Das Gesetz des Nachgebens

Wie man sich einem höheren Willen anvertraut

e9783641078720_i0025.jpg

Nachgeben bedeutet,
diesen Augenblick, diesen Körper und dieses Leben
mit offenen Armen willkommen zu heißen.
Nachgeben heißt auch,
sich selbst nicht im Weg zu stehen
und im Einklang mit
einem höheren Willen zu leben,
der sich in der Weisheit unseres Herzens ausdrückt.
Nachgeben ist mehr als nur passive Hinnahme:
Wer sich nachgiebig in sein Schicksal fügt,
der nutzt jede Herausforderung
als Weg zu spirituellem Wachstum
und erweitertem Bewußtsein.

 

Manche Leute glauben,
Durchhalten mache uns stark;
doch manchmal stärkt uns gerade das Loslassen.

Sylvia Robinson

e9783641078720_i0026.jpg

Allmählich wurde es Nachmittag. Ein leichter Windstoß ließ die Zweige über unseren Köpfen sanft hin und her wogen und riß ein Blatt los. Es wirbelte herunter und landete in einem nahegelegenen Bach. Die weise Frau wies auf das rauschende Wasser. «Ist dir schon einmal aufgefallen, lieber Wanderer», fragte sie, «wie weich und zugleich mächtig strömendes Wasser ist? Es gibt nach, ist flexibel und doch voller Kraft. Widerstandslos folgt es der Schwerkraft und paßt seine Form jedem Behälter an. Das Wasser zeigt uns die intelligenteste und wirkungsvollste Möglichkeit, unabhängig von den äußeren Umständen zu reagieren.»

«Welches Reagieren meinst du?»

«Nachgeben», antwortete sie.

«Das verstehe ich nicht», sagte ich. «Man hat mir von klein auf beigebracht, für die Dinge zu kämpfen, an die ich glaube, und niemals aufzugeben.»

«Das Gesetz des Nachgebens fordert dich zwar auf, alles in deinem Leben zu akzeptieren, aber das bedeutet noch lange nicht Passivität. Du sollst Unrecht nicht einfach ignorieren oder dich von anderen Menschen schikanieren und beherrschen lassen. Wahre Ergebung ins Schicksal ist etwas Aktives, Positives, Bejahendes, eine kreative Bereitschaft, jede Situation gut zu finden und das Beste daraus zu machen.»

«Ich kann beim besten Willen nicht so tun, als ob ich eine Grippe, eine Reifenpanne oder andere Probleme gut fände», widersprach ich.

«Bei diesem Gesetz geht es nicht darum, sich etwas vorzumachen oder wahre Gefühle zu verleugnen. Im Gegenteil: Man muß sie verändern. Ergebung in sein Schicksal lernt man, indem man die Dinge aus einem anderen Blickwinkel sieht.» Die weise Frau ging ein paarmal auf und ab, als suche sie nach den richtigen Worten. «Ich will dir das an einem Beispiel erklären: Wenn du ein Sportler wärst, würde dein Trainer dich vielleicht an einem Tag übermäßig loben und dir am nächsten Tag ein sehr anstrengendes Übungsprogramm abverlangen. Das alles könntest du als Teil deiner Ausbildung akzeptieren, ja sogar dankbar dafür sein. Das gleiche gilt auch fürs tägliche Leben. Der Geist ist dein Trainer, lieber Wanderer, und das Leben ist dein Übungsplatz. Deshalb frage ich dich: Warum kannst du eine Reifenpanne oder eine Grippe denn nicht tatsächlich als wichtigen Bestandteil deines inneren Lern- und Wachstumsprozesses sehen?»

«Natürlich kann man die Dinge auch so betrachten. Aber ich habe mir noch nie vorgestellt, wie ich mich einem platten Reifen ergebe», witzelte ich.

«Im Grunde genommen rät dieses Gesetz dir nichts anderes, als dich dem Augenblick zu ergeben», entgegnete die weise Frau lächelnd. «Du solltest alles hinnehmen, was dir begegnet, auch deine eigenen Reaktionen darauf. Also sollst du nicht nur die Höhen und Tiefen des Lebens akzeptieren, sondern auch dich selbst — deinen Körper, deine Gedanken und deine Gefühle.»

«Du meinst, das Leben wird leichter, wenn ich mich selbst anzunehmen lerne und zu allem, was passiert, ja sage?»

«Das Leben wird dich auch weiterhin mit immer neuen Herausforderungen und Prüfungen konfrontieren», sagte sie. «Aber wenn du dich dem Leben ganz locker und entspannt hingibst, wirst du selbst deinen Schwierigkeiten eine angenehme Seite abgewinnen. Sie werden dir eher als interessantes, schwieriges Spiel oder als Puzzle erscheinen.»

«Das ist leichter gesagt als getan!»

«Alles ist leichter gesagt als getan!» rief sie. «Also fang bei den kleinen Dingen an. Wenn du eine unbedeutende Meinungsverschiedenheit mit jemandem hast, akzeptiere den Standpunkt deines Gegenübers und warte ab, was geschieht. Schüttle kleine Enttäuschungen einfach von dir ab. Befolge den Ratschlag Epiktets, jenes griechischen Weisen, der seinen Schülern empfahl: Ihr müßt lernen, euch zu wünschen, daß alles so sein soll, wie es ist.»

«Das ist das schwierigste aller Gesetze, die ich bis jetzt gelernt habe», meinte ich. «Es ist, als müßte ich einen Teil meiner Wünsche, Wertvorstellungen und Vorlieben aufgeben.»

Das Gesicht der weisen Frau leuchtete von innen heraus, als sie antwortete: «Das Gesetz des Nachgebens respektiert die Heiligkeit einer jeden Seele und den göttlichen Funken der Individualität, der in ihr wohnt. Das brauchst du nicht aufzugeben, lieber Wanderer; du mußt nur aufhören, dir selbst im Weg zu stehen. Nicht viele Menschen geben ihren eigenen kleinen Willen zugunsten eines höheren Willens auf», fuhr sie fort, «die meisten möchten das tun, was ihnen selbst gerade am liebsten ist. Das ist verständlich. Aber das Leben gibt uns nicht immer das, was uns am liebsten ist, und unsere unerfüllten Wünsche und Sehnsüchte erzeugen innere Fesseln, Sorgen und Frustrationen. Nach deinem eigenen kleinen Willen zu handeln mag dir vorübergehend Befriedigung schenken, aber es bringt kein dauerhaftes Glück. Du bekommst im Leben nicht immer das, was du willst, also lerne, das zu wollen, was du bekommst. Dann lebst du im Einklang mit dem Gesetz des Nachgebens.»

«Und wie kann ich dieses Gesetz im täglichen Leben praktizieren?» forschte ich.

«Erst einmal frage dich in jeder Situation: <Was dient dem höchsten Wohl aller Beteiligten?) Das kann unter Umständen auch bedeuten, daß du in einer Zeit großer Dürre um Regen betest, obwohl dein eigenes Dach ein Leck hat. Wahre Ergebung ins Schicksal läßt sich in dem aufrichtigen Wunsch zusammenfassen: <Nicht mein Wille geschehe, sondern Deiner.›»

«Das wird ziemlich schwierig für mich werden.»

«Es ist für jeden Menschen schwierig!» lächelte sie. «Aber es gehört nun einmal zum Leben, Mühen und Schwierigkeiten auf sich zu nehmen. Du mußt zunächst deine Energie und Aufmerksamkeit von den Wünschen und Sehnsüchten eines kleineren Willens auf die Weisheit eines höheren Willens lenken.»

«Meinst du damit den Willen Gottes?»

«Um zu beten: ‹Dein Wille geschehen›, brauchst du nicht unbedingt an einen äußeren Gott zu glauben. Du mußt dir nur aus der Tiefe deines Herzen heraus die Frage beantworten: ‹Wenn ich jetzt unter der Führung eines weisen, liebevollen, mitfühlenden Gottes stünde, wie würde ich mich wohl in dieser Situation verhalten?› Anschließend höre auf die Stimme deines Herzens und auf dein höheres Selbst. Dann wirst du wissen, was zu tun ist, und auch den Mut und die Liebe aufbringen, es wirklich zu tun — denn der Geist wirkt tatsächlich durch dich, auch wenn du dir dessen vielleicht nicht bewußt bist.»

«Ich bin mir nicht sicher, wie ich die Sache anpacken soll», gestand ich.

«Öffne dich einfach dem Leben auf allen Ebenen, die dir zugänglich sind. Im Laufe der Zeit wird dir diese Ergebung ins Schicksal immer selbstverständlicher werden, bis du eines Tages die Regenwolken am Himmel genauso freudig akzeptierst wie das Glück eines sonnigen Tages. Und vergiß nicht, stets locker und entspannt zu bleiben! Durch Entspannung bringt es unser Körper zustande, sich dem Augenblick hinzugeben und sich von allen festen Vorstellungen zu lösen. So bleiben wir flexibel und können auf jede Situation immer wieder neu und zwanglos reagieren, ohne irgendwelche Werturteile oder Erwartungen.»

In diesem Moment blickten wir hoch und sahen die Katze, die mich das Gesetz der Gegenwart gelehrt hatte, hoch aufgerichtet auf einem Felsbrocken sitzen. «Ihre Majestät hält Hof», bemerkte ich.

Natürlich sah die weise Frau auch darin wieder eine neue Gelegenheit für Anschauungsunterricht. «Ist dir schon einmal aufgefallen, lieber Wanderer, wie hartnäckig Katzen ihr Ziel verfolgen?»

«Ja», antwortete ich und blickte immer noch unverwandt zu der Katze empor.

«Aber wenn sie auf ein Hindernis stoßen», fuhr sie fort, «setzen sie sich hin, entspannen sich und nutzen die Gelegenheit, um ihre Pfoten zu lecken. Wenige Menschen beherrschen die Kunst des Nachgebens so gut wie Katzen und Kampfsportmeister.»

«Was hat Nachgeben denn mit Kampfsport zu tun?»

«Die Bewegungen der höchsten Kampfsportarten sind fließend und elastisch wie Wasser. Ein Kampfsportler geht auf die Attacken seines Gegners ein, statt sich gegen sie zu wehren oder starr und unflexibel zu agieren. Diese Kunst lehrt uns zu ziehen, wenn wir geschoben werden, und zu schieben, wenn wir gezogen werden, oder, anders ausgedrückt, mit den Kräften des Lebens zu verschmelzen, statt unsere Energie im Widerstand zu vergeuden.»

Sie hielt inne und blickte stumm zu den Hügeln empor. Dann wandte sie mir wieder ihr Gesicht zu. «Vor langer, langer Zeit, im feudalistischen Japan, war ich einmal ein junger Samurai, der es im Schwertkampf zur Meisterschaft bringen wollte. Ich trainierte jeden Tag stundenlang, übte Schwerthiebe, Abwehr- und Ausweichmanöver. Schließlich fand ich einen Meister, der bereit war, mich zu unterweisen, aber er sagte nie etwas über meine Technik und wiederholte immer nur, das sei Nebensache. Viel wichtiger sei es, sich von jedem Gedanken an Sieg, an Sicherheit oder an den Kampfablauf zu lösen. Nur der Kämpfer, der sein kleineres Ich mit all seinen Wünschen, Ängsten und inneren Fesseln aufgeben könne, bleibe entspannt und konzentriert. Im Zweikampf sei Ergebung in den Tod gleichbedeutend mit Überleben; wenn man sich dagegen ans Leben klammere, verliere man es. Verstehst du, was ich meine? Dieses Gesetz gilt also auch für Situationen, in denen es um Leben und Tod geht. Je mehr du dich von deinen inneren Bindungen löst, um so freier wirst du.»

Die weise Frau ahnte schon im voraus meine nächste Frage und fügte hinzu: «Man muß nicht sein Haus oder seine irdischen Güter verschenken, um sich von seinen inneren Bindungen zu lösen; es kommt vielmehr auf die innere Bereitschaft an, alles, was einem begegnet, freudig zu akzeptieren.»

«Aber wann läßt sich dieses Gesetz denn im Alltagsleben anwenden?»

Die weise Frau lachte. «Du solltest lieber fragen, wann es sich nicht anwenden läßt. Stell dir irgendeine unangenehme Situation vor, der du normalerweise ausweichen oder gegen die du dich wehren würdest. Dann ergib dich völlig in diese Situation, verwandle sie in etwas Positives und mach das Beste daraus. Natürlich sollst du deinen edlen Impulsen nachgeben und dich um positive Veränderungen in deiner Welt bemühen. Aber mach es wie die Katze: Vergeude keine Energie mit unnötigem Widerstand oder mit dem Ärger über Dinge, die du nicht beeinflussen kannst.»

Wir blieben stehen und ließen unsere Blicke über die sanft gewellte Hügellandschaft unter uns schweifen. Die weise Frau setzte sich auf dem grasbewachsenen Abhang nieder, und ich tat das gleiche. Dann fuhr sie mit leiser, beinahe ehrfürchtiger Stimme fort: «Ich gebe zu, es ist schwierig, dieses Leben mit all der Habgier, allen Schmerzen und Ungerechtigkeiten in der Welt zu akzeptieren. Doch mit der Zeit wirst du in allen Menschen und Dingen einen Aspekt des Geistes sehen und einfach darauf vertrauen, daß sich trotz unserer Probleme alles im Universum so entwickelt, wie es sein muß. Dieses Nachgeben ist ein Akt der Demut. Wir akzeptieren damit das Leben als ein Geheimnis, dessen Tiefen unser Geist nicht ergründen kann. Wie Isaac Bashevis Singer einmal gesagt hat: ‹Das Leben ist Gottes Roman; also müssen wir es auch Gott überlassen, ihn zu schreiben.›

Ich kann dir versichern, lieber Wanderer», sagte sie abschließend, «daß das Gesetz des Nachgebens dir den Weg zu einem natürlichen Zustand der Gnade weisen wird. Es wird deinen Glauben zum Erblühen bringen und dich deine Verwandtschaft mit allen Geschöpfen dieser Welt fühlen lassen. Diese bahnbrechende Erkenntnis wird schließlich deine Entwicklung beschleunigen und dich auf dem Weg dessen, was für einen Menschen möglich ist, einen großen Schritt weiterbringen. Sie wird dich mit einem Schlag in eine spirituelle Realität hineinversetzen, die schon lange vor der Welt der Materie existierte.»