Das Gesetz der Einheit
Erinnere dich an deine Verbindung mit dem Universum
Wir kommen als
Einzelwesen
mit unterschiedlichen Schicksalen auf diese
Welt;
doch wie jeder Regentropfen
ein Teil des Meeres ist,
so sind auch wir winzige Tröpfchen
im Ozean des Bewußtseins,
ein Teil vom Körper Gottes.
In dieser höchsten Wahrheit,
daß wir alle eine große Familie
sind,
kannst du Liebe und inneren Frieden
finden.
Laß die Bürde
deiner Angst, deines Grolls und Neides hinter
dir
und laß dich von den Flügeln dieser
Erkenntnis
ins grenzenlose Land des Mitgefühls
emportragen.
Oh, nicht getrennt
sein,
nicht durch die leiseste Wand
vom Gesetz der Sterne geschieden.
Das Innere- was aber ist es?
wenn nicht gesteigerter Himmel,
durchwirbelt von Vögeln und tief
von den Winden der Heimkehr.
Rainer Maria Rilke
Der Wind trieb Wolken von der Küste herüber. Ein kurzer Regenschauer ergoß sich über das Land, und im Nordosten schimmerte ein Regenbogen. An einem besonders schönen Aussichtspunkt blieben wir stehen, und die weise Frau sprach von dem letzten Gesetz, das sie mir erklären wollte, ehe wir uns wieder trennen mußten.
«Das Gesetz der Einheit», begann sie, «ist eine ganz besondere Herausforderung für uns beide, denn da es etwas Transzendentes ist, kann man es nur von einer höheren Bewußtseinsstufe aus verstehen. Deshalb wirst du das, was ich dir jetzt sage, vielleicht zunächst nur mit dem Verstand begreifen. Doch meine Worte werden wie Samenkörner in deinem Herzen keimen, und dann kann sich dein Leben für immer verändern. Das Gesetz der Einheit weckt in uns die große Erkenntnis, daß wir gar nicht so sehr voneinander getrennt sind, wie es auf den ersten Blick scheint; im Gegenteil: im Grunde sind wir Ein Wesen und Ein Bewußtsein.»
«Ich will ja nicht respektlos sein», warf ich ein, «aber was besagt das schon? Ich meine, was hat dieses Gesetz mit unserem täglichen Leben zu tun?»
«Das wird dir schon noch klar werden», antwortete sie. «Das Gesetz der Einheit ist für unser kleines Ich nicht leicht erfaßbar, weil es unserer alltäglichen Wahrnehmung widerspricht. Also wollen wir zunächst einmal einräumen, daß wir auf der Ebene der Alltagsrealität tatsächlich alle einen individuellen Körper, einen individuellen Geist und individuelle Emotionen besitzen. Wenn mir ein Gedanke kommt, muß er nicht unbedingt gleichzeitig auch in deinem Kopf aufsteigen; ich kann im Augenblick etwas ganz anderes empfinden als du; und wenn ich mir das Schienbein anschlage, spürst du nichts von diesem Schmerz.
Das Gesetz der Einheit ist ein Widerspruch in sich. Es ist gleichzeitig wahr und falsch, je nachdem, von welcher Bewußtseinsebene du es betrachtest. Ob wir Ein Einziges Wesen oder viele verschiedene Individuen sind, hängt mehr von unserer Perspektive ab als von der objektiven Realität. Nach unserem herkömmlichen Wissen sind wir eindeutig voneinander getrennte Individuen; doch unsere höhere Weisheit flüstert uns zu, daß wir Eins sind. Von einem höheren Blickwinkel aus sind wir alle ein und dasselbe Bewußtsein, das sich nur in verschiedenen Körpern manifestiert, so wie ein Baum unzählige Blätter hat. Doch wir Menschen haben diese höhere Wahrheit vergessen und konzentrieren uns nur auf die Unterschiede zwischen uns, auf unser Getrenntsein. Aber du wirst diese Wahrheit nicht vergessen, nicht wahr, lieber Wanderer?»
«Nein, ich werde sie nicht vergessen», versprach ich, fügte aber hinzu: «Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich sie voll und ganz verstanden habe.»
«Wenigstens haben wir den ersten Schritt getan; mal sehen, wohin uns der nächste führt», sagte sie und hob eine Eichel vom Waldboden auf. «Wenn wir uns diese Eichel anschauen, bezeichnen wir sie als <einen> Gegenstand, obwohl sie doch in Wirklichkeit aus Millionen verschiedener Zellen, Moleküle und Atome besteht. Auch ein winziges Atom nennen wir <eins>, und es besteht ebenfalls wiederum aus vielen verschiedenen Partikeln und Kräften. Wir sprechen sogar von <einer> Erde und meinen damit doch letztlich Erde, Luft, Feuer und Wasser, Tausende von Arten, Billionen von Lebewesen und unzählige Trillionen von Atomen. Was ist eine Eichel, ein Atom oder die Erde denn nun wirklich — eines oder vieles? Und wie steht es mit der Menschheit?»
Auf diese Frage wußte ich keine Antwort. «Ich glaube, das alles ist ein Widerspruch in sich», meinte ich schließlich nach längerem Nachdenken.
«Ja», stimmte die weise Frau zu. «Und weil das so ist, kannst du dir selbst aussuchen, ob du die Realität eher aus einem engeren oder aus einem weiteren Blickwinkel betrachten willst.
Man kann die Sache auch von einer anderen Seite her angehen», fuhr sie fort. «Du bist doch sicherlich auch der Meinung, Wanderer, daß sich in der Sprache grundlegende Wahrnehmungen widerspiegeln und daß unsere Wortwahl und unsere Redeweise eng damit zusammenhängen, wie wir unsere Realität sehen?»
«Ja, das stimmt wohl.»
«Wenn du also sagst: ‹Ich gehe jetzt in mein Haus›, so ergibt dieser Satz durchaus einen Sinn, nicht wahr?»
«Ja, natürlich.»
«Und dieses ‹Du›, das von ‹meinem Haus› spricht, existiert natürlich getrennt von diesem Haus. Richtig?»
«Bis jetzt stimme ich dir zu.»
«Aber was meinst du dann beispielsweise, wenn du sagst: ‹Mein ganzer Körper tut weh›? Existiert dieses ‹Du›, das von ‹meinem› Körper spricht, denn auch getrennt von dem Körper?»
«Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wahrscheinlich ist das nur eine Konvention unserer Sprache», antwortete ich.
«Ja, das ist richtig», fuhr sie fort. «Aber du bist ja darin mit mir einer Meinung, daß sich in unserer Sprache unsere Realitätssicht widerspiegelt. Und der Satz, den ich gerade zitiert habe, drückt eindeutig aus, daß ‹du› nicht dein Körper bist, sondern vielmehr einen Körper besitzt.»
«Ja, wahrscheinlich hast du recht.»
«Könnte es denn nicht sein, daß sich in dieser sprachlichen Ausdrucksweise eine tiefere Wahrheit widerspiegelt? Laß uns noch einen Schritt weitergehen. Wenn du nicht dein Körper bist, wer bist du dann?»
«Na ja, ich würde mich wohl als eine Seele oder ein höheres Selbst bezeichnen, das einen Körper hat oder in einem Körper lebt, oder so etwas Ähnliches.»
«Na gut. Aber was bedeutet es dann, wenn du von ‹deiner Seele) oder ‹deinem höheren Selbst› sprichst? In welchem Bezug steht das dann zu deinem ‹Ich›?»
«Ich — ich weiß nicht.»
«Ist vielleicht dieses ‹Du›, das durch deinen Körper spricht und von ‹meinem› Haus, ‹meinem› Körper, ‹meiner› Seele und ‹meinem› höheren Selbst redet, im Grunde genommen nichts anderes als das reine Bewußtsein?»
«Ich — ich weiß nicht. Es ist ein Widerspruch — ein ...», stotterte ich.
«Ja, allerdings. Überlege dir das einmal, lieber Wanderer! Dieses Bewußtsein, das durch Billionen von Augen in die Welt hinausschaut, ist in Wirklichkeit das Eine Bewußtsein voll unendlicher Liebe und Weisheit, das wir Gott nennen. Gott sieht voller Gnade und Mitgefühl zu, wie sich das Leben vor seinen Augen entfaltet, und ist gleichzeitig dieses Leben selbst. Könnte es denn nicht sein, daß auch du in deinen alltäglichen Geschäften und mit deinen ganz persönlichen Wünschen, Sorgen und Träumen dieses Bewußtsein bist, das sich gleichzeitig auch in allen anderen Körpern und Köpfen und Bäumen und Vögeln und Eicheln manifestiert?»
Ich war ganz durcheinander. «Können wir nicht mal einen Augenblick Pause machen? Mir schwirrt schon der Kopf.»
Sie lachte. «Genau das ist das Problem! Mit dem Kopf kannst du das alles nicht begreifen, du kannst es nur fühlen. Und in jenen seltenen Augenblicken erweiterten Bewußtseins, in denen du es fühlst, wird dein Geist endlich zur Ruhe kommen. Dann tauchst du in einen Zustand vollkommenen Glücks ein und erlebst reinen Frieden und reine Freude. Bis dahin sind das alles nur leere Worte.»
Irgendwie hatte ich das Gefühl, etwas Wichtiges zu versäumen. Ich seufzte. Wie gern hätte ich diesen Zustand, den sie mir beschrieb, jetzt erlebt!
Wieder einmal antwortete die weise Frau auf meine innersten Gedanken. Sie hob mein Kinn und blickte mir in die Augen. Ich fühlte mich von ihrem Blick in ihr Gesicht hineingezogen, immer tiefer, bis es sich zu verändern begann. Zuerst war es von einem Lichtschimmer umgeben; dann wandelte es sich in das Gesicht einer sehr alten Frau, dann eines wilden Kriegers, und so stets aufs neue in immer wieder neue Menschen, bis ich schließlich — mich selbst vor mir sah! Damit meine ich nicht etwa nur mein Spiegelbild; nein, die Frau und ich waren vielmehr zu einer Einheit verschmolzen, so daß keine zwei Lebewesen mehr existierten.
Mit einem Schlag kehrte ich wieder in mein Alltagsbewußtsein zurück. Wir saßen mit gekreuzten Beinen im weichen Gras. Ich war immer noch ganz benommen und völlig sprachlos. «Das war nur ein kleiner Vorgeschmack, lieber Wanderer», sagte die weise Frau. «Ich erwarte nicht von dir, daß du in deinem Alltagsbewußtsein diese Einheit mit der gesamten Schöpfung erlebst, nicht einmal, daß du daran glaubst oder sie voll und ganz begreifst. Dieses Erlebnis ist eine Gnade Gottes. Aber wenn du diese Einheit auch nur mit einem einzigen Menschen erlebt hast, dann kannst du sie mit der ganzen Welt erfahren. In deinem innersten Herzen kennst du diese höhere Wahrheit; deshalb kannst du dich jederzeit auf das Gesetz der Einheit einstimmen. Du brauchst dich nur zu entscheiden, andere Menschen, Freunde wie auch Feinde, als Teile deines größeren Ichs zu betrachten.
Frage dich also bei deinem nächsten Streit, Liebesakt oder sportlichen Wettkampf», fuhr sie fort, «was wäre, wenn du diesen anderen Menschen, mit dem du zu tun hast, als Teil deiner selbst empfändest, wenn du alle als eine Einheit sähest? Wie würdest du dann handeln? Wie würde sich das auf deine Beziehungen zu anderen Menschen auswirken? Was würde mit deinen Neidgefühlen oder deiner Eifersucht geschehen? Was würde passieren, wenn dein kleines egoistisches Interesse sich zu einem größeren, umfassenderen Interesse erweiterte? Würde aus Konkurrenz nicht Kooperation werden, wenn du einsähst, daß selbst deine Feinde in Wirklichkeit deine Lehrer und Schüler sind — ein Teil von dir selbst?»
«Ich glaube, diese Erkenntnis würde fast alles verändern.»
«Ja, diese Einsicht kann tatsächlich die Welt verändern, Seele um Seele», bestätigte die weise Frau.
«Manche Lehrer und manche Bücher beschäftigen sich mit dieser Idee der Einheit.»
«Aber nur wenige Menschen greifen sie auf», entgegnete sie. «Die Welt wird erst jetzt allmählich bereit für die Erkenntnis, daß die menschliche Entwicklung, ja sogar die menschliche Existenz an sich von dieser umfassenderen Sicht unserer Menschheit als Einheit abhängt. Genau wie unsere verschiedenen Organe zum Wohl unseres ganzen Körpers zusammenwirken, wirkt auch der Umschwung von egoistischem Konkurrenzdenken zu großherziger Kooperation im Interesse des Ganzen Körpers Menschheit.»
In diesem Augenblick wurde mir klar, warum die weise Frau mich bei unserer ersten Begegnung wie einen verloren geglaubten Bruder begrüßt hatte. Sie betrachtete mich und alle anderen Menschen tatsächlich als einen Teil ihrer selbst. «Du verstehst sicher», antwortete sie auf meine Gedanken, «warum das Leben für mich voller Komik ist. Wenn ich mit dir spreche, einen Baum betrachte oder die Rehe beobachte, dann sehe ich in Wirklichkeit nur einen anderen Aspekt meines eigenen Ichs vor mir. Und wenn ich Beeren pflücke, ist es, als ob ...»
«So wie in dieser Geschichte von J. D. Salinger», unterbrach ich sie. «Da trinkt ein Junge ein Glas Milch und hat dabei das Gefühl, <Gott in Gott hineinzugießen›.»
«Ja, lieber Wanderer, genau das meine ich. Und wenn du erst einmal Freunde und Feinde, geliebte Menschen und Fremde durch die Augen des Einen Wesens betrachtest, dann verschwinden deine Probleme und Konflikte, alle Wunden werden geheilt, und alle Widersprüche lösen sich im Lichte dieser grundlegenden Wahrheit auf. Das ist das Ende allen Suchens, denn dann bist du alle Menschen und existierst überall. Es ist auch das Ende aller Ängste, denn dann begreifst du die lebendige Wahrheit dessen, der du bist - jenes reine Bewußtsein, das niemals stirbt. In dieser Einheit liegt die Erfüllung aller spirituellen Gesetze. Du findest darin einen Zustand des Gleichgewichts und Gleichmuts, hundertprozentiges Vertrauen in deine Entscheidungen und den Prozeß deines Lebens, die Geduld, Schritt für Schritt in ewiger Gegenwart zu wandeln, und Mitgefühl für alle anderen Aspekte deines Ichs. In diesem Zustand überwindest du all deine Zweifel, und aus all deinem Tun leuchtet deine Integrität. Nach einer Suche, die sich über viele Existenzen erstreckt hat, bist du nun endlich Eins mit dem Universum.»
Die Stimme der weisen Frau klang sanfter, traumverloren: «Verstehst du das, Wanderer? Fühlst du die Wahrheit meiner Worte? Du bist das kleine Kind, das in einem vom Krieg verwüsteten Dorf bei lebendigem Leibe verbrennt, und gleichzeitig der Pilot, der die Bombe abwirft. Du bist die Mutter und das neugeborene Baby, das Opfer einer brutalen Vergewaltigung und gleichzeitig der Unhold, der das Verbrechen begeht. Alle Taten, die jemals im Namen Gottes oder des Teufels begangen wurden, sind deine Taten. Du bist der vornehmste und der ärmste aller Menschen, du trägst zerfetzte Lumpen und prunkvolle Gewänder. Du hast Anteil an jeder guten und jeder grausamen, jeder feigen und jeder mutigen Tat. In allen Lebewesen steckt ein Teil von dir, im Narren ebenso wie im Weisen und in allen Geschöpfen auf der Erde, im Wasser und in der Luft. Du bist einer und viele, hoch und niedrig, bitter und süß zugleich, du bist die Erde und alles, was unter und über ihr existiert.
Du bist das Licht in den Augen aller Lebewesen, die in Wirklichkeit nur Ein Lebewesen sind. Deshalb kann ich deine Gedanken lesen und dir von meinen früheren Leben erzählen: Weil wir alle Eins sind, haben wir auch alle früheren Leben miteinander gemeinsam. Und in Wirklichkeit finden all diese Leben jetzt, in diesem Augenblick statt. Denn auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind Eins.»
«Und du meinst», fragte ich sie, «wenn ich diese Einheit so wie du zutiefst in meinem Inneren erkenne, werde auch ich mich auf die Gedanken anderer Menschen einstimmen können und Einblicke in frühere Leben gewinnen?»
«Natürlich!» lachte sie. «Du wirst alles wissen, was du wissen mußt, um anderen Menschen hilfreich zu sein. Aber solche Fähigkeiten sind dir dann gar nicht mehr so wichtig, denn dann bist du wirklich jeder Mensch. Wenn du dein Leben nach dem Gesetz der Einheit ausrichtest, wird sich alles verändern, selbst wenn es auf den ersten Blick nicht den Anschein hat. Du wirst ein alltägliches Leben führen, genau wie ich. An dir wird nichts ungewöhnlich wirken, und doch wird die Welt viel sanfter, schöner, intensiver, lustiger und friedlicher für dich sein als vorher.»
Wir traten aus dem schützenden Kreis der Bäume hervor und begannen den Berg hinabzusteigen, zurück zu dem vertrauten Weg nach Hause, denn unsere Zeit miteinander neigte sich allmählich dem Ende zu. Unterwegs schilderte die weise Frau ihre Vision unserer Zukunft: «Wir befinden uns mitten in einem grundlegenden Wandel, lieber Wanderer. Ein globales Bewußtsein ist im Entstehen.
Diese Wandlung läuft nicht ohne Schwierigkeiten ab, aber das Große Erwachen ist schließlich ebenso unvermeidlich wie der letzte Atemzug eines Sterbenden oder der erste Schrei eines Neugeborenen. Schon jetzt, in diesem Augenblick, weicht die Illusion des Getrenntseins der höheren Wahrheit unserer Einheit. Es ist an der Zeit, die Erde mit offenen Armen willkommen zu heißen; denn bald werden wir das ganze Universum in die Arme schließen.»