborn. Die aber setzte ungerührt ihre Unterhaltung mit einem alten englischen Ehepaar fort. Erst als sie den beiden erklärt hatte, wie sie am raschesten nach Valldemossa kämen, wandte sie sich an Ellen.

»Wie kann ich Ihnen helfen?« Ihr Lächeln, sonst immer herzlich und offen, erreichte die Augen nicht.

»Sagte ich schon – ich suche Markus.«

»Das tut mir leid, Herr Berger ist nicht im Haus.«

»Und wo ist er? Sein Handy ist ausgeschaltet.«

»Das entzieht sich meiner Kenntnis.« Auch Kerstin konnte Eis in ihre Stimme legen.

»Sie lügen!« Ellen wurde weiß vor Wut. »Ich will zu ihm. Sofort!«

»Wie ich Ihnen schon sagte – ich habe keine Ahnung, wo sich der Chef zurzeit aufhält.«

»Dann suche ich ihn eben«, zischte Ellen, und noch ehe sie jemand aufhalten konnte, war sie durch die mattierte Glastür gegangen, die direkt in den ersten Stock und von dort in Markus Bergers privaten Wohnbereich führte.

Die Tür war verschlossen, und Ellen hätte am liebsten mit den Fäusten dagegengetrommelt und Markus’ Namen gebrüllt. Aber sie musste einsehen, dass er wohl wirklich nicht da war.

Gerade als sie wieder umkehren wollte, kam eines der Zimmermädchen, das regelmäßig die Privaträume reinigte. Die junge Frau schloss auf – und ehe sie es verhindern konnte, hatte Ellen hinter ihr die Wohnung betreten.

»Aber Señora … das geht nicht! Bitte, das hier ist Privatbereich …«

»Ich weiß. Nur einen Moment.« Ellen schob die zierliche Schwarzhaarige einfach beiseite und ging schnurstracks in Markus’ Schlafzimmer. Das Bett war zerwühlt, auf dem kleinen Tisch daneben stand ein Champagnerkübel, zwei schlanke Kelche daneben …

Heiß schoss Ellen das Blut in den Kopf. Dieser Mistkerl! So weit waren die beiden also schon! Aber das würde sie sich nicht gefallen lassen! Eine Ellen van Ehrens servierte man nicht so leicht ab! Sie würde sich rächen! Jawohl! Und dann würde man sie nie, nie wieder so behandeln!

Sie rauschte an dem Hausmädchen vorbei, stieß dabei eine Vase vom Tisch – und ignorierte das aufgeregte Schimpfen der Spanierin.

Wie sie durch die Halle und bis zu ihrem Wagen gekommen war, hätte Ellen später nicht mehr zu sagen vermocht. Vor ihren Augen tanzten rote Schleier. Sie hätte laut schreien mögen vor Wut. Und nur einem Rest von Verstand war es zu verdanken, dass sie ihre Emotionen noch ein wenig unter Kontrolle behielt. Erst als der schwere Motor des Sportwagens aufheulte, als sie mit Vollgas die Auffahrt hinunterbrauste, gestattete sie sich lautes Brüllen.

Aber diese Schreie gingen unter im Dröhnen des Motors.

»Sag mir, dass das eine Fata Morgana war.« Steffen Mausert, der eine kleine Pause einlegen konnte, kam zu Kerstin an die Rezeption. »Spinnt die?«

»Die tobt vor Eifersucht.« Kerstin grinste. »Ich glaube, unser Boss ist ernsthaft verliebt. Und das nicht in Ellen-Darling. Da helfen ihr auch die Millionen des Papas nicht.«

»Dabei ist sie eine tolle Frau – wenn man allein die Figur betrachtet …«

»Das weiß ich. Das musst du mir nicht sagen, dass sie schlanker ist als ich«, fauchte Kerstin. »Wenn sie dir gefällt – kannst ja ihren Seelentröster spielen.«

Er grinste. »Jetzt kehrst du wieder den weiblichen Othello raus, Süße. So hab ich das doch nicht gemeint.«

»Wie denn dann?« Kerstins Augen schossen Blitze.

»Ich dachte doch nur, dass sie eigentlich …«

»Hör auf zu denken«, fiel sie ihm ins Wort.

»Ist ja schon gut.« Er hob abwehrend die Hände. »Kratz mir nicht gleich die Augen aus, nur weil ich sage, dass ich eine andere Frau attraktiv finde. Das war doch ganz neutral dahingesagt.«

Kerstin schüttelte den Kopf. »Kein Mann sagt so was ›neutral‹. Das ist ja schon ein Widerspruch in sich.«

»Himmel, du bist heute mal wieder empfindlich! Und diese Haarspaltereien hör ich mir einfach nicht länger an.« Er wollte an ihr vorbeigehen, aber da roch er den Duft ihres Parfüms, diesen zarten Mix aus Limetten und Jasmin. »Du bist eine Hexe«, flüsterte er und nahm sie in die Arme.

»Nicht hier …« Sie war schon wieder versöhnt und schmiegte sich eine Sekunde an ihn.

»Wo denn dann? Ich hab noch Zeit.« Er verstand sie absichtlich falsch.

»Koch müsste man sein!« Sie bog sich in seinen Armen zurück. »So was von disziplinlos …«

»Aber kreativ.« Er lachte und zog Kerstin einfach hinunter zum Boden. Und dort wurde der Kuss sehr, sehr intensiv und lang.

»Hallo … ist niemand da? Ian, wo ist denn die nette, junge Lady?« Rebecca Hardwichs Stimme war unverwechselbar.

Schon wollte Kerstin aufstehen, aber Steffen hielt sie fest. Grinsend legte er den Finger auf die Lippen.

»Ich hol dir deine Zeitung, Grandma. Geh schon mal rüber zur Terrasse.«

»Vielleicht kommt Janine auch gleich.« Die alte Schottin fand die Vorstellung, dass die liebenswerte Deutsche und ihr Enkel ein Paar werden könnten, wunderbar.

Ian griff nach ein paar Zeitschriften, die links von der Rezeptionstheke lagen. Ein Journal rutschte hinter die Theke, und Kerstin sackte das Herz tiefer. Wenn Ian jetzt herkäme, um die Zeitung aufzuheben, und sie dabei entdeckte …

Nein, er ging weg. Endlich!

»Das war knapp. Mach so was nie wieder. Du bringst mich in Teufels Küche«, schimpfte sie, aber es klang höchst liebevoll.

Steffen lachte. »Du weißt doch, alles, was verboten ist, macht besonderen Spaß. Deshalb …« Und schon bekam sie noch einen Kuss, dann trollte er sich wieder in sein Reich der Töpfe und Pfannen.

An diesem Morgen warteten Ian und Rebecca Hardwich vergeblich auf Janine. Als sie Markus Berger entdeckten, winkte ihn die alte Dame heran. »Bitte entschuldigen Sie, Herr Berger, aber … ich vermisse Miss Janine. Wissen Sie zufällig, wo sie ist?«

»Ich hab sie eben zum Flughafen gebracht. Sie musste dringend nach Hause zurück«, erklärte Markus.

»Nach – Deutschland zurück? Das ist schade. Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert.« Ian bemühte sich, nur höfliches Interesse zu zeigen.

»Ich denke, dass es nicht allzu schlimm ist«, erwiderte der Hotelier. »Ihnen noch einen angenehmen Tag.« Eine kleine Verbeugung, dann zog er sich zurück. Das fehlte noch, dass er diesem Schotten, der viel zu viel Interesse an Janine gezeigt hatte, nähere Infos gab!

Der Tag war strahlend schön, doch Markus konnte der reizvollen Landschaft, in der sein Hotel lag, heute nichts abgewinnen. Nicht einmal die vielen lobenden Worte, die ihn erreichten, weil das abendliche Galadinner so besonders gut gelungen war, konnten seine Laune bessern. Er vermisste Janine. Die Stunden, die er mit ihr verbracht hatte, waren einfach unbeschreiblich schön gewesen. Sie war ebenso leidenschaftlich wie zärtlich. Hingebungsvoll und doch voller Fantasie.

Wenn sie doch schon wieder in seinen Armen läge!

Ein dezenter Klingelton – sein Handy! Ein Blick aufs Display zeigte ihm, dass Ellen anrief.

»Hey, was ist denn mit dir los? Lässt du dich verleugnen?« Sie tat ganz unbefangen.

»Ich hab zu tun.«

»Hast du immer. Ich kenne das von Dad. Aber es gibt einfach keine Ausrede, die ich gelten lasse: Morgen sind wir zusammen bei Gino eingeladen. Erinnerst du dich … Gino Belucci, Modezar aus Mailand. Seine Strandpartys sind legendär.«

»Geh allein. Du weißt, dass wir zwei nicht …«

»Nein! Das kannst du mir nicht antun!« In ihrer Stimme schwangen Tränen mit. »Wenigstens zu dieser Party musst du mich begleiten! Als Freund! Mehr will ich doch gar nicht!«

»Ich hab keine Lust, Ellen. Versteh das doch! Außerdem muss ich arbeiten, im Gegensatz zu dir.«

»Halt mir nicht immer vor, dass ich nichts tue! Das stimmt gar nicht. Ich repräsentiere die Firma von Dad. Und zwar sehr erfolgreich, wie du vielleicht schon mitgekriegt hast.«

Markus verdrehte die Augen. Die Fotos, die immer wieder in der Presse erschienen und Ellen auf irgendeiner Yacht ihres Vaters zeigten, waren nun wirklich nicht dazu angetan, in diesem Zusammenhang an Arbeit zu denken. Ellen räkelte sich auf Schiffsplanken, Ellen hielt ein Glas Champagner in der Hand und war Gast auf einer Fete, die auf einem der Schiffe gefeiert wurden – nein, der Job eines professionellen Fotomodells sah bestimmt anders aus.

»Ich komme nicht mit! Das ist mein letztes Wort«, erklärte er.

Für einen Moment blieb es still am anderen Ende. »Das wirst du bereuen!«, zischte Ellen, dann unterbrach sie die Verbindung.

Markus legte das Handy schulterzuckend zurück. Sollte sie ruhig schmollen, ihn interessierte es nicht mehr. Das Kapitel Ellen war beendet. Er wusste endlich, wie die wahre Liebe aussah. Und er würde sie festhalten, seine Janine. Für immer!

 

»Blumen von Ihrem Privatdoc.« Schwesternschülerin Sandra stellte grinsend den vierten Strauß roter Rosen auf die Fensterbank. »Die sind einfach superschön«, meinte sie dabei.

»Ja. Danke.« Versonnen lächelnd sah Marion auf die Rosen. Diesmal waren es zartrosa Rosen mit einem blutroten Rand. Mindestens zwei Dutzend. Gestern hatte Oliver erst rote Rosen mitgebracht, dann noch einen Strauß geschickt.

Heute Morgen, als er sie noch vor Praxisbeginn besucht hatte, war er mit gelben Rosen gekommen. »Der Blumenstand unten hatte keine anderen«, hatte er erklärte. »Aber du weißt auch so, dass ich dich liebe, nicht wahr?« Zärtlich hatte er Marion geküsst.

»Die vielen Blumen – das ist Verschwendung.«

»Das ist Liebe«, hatte er lächelnd korrigiert. »Wie fühlst du dich?«

»Schon viel besser. Die Bienen in meinem Kopf scheinen zu schlafen. Zumindest solange ich mich nicht allzu viel bewege.«

»Sei vorsichtig.« Sein Gesicht war ernst geworden. »Mit einer Gehirnerschütterung darf man nicht spaßen.«

»Jawohl, Herr Doktor.« Sie hatte die Hand nach ihm ausgestreckt. »Krieg ich keinen Kuss?«

Natürlich bekam sie den. Und nicht nur einen. Es fiel Oliver Bergstaller schwer, sich loszureißen. Aber die Pflicht rief, und seine Patienten hatten ein Anrecht auf einen konzentrierten, engagierten Arzt, der pünktlich seine Sprechstunde begann.

»Wir sehen uns später.«

»Ich freu mich. Danke für die Rosen.« Ganz spontan hatte Marion sich aufrichten und ihn umarmen wollen, war aber mit einem Schmerzenslaut wieder ins Kissen zurückgesunken. »Verdammt, das vergess ich immer wieder.«

»Also brauchst du eigentlich Rundumbetreuung«, hatte er gegrinst. »Soll ich dich mitnehmen zu mir?«

Sie hatte gelacht. »Das könnte dir so passen, meine Hilflosigkeit auszunutzen! Nichts da, ich bleibe hier und lass mich von den netten Ärzten hier in der Klinik verwöhnen.«

»Biest.«

Sie hatte einen Kuss durch die Luft gehaucht.

Gleich war er wieder bei ihr gewesen. Dicht waren seine Lippen vor den ihren. »Sag sofort, dass du mich liebst.«

»Hmm.«

»Sag es!«

»Ja.« Tausend kleine Teufelchen tanzten in ihren Augen. Dann aber sagte sie die drei kleinen Worte doch: »Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch, Hexlein.« Und schon war er draußen.

Eine Weile hatte Marion noch mit offenen Augen geträumt  – von der Zukunft, die sie mit einem Mann wie Oliver an der Seite erwartete. Dann war sie wieder eingeschlafen, um jetzt von Schwester Sandra geweckt zu werden.

»Gleich ist Mittagessenszeit. Haben Sie Appetit? Es gibt entweder Kalbsbraten mit frischen Gemüsen oder Lachs auf einem Spinatbett.«

»Wie im Luxushotel.«

Die junge Pflegerin grinste ironisch. »Nur nicht so schmackhaft. Aber man kann’s essen.«

»Gut, dann probiere ich den Lachs.«

Doch noch bevor das Essen gebracht wurde, kam Janine kurz zu Besuch.

»Marion! Was machst du für Sachen?« Vorsichtig umarmte sie die Freundin.

»Irgendeinem Kerl war ich wohl im Weg.« Marion seufzte. »Es tut mir so leid! Du hattest dich auf den Kurzurlaub gefreut, und ich vermassel dir alles.«

»Red nicht so einen Unsinn. Den Urlaub kann ich nachholen, jetzt bist nur du wichtig.« Janines Lächeln war ganz ungezwungen, die Freundin sollte nicht merken, dass es ihr unendlich schwergefallen war, die »Villa Cloud Seven« zu verlassen. »Werd nur schnell wieder gesund, ja?«

»Ich tu mein Bestes.«

Janine zwinkerte ihr zu. »Bei der persönlichen Betreuung kann da ja kaum was schiefgehen. Oliver und du … das ist einfach …«

»Verrückt?«

»Nein, wunderbar. Ihr passt gut zusammen. Und er ist so ein lieber Kerl.«

Marion zögerte, dann fragte sie leise: »Findest du nicht, dass der Altersunterschied zwischen uns zu groß ist?«

Janine schüttelte den Kopf. »Stört er dich?«, wollte sie dann wissen.

»Nein.«

»Also – was willst du mehr? Dann ist doch alles perfekt.« Sie umarmte Marion noch einmal. »So, jetzt muss ich los. Bin schon viel zu spät.«

»Ich hab Oliver gebeten, ein Schild an die Tür zu hängen, dass am Vormittag geschlossen ist. Hoffentlich gehen dir nicht zu viele Kunden verloren.«

»Ach was, mach dir deswegen keinen Kopf.« Janine winkte der Freundin von der Tür her nochmals zu. »Bis dann. Ich meld mich wieder.«

 

»Diese nette junge Dame von der Rezeption … willst du sie nicht fragen, ob sie nach dem Abendessen mit uns einen Drink nehmen will?« Rebecca Hardwich sah ihren Enkel auffordernd an.

»Grandma, du bist unmöglich!« Ian schüttelte den Kopf. »Manchmal denke ich, dass du diese Urlaubsreisen nur unternimmst, um mir eine Frau zu suchen.«

»Was wäre so falsch daran?«

»Grandma!« Der Mann beugte sich vor und nahm ihre Hand. »Ich bin achtundzwanzig Jahre alt, leite ein großes Unternehmen, kenne fast die ganze Welt – meinst du nicht, dass ich mir allein eine Frau suchen kann?«

»Nein, offensichtlich nicht. Sonst hättest du längst eine nette Frau – und ich Urenkel.« Sie zwinkerte ihm zu. »Was ist also mit dieser Kerstin von der Rezeption?«

»Gar nichts ist mit der. Die ist nämlich in festen Händen.«

»Was du nicht alles weißt!«

»Ich hab sie eben gesehen – mit ihrem Freund.« Ian lachte. »Und jetzt hör auf, lass uns rübergehen in das Restaurant. « Er reichte der zierlichen, alten Dame den Arm, dann gingen sie hinunter.

Auf dem Weg zum Restaurant, das durch hohe Glasfenster mit der Westterrasse verbunden war, kam ihnen eine zierliche Spanierin entgegen. Sie balancierte ein Tablett mit Hummerschiffchen. Kaum war sie an den beiden Gästen vorbei, stolperte sie. Ein kleiner Schrei, ein Scheppern – die Hummer, appetitlich dekoriert mit Limettenscheiben, Tomaten und hausgemachter Mayonnaise in ausgehöhlten Feigenhälften, kullerten über den Boden.

Zwei lange Sätze, und schon war Ian bei der jungen Frau, die mit schmerzverzerrtem Gesicht inmitten der Hummerhälften saß. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«

»Ich … ich kann nicht.« Sie hatte Tränen in den Augen. Auffallend schönen, nachtschwarzen Augen, wie er feststellte.

»Sind Sie verletzt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaub nicht.«

»Na, dann – geben Sie mir die Hand.«

Sie ließ sich aufhelfen, bückte sich aber im nächsten Moment schon wieder nach dem Tablett und wollte die Hummer aufheben. Auch Ian bückte sich ebenfalls und half. »Und jetzt?«, fragte er.

»Jetzt bin ich wohl entlassen. Dabei war der Job wichtig für mich.« Tränen liefen über ihre Wangen.

»Aber das ist doch kein Beinbruch!«

»Aber ein Verlust. Wissen Sie, was die Viecher kosten?«

Ian zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich steh nicht drauf.« Er nahm ihr das Tablett ab und drückte es einem der älteren Kellner, der gerade vorbeikam und schon etwas Missbilligendes sagen wollte, in die Hand. »Mir ist ein Missgeschick passiert. Ich bin gegen die junge Dame gelaufen … tut mir leid.«

»Aber das ist doch kein Problem!« Eine leichte Verbeugung, ein prüfender Blick zu der jungen Aushilfe – der Mann ging mitsamt Tablett davon.

»Warum haben Sie das getan?«

»Warum nicht? Mir als Gast wird man sicher nicht den Kopf abreißen. Und Ihr Job ist gerettet.« Er lächelte. »Ich heiße übrigens Ian.«

»Ich bin Mathilda.«

»Und was tun Sie hier – außer Tabletts durch die Gegend zu schleudern?«

Sie lachte leise auf. »Wie gesagt – es sollte ein Ferienjob sein. Ich studiere Maschinenbau und brauche Geld.«

»Sie – Sie studieren Maschinenbau? Das ist ja irre! Davon müssen Sie mir mehr erzählen. Das hab ich nämlich auch mal studiert. Wir besitzen in Schottland …« Er unterbrach sich. »Wissen Sie was? Ich lad Sie nach dem Dienst auf einen Drink ein. Hier an der Bar?«

»Lieber nicht.«

Er sah so enttäuscht aus, dass sie lachen musste. »Ich möchte nur nicht mit einem Gast hier im Hotel etwas trinken. Aber unten im Dorf ist eine nette, kleine Bar. Ich kann aber erst nach zehn.«

»Ich werde da sein – Mathilda. Und ich freu mich.«

»Ich mich auch.« Jetzt war ein Leuchten in den schönen Augen, das Ian unter die Haut ging. Janine, die blonde Deutsche, war von einer Sekunde zur anderen vergessen. Mathilda, schwarzäugig, mit nachtschwarzem, langem Haar und sanftem Lächeln, hatte ihn schlagartig verzaubert. Und vielleicht … vielleicht wäre seine Grandma auch froh, wenn spanisches Blut nach Schottland käme …

Seine Fantasie sprudelte über, sein Gesicht war leicht gerötet, und die Augen schienen die Umgebung des Restaurants gar nicht wahrzunehmen, als er zu seiner Großmutter ging. Rebecca sagte nichts, aber ihr wissendes Lächeln verriet, wie zufrieden sie war. Dieser Zufall – das war wie ein Geschenk des Himmels.

Als Markus Berger wie jeden Abend seine Runde durch das Restaurant machte, fiel ihm das zufriedene Gesicht der alten Dame gleich auf. »Sie hatten wohl einen besonders schönen Tag«, meinte er lächelnd.

»Einen wunderbaren Abend«, korrigierte Rebecca. »Und er ist noch nicht zu Ende.«

Markus konnte damit nicht allzu viel anfangen, also verabschiedete er sich mit verbindlichem Lächeln und ging weiter von Tisch zu Tisch. Erst als es auf Mitternacht zuging, kam er dazu, sich zurückzuziehen. Gleich rief er Janine an.

»Schläfst du schon?«

»Dann könnte ich doch nicht mit dir telefonieren«, lachte sie.

»Ich vermisse dich. Komm zurück.«

»Ich vermisse dich auch. Aber ich werde hier gebraucht.« Ihre Stimme war wie ein Streicheln. »Das verstehst du doch, oder?«

Er seufzte. »Natürlich tu ich das. Aber … wir hatten so wenig Zeit für uns. Ich weiß noch kaum etwas von dir.«

»Stell mir Fragen.«

»Nein, ich will dir in die Augen sehen dabei. Und dich spüren. Janine …«

»Hm?«

»Ich liebe dich.«

»Das ist schön.« Sie hielt verträumt lächelnd den Hörer ans Ohr. »Sag es noch mal.«

»Ich liebe dich. Und du?«

»Ich liebe dich auch.«

Eine halbe Stunde dauerte das verliebte Geplänkel. Markus saß inzwischen in einem der Rattansessel auf seiner Terrasse. »Ich seh den Abendstern – du auch?«

Janine schüttelte den Kopf, was er nicht sehen konnte. »Nein, ich hab die Jalousien zugezogen. Außerdem war heute Abend in der Stadt richtiger Nebel.«

»Du bist unromantisch!«, lachte er.

»Na gut. Ich seh den Abendstern. Er schickt mir Grüße von dir …« Sie lachte auch, leise und zärtlich. »So, und jetzt muss ich schlafen. Schließlich hab ich keine gut ausgebildete Truppe, die mir morgen viel Arbeit abnimmt.«

»Gut ausgebildet … wovon träumst du?« Er berichtete von dem Hummer-Unfall. »Das war keine große Katastrophe, in der Küche hat es jedoch einige Aufregung gegeben, es waren die letzten Hummer. Aber ich glaube, deinen Verehrer Ian bist du jetzt los.«

»Ian ist nicht mein …« Sie brach ab.

»Ich weiß, er ist nur ein Freund. Aber wenn mich nicht alles täuscht, hat er sich Hals über Kopf in Mathilda, eine Aushilfe, verguckt.«

»Dir entgeht wohl gar nichts, oder?«

»Das muss so sein bei einem guten Hoteldirektor. Es gibt nur einen Menschen, der mich ablenken kann …«

»Gute Nacht, Lieber.« Janine schickte einen Kuss durch die Leitung.

»Gute Nacht – ich ruf morgen wieder an.«

»Ja, bis dann.«

Als Markus auflegte, lachte er über sich selbst. Er benahm sich wie ein Teenager. So verliebt war er noch nie gewesen. Es war ein herrliches Gefühl – und es hielt hoffentlich für immer an!

Am nächsten Morgen rief er schon früh bei Ellen an. »Es tut mir leid, aber du solltest dir einen anderen Begleiter suchen«, sagte er, gleich nachdem er sich gemeldet hatte.

»Das geht nicht! So sehr kannst du mich nicht blamieren!« Ellen fauchte wie eine Raubkatze. »Alle wissen, dass wir zwei ein Paar sind, man erwartet einfach, dass du mitkommst.«

Markus atmete ein paar Mal tief durch, ehe er ruhig erwiderte: »Wir waren nie ein Paar, Ellen. Wir hatten eine kleine Affäre, mehr nicht. Wenn du mehr hineininterpretiert hast, tut es mir leid …«

Er brach ab, denn sie hatte die Verbindung unterbrochen.

»Das wirst du noch bereuen«, tobte Ellen. »Du wirst dir wünschen, diese Janine nie kennen gelernt zu haben, das versprech ich dir. Und du kommst zu mir zurück, Markus Berger! So wahr, wie Mallorca eine Insel ist … dich hol ich von deiner rosaroten Wolke runter! Keiner lässt mich so einfach fallen. Keiner!«

Mit langen, nervösen Schritten ging sie in ihrer luxuriösen Wohnung hin und her. Die junge Frau, die morgens für einige Stunden kam und sowohl die Wohnung in Ordnung hielt als auch einige Kleinigkeiten kochte, hatte nichts zu lachen. Ihre Chefin war unausstehlich, hatte an allem etwas auszusetzen – und warf die Angestellte schließlich sogar hinaus.

»So eine blöde Gans … verschwinde! Ich will dich nicht mehr sehen! Raus!«

»Aber mein Geld …«

»Raus, sag ich.« Schon griff Ellen nach einer Kristallvase und machte Anstalten, sie auf die zierliche Spanierin zu werfen, die sich daraufhin schnell verdrückte. Aber sie würde ihr Recht einklagen. Nur weil Ellen van Ehrens einige Millionen besaß, konnte sie sich nicht über bestehendes Recht hinwegsetzen. Und mit Menschen so rücksichtslos umgehen – nun erst recht nicht!

Es dauerte eine Weile, bis Ellen sich wieder beruhigt hatte. Dazu trug auch ein Anruf ihres Cousins Claus bei, der seine Ankunft auf Mallorca avisierte. »Ich brauch mal wieder ein bisschen Sonne«, erklärte er.

»Und Urlaub von deiner Frau«, fügte Ellen ironisch hinzu. »Kann ich gut verstehen. Ich freu mich auf dich.« Das entsprach sogar der Wirklichkeit. Claus van Ehrens war mindestens so egozentrisch und skrupellos wie Ellen. Sie verstanden sich seit frühester Kindheit blendend. Der gravierende Unterschied bestand allein darin, dass Ellen einmal das Vermögen ihres Vaters erben würde, während Claus’ Vater hingegen mittlerweile schon das zweite Unternehmen in den Konkurs manövriert hatte – von einem Familienvermögen konnte man bei diesem Zweig der van Ehrens also nicht reden.

Umso lieber war Claus bei Ellen auf Mallorca. Mit ihr bekam er Spaß, sie kannte irre Typen, interessante Leute aus dem Jetset und solche, die – so wie er – keine Bedenken hatten, wenn es galt, es sich auf Kosten anderer gut gehen zu lassen.

Wer weiß, wozu Claus mir noch nützen kann, sinnierte-Ellen, als das Gespräch beendet war. Mal sehen … mir wird schon das Richtige einfallen!

 

»Hallo, mein Hexlein, wie geht es dir heute Morgen?« Liebevoll beugte sich Oliver Bergstaller über Marion.

»Ganz gut … nur diese blöden Kopfschmerzen sind lästig.«

»Die werden sicher noch ein paar Tage dein Begleiter sein.« Er griff nach ihrer Hand, tastete nach dem Puls. Es war eine ganz mechanische Geste.

»Hey, ich bin nicht deine Patientin«, wehrte Marion ab. »Der Klinikdoc war schon hier und hat mich verarztet.«

»Sorry, das ist reine Gewohnheit.« Er grinste, und fasziniert sah Marion zu, wie sich um seine Augen ein Kranz feiner Fältchen bildete. »Es wäre auch zu fatal, wenn du meine Patientin wärst – du weißt doch, dann dürfte ich dich nicht küssen. So aber darf ich.« Und schon beugte er sich noch ein bisschen tiefer.

Ein leises Klopfen an der Tür – sie hörten es nicht.

»Lasst euch nicht stören!« Janine lachte leise. »Ich hab geklopft!« Sie kam zum Krankenbett und legte der Freundin ein paar Zeitschriften auf die Decke. »Hier, damit du ein bisschen Unterhaltung hast.« Sie zwinkerte Oliver zu. »Ich denke, für alles andere bist du zuständig.« Schon war sie wieder an der Tür, drehte sich aber noch einmal um. »Heute Abend fahr ich in den Stall, du kannst dann hier deinen Minnedienst versehen.«

»Du bist unmöglich, Janine!«, rief Marion lachend.

»Ach was, ich freu mich doch für euch!«

»Bleib doch wenigstens ein paar Minuten!«

»Geht nicht, ich muss ins Geschäft. Bis später. Ich ruf dich an.« Und schon war sie wieder draußen.

»Ich muss auch gleich los«, sagte Oliver.

»Schade. Ich könnte noch ein bisschen mehr von Ihrer Spezialbehandlung vertragen, Herr Doktor.«

»Ich komme ja wieder. Und wag es nur nicht, einen der jungen Assistenzärzte zu becircen.« Noch einmal küsste er sie. »Bis später. Ich hab dich sehr, sehr lieb, mein Hexlein.«

»Ich dich auch.«

Draußen auf dem Parkplatz der Klinik lehnte Janine an Oliver Bergstallers Wagen. »Ich muss mit dir reden«, sagte sie ernst. »Weißt du, was ich vermute?«

Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Lach mich nicht aus, aber dieser Bert Schrader – traust du ihm zu, dass er Marion niedergeschlagen hat? Mir ist der Typ suspekt.«

»Dann sind wir schon zwei.« Dr. Bergstaller nickte. »Ich vermute wirklich, dass er sich an meiner Tasche vergriffen hat. Sein ganzes Benehmen … er wirkt auf mich so, als wäre er süchtig. Aber das kann ich natürlich nicht beweisen.«

»Vielleicht doch. Wir müssen ihn irgendwie in die Enge treiben.«

Aber der Arzt schüttelte den Kopf. »Du liest offenbar zu viele Krimis, Janine. Wir müssen gar nichts – höchstens der Polizei einen entsprechenden Tipp geben. Und ob die dann was unternimmt …«

»Was sollen sie denn tun? Ohne Beweise sind denen doch die Hände gebunden. Marion hat mir gesagt, dass sie diesen Schrader erkannt zu haben glaubt.«

»Sie ist sich aber nicht sicher. Das hat sie auch ausgesagt. Und Schrader hat ein Alibi. Er war zu der fraglichen Zeit bei einem Freund.«

»So was Originelles!« Janine schob sich die Haare aus der Stirn. »Der ist sicher auch ein Junkie!«

»Janine«, mahnte der Mann besonnen, »es gibt keinerlei Beweise.«

»Scheiße. Ich bin so wütend! Und ich würde Marion so gern sagen, dass wir den Mistkerl gefasst haben.«

»Lass die Polizei ihren Job machen, das wird schon alles in Ordnung kommen, glaub mir.«

»Können wir denn gar nichts tun? Vielleicht – ihm noch eine Falle stellen?« Hoffnungsvoll sah sie Oliver an.

»Wie meinst du das?«

Janine lachte leise. »Du hast wirklich keine Fantasie. Ich dachte mir, du lässt einfach mal wieder etwas in deinem Wagen liegen. Gut sichtbar. Ein paar Tabletten vielleicht, oder ein paar Ampullen – dazu kommt dann noch ein nur halb geschlossenes Wagenfenster … wollen doch mal sehen, was dann passiert.«

Dr. Bergstaller grinste. »Du solltest wirklich dringend deine Fernsehgewohnheiten überprüfen.«

»Wieso? Ich finde, so könnte man genau prüfen, ob an unserem Verdacht was dran ist oder nicht.«

»Und wenn ja, dann hab ich ihm Rauschmittel verschafft. Zumindest indirekt.«

»Es muss ja nicht wirklich was in den Packungen drin sein«, meinte Janine.

»Also wirklich, Miss Marple war gegen dich geradezu ein Waisenkind.«

»Überleg’s dir.« Janine winkte ihm zu. »Ich muss jetzt los.«

Nachdenklich sah ihr der Arzt hinterher. Ihr Verdacht gegen das neue Mitglied im Reitclub war nicht ganz von der Hand zu weisen, doch ihre Vorschläge, wie man ihn vielleicht überführen könnte – nein, das war ganz undenkbar!

Und doch musste der Arzt immer wieder darüber nachdenken. Er war allerdings vernünftig genug, keinen Alleingang zu unternehmen, sondern sich mit einem Kriminalbeamten abzusprechen.

»Die Idee ist ebenso verrückt wie gut«, meinte der. »Ich denke drüber nach und melde mich.«

Während Janine in ihrem Geschäft den ersten Kunden neue Kataloge aushändigte, Reiserouten vorschlug und Buchungen vornahm, während Oliver Bergstaller seine Patienten behandelte und der Kriminalbeamte Jörg Ellersen über das Gespräch mit Dr. Bergstaller nachdachte, saß Bert Schrader bei einem Geschäftsfreund.

»Wann krieg ich das Geld endlich?«, fragte dieser.

»Sobald ich den Abschluss in der Tasche habe. Glaub mir, das dauert höchstens noch zwei Tage.« Bert rieb sich nervös das Kinn.

»Sag mal, willst du mich verarschen? Wie lange soll ich mich noch hinhalten lassen?« Er beugte sich vor und griff in Berts Jackentasche, ehe der auch nur reagieren konnte. »Aha! Es ist also mal wieder so weit!« Triumphierend hielt der große Mann mit dem glattrasierten Kopf drei Päckchen hoch. »Du bist wieder voll drauf, ja?« Er schüttelte den Kopf. »Mensch, Bert, das Zeug macht dich kaputt. Wann schnallst du das endlich?«

»Ach was, das ist alles ganz harmlos. Nur ein bisschen was zur Aufheiterung.« Er sah den alten Freund schulterzuckend an. »Weißt du, wie ätzend es ist, den Kunden immer nach dem Mund zu reden? Kreativ zu sein, wo die doch nur alberne Phrasen haben wollen? Meine Güte, ein guter Werbeslogan ist nicht so einfach aus dem Ärmel geschüttelt! Und eine Marketingkampagne ist erst recht nicht so ohne Weiteres aufzubauen.«

»Und da machst du dir den Kopf eben mit Koks frei. Oder mit irgendwelchen Aufputschmitteln! – Woher hast du das Zeug nur wieder?«

»Darauf willst du nicht wirklich ’ne Antwort, oder?«

Der Freund winkte ab. »Nein, nein, behalt’s bloß für dich!«

Bert Schrader nickte nur. Er fühlte sich im Augenblick ausgesprochen gut. Fast schon euphorisch. Vor einer Stunde hatte er einen lukrativen Auftrag an Land gezogen, ihm waren irre Texte für eine Werbekampagne eingefallen – und frischen Stoff hatte er auch!

Gelobt sei der Abend, an dem es ihm endlich gelungen war, das Auto des Arztes zu knacken! Tagelang hatte er darauf gelauert!

Fatal nur, dass ihm Marion über den Weg gelaufen war. Nun ja, jetzt hatte sie wahrscheinlich Kopfschmerzen. Er grinste vor sich hin. Süß war die kleine Katze gewesen, und wenn er nicht so in Eile gewesen wäre … Aber er konnte sich ihr ja immer noch widmen. Oder einer anderen jungen Frau. In dem Reitstall gab es ein paar nette Käfer.

Wieder grinste er. So ein Hobby hatte unschätzbare Vorteile: Nicht nur, dass es ihm Spaß machte, seinen Schimmel durch die Gegend zu hetzen – er lernte viele nette Mädchen kennen. Sie waren fast alle wild aufs Reiten …

Er dachte an ein paar Mädchen, die genauso gestrickt waren wie er, die Spaß haben wollten, ungehemmten Spaß. Und die es geil fanden, sich mit ein paar Pillen oder einer Strecke anzuturnen.

Es wurde langsam Zeit, sich irgendwie Nachschub zu besorgen. Was er von seinem Dealer für den Rezeptblock des Arztes und die Medikamente bekommen hatte, ging zur Neige.

Aber bloß nichts überstürzen. Erst mussten noch ein paar Tage vergehen.

 

»Herr Berger, kann ich Sie bitte kurz sprechen!« Ian Hardwich kam gerade vom Golfen.

»Natürlich. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde gern … also, ich würde gern eine Ihrer Angestellten einladen. Zu einem privaten Dinner. Aber sie meint …« Er räusperte sich. »Sie ist nur zur Aushilfe hier und hat Angst, dass Sie es nicht gern sehen, wenn die Angestellten sich mit den Gästen unterhalten.«

Markus Berger musste ein Schmunzeln unterdrücken. Da schien sich ja jemand Hals über Kopf verliebt zu haben! »Nun ja, grundsätzlich stimmt das schon, aber es gibt immer Ausnahmen im Leben, nicht wahr?«

»Sie sind also einverstanden?«

Markus legte dem Schotten kurz die Hand auf den Arm. »Wer ist es denn?«

»Mathilda, eine Studentin.«

»Gratuliere! Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack. Wo möchten Sie denn speisen? Draußen auf der Terrasse oder privat in Ihren Räumen?«

Nur kurz zögerte Ian. »Auf der Terrasse. In einer geschützten Ecke, wenn’s geht. Sie wissen ja, meine Großmutter ist ein wenig zugempfindlich.«

»Dem werden wir selbstverständlich Rechnung tragen. Ich lasse alles arrangieren. Haben Sie besondere Wünsche bezüglich des Menüs?«

Ian grinste. »Ja. Hummer. Auf jeden Fall muss es Hummer sein.«

Markus runzelte die Stirn, versagte sich aber eine Nachfrage. »Ganz wie Sie wünschen. Ich sage schon einmal in der Küche Bescheid und schicke Ihnen den Restaurantleiter. Mit ihm können Sie alles Weitere besprechen.«

Ian bedankte sich, dann ging er sehr zufrieden hinauf in sein Zimmer. Dieser Urlaub verlief einfach wundervoll! Und hoffentlich war er für ihn der Beginn eines ganz neuen Lebensabschnitts. Es hing ganz von Mathilda ab …

Markus war nicht ganz so glücklich wie der junge Schotte. Die sinnlose Auseinandersetzung mit Ellen ärgerte ihn, und Janine fehlte ihm unendlich.

Wieder einmal griff er zum Telefon. Wenigstens ihre Stimme wollte er hören!

Auch Ian konnte es kaum abwarten, Mathilda wiederzusehen. Er wusste, dass sie an diesem Tag gegen Mittag Dienst hatte. So schlenderte er wie absichtslos immer wieder durch die geräumige Hotelhalle in der Hoffnung, sie zu sehen.

Kerstin Ahlborn wollte ihn schon fragen, ob sie ihm irgendwie helfen könnte, doch in dem Moment sah sie die junge Mallorquinerin kommen. Mathilda nahm natürlich den Personaleingang.

»Herr Hardwich …« Kerstin kam kurz hinter ihrem Tresen hervor. »Entschuldigen Sie, wenn ich falschliege, aber warten Sie vielleicht auf Mathilda?«

»Genau. Wissen Sie, wann sie ihren Dienst beginnt?«

»Sie ist gerade gekommen.«

»Aber …« Leicht irritiert sah Ian sich um.

»Natürlich hat sie den Personaleingang genommen. Ich hab sie nur zufällig durchs Fenster gesehen. Wenn Sie hier warten möchten … ich schicke sie gleich zu Ihnen.« Sie wies auf eine kleine Nische. Die beiden kleinen Tische, die hier standen, wurden durch ein tischhohes Blumenarrangement von der Halle abgetrennt.

»Danke. Das ist super.« Ian ging rasch auf die kleine Ecke zu und wartete mit klopfendem Herzen auf Mathilda. Als sie endlich kam, zog er sie innig an sich. »Ich hab dich so vermisst …«

»Ich dich auch.« Sie sah ihm kurz in die Augen, dann machte sie sich frei. »Nicht hier«, bat sie verlegen. »Wenn man uns sieht …«

»Alle sollen sehen, dass du meine Traumfrau bist.« Er zog sie wieder an sich. »Ich weiß, das geht dir vielleicht viel zu schnell, aber ich bin mir ganz sicher. Heute Abend reden wir darüber, ja? Meine Großmutter möchte dich kennen lernen. Ich hab einen Tisch bestellt und …«

»Aber doch nicht hier im Hotel«, warf Mathilda ein. »Du bringst mich in echte Schwierigkeiten, Ian!«

»Ach was!« Lachend winkte er ab. »Ich hab mit dem Hoteldirektor persönlich gesprochen. Er ist sehr nett und lässt uns einen besonderen Tisch reservieren.«

Mathildas Augen verdunkelten sich. »Das … das geht doch nicht«, flüsterte sie. »Ian, ich brauch diesen Job! Meine Eltern sind nicht reich, ich muss mir mein Studium verdienen! Und wenn ich hier unangenehm auffalle …«

Rasch legte er ihr den Finger auf die Lippen. »Vertrau mir«, bat er. »Ich werde alles regeln. Und vergiss nicht bis heute Abend: Ich liebe dich!«

Mathilda erwiderte nichts, aber ihre Wangen brannten, als sie sich von ihm löste und durch die Halle ging. Was passierte mit ihr? Durfte sie Ian wirklich glauben, wenn er ihr seine Liebe gestand? Nein, im Grunde war das doch völlig irrwitzig. Er suchte einen Ferienflirt, mehr nicht!

Mathilda musste sich wahnsinnig zusammenreißen, um an diesem Tag nicht allzu viel Porzellan zu zerschlagen und den Zimmerdienst wirklich korrekt zu erledigen. Ihre Gedanken gingen immer wieder zu Ian – und zu dem kommenden Abend. Vor allem eine Frage bewegte sie: Was sollte sie anziehen? Zu einem Essen in so elegantem Rahmen besaß sie nicht einmal das richtige Outfit!

Als sie am späten Nachmittag Kerstin begegnete, bemerkte diese sofort, dass die junge Spanierin nicht allzu glücklich wirkte. »Was ist los? Freust du dich nicht auf heute Abend? Du, dieser Schotte ist einfach süß. Und seine Grandma eine reizende alte Dame.«

»Ja, schon, aber … ich passe doch gar nicht hierher!«

»Ach was!« Kerstin winkte ab. »Nur keine Komplexe. Die musst du nun wirklich nicht haben.«

»Aber ich hab nichts anzuziehen!«

Freundschaftlich legte ihr Kerstin den Arm um die Schultern. »Wenn das dein einziges Problem ist – da findet sich bestimmt was.« Ein taxierender Blick, dann: »Na ja, du bist bestimmt zehn Kilo leichter als ich. Aber irgendwas gibt mein Kleiderschrank bestimmt her. Du kannst dich auch bei mir frisch machen, dann brauchst du gar nicht erst nach Hause.«

»Das würdest du tun? Super! Ich danke dir!« Und schon strahlten die schönen, dunklen Augen.

»Gern.« Ein kurzer Blick auf die Uhr. »Ich hab noch eine halbe Stunde zu tun. Kommst du zu mir, wenn du frei hast?«

»Ja, gern.« Den Rest ihres Dienstes versah Mathilda in bester Laune. Aber die Zeit verging viel zu langsam! Die meisten Gäste waren jetzt auf ihren Zimmern, machten sich für das Abendessen fertig. In der Küche herrschte Hochbetrieb, und auch an der Rezeption war so viel zu tun, dass Kerstin später als gedacht ihren Feierabend beginnen konnte.

Aber dann war Mathilda doch rasch geduscht, das dunkle Haar steckte sie hoch, so dass nur ein paar vorwitzige Strähnen an der Seite herabfielen.

»Und – was soll ich anziehen?«

Kerstin öffnete den Kleiderschrank. »Allzu viel hab ich auch nicht, aber – das hier könnte dir stehen.« Sie zog ein kleines, schwarzes Kleid heraus. Eng geschnitten, schulterfrei, im Nacken nur mit einer losen Schlaufe gehalten. Der Rock sprang nur auf den letzten zehn Zentimetern in unendlich vielen Plisseefalten auf.

»Ich weiß nicht … das ist zu elegant«, meinte Mathilda. Dann fiel ihr Blick auf eine weiße Rüschenbluse. »Die wär doch was! Dazu könnte ich sogar meine Jeans anbehalten.«

»Jeans! Ich glaub, dir geht’s nicht gut! Auf keinen Fall. Nein, hier … hier hab ich das Kleid für dich!« Kerstin griff nach links. Hier hing ihr Traumkleid. Sie hatte es sich erst vor wenigen Tagen gekauft – und heimlich gehofft, es zum großen Galaabend nächste Woche tragen zu können. Doch was schadete es, wenn Mathilda es zuerst trug?

»Das ist ja …« In Mathildas Augen trat ein verträumter Glanz. »Das Kleid ist einfach gigantisch!«

»Probier es an!«

Nur noch ein sekundenkurzes Zögern, dann streifte sich Mathilda den gelben Traum aus Chiffon über.

»Dein Ian wird Stielaugen kriegen«, lachte Kerstin. »Das ist genau dein Kleid. Wie für dich gemacht!«

Die junge Mallorquinerin drehte sich vor dem Spiegel. »Ist es nicht zu … zu auffällig?«

»Quatsch. Es ist optimal!«

Und dann begann das Warten! Noch eine halbe Stunde bis zur vereinbarten Zeit! Mathilda ging, fiebernd vor Ungeduld, in Kerstins Apartment auf und ab. Immer wieder griff sie sich zur Frisur, sah sich kontrollierend im Spiegel an.

»Ich geh mal nach unten und seh nach, ob er schon da ist«, schlug Kerstin vor.

»Ja …« Mathilda konnte vor Aufregung kaum sprechen. Himmel, worauf hatte sie sich da nur eingelassen? Und Ian … warum war er nicht unpünktlich und kam zu früh? Wenn der Mann, der sie angeblich doch liebte, nicht mal eine Viertelstunde vor der verabredeten Zeit kommen konnte, dann hieß das doch … Ja, was? Dass er keine tiefen Gefühle hatte? Kein Kavalier war? Oder dass er einfach mehr Geduld aufbrachte, abgeklärter war?

Männer! Sie waren wirklich das Letzte!

Ein Schluck Wasser … ja, Wasser war gut. Mathilda griff zu einer Wasserflasche, öffnete sie – und schrie im nächsten Moment entsetzt auf, denn das feuchte Nass kam ihr in einer sprudelnden Fontäne entgegen. Wasserflecken auf dem seidigen Oberteil, der Chiffon fiel zusammen.

»So eine Scheiße! Verdammter Mist!« Sie fluchte höchst undamenhaft, während sie versuchte, das Missgeschick mit Hilfe des Haartrockners zu beseitigen. Hoffentlich blieben keine Kränze auf der Seide zurück!

Nein, Glück gehabt. Alles war wieder in Ordnung. Nur ihre Haare … sie hatten sich immer mehr gelöst, die lockere Hochsteckfrisur war fast nicht mehr vorhanden. Also nochmals kämmen, die große Spange im Nacken feststecken, einige Strähnen an den Schläfen hervorzupfen … Sollte sie neuen Lippenstift auflegen? Nein, lieber nicht. Und auch keinen Lidschatten mehr.

Die Schuhe … keiner hatte an Schuhe gedacht! Sie hatte nur Sandalen an, ziemlich flach und nur mit drei Riemchen gehalten. Keine hohen Absätze, kein Designermodell …

Ach was, er wusste, wer sie war. Und wenn er nur nach Äußerlichkeiten ginge, wäre er sowieso nicht der Richtige!

Dennoch klopfte ihr Herz einen ziemlich unregelmäßigen Takt, als sie endlich auf den Ecktisch zuging. Zuerst begrüßte sie Rebecca Hardwich, die sie kurz und kritisch musterte, dann aber freundlich lächelte. »Setzen Sie sich, Kindchen. Hierher, zu mir in die Ecke. Da ist es windstill.« Sie klopfte auf den Sessel dicht neben dem ihren.

Mathilda sah kurz zu Ian hin, der ihr kurz zunickte. Also setzte sie sich, noch ein wenig verkrampft und gespannt darauf, wie Ians Großmutter sie behandeln würde. Musste sie so etwas wie ein Examen bestehen? Wurde sie einer Musterung durch das Familienoberhaupt unterzogen?

Unsinn, stellte sie gleich darauf fest. Die Achtzigjährige war voller Humor. Sie unterhielten sich angeregt, lachten, als der Hummer serviert wurde. »So ein Tier hat uns zusammengebracht, das muss gewürdigt werden«, kommentierte Ian.

Viel zu schnell verflog die Zeit, und dann, kurz vor Mitternacht, als tausend Sterne am Himmel funkelten und Mathilda schon ein wenig erhitzt war vom Rotwein und von all der Aufregung des Abends, orderte Rebecca Champagner.

»Ich trinke auf euch«, sagte sie. »Auf euer Glück. So, und jetzt geh ich schlafen. Ihr solltet euch die Flasche nehmen und euch ein stilleres Plätzchen suchen. Bis morgen, Kinder.« Und schon stand sie auf.

»Grandma, du bist unmöglich.«

Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Absolut nicht. Ich bin noch nicht so senil, dass ich nicht merke, wann ich störe. Und ich weiß auch noch genau, wie es war, als ich deinen Grandpa kennen lernte. Da hatte ich das Gefühl, dass all die Leute um uns herum Störfaktoren waren.« Ein kurzes Winken, ein Augenzwinkern in Mathildas Richtung, und Rebecca Hardwich war im Haus verschwunden.

»Sie ist bezaubernd.«

»Ja, und sehr, sehr klug. Sie weiß genau, dass ich jetzt wirklich mit dir allein sein will.«

 

»Puh, das wäre mal wieder geschafft!« In hohem Bogen flogen die Pumps durch die Diele, dann erst schälte sich Janine aus ihrem Blazer. Heute war es in der Reiseagentur ausgesprochen turbulent zugegangen. Die Kunden hatten sich die Klinke in die Hand gegeben.

»Du, Süße, ich hab keine Zeit, dich in der Mittagspause zu besuchen. Hier tobt der Bär. Und du fehlst mir.« Am Vormittag hatte sie kurz bei Marion angerufen, der es immer besser ging. Die Kopfschmerzen waren schon fast verschwunden, gegen Ende der Woche sollte sie entlassen werden.

»Mach dir keinen Stress, ich komm schon klar.« Ein kleiner Seufzer folgte. »Ich wünschte, ich könnte dir helfen. Hier nur dumm rumzuliegen ist einfach ätzend.«

Janine hatte gelacht. »Dein Oliver wird dir den Marsch blasen, wenn du nicht vernünftig bist.«

»Ja, ja, er ist die reinste Glucke.«

»Hey, der Mann ist ein ausgezeichneter Arzt, der genau weiß, was er tut – bis auf die Tatsache, dass er sich leichtfertigerweise in dich verliebt hat.«

»Biest!« Marion hatte gelacht. »Er ist einfach süß. Und ich … ich liebe ihn wirklich. Verrückt, nicht? Da suche ich eine Ewigkeit nach dem berühmten Mr. Right – und kenne ihn doch schon eine Weile.«

»Ich freu mich für euch. – Du, ich muss Schluss machen. Kunden.«

Am Nachmittag war keine Zeit mehr für ein kurzes Gespräch mit der Freundin geblieben. Später, wenn sie sich ein bisschen entspannt hätte, wollte Janine das nachholen.

Kaum hatte sie die Businesskleidung mit einem bequemen, weichen Hausanzug vertauscht und sich eine Pizza in den Ofen geschoben, klingelte es an der Haustür.

»Nein, nicht doch, ich will meine Ruhe«, murmelte Janine, ging dann aber doch zur Gegensprechanlage.

»Janine, ich bin’s.«

Im ersten Moment glaubte sie zu träumen. Dann schoss ihr das Blut zum Herzen. »Markus? Warte …« Mit zitterndem Finger drückte sie auf den Türöffner.

Und jetzt?

Wie sah sie aus? Die Haare … sicher unmöglich. Und die Wohnung war nicht aufgeräumt … Im Bad lag Wäsche …

»Janine … Sternchen …«

Ach, was kümmerten sie Wäsche und nicht perfekt liegende Haare! Markus war da! Sie lag in seinen Armen. Spürte seine Lippen. Seine Hände, die sich in ihr Haar wühlten, ihren Nacken streichelten …

Sie wurde hochgehoben, die Tür fiel ins Schloss … Und dann war erst einmal alles ganz bedeutungslos. Bis auf sie beide und ihre Liebe.

Mein Gott, sie hatte gar nicht gewusst, wie sehr ihr seine Leidenschaft gefehlt hatte! Nicht einmal bis ins Schlafzimmer schafften sie es! Noch in der Diele, auf dem weichen Berberteppich, liebten sie sich.

Der Rausch verflog erst nach und nach. Dann begann Janine leise glucksend zu lachen. »Das … das ist mir auch noch nicht passiert.«

»Mir auch nicht.« Markus stand auf und griff nach seinen Kleidern. »Aber es ist irre gut, oder?« Sie nickte. »Jetzt komm aber endlich richtig rein. Du …« Sie streichelte sein Gesicht. »Was machst du hier?«

»Dich lieben.«

»Ja, aber …«

»Aber ist wohl immer noch dein Lieblingswort.«

»Markus! Bitte! Wieso bist du da?« Sie zog ihn mit sich aufs Sofa und schmiegte sich fest an ihn.

»Ich hatte Sehnsucht nach dir. Und da …« Er zuckte mit den Schultern. »Es gab noch einen freien Platz in der Abendmaschine  – und hier bin ich. Morgen Mittag muss ich aber schon wieder zurück.«

»Du bist verrückt – aber ich liebe Verrückte!«

Markus lachte leise. »Verrückt bin ich – nach dir, das stimmt. Und ich war eifersüchtig, als ich die verliebten Paare in meinem Hotel sah.«

»Es gibt neue Romanzen?«

»Ja.« Er grinste. »Dein Schotte hat die Frau fürs Leben gefunden, schätze ich.«

»Ian?«

»Ja. Enttäuscht?«

»Maßlos! Da kann man mal wieder sehen, wie wenig man sich auf die Gefühle von euch Männern verlassen kann. Kaum ist man weg – schon ist man vergessen.«

»Biest!« Lachend nahm er sie in die Arme. »Soll ich dir beweisen, wie wenig ich dich vergessen habe?« Und schon begann er sie so intensiv zu küssen, dass Janine alles Denken ausschaltete.

Erst Stunden später, sie waren inzwischen von der Couch hinüber ins Schlafzimmer gewechselt, fragte Janine: »Hast du eigentlich keinen Hunger?«

»Doch. Auf dich.«

»Sei doch mal ernsthaft!«

»Bin ich.« Er küsste die zarte Haut in ihrem Nacken, was ihr gleich wieder wohlige Schauer verursachte.

»Also – ich hab Hunger.« Sie lachte und schwang die Beine aus dem Bett. »Was hältst du von einem Steak? Oder lieber Spaghetti? Ich hab noch Pesto und …«

»Ein Steak wäre genau richtig. Das gibt neue Kraft.« Lachend folgte er ihr in die Küche. »Mein Sternchen, ich bin so glücklich! Du hast einen ganz neuen Menschen aus mir gemacht. Verhext hast du mich …«

»Das hör ich gern.«

»Das glaub ich dir. Am liebsten würde ich dich gleich wieder mitnehmen.«

Janine seufzte unterdrückt auf. »Das geht leider nicht. Marion ist noch nicht ganz fit und …«

»Ich würde sie gern kennen lernen, deine Freundin Marion.«

»Wann geht denn dein Flieger?«

»Mittags gegen eins.«

»Dann könnten wir ihr schnell im Krankenhaus einen Besuch abstatten.«

»Einverstanden.«

Marion staunte nicht schlecht, als ihre Freundin gegen zehn am nächsten Morgen ihr Krankenzimmer betrat und strahlend verkündete: »Ich hab Besuch mitgebracht!«

»Wen denn?« Marion richtete sich ein bisschen auf.

Janine antwortete nicht, sie ging zurück zur Tür und zog dann einen sehr, sehr gut aussehenden, braun gebrannten Mann ins Zimmer. »Darf ich bekannt machen – das ist Markus Berger.« Sie lächelte der Freundin zu, sah dann Markus wieder an. »Und das ist Marion, meine allerbeste Freundin.«

»Hallo, Markus!« Marion streckte beide Arme aus. »Komm her und lass dich umarmen!«

Für eine Sekunde wirkte der Hotelier irritiert, dann kam er schmunzelnd der Aufforderung nach.

»Schön, dich kennen zu lernen, Marion«, sagte er dabei.

»Ich freu mich auch. Und ich sag dir eins: Wenn du Janine unglücklich machst, gibt’s einen Heidenärger.« Sie flüsterte es laut und unüberhörbar in sein Ohr.

»Marion, du bist unmöglich!«, lachte Janine.

»Gar nicht. Ich sag ihm nur, was ihn erwartet.« Marion grinste. »Wieso hast du mir nicht gesagt, dass er zu Besuch kommt?«

»Ich hab’s ja selbst nicht gewusst. Gestern Abend stand er einfach vor der Tür.«

»Muss Liebe schön sein!« Marion verdrehte die Augen.

»Musst du gerade sagen, meine Liebe!« Auch Janine lachte. »Dein Oliver würde dich doch am liebsten vom Fleck weg heiraten.«

»Hat er das gesagt?«

»Ja.«

»Na, wenn er es dir sagt … Mit mir hat er noch nicht darüber gesprochen.« Sie zuckte mit den Schultern.

Markus Berger lachte. »Mädels, das Thema wird mir zu heiß.« Er reichte Marion die Hand. »Ich freu mich, dass ich dich kennen gelernt hab. Werd bald wieder gesund.« Ein Blick auf die Uhr. »Ich muss gleich los. Der Flieger wartet nicht.«

Janine beugte sich über die Freundin. »Er ist ein Schatz, nicht? Ich wollte unbedingt, dass du ihn mal persönlich siehst.«

»Also, ich denke, dass ich morgen entlassen werden kann.« Marion zwinkerte Markus zu. »Dann brauch ich vielleicht noch ein, zwei Tage daheim, aber dann bin ich wieder voll arbeitsfähig. Und ich kann den Laden allein schmeißen, bestimmt.«

»Wir können auch Katrin Neumann bitten, dich ein bisschen zu unterstützen.« Janine warf Markus einen langen Blick zu. »Wenn das klappte, könnte ich wirklich schon am Mittwoch bei dir sein.«

»Das wäre super. Da ist unser großes Galabüfett. Mit Showeinlagen, einem ziemlich bekannten Sänger … na ja, und eben einem exzellenten Essen. Es wäre toll, wenn du dann da wärst.«

»An mir soll’s nicht liegen«, meinte Marion. »Und jetzt haut schon ab, ihr zwei. Guten Flug, Markus. Und bis bald!«

Als sie wieder allein war, legte sie sich entspannt zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah hinaus in den Klinikpark. Es war schon merkwürdig: Da hatten Janine und sie so lange auf den Idealmann gewartet – und plötzlich waren sie fast gleichzeitig der großen Liebe begegnet!

Marion verlor sich in Zukunftsträumen – und schlief mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen ein.

 

»Und hier bin ich aufgewachsen … drüben haben meine Großeltern gelebt.« Mathilda wies auf ein kleines Gebäude, das etwas außerhalb von Valdemossa stand. Ein wenig verwittert wirkte es schon und schmiegte sich in den Schatten einer schmalen Felswand. Ein paar knochige Fächerpalmen standen links neben dem Eingang. Von oben, aus einer Felsspalte, rankten Kakteenbüsche. Es schien, als würden sie mit ihrer Wucht das kleine Häuschen erdrücken.

»Wer wohnt jetzt hier?« Ian kletterte aus dem Wagen und half Mathilda ins Freie.

»Eine alte Tante. Sie ist ein bisschen … wunderlich.«

»Wie meinst du das?«

Mathilda lächelte verlegen. »Na ja, sie behauptet, in die Zukunft sehen zu können. Sie legt jedem, der es will, die Karten. Und kann aus Handlinien lesen.«

»Hey, das ist spannend.« Ian lachte. »Wollen wir sie begrüßen?«

»Wenn du willst.« Mathilda sah ihn mit einem kleinen, ironischen Lächeln an. »Aber ich warne dich. Sie ist nicht ohne, meine alte Tante Alessa.«

Gleich darauf standen sie vor der alten Frau, die ganz in Schwarz gekleidet war. In der Hand hielt sie drei weiße Rosen, umschlungen von einem kleinen Kranz aus Jasmin, die sie Mathilda reichte. »So sollte dein Hochzeitsstrauß aussehen, das bringt Glück«, meinte sie lächelnd, wobei einige Zahnlücken aufblitzten.

»Aber ich heirate doch nicht!« Mathilda schüttelte den Kopf. »Tante Alessa, das hier ist ein guter Freund. Wir kennen uns aus dem Hotel.«

»Ein Freund. Aha.« Die alte Frau schmunzelte und schlug leicht auf Ians Arm. »Ihr denkt wohl, ihr könnt mir was vormachen, ja? Aber das funktioniert nicht.« Sie ging auf Mathilda zu und schloss sie in die Arme. »Ich weiß, was ich weiß. Werdet glücklich, Kinder.«

Ian sah die kleine Frau mit dem runzligen Gesicht, in dem aber hellwache Augen blitzten, überrascht an. »Sie scheinen es noch besser zu wissen als Mathilda«, sagte er und legte den Arm um das junge Mädchen. »Sie will’s mir einfach immer noch nicht glauben, dass ich sie liebe und heiraten will.«

»Dann musst du sie eben überzeugen!« Tante Alessa griff nach seiner Hand, bog sie leicht und prüfte seine Handlinien. Dann nickte sie zustimmend und ging ins Haus. »Kommt mit!«, forderte sie die jungen Leute auf. »Ich hab was für euch!«

Mathilda folgte ihr leicht irritiert. Wieso hatte Tante Alessa auf sie gewartet? Einmal im Monat besuchte sie die alte Frau, doch dieser Besuch fand außerhalb der regelmäßigen Termine statt.

Bei Alessa wusste man allerdings nie genau, woran man war. Sie hatte, wie viele behaupteten, das zweite Gesicht. Vielleicht war ja wirklich etwas dran an dieser Überzeugung.

Ian musste den Kopf einziehen, um die Tür passieren zu können. Drinnen war es angenehm kühl. An den weiß getünchten Wänden hingen einige Tonkrüge und bunt bemalte Teller. In der Kochnische blitzten ein paar Kupferkessel, darüber hingen Kräuter zum Trocknen.

Alessa ging zu einer Kommode, zog eine Schublade auf und entnahm ihr ein kleines, flaches Päckchen. Als sie es aufklappte, glitt für einen Moment ein verklärtes Lächeln über ihr Gesicht. Dann schloss sie es wieder und gab es an die Großnichte.

»Hier, mein Kind. Das ist für dich. Es soll dir so viel Glück bringen, wie es mir gebracht hat. Halte es in Ehren – und trag es am Tag deiner Hochzeit. Ich werde dann an dich denken und für euer Glück beten.« Sie wandte sich an Ian. »Sei gut zu ihr, ja?«

»Immer.« Er zog die Hände der alten Frau, die von einem langen, entbehrungsreichen Leben kündeten, an seine Lippen.

Mathilda hatte unterdessen das Kästchen geöffnet – ein kleiner Schrei kam über ihre Lippen. Auf nachtblauem Samt lag eine zarte Kette aus winzigen Flussperlchen. Daran hing ein Medaillon, das ein Marienbild zeigte. Die feine Goldschmiedearbeit war mit Diamanten und Perlen verziert und ganz offensichtlich schon sehr alt. »Das ist ja … Tante Alessa, das kann ich nicht annehmen! Das ist viel zu wertvoll.«

»Wenn nicht du es bekommst – wer denn dann? Siehst du hier noch eine junge Frau?«

»Aber …«

»Halt es in Ehren und denk manchmal an mich.« Tante Alessas Blick ging zum Fenster und dann in weite Fernen. »Das ist das einzige Schmuckstück, das ich je besessen habe. Ein Mann hat es mir geschenkt, als ich noch sehr jung war. Ein Seefahrer aus Rhodos …« Sie schluckte. »Zwei Jahre waren wir glücklich, dann hat das Meer ihn mir genommen.« Sie straffte sich. »Ach was, das war in einem anderen Leben. Jetzt ist jetzt. Und jetzt seid ihr glücklich, Kinder. Ich weiß, dass ihr es bleibt. Darauf trinken wir jetzt.«

Sie holte einen Krug Wein, dann saßen sie draußen auf einer alten Holzbank, tranken den kräftigen Roten und aßen selbst gebackenes Brot und Oliven dazu. Doch nach einer Stunde meinte die alte Frau: »So, jetzt solltet ihr fahren. Zeig deinem Ian noch den Ort, dann fahrt zum Cap de Formentor  – und werft dort ein paar Blumen ins Meer. Ich schneide euch gleich welche im Garten.«

Eine letzte innige Umarmung mit Mathilda, ein kurzer Händedruck mit Ian, dann ging die gebeugte, kleine Gestalt in den Garten und schnitt einen Arm voll Hibiskusblüten und alle Rosen, die an einem Spalier am Haus emporrankten.

Vorsichtig legte Mathilda diesen Gruß, der Alessas totem Geliebten galt, in den Kofferraum. »Wir sehen uns bald wieder, Tante Alessa«, sagte sie und winkte zum Abschied.

»Nie mehr, meine Kleine«, murmelte die Alte. »Aber das ist gut so.« Noch einmal winkte sie, dann ging sie ins Haus und setzte sich in ihren alten Ohrensessel. Hier hatte sie unendlich viele Stunden gesessen, nach draußen geschaut, wo Valldemossa so oft im Glanz der Sonne lag, und von vergangenen Zeiten geträumt.

Ihr Leben war nicht immer leicht gewesen. Einmal nur hatte sie geliebt – und diese Liebe hatte keine Erfüllung finden dürfen. Der Seefahrer, der ihr Herz einst gewonnen hatte, war von einer großen Fahrt nicht zurückgekehrt. Das Meer hatte ihn verschluckt – und so hatte Alessa, das Mädchen aus den Bergen Mallorcas, nie eine andere, weitere Welt kennen gelernt. Dabei hatte sie sich so darauf gefreut, mit in die Heimat des Geliebten zu reisen.

Jetzt schaute sie wieder hinaus aus dem Fenster ihres kleinen Hauses, versuchte den Wagen auszumachen, in dem Ian und Mathilda saßen. »Alles Glück der Welt für euch«, sagte sie. Dann schloss sie die Augen, seufzte einmal tief auf – und schlief ein.

Nichts ahnend schlenderten Mathilda und Ian unterdessen durch das Dorf, das seine Berühmtheit dem Komponisten Frédéric Chopin und dessen Geliebter, der Schriftstellerin George Sand, verdankte. Die beiden hatten in der Kartause von Valldemossa 1838/39 sechs Winterwochen miteinander verbracht. Nasskalt und ungemütlich war es damals, dem kranken Chopin war der Aufenthalt gar nicht bekommen. Und auch George Sand fand in ihrem Buch »Ein Winter auf Mallorca« nicht gerade schmeichelhafte Worte für die Mallorquiner und ihre Insel.

Und dennoch – gerade durch diese beiden Künstler wurde das Bergdorf weltbekannt. Wohl kein anderes Inseldorf ist so großzügig mit Blumen geschmückt wie das Unterdorf von Valldemossa mit seiner gotischen Pfarrkirche St. Bartomeu.

»Wunderschön ist es hier!« Begeistert sah sich Ian um. »Das muss ich Grandma zeigen. Und dann sollte sie deine Tante Alessa kennen lernen. Die beiden werden sich bestimmt gut verstehen.«

Mathilda nickte zustimmend. »Das machen wir. Aber erst mal gibt es jetzt für dich ein paar cocas de patata – das ist eine Spezialität, die es nur hier gibt. Für diese Kartoffelkrapfen fahren die Einheimischen meilenweit.« Sie zog ihn hinüber zu einer der vielen kleinen Bäckereien.

»Ich bin aber noch pappsatt«, wandte der Schotte ein.

»Nichts da – die musst du probieren.« Sie schob ihm gleich eine der Köstlichkeiten in den Mund. »Den Rest nehmen wir mit. Bis wir am Cap de Formentor sind, hast du sicher wieder Hunger.«

Da sie Rebecca Hardwich nicht den ganzen Tag über allein lassen wollten, fuhren sie ohne Aufenthalt die Küstenstraße in Richtung Norden, vorbei an Sóller, dem berühmten Kloster Luc und Pollenca bis hin zum Cap.

»Wir gehen erst mal zum Mirador«, erklärte Mathilda. »Zwar müssen wir ein bisschen laufen, aber wenn wir erst oben sind, haben wir den tollsten Blick über die Insel und, mit ein bisschen Glück, den schönsten Sonnenuntergang weit und breit.«

»Na, dann mal los.« Ian nahm ihre Hand, und so gingen sie hinauf zu dem Aussichtspunkt, von dem aus man gut zweihundert Meter tief hinunterschauen konnte.

»Ob wir hier die Blumen hinunterwerfen können?« Mathilda sah sich unsicher um. »Eventuell landen sie nicht im Meer, sondern unten in der Bucht.«

»Ich versuch’s einfach.« Ian schleuderte den Strauß mit größter Kraft – und wirklich, eine Windbö erfasste die Blumen und trug sie hinaus aufs Wasser, wo sie noch lange auf den Wellen tanzten.

»Das ist Alessas Gruß an ihren Geliebten«, flüsterte Mathilda und lehnte den Kopf an Ians Schulter.

»Sie hat die große Liebe gefunden – so wie wir.« Ian küsste sie liebevoll. »Und wir haben das Glück, unsere Liebe leben zu können – hoffentlich ein langes, erfülltes Leben lang.«

 

Endlich wieder auf Mallorca!

Janine atmete tief die Luft ein, die hier am Flughafen nun gar nicht besonders gut war. Und dennoch: Janine fand sie herrlich. Noch eine Stunde, dann würde sie auch wieder die vielen Blüten riechen können, die im Garten der »Villa Cloud Seven« blühten.

Sie winkte nach einem Taxi, denn leider hatte Markus sie nicht selbst abholen können. »Es tut mir so leid, Liebes, aber es geht einfach nicht«, hatte er ihr am Tag zuvor erklärt. »Morgen steigt unser großes Gartenfest – da kann ich mich nicht aus den Vorbereitungen ausklinken.«

»Ist doch gar kein Problem. Ich komm mit dem Taxi – und hab noch eine Stunde Vorfreude mehr.«

Und jetzt saß sie wirklich im Fond des Wagens und ließ sich erst durch Palma kutschieren. Wie imposant die Kathedrale wirkte! Wie eine Glucke thront das Gotteshaus über dem Meer, hatte Janine einmal in einem Reiseführer gelesen. Sie wusste auch, dass vor vielen Jahren das Meer bis ganz an die Kirche herangereicht hatte. Es war sicher ein fantastischer Anblick gewesen, wenn sich das große Gebäude im Wasser spiegelte.

Die Großstadt blieb hinter ihnen, langsam ging es in Richtung Nordwest. Da war die große Mühle, die direkt an der Abzweigung zur »Villa Cloud Seven« stand! Alles war schon so vertraut, so, als gehörte sie hierher …

Janine biss sich auf die Lippen. Nein, so weit durfte sie gar nicht denken! Sie liebte Markus – und er liebte sie. Aber ob sie eine gemeinsame Zukunft hätten, stand noch nicht fest. Darüber hatten sie konkret auch noch nicht gesprochen.

Janine dachte an Marion, die vorgestern aus der Klinik entlassen worden war und heute schon wieder arbeiten wollte. Die Freundin war sich der Liebe von Dr. Oliver Bergstaller hundertprozentig sicher. »Er will noch in diesem Sommer heiraten«, hatte sie Janine anvertraut. »Oliver meint, dass er schon viel zu lange allein gelebt und schon viel zu viel Zeit verschenkt hätte.« Ein bisschen verlegen hatte sie Janine angesehen. »Was meinst du – ist es nicht zu voreilig, wenn ich zustimme?«

»Unsinn.« Janine hatte die Freundin fest umarmt. »Ihr liebt euch, das steht fest. Warum also noch warten? Das wäre doch unsinnig.«

»Ach, du! Du bist doch die Beste! Wenn ich dich nicht hätte.«

Ein kleines, verträumtes Lächeln nistete in Janines Mundwinkeln, als sie daran dachte, dass auch sie gleich wieder bei dem Mann sein würde, den sie über alles liebte.

Schon beim Betreten der Hotelhalle spürte sie die verhaltene Hektik. Ein Blumenhändler lud draußen bunte Arrangements aus und verteilte sie in der Halle und draußen auf der Terrasse. Auf der Westterrasse wurde ein riesiges Büfett aufgebaut, Tische und Stühle wurden anders arrangiert als üblicherweise. Ein kleines Podest für die Band war links vom Whirlpool errichtet worden, im Garten steckten Fackeln zur nächtlichen Beleuchtung in der Erde.

»Janine!« Mit ausgestreckten Händen kam Markus auf sie zu! »Sternchen … ich hätte dich so gern abgeholt, aber es ging einfach nicht. Ich konnte hier einfach nicht weg. Es … es gibt ein paar Schwierigkeiten. Die Sängerin der Band ist erkrankt, Steffen Mausert, unser Chefkoch, kriegt gleich einen Herzinfarkt, weil die falschen Fische geliefert worden sind, die Tischwäsche, die wir vorgesehen hatten, ist nicht komplett von der Wäscherei zurück…«

»Also der ganz normale Wahnsinn in einem Hotel«, lachte Janine.

»Stimmt. Solche Dinge passieren immer wieder. Aber wir haben alles im Griff.« Er zog sie mit sich in sein Büro. »Hierfür muss Zeit sein«, murmelte er und küsste Janine ausgiebig. »Wie schön, dass du da bist.«

»Ich freu mich auch.« Sie lachte. »Wenn ich ausgepackt hab, würde ich mich gern nützlich machen. Hast du was zu tun für mich?«

Aber Markus schüttelte den Kopf. »Nein, ruh du dich ein bisschen aus.«

»Ach was, das ist nicht nötig.« Aber dann genoss sie es doch, ein wenig zu schwimmen und sich danach für eine halbe Stunde in die Sonne zu legen. Gerade als sie ihre Sachen wieder zusammenpackte, um an der Poolbar einen Espresso zu trinken, kamen Ian und seine Großmutter über die Terrasse – und gleich auf Janine zu.

»Janine! Das ist eine Überraschung!« Die alte Dame umarmte sie spontan. »Sind Sie extra zu diesem Gartenfest hergeflogen?«

»Na ja … nicht nur deswegen.«

»Ich verstehe!« Rebecca zwinkerte ihr zu. »Dann gibt’s also noch ein Liebespaar. Stellen Sie sich vor, mein Ian und dieses bezaubernde Mädchen hier von der Insel … es ist die große Liebe, nicht war, mein Junge?«

Ian grinste verlegen. »Ja, Grandma.«

Janine lachte. »Das freut mich für dich. Wollt ihr auch Kaffee? Oder lieber Tee?«

»Ich nehme Tee – Ian mag diesen italienischen Espresso ganz gern.« Ein leichtes Stirnrunzeln verriet, dass Rebecca Hardwich von diesem Modegetränk nicht allzu viel hielt.

Eine halbe Stunde unterhielten sie sich angeregt, dann meinte Janine: »Ich will hoch und mich in Ruhe zurechtmachen.«

»Du siehst wunderschön aus«, sagte Ian.

»Danke.« Janine lachte ihm zu. »Kommt deine Mathilda heute auch?«

»Ja. Aber sie muss arbeiten. Der Hoteldirektor hat sowieso schon Personalprobleme, da kann er nicht auf sie verzichten.«

»Dann … darf ich mich zu euch setzen? Markus hat sicher viel zu tun.«

»Aber gern! Ich glaube, wir haben einen besonders schönen Tisch zugewiesen bekommen.«

Die Zeit bis zum Abend verging dann rasend schnell. Janine wusch sich die Haare und bürstete sie so lange, bis die leichten Naturwellen ihr seidig auf die Schultern fielen. Ihr Teint war noch zart gebräunt, dazu passte das aprikotfarbene Kleid mit den Spaghettiträgern und dem weiten Bahnenrock perfekt. Als Schmuck trug sie nur einen schmalen Goldreif mit einer großen, grauen Perle.

Als Markus endlich kam und sich ebenfalls umzog, war Janine schon fertig. Sie saß auf der Terrasse, die zum Apartment des Hotelchefs gehörte, und schaute den zarten Wolken nach, die am Himmel entlangzogen. Vom Garten her erklang Stimmengewirr, die ersten Gäste nahmen schon ihre Plätze ein.

»Schade.« Markus küsste sie auf die Schulter.

»Was ist schade?«

»Dass du schon fertig bist.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich hätte gern mit dir zusammen geduscht und …«

»Hallo, du hast heute viele Pflichten! Da ist keine Zeit für Spaß!« Sie lachte ihn verliebt an. »Aber vielleicht später … die Nacht ist ja lang …«

»Biest, süßes.« Er zog sich das Hemd aus, warf es lässig zu Boden. »Wenn du mich nicht sofort küsst …«

»Du, das ist riskant.« Aber sie stand doch auf und schmiegte sich an ihn. Seine Haut war warm, sie roch sein Aftershave, spürte seine Lippen …

»Geh duschen«, raunte sie, heiser vor Erregung.

Nur mit Mühe riss Markus sich los und verschwand im Bad. Als er eine Viertelstunde später wiederkam, trug er schon einen eleganten, dunklen Leinenanzug.

»Du Armer! Ist das nicht viel zu warm? Und dann noch Hemd und Krawatte … muss das sein?«

Er lachte. »Ja, das muss sein. Und ich hab mich schon längst dran gewöhnt. Der Stoff ist zum Glück ganz leicht.« Er griff nach ihrer Hand. »Bist du fertig?«

»Aber ja. Ich freu mich auf den Abend!«

Manch bewundernder Blick folgte dem Paar, als sie durch die Halle hinaus zur Terrasse gingen. Markus brachte Janine zu dem Tisch der Hardwichs, der wirklich besonders gut platziert war. »Einen vergnügten Abend – und vor allem: guten Appetit«, wünschte er. Dann kam er seinen Pflichten als Gastgeber nach – die vor allem darin bestanden, mit einer launigen Ansprache alle willkommen zu heißen.

»Dieses Gartenfest, das wir drei Mal im Jahr veranstalten, ist legendär«, sagte er unter anderem. »Ich weiß, dass einige von Ihnen extra zu diesem Anlass herkommen. Was mich nicht nur freut, sondern auch eine Verpflichtung bedeutet  – denn mein Team und ich, wir wollen Sie ja immer wieder neu überraschen. Und ich hoffe, es ist uns auch heute gelungen. – Voilà!« Er wies nach links, wo aus einem Seitenweg zwölf junge Mädchen in Landestracht kamen. In großen Körben trugen sie Gastgeschenke für jeden – einen aparten Porzellankorb für die Damen, gefüllt mit duftenden Parfümessenzen, ein kleines Golfset für die Herren, denn die meisten der Gäste frönten diesem Sport mit Leidenschaft.

»Eine reizende Idee«, lobte Rebecca Hardwich. »Und schaut nur, drüben die Wasserfontänen … das ist bezaubernd!«

Ja, Markus Berger hatte sich wirklich etwas einfallen lassen. Es war ihm gelungen, eine kleine Wasserorgel installieren zu lassen, und zu der Ouvertüre von »Dichter und Bauer« gab es ein Kaleidoskop von bunten Wasserfontänen.

Die Gäste waren begeistert. Und wie sie die Darbietungen des Abends genossen, so erfreuten sie sich ebenso am Galabüfett, das wirklich keine Wünsche offen ließ. Es gab Hummer, Gambas, Fleisch in den verschiedensten Variationen. Dazu einen riesigen Schwertfisch auf dem Grill und feinste Filets vom Rind, Lamm und Reh.

Die Dekoration war gigantisch, Blickpunkt war eine Eisskulptur, die einen springenden Delfin zeigte. Leider begann das Kunstwerk schon nach zwei Stunden sich aufzulösen, doch bis dahin war es Objekt für manches Erinnerungsfoto.

Immer wieder wurde Markus zu dem gelungenen Event beglückwünscht. Als dann das Dessert – riesige Eisbomben, in denen Sternspritzer steckten – serviert wurde, war das Fest auf dem Höhepunkt.

Es geschah, als einer der Kellner eine neue Flasche Champagner öffnete: Ein Aushilfskellner, der ein großes Tablett mit leeren Gläsern trug, stieß gegen ihn, weil er einem kleinen Mädchen ausweichen wollte, das eben aus den Waschräumen kam und schnell zu seinen Eltern zurücklaufen wollte. Lautes Scheppern, ein paar Schreckensrufe – dann gingen die Gäste zur Normalität über.

Alle – bis auf die wenigen, die in unmittelbarer Nähe saßen. Zu ihnen gehörte auch Janine, und sie sah genau, dass der Mann, der die Champagnerflasche hatte öffnen wollen, verletzt war. Blut spritzte aus einer Wunde an seiner Hand – er hatte sich tief an einer Glasscherbe verletzt.

Rasch war Janine bei ihm, presste erst einmal fest eine Serviette auf die Wunde.

Vereinzelt kamen Schreckensrufe auf, eine junge Kellnerin wurde blass, sie musste sich an einen der Tische lehnen, weil sie ohnmächtig zu werden drohte. Auch zwei Gäste sahen höchst entsetzt auf die Blutlache, die sich zu Füßen des Mannes bildete.

»Er hat sich die Schlagader aufgeschnitten«, stieß Janine hervor. »Ich brauche was zum Abbinden!« Sie sah sich kurz um, aber da war zum Glück schon Ian bei ihr und reichte ihr seinen Gürtel. »Tut’s der?«

»Bestimmt.« Janine behielt die Nerven, sie band den Arm des Verletzten ab, sorgte dafür, dass er in einen anderen Raum geschafft wurde. Der Sommelier, der alles beobachtet hatte, hatte schon den Notarzt verständigt. Wenige Minuten später fuhr der Wagen vor – zum Glück ohne dass die Sanitäter das Martinshorn eingeschaltet hatten. So wurden nicht alle Gäste alarmiert.

Und dennoch war es ein aufregender Zwischenfall, der die Gemüter bewegte.

»Danke, Liebes. Du bist wirklich nervenstark.« Kurz zog Markus die junge Frau an sich. »Jetzt müssen wir improvisieren …«

Janine nickte, griff wie selbstverständlich nach einem Tablett mit Gläsern und trug es hinaus auf die Terrasse. Sie servierte in der näheren Umgebung ihres Tisches, und die anderen Gäste nahmen es amüsiert zur Kenntnis.

»Das machen Sie exzellent«, lobte eine ältere Dame. »Wie gelernt.«

»Das war früher einer meiner Ferienjobs«, lächelte Janine.

Markus sah ihr stolz zu. Sie übernahm die Aufgaben des verletzten Kellners, unterhielt sich dabei charmant – und sorgte dafür, dass der Zwischenfall rasch wieder in Vergessenheit geriet und die gute Stimmung der Hotelgäste nicht beeinträchtigt wurde.

Sie war zauberhaft. Die ideale Frau für ihn!

Wenn er es bisher nicht gewusst haben sollte – spätestens jetzt wäre es ihm klar geworden.

Nach einer Stunde nahm Janine wieder an ihrem Tisch Platz. Ian und seine Großmutter lächelten ihr zu. »Du warst fantastisch«, lobte der junge Schotte. »Wie souverän du den Mann verarztet hast … Ich musste mich schon ziemlich zusammenreißen, als ich das viele Blut gesehen habe.«

»Männer«, kommentierte seine Großmutter nur.

Ian lächelte. »Hör sie dir an! Dabei geht es ihr kaum anders als mir.«

»Ich hab ganz spontan reagiert«, gestand Janine, »macht kein Aufhebens davon. Und jetzt würde ich gern etwas besonders Gutes trinken.« Sie lächelte Ian an. »Bestellst du mir einen Bellini? Die sind hier exzellent.«

»Da schließe ich mich an«, meinte Rebecca Hardwich. »Noch diesen Drink, dann gehe ich zu Bett.« Sie zwinkerte ihrem Enkel zu. »Und für dich hoffe ich, dass deine Mathilda bald Feierabend machen kann.«

»Sie ist ziemlich deprimiert, weil ihre Tante Alessa gestorben ist – noch an dem Tag, an dem wir sie besucht haben. Ein tragischer Zufall, nicht wahr?«

»Vielleicht war es gar keiner«, meinte Janine nachdenklich. »Du hast doch gesagt, dass die alte Frau im Ruf stand, übersinnliche Kräfte zu haben …«

»Sie konnte angeblich aus der Hand lesen. Und hatte so was wie das zweite Gesicht. Sagt man hier in der Gegend. Aber an solche Dinge glaube ich nicht.«

»Sei nicht so abgebrüht«, warf seine Großmutter ein. »Es gibt viel mehr zwischen Himmel und Erde, was wir uns nicht mit dem Verstand erklären können, als du dir vorstellst. Nur rationales Denken ist ganz unangebracht.«

»Wie dem auch sei – die alte Tante Alessa hat jetzt ihren Frieden.«

»Und sie hat euch noch zusammen gesehen«, meinte Janine. »Vielleicht hat sie wirklich nur darauf gewartet, den Mann kennen zu lernen, der ihre Großnichte glücklich macht. Als sie wusste, dass Mathilda einen guten Partner gefunden hatte, konnte sie in Ruhe gehen.«

»Na ja … wenn ihr das so seht …« Ian wollte nicht länger über dieses Thema diskutieren. Seine Aufmerksamkeit wurde auch abgelenkt, denn soeben kam Markus Berger zu ihnen, hinter ihm eine junge Kellnerin, die ein Tablett mit vier Bellinis trug.

»So, jetzt kann ich in Ruhe einen Drink nehmen«, lächelte der Hotelchef. »Der gemütliche Teil beginnt.«

Einige Paare tanzten bereits, an der Bar, die gleich neben dem Whirlpool aufgebaut war, standen etliche jüngere Leute und unterhielten sich angeregt. Nach Mitternacht würde es noch eine kleine Showeinlage geben.

Sie tranken sich zu, und als die Band »As time goes by« spielte, streckte Markus die Hand nach Janine aus. »Wollen wir tanzen?«

»Gern!«

Auf der Tanzfläche schmiegte sich Janine leicht in seinen Arm. »Wie einst Ingrid Bergmann und Humphrey Bogart«, meinte sie ein bisschen selbstironisch.

»Dann schau mir in die Augen, Kleines.«

Sie tat es – und für einen Moment versank alles um sie herum.

Janine erwachte als Erste aus der Verzauberung. »Ach nein, das mit ›Casablanca‹ ist doch kein so guter Vergleich. Die zwei haben sich schließlich nicht gekriegt.«

»Stimmt. Aber wir müssen ja nicht alles genau nachmachen.« Eine schwungvolle Drehung – sie waren im Schatten eines alten Hibiskusbusches. Und hier konnte der Hotelchef seine Freundin endlich lange und ungestört küssen!

Doch so diskret sie auch waren – es gab jemanden, der sie keine Sekunde aus den Augen ließ: Ellen van Ehrens stand an einem Fenster im ersten Stockwerk. Hier, in einem der beiden kleinen Konferenzsäle, die nur selten genutzt wurden, vermutete sie niemand.

Seit einer halben Stunde verfolgte sie das Geschehen auf der Terrasse mit brennenden Augen. Und wann immer sie Janine sah, loderten Eifersucht und Wut in ihr hoch. Wie sie die Rivalin hasste! Sie hatte ihr Markus genommen – den einzigen Mann, den Ellen je begehrt hatte. Er war so ganz anders als die Möchtegern-Playboys, die zu ihrer Clique gehörten. Markus stellte etwas dar. Er besaß Stil, Charisma. Dass er zudem noch immens reich war, wovon aber kaum jemand wusste, war ein weiterer Pluspunkt. Nun, für sie war das nicht allzu sehr von Bedeutung, das Vermögen ihres Vaters war auch sehr groß, aber es hatte schon etwas Beruhigendes, wenn auch der Ehemann über viel Geld verfügte.

Nur: Nie würde Markus ihr Mann werden – wenn sie nicht endlich einschritt!

Ein Glück nur, dass Claus da war. Der Cousin war ihr mehr als einen Gefallen schuldig. Und da er über nur geringe Skrupel verfügte, war er der ideale Komplize bei dem, was Ellen sich ausgedacht hatte.

Aber noch war es zu früh, um etwas zu unternehmen. Die meisten Hotelgäste feierten noch in bester Laune. Doch immer häufiger sah Ellen, dass Markus sich die Zeit nahm, sich zu Janine zu setzen. Verdammt, der Kerl war hemmungslos! Und sie erst … ein Biest. Eine gemeine, hinterhältige … Ellen wusste gar nicht, mit welchen Beschimpfungen sie Janine belegen sollte.

Gegen zwei Uhr neigte das Fest sich langsam seinem Ende entgegen – Zeit zu handeln!

Ellen zog ihr Handy heraus, drückte eine eingespeicherte Nummer. »Es ist so weit«, sagte sie nur, dann zog sie sich vorsichtig zurück. Jetzt nur nicht noch im letzten Moment entdeckt werden!

Gerade als sie den Parkplatz erreichte, fuhr ein Wagen vor – mit abgeblendeten Scheinwerfern. Claus van Ehrens stieg aus und kam grinsend auf seine Cousine zu. »Also, wo ist das Vögelchen?«

»Noch auf der Westterrasse. Man muss sie einfach tiefer in den Garten hineinlocken. Oder hierher.«

»Okay, geht klar.« Lässig tippte sich Claus an die Stirn.

»Sei vorsichtig! Das ist keins deiner Spielchen«, mahnte Ellen und biss sich auf die Lippen. »Ich will zwar nicht, dass ihr was zustößt, aber sie soll Angst kriegen. Scheißangst. So viel Angst, dass sie Mallorca schnell wieder verlässt.«

»Wenn du denkst, dass du damit was gewinnst …«

»Sei still, zum Denken brauch ich dich nicht.« Sie sah ihn nur kurz an. »Liegt die Yacht im Hafen?«

»Klar doch. Seit gestern schon. Ziemlich weit hinten, damit keiner was mitkriegt.« Er grinste. »Ich bin schließlich nicht blöd.«

»Wir müssen vorsichtig sein.« Ellens Stimme wurde leise. »Auch wenn wir ihr nichts antun wollen – es ist und bleibt schließlich Kidnapping.«

»Quatsch. Ich mache mit einer Tussi, auf die ich scharf bin, eine Spritztour. Da passiert gar nichts.« Claus grinste schmierig. Er hatte sich eben noch ein paar Pillen eingeworfen und fühlte sich blendend. Stark. Unbesiegbar. Über alle anderen erhaben. Ein irre geiles Gefühl!

Sogar Ellen, vor der er normalerweise einen ziemlichen Respekt hatte, weil sie so scharf denken konnte und so spitzzüngig war, konnte ihn nicht beeindrucken. Und dass seine überhebliche Cousine ihn endlich mal brauchte, war auch was.

Vorsichtig schlich er sich um das große Hotelgebäude herum.

Janine machte es ihm leicht. Sie wollte einigen Mädchen helfen, im hinteren Teil des Gartens aufzuräumen. Zweimal ging sie hin und her – dann auf einmal war sie verschwunden. Es dauerte jedoch eine Weile, bis man sie vermisste.

»Sie wird beim Chef sein«, meinte eine der Aushilfskellnerinnen.

»Nein, der ist dort drüben.«

Aber sie hatten alle so viel zu tun, dass sich niemand um Janines Verschwinden weiter kümmerte. Als Markus Berger sie suchte, konnte ihm niemand sagen, wo Janine war.

 

Als Janine wieder zu sich kam, hatte sie Mühe, sich zu orientieren. Alles in dem Raum war dunkel, nur durch ein kleines, rundes Fenster fiel etwas Licht. Nein, das war kein Fenster, es war ein Bullauge! Und die leisen Geräusche, die sie zunächst nicht hatte zuordnen können, waren Wellen, die an eine Schiffswand schlugen.

Sie war auf einem Schiff!

Panik erfasste sie, als sie nach und nach begriff, was geschehen war: Im Hotelgarten war sie plötzlich von hinten angegriffen worden. Jemand hatte sie festgehalten, ihr etwas aufs Gesicht gedrückt – dann wusste sie gar nichts mehr.

Ihr Kopf schmerzte, die Mundhöhle war trocken. Und als sie versuchte, sich aufzusetzen, musste sie zum weiteren Entsetzen feststellen, dass man ihre Füße zusammengebunden hatte. Nicht einen Schritt konnte sie so tun! Und der Versuch, den Strick mit den Fingern zu lösen, war erfolglos. Zu dick war das Tau, zu fest der Knoten.

Immer wieder versuchte sie es. Aber nur ein paar Fingernägel brachen ab, das harte Tau ließ sich nicht lockern. Und so konnte sie nur mühsam aufstehen und versuchen, durchs Bullauge zu sehen.

Das Schiff lag, so viel stand fest, im Hafen von Portals Nous. Aber offenbar ziemlich abseits, denn sie erkannte weit hinten die Hafenpromenade mit ihren verschiedenen Restaurants. Gleich davor lagen die großen Yachten der Promis und Superreichen. Hier aber, wo sie war, lagen nur kleine Schiffe. Sie selbst war offenbar auch auf einem einfachen Boot untergebracht, das verriet die Einrichtung der Kajüte. Jetzt, da sich ihre Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten, konnte sie Einzelheiten erkennen.

Sie sah aber auch, dass sie immer noch ihr Cocktailkleid trug. Man hatte ihr wohl nichts getan, sie hatte keine Schmerzen, keine Verletzungen. Wenn man von dem Dröhnen im Kopf absah. Aber das war wohl eine Folge des Rauschmittels, mit dem man sie außer Gefecht gesetzt hatte.

Früher nahm man Chloroform auf Wattebäuschen, ging es ihr durch den Kopf. Ob das auch jetzt noch benutzt wurde? Wenn die Situation nicht so beängstigend gewesen wäre, hätte sie darüber lachen können. Das alles war doch wie in einem billigen Krimi.

Nur dass sie leider das Opfer war.

Und der Situation hilflos ausgeliefert.

Endlich, endlich schrie sie. Laut. So laut sie konnte. Aber die Hilferufe verhallten ungehört.

Janine ließ sich wieder auf die schmale Bank sinken, auf der sie gelegen hatte. Sie schloss die Augen, versuchte ruhig zu werden und logisch zu analysieren, was wohl passiert war. Wer hatte ein Interesse dran, sie zu entführen? Was wollten die Kidnapper erreichen? Wer kannte sie überhaupt hier auf Mallorca?

Markus … Markus war bekannt hier auf der Insel. Und dass er wohlhabend war, hatte sie inzwischen auch erfahren. Er hatte ihr anvertraut, dass er das Vermögen eines Onkels geerbt habe. Wie viel es war, hatte er nicht gesagt, es hatte Janine auch nicht interessiert. Aber er hatte damit das Hotel errichtet, die Gartenanlage neu gestalten lassen, Tennisplätze angelegt und sich am nahegelegenen Golfplatz beteiligt.

Es musste also eine größere Summe sein, über die er verfügen konnte.

Und offensichtlich gab es Menschen, die genau Bescheid wussten – und dieses Wissen für ihre kriminellen Machenschaften nutzten.

Janine schlief erneut für eine Weile ein. Das Narkosemittel wirkte noch nach. Als sie erwachte, stieg im Osten die Sonne auf. Sie konnte den hellen Himmel sehen. Als sie sich aufrichtete, stellte sie fest, dass auf der Strandpromenade schon rege Betriebsamkeit herrschte. Nur – was half ihr das? Solange niemand in die Nähe dieses Bootes kam, war sie ihrem mysteriösen Entführer ausgeliefert.

Tränen standen ihr in den Augen. Panik stieg auf. Was würde mit ihr geschehen? Wäre ihr Leben in Gefahr?

Sie dachte an Markus. An zu Hause. An ihr Geschäft und an Marion. Aber auch an Ian, seine reizende Großmutter. An Oliver Bergstaller und Bert Schrader. Er schien auch ein ziemlich undurchsichtiger Typ zu sein. Aber mit ihrem Kidnapping hier auf Mallorca hatte er sicher nichts zu tun.

Vom Bootssteg her hörte sie Geräusche. Männer unterhielten sich, sie hörte spanische und englische Wortfetzen. Verzweifelt rief sie wieder um Hilfe – aber niemand hörte sie.

 

Drückend schwül war es heute! Und die Kunden – ätzend, einer wie der andere! Glaubten, sich alles herausnehmen zu können, nur weil sie am längeren Hebel saßen. Wie leid er das alles war! Wie er es hasste, sich jeden Morgen wieder in diese Tretmühle begeben zu müssen!

Nicht ein einziges positives Ergebnis hatte der heutige Tag gebracht. Im Gegenteil, ein Kunde war abgesprungen, weil Bert Schrader es nicht geschafft hatte, den gewünschten Fotografen für die Werbekampagne zu engagieren.

Damit war ein Dreißigtausend-Euro-Auftrag weg!

Und auch eine Grafikerin hatte gekündigt – dumme Zicke! Er soll sie sexuell belästigt haben! So ein Unsinn. Die sollte froh sein, dass ihr überhaupt jemand an die Wäsche ging! Er hatte mal nach ihren Titten gegriffen, gut und schön, aber das war doch nichts Besonderes! So, wie dieses blonde Nichts auch nichts Besonderes war. Weder als Frau noch als Grafikerin.

Fakt war jedoch, dass sie ihm jetzt fehlte und er sich mit einer Grafikagentur in Verbindung setzen musste, wenn er nicht die beiden laufenden Aufträge verlieren wollte.

Bert tastete nach seinem Jackett – es mussten doch noch ein paar Pillen da sein!

Nichts mehr. Verdammte Scheiße!

Sein Dealer gab ihm nichts mehr, weil er total abgebrannt war. Nicht mal einen Fünfziger konnte er mehr lockermachen. Der Benzintank war bald leer, und die Stallmiete war ebenso fällig wie die Miete für sein Penthaus.

Er beschloss, den letzten Kundentermin einfach sausenzulassen. Der alte Weyer war ein Choleriker, den konnte er heute auf keinen Fall auch noch ertragen! Aber es wäre wohl besser, sich gar nicht erst in dessen Firma zu melden und irgendeine Ausrede zu gebrauchen. Ignorieren hieß die Devise!

Statt zu arbeiten, würde er erst mal versuchen, einen der Dealer zu erreichen, die immer an bestimmten Plätzen in der City herumlungerten. Es musste doch möglich sein, wenigstens ein bisschen Stoff auf Kredit zu ergattern. Schließlich hatte er auch was zu bieten!

Der Arzt fiel ihm ein. Dieser Dr. Bergstaller kam fast jeden Abend in den Stall. Ob er immer noch seine Arzttasche im Wagen liegen hatte? »Bestimmt«, murmelte Bert vor sich hin. »Die sind doch immer irgendwie im Dienst. Und wenn was aufgebraucht ist, wird aufgefüllt …«

Von einer Sekunde zur anderen änderte er seinen Plan. Statt in die Stadt fuhr er zum Stall hinaus. Reitklamotten hatte er immer im Kofferraum.

Er war nicht allzu enttäuscht, dass das Auto des Arztes noch nicht zu sehen war. Der hatte sicher noch in seiner Praxis zu tun. Also würde er selbst erst mal ein bisschen ausreiten, dann versuchen, ein paar der Mädels aufzumischen …

Bert bekam nicht mit, dass der Stallbesitzer zum Telefon griff und eine Nummer der Polizei wählte. »Schrader ist wieder da«, sagte er. »Gestern war er nicht hier, aber jetzt reitet er aus.«

»Danke für die Information.« Jörg Ellersen, Kriminalbeamter und ein guter Bekannter von Dr. Oliver Bergstaller, machte sich auf den Weg.

Er erschien fast gleichzeitig mit Oliver.

»Hast du alles präpariert?«, wollte er wissen.

Der Arzt nickte. »Auf dem Nebensitz liegen zwei Packungen mit Aufputschmitteln – allerdings ist nur Pfefferminz drin. Und meine Tasche steht auf dem Rücksitz. Nie wäre ich in Wirklichkeit so leichtsinnig. Wollen wir hoffen, dass der Kerl keinen Verdacht schöpft, weil ich es ihm so leicht mache.«

»Warten wir’s ab.«

Die Geduld der beiden Männer wurde noch auf eine harte Probe gestellt. Erst einmal ritt Bert Schrader aus, dann amüsierte er sich mit einigen Leuten im Reiterstübchen. Er gab zwei Runden aus, flirtete mit drei jungen Mädels und erzählte ein paar Anekdoten.

Oliver Bergstaller ritt nur in der Halle, er ahnte, dass Bert Schrader ihn beobachtete. Ob er lieber doch ausreiten sollte? Nein, hierzubleiben war sicher gescheiter.

Es dauerte aber noch ziemlich lange, bis Bert Schrader sich unbemerkt davonschlich. Im Reiterstübchen ging es inzwischen hoch her. Es war nach zwanzig Uhr, da kamen viele Berufstätige, um ihre Tiere zu bewegen. Einige stärkten sich vorher ein wenig, andere genossen nach der Reitstunde einen erfrischenden Drink.

Niemand schien zu merken, dass der Mann mit dem rotblonden Haar den Raum verließ. Bert ging erst noch einmal zu seinem Schimmel – so hatte er Gelegenheit, sich unauffällig umzusehen, ohne Verdacht zu erregen. Das Pferd nahm gern die beiden Äpfel, die er ihm gab. »Bist mein Braver«, lobte Bert laut, während er sowohl die Stallgasse als auch den Hof sondierte. Nein, die Luft schien rein zu sein!

Vorsichtig verließ er den Stall, überquerte den erleuchteten Hof und ging hinüber zum Parkplatz. Auch hier brannte eine einzelne Laterne, doch sie reichte nicht aus, um das ganze Gelände in Licht zu tauchen.

Bert ging erst zu seinem Wagen, startete ihn, fuhr ihn bis dicht an den Kombi des Arztes heran. Noch einmal sah er in alle Richtungen, dann ging er zu Oliver Bergstallers Wagen. Ein paar geschickte Handgriffe – die Beifahrertür öffnete sich, ohne dass die Alarmanlage losgegangen wäre. Bert grinste. So einfach war es immer noch. Man musste nur wissen, wie man vorzugehen hatte …

Die beiden Tablettenpackungen verschwanden in seiner Jackentasche, dann beugte er sich zur Rückbank. Gerade hatte er die Tasche ergriffen, als Scheinwerfer aufflammten und das ganze Gelände in helles Licht tauchten. »Hände hoch. Bleiben Sie ruhig stehen! Keine Bewegung!«

Verdammt! Er war in eine Falle getappt!

Sekundenlang überlegte Bert Schrader, ob es Sinn hatte zu fliehen, verwarf den Gedanken jedoch rasch wieder. Sicher waren mehrere Bullen hier …

Was nun passierte, war für die Polizisten Routine, auch Bert hatte es schon einmal miterlebt. Für Dr. Bergstaller hingegen war diese Verhaftung etwas Ungewohntes. Er hielt sich im Hintergrund, sah aber höchst zufrieden, wie der Dieb abgeführt wurde.

Der Verhaftete wurde zur Wache gebracht, verhört, dem Untersuchungsrichter vorgeführt.

Bert Schrader war voll geständig, er sah ein, dass es sinnlos war, etwas zu leugnen.

»Diese verdammten Drogen«, murmelte der Vernehmungsbeamte. »Sie machen aus einem so vernünftigen Mann, wie Sie es doch eigentlich sind, einen Verbrecher.«

Bert zuckte nur mit den Schultern. Er fror, ihm war kalt, er brauchte unbedingt etwas, das ihn aufputschte. »Ich möchte mit meinem Anwalt sprechen«, sagte er nur. »Und dann muss sich unbedingt jemand um mein Pferd kümmern …«

Es sprach für ihn, dass er an das Tier dachte. Ein kleiner Pluspunkt – aber es änderte nichts an der Tatsache, dass er kriminell geworden war.

Im Stall hatte niemand etwas mitbekommen. Oliver fuhr sehr zufrieden zu Marion. »Der Typ ist gefasst. Es war wirklich dieser Schrader.« Er zog Marion an sich.

»Du hast einiges riskiert.« Sie sah ihn besorgt an. »Ist auch nichts passiert?«

»Gar nichts. Ich hab alles der Polizei überlassen.«

»Kluger Mann«, lächelte sie.

»Das bin ich.« Er küsste sie liebevoll. »Deshalb hab ich ja auch recht lange gewartet, bis ich mir die richtige Frau ausgesucht habe.«

Sie lachte. »Und dafür soll ich jetzt dankbar sein, ja?«

»Klar doch. Ein ganzes langes Leben lang.«

 

Janines Verschwinden versetzte Markus Berger in Panik. Überall ließ er suchen, im Hotel, in der gesamten Anlage. Von Janine keine Spur!

»Ihr ist bestimmt etwas zugestoßen.« Seine Stimme klang heiser.

»Wo und wie denn?« Ian, der sich an der Suche beteiligt hatte, schüttelte den Kopf. »Wir haben doch alles abgesucht. Es gibt keinen Hinweis auf einen Unfall.«

»Ich rufe die Polizei.« Markus wirkte unendlich müde. Gerade als er in sein Büro gehen wollte, kam eine der Aushilfen zögernd auf ihn zu.

»Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber – ich hab das eben gefunden.« Sie hielt einen leichten Pashmina hoch. »Er lag auf dem Weg zum Parkplatz. Erst dachte ich, einer der weiblichen Gäste hätte ihn verloren, aber vielleicht ist es … vielleicht gehört er ja …« Sie biss sich auf die Lippen.

Mit zwei langen Sätzen war Markus bei ihr. »Das ist Janines Schal! Ich hab ihn ihr gekauft.« Er roch kurz an dem zarten Stoff. »Es ist ihr Parfüm!«

»Aber was wollte sie beim Parkplatz?«, fragte Ian. Und auch die beiden Restaurantleiter, die gerade hinzugekommen waren, sahen skeptisch drein.

»Es ist ihr was passiert. Irgendetwas Schlimmes. Das spür ich irgendwie. Ich rufe die Polizei.«

Natürlich nahm man seinen Anruf zur Kenntnis, doch es war hier auf Mallorca wie überall: Janine war ein erwachsener Mensch, wenn jemand für einige Stunden verschwand, bestand kein Grund, ihn polizeilich zu suchen. Da war es auch nicht relevant, dass Markus versicherte, keinen Streit mit seiner Freundin gehabt zu haben.

»Sie hatte nicht den geringsten Grund, das Hotelgelände zu verlassen. Im Gegenteil, wir waren unendlich glücklich, wieder zusammen zu sein.«

»Sie kennen doch die Frauen! Launisch und kapriziös.« Der Beamte lächelte ein wenig maliziös. »Warten Sie ab, morgen ist sie wieder da.«

Aber Janine kam nicht zurück. Und als mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen waren, wurde endlich eine Vermisstenanzeige aufgenommen.

»Sie wird gefunden. Bestimmt.« Ian, der in den letzten Stunden stets in Markus’ Nähe gewesen war, legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie waren fast so etwas wie Freunde geworden in der gemeinsamen Sorge um Janine. »Du solltest dich ein bisschen ausruhen.«

Aber Markus schüttelte nur den Kopf. »Nein, ich fände keine Ruhe.« Er übergab die Leitung einem der Restaurantchefs, einem langjährigen Mitarbeiter, auf den er sich hundertprozentig verlassen konnte. Er selbst wollte den Kopf ganz frei haben und sich auf die Suche nach Janine konzentrieren.

Wo mochte sie nur sein? Wie mochte es ihr gehen?

Vor allem aber – was war überhaupt geschehen?

 

»Und was jetzt?« Fragend sah Claus van Ehrens seine Cousine an. »Sie ist jetzt schon einen ganzen Tag auf dem Boot. Sie wird unruhig. Ich kann sie doch nicht immerzu unter Drogen halten oder mit Chloroform betäuben!«

»Schaff sie weg.« Ellen zog erregt an einer Zigarette.

»Was redest du da für einen Scheiß? Wegschaffen? Wie denn? Soll ich sie vielleicht ins Meer werfen?«

»Von mir aus.« Ellen zuckte gelangweilt mit den Schultern.

»Du bist ja total durchgeknallt!« Aus schmalen Augen sah Claus zu Ellen hin. Sie saßen in einem Bistro auf der Strandpromenade von Palma. Touristen schlenderten an ihnen vorbei, Autos hupten auf der nahen Ausfallstraße, das Tuten einer Schiffssirene übertönte den übrigen Lärm.

»Nun sag schon: Was passiert? Willst du von irgendwem Lösegeld?« Für Claus war das naheliegend, doch Ellen, die keine Geldsorgen kannte, tippte sich nur an die Stirn. »So ein Quatsch. Ich will sie weghaben. Das ist alles. Sie soll mir bei Markus einfach nicht mehr in die Quere kommen. Also schaff sie irgendwie weg.«

Claus schwieg eine Weile. Die Gedanken überschlugen sich. Ellen war verrückt. Sie schien immer noch nicht richtig begriffen zu haben, was sie getan hatten: einen Menschen gekidnappt! Das war ein Kapitalverbrechen. Dafür ging man jahrelang in den Knast. Nein, er würde eingebuchtet werden. Ellen, das Biest, würde sich bestimmt irgendwie reinwaschen können.

Und jetzt?

Sie stand auf und drückte ihre Zigarette in den Ascher. »Wir sehen uns heute Abend. Ich muss los.«

»Wohin gehst du«

Ellen sah ihn geringschätzig an. »Das, mein Lieber, geht dich gar nichts an.«

»Aber wir müssen reden!« Eindringlich sah er sie an. »Diese Deutsche … sie kann doch nicht ewig auf dem Schiff bleiben! Ellen … was passiert jetzt?«

»Hab ich doch schon gesagt: Schaff sie einfach weg. Mir ist egal, was du tust.« Sie warf einen Geldschein auf den Tisch, stand auf – und schon war sie im Gewühl verschwunden.

Claus spürte, wie ihm schlecht wurde. Das passierte in der letzten Zeit immer häufiger, wenn er unter Stress stand. Und jetzt hatte er einen Heidenstress! Er winkte der Bedienung. »Einen doppelten Cognac«, bestellte er. Vielleicht half der Alkohol, klarer zu denken. Und eventuell eine Lösung zu finden.

Ellen quälten keine Gewissensbisse. Zuerst hatte sie nur vorgehabt, Janine einen Streich zu spielen. Und Markus einfach etwas Angst einzujagen. Doch jetzt, da Janine wirklich in ihrer Gewalt war, fand sie die Vorstellung, die Rivalin auf immer und ewig ausschalten zu können, höchst reizvoll.

Spontan entschloss sie sich, zum Hotel zu fahren. Sie wollte sehen, wie Markus litt. Wenigstens diese Genugtuung musste sie haben!

Drüben auf dem Parkplatz stand ihr Wagen, nur noch etwa hundert Meter von ihr entfernt.

»Ellen! Ellen, bist du es wirklich?« Diese Stimme … sie kam ihr verflixt bekannt vor. Dunkel, mit leicht französischem Akzent. Der Mann, dem diese Stimme gehörte, kletterte gerade von einer schnittigen, dunkelblau-weiß gestrichenen Yacht. Dunkelblau war sein Polohemd, weiß seine lange Leinenhose. Jetzt schob er sich die Sonnenbrille auf die etwas zu langen blonden Haare.

»Pierre …« Ellen flüsterte den Namen nur. Aber sie blieb genau da stehen, wo sie war, und starrte dem Mann entgegen, der mit langen Sätzen auf sie zukam. »Pierre …«

»Ellen, mein Gott, dass ich dich hier treffe … Engelchen, lass dich ansehen! Wirst immer schöner!« Schon lag sie in seinen Armen, überschwänglich küsste er sie – und schien nicht zu bemerken, dass sie sich versteifte.

Nein, nicht wieder schwach werden! Sich nicht noch einmal von ihm einlullen lassen! Es war einmal passiert. Vor einer kleinen Ewigkeit. Aber sie wusste noch jedes Detail. Sie schmeckte seine Küsse, roch seine Haut, spürte seine Leidenschaft …

Nein, nie wieder wollte sie sich an ihn verlieren. Es hatte zu weh getan. Und tat immer noch weh. So weh, dass sie es seit Jahren zu vergessen suchte. Immer und immer wieder. Bei unzähligen Männern, in unzähligen Affären.

Es war ihr nie gelungen, Pierre zu vergessen.

Erst seit sie Markus kannte, war das anders. Markus war ebenso faszinierend wie Pierre. Nur viel charakterstärker. Viel seriöser. Ein Fels in der Brandung. Ein Ankerplatz.

Aber … wollte sie das wirklich?

Jetzt, wo Pierre leibhaftig vor ihr stand, war Ellen vollkommen verwirrt.

Aber der Mann ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken. Schnell nahm er ihren Arm, zog sie mit sich in Richtung Schiff. »Komm, dieses Wiedersehen müssen wir feiern.«

»Ich will nicht!« Mit einem Ruck machte Ellen sich frei. »Lass mich, Pierre. Es bringt doch nichts, einfach so zu tun, als wäre nichts passiert.«

Er biss sich auf die Lippen. »Es tut mir leid. Ich hab’s dir schon so oft gesagt …«

»Aber ich glaube dir nicht! Du hast mich immer belogen, Pierre. Damals in Amsterdam, auf den Seychellen, in Paris …« Tränen standen plötzlich in ihren Augen.

Pierre Brendon war wirklich der einzige Mensch, den Ellen je geliebt hatte. Außer sich selbst natürlich. Er hatte sie betört. Sie gereizt, gelockt, verführt – und fast süchtig gemacht nach seiner Leidenschaft.

Und dann, in Paris, hatte er sie betrogen. Hatte einer rassigen Italienerin den Vorzug gegeben.

Drei Jahre war das jetzt her. Nie hatte Ellen sich von diesem Schlag erholt. Sie war damals so naiv gewesen! So gutgläubig! Jung eben.

Und Pierre – er hatte mit ihr gespielt. So wie er jetzt wieder ein Spiel zu spielen versuchte. Aber sie war erwachsen geworden. Sie hatte viel gelernt. Und konnte sich wehren! Das hatte sie dieser verdammten Janine gerade bewiesen.

»Es ist vorbei, Pierre«, sagte sie. »Du interessierst mich nicht mehr!«

Leise lachte er auf. »Bist du dir da ganz sicher?« Er streckte beide Hände nach ihr aus. Sein Blick hatte beinahe etwas Hypnotisches. »Ich will dich küssen, Ellen«, flüsterte er. »Ich will dich lieben. Komm mit auf mein Boot. Die Kajüte ist wundervoll eingerichtet. Wir können aber auch aufs Meer hinausfahren. Nur du und ich …« Er kam näher, sie konnte die körperliche Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, fast greifen.

Und sie konnte sich nicht dagegen wehren. Es war, als würde Pierre ihr seinen Willen aufzwingen.

Sie machte den letzten Schritt auf ihn zu.

Fest legte er die Arme um sie, seine Lippen senkten sich fordernd auf die ihren, seine Zunge versuchte fast brutal, ihren Mund zu öffnen.

Sie wehrte sich nicht. Ermutigte ihn aber auch nicht. Öffnete dann doch die Lippen, und als er ihre Arme um seine Taille legte, hielt sie ihn gehorsam fest.

»Du musst mich doch genauso wollen wie ich dich«, murmelte Pierre, und im nächsten Moment hob er Ellen hoch und trug sie, als wäre sie leicht wie eine Feder, zu seinem Boot. Die neugierigen, teils amüsierten und teils fassungslosen Blicke der Touristen ignorierte er einfach.

Ellen lag mit geschlossenen Augen an seiner Brust. Sie konnte nichts mehr denken. Nur noch dieses Eine: Pierre war wieder da. Und er wollte sie!

Vergessen war alles andere. Die Demütigung, die Eifersucht, die Angst, die Einsamkeit. Vergessen aber auch Markus Berger. Hatte sie ihn reizvoll gefunden und gewollt? Unsinn. Das war in einem anderen Leben. Und es war uninteressant. Wichtig war nur noch einer – Pierre.

Sie befand sich wie in einem Rausch. Sie ließ sich auf die Yacht des Franzosen bringen, nahm in einem der Deckstühle Platz, während er das Schiff aus dem Hafen bugsierte. Erst als sie weiter draußen Fahrt aufgenommen hatten, als sie sicher sein konnte, dass sie ungestört waren, trat sie hinter ihn, schlang die Arme um ihn und presste sich fest an ihn.

Lachend drehte er sich um. »Das fühlt sich gut an.«

»Ich weiß.« Sie sah ihm in die Augen.

»Gleich.« Seine Stimme war heiser. »Noch ein paar Meilen, dann sind wir ganz allein …«

»Ja. Gut.« Eine Weile war es still. Er steuerte das Boot, Ellen lehnte immer noch an seiner Seite. »Was wolltest du auf Mallorca? Wusstest du, dass ich da bin?«

Kopfschütteln. »Nein, das war reiner Zufall. Ich bin mit Freunden verabredet. Aber das ist jetzt egal.« Flüchtig streifte er mit den Lippen ihr Haar.

»Ich … ich müsste eigentlich auch noch was regeln«, murmelte Ellen vor sich hin und tastete nach der kleinen Handytasche, die an ihrer Hose baumelte. Sie versuchte Claus anzurufen – er hatte sein Handy wohl ausgestellt. Feige Ratte!

Noch einmal dachte Ellen flüchtig an Janine und ihren Cousin, dann hatte sie anderes zu tun. Pierre hatte den Motor abgestellt und den Anker ausgeworfen. Weit und breit war niemand zu sehen, nur im Süden zogen einige Containerschiffe vorbei – viel zu weit entfernt, um etwas Genaues zu erkennen.

»Komm …« Pierre umfasste ihr Gesicht, sein Blick war ein einziges Streicheln, aber sie las auch maßloses Begehren in seinen Augen. Und dann küsste er sie so hart, dass sie aufstöhnte. Der Franzose ließ seiner Leidenschaft ungehemmt Lauf, er riss Ellens Top mit einem Ruck entzwei, seine Hände umfassten ihre Brüste, kneteten sie sanft, so dass sie laut und lustvoll aufstöhnte.

»Ich will dich!« Sie glaubte es zu schreien, aber es war nur ein Seufzen, unterdrückt von seinem Kuss. Pierre war wie rasend vor Begehren. Ellen war schon immer etwas Besonderes gewesen, wie ein ungeschliffener Diamant war sie ihm damals erschienen. Er hatte ihr viel beigebracht über reine Lust. Aber jetzt musste er erkennen, dass er nicht nur eine gelehrige Schülerin gehabt hatte – nein, sie hatte viel, sehr viel dazugelernt!

Er nahm sich nicht die Zeit für ein langes Vorspiel. Er musste sie jetzt lieben, sonst verlor er noch den Verstand. Sanft ließ er sie auf das warme Holz gleiten.

Auch Ellen wollte keinen Moment mehr warten. Sie wusste, dass sie sich in die heftigste Affäre ihres Lebens stürzte. Wusste auch, dass es sicher wieder mit Kummer und Tränen enden würde, denn Pierre konnte nie einer Frau allein gehören. Aber jetzt … jetzt hatte sie ihn für sich! Und auch auf die Gefahr hin, dass sie erneut Schiffbruch erlitt, dass sie wahnsinnig werden würde vor Schmerz, wenn er sie fallen ließ – sie musste ihn haben. Jetzt und hier. Alles andere spielte keine Rolle.

 

Claus hielt sich den schmerzenden Kopf. Was sollte er nur tun? Panik erfasste ihn, wenn er daran dachte, dass er wegen Menschenraubs angeklagt und verurteilt werden würde. Das hatte er doch alles nicht gewollt! Es hatte doch nur ein Spaß sein sollen, ein Streich, den Ellen ihrer Rivalin spielte.

Aber aus dem makabren Spiel war Ernst geworden. Die ganze Sache war ihm einfach entglitten. Und Ellen hatte sich aus dem Staub gemacht! Er hatte beobachtet, wie sie sich von irgend so einem blonden Typen hatte abschleppen lassen. Auf eine kleine, aber hochseetüchtige Yacht.

So ein Miststück, ein verfluchtes. Ließ ihn mit der Geisel zurück – und mit allen daraus folgenden Problemen!

Claus wurde es heiß. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, liefen ihm vereinzelt in die Augen und verursachten ein unangenehmes Brennen.

Verzweifelt zermarterte er sich den Kopf. Was sollte er nur tun? Einfach auf die Yacht gehen und Janine freilassen? Aber sie würde ihn sehen, später vielleicht wiedererkennen … Sollte er zur Polizei gehen? Nein, unmöglich. Oder anonym im Hotel anrufen? Dieser Markus Berger würde bestimmt alles tun, um seine Freundin zurückzubekommen. Vielleicht waren ihm die entsprechenden Infos sogar einen gewissen Geldbetrag wert …

Ein Grinsen ging über das Gesicht von Claus van Ehrens. Das war’s! Das war die Idee des Jahrhunderts: Er konnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – die Geisel freilassen und gleichzeitig abkassieren.

Schon zog er das Handy aus der Tasche, wollte es wieder einschalten – verwarf diesen Gedanken aber gleich wieder. Viel zu gefährlich! Man konnte heutzutage ganz leicht herausfinden, woher angerufen worden war, Handys ließen sich gut orten.

Zum Glück standen an der Uferpromenade immer noch ein paar altmodische Telefonzellen. Die Nummer des Hotels »Villa Cloud Seven« fand er rasch. Eine Hotelangestellte war am Apparat.

»Ich will Ihren Chef sprechen. Schnell. Es geht um seine Freundin.«

Drei Sekunden später war Markus in der Leitung. »Sie wissen, wo Janine ist? Bitte, ich …«

»Ja, das weiß ich. Ich … ich hab nichts mit dem Verschwinden zu tun. Aber – ich will eine Belohnung.«

»Kriegen Sie. Aber jetzt sagen Sie schon, wo Janine ist.«

»Mein Geld …«

»Das können Sie sich hier im Hotel abholen.«

»Ich will aber keine Zeugen.«

Markus merkte, dass er die Fassung zu verlieren drohte. Tief atmete er ein und aus. »Sie kriegen das Geld von mir persönlich, wenn Sie wollen. Gleich?«

Zögern am anderen Ende. »Nein … legen Sie Fünfzigtausend in Ihren Wagen. Der bleibt unverschlossen. Ich hole mir das Geld dann später.«

»Aber …«

»Wollen Sie jetzt wissen, wo Ihre Freundin ist?«

»Natürlich. Bitte … geht es Janine gut?«

»Ich denke schon.« Claus zuckte, unsichtbar für Markus Berger, mit den Schultern. Er war nicht mehr auf dem Boot gewesen, er konnte nur vermuten, dass es der Gefangenen ganz gut ging. Jedenfalls hatte ihr niemand was getan.

»Sagen Sie mir endlich, wo ich Janine finde!«, drängte Markus. Er hatte inzwischen einen Kriminalbeamten hinzugewunken, der mithörte.

»Im Yachthafen von Portals Nous. Das Boot heißt ›Dark Lady‹.« Ein Knacken – die Verbindung war unterbrochen.

»Der Typ spinnt doch. Das ist ein Irrer«, stieß der junge Polizist hervor. »Der sagt doch nicht das Versteck, bevor er sein Lösegeld hat.«

Ja, auch Markus wurde klar, dass irgendetwas nicht ganz rund lief. »Dennoch – ich fahre gleich los.«

»Aber nicht mit Ihrem Wagen. Legen Sie vorsichtshalber Geld rein. Wir observieren den Parkplatz.«

Auch Claus van Ehrens war inzwischen bewusst geworden, dass er einen riesigen Fehler gemacht hatte. Verdammt, er hatte mal wieder nicht richtig nachgedacht! Doch da waren diese Kopfschmerzen, die sich einfach nicht unterdrücken ließen. Wenn er wenigstens ein paar Muntermacher gehabt hätte … aber kein Gedanke daran. Total abgebrannt, wie er war, würde er von nirgendwoher Stoff kriegen.