Das Gesetz der Integrität

Wie man nach seiner inneren Wahrheit lebt

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Integrität bedeutet, im Einklang mit dem spirituellen Gesetz
und mit unserer höchsten Vision zu leben und zu handeln,
auch wenn unsere Triebe uns in eine andere Richtung drängen.
Aus dieser Integrität heraus
erkennen, akzeptieren und leben wir
unsere wahre innere Realität.
So können wir andere Menschen nicht mit bloßen Worten,
sondern durch unser Vorbild inspirieren.

 

Ich muß nicht unbedingt gewinnen,
aber ich muß wahrhaftig sein.
Ich muß nicht unbedingt Erfolg haben,
aber ich muß dem Licht,
das in meinem Inneren leuchtet,
gerecht werden.

Abraham Lincoln

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Nachdem wir beobachtet hatten, wie der kreisende Habicht sich von aufsteigenden Luftströmungen emportragen ließ, stiegen wir in ein tiefes Tal hinab, dessen Bäume von einem filigranen Muster aus smaragdgrünem Moos überzogen waren. Während des Abstiegs dachte ich über die bisher gelernten Gesetze nach, aber an viele Details konnte ich mich nicht mehr erinnern.

Als habe sie meine Sorgen erraten, sagte die weise Frau: «Du mußt nicht unbedingt alle meine Worte im Kopf behalten, lieber Wanderer. Worte sind nichts weiter als Geräusche. Und doch vermögen manche Stimmen ins Herz anderer Menschen einzudringen und ihre Seele zu berühren. Diese spirituelle Macht kann man nur erwerben, wenn man nach den Gesetzen des Geistes lebt.»

Wir blieben stehen. Sie blickte in die Ferne und wies auf einen Hügel, der hinter uns lag. «Kannst du den Gipfel dieses Berges sehen?»

«Du erwartest doch öffentlich nicht, daß ich ihn mit einem Stein treffe?»

Sie lächelte. «Nein, das nicht. Du sollst nur auf den Gipfel steigen und eine halbe Stunde später wieder zurück sein.»

Ich blickte zum Gipfel des Hügels empor. «Nur eine halbe Stunde? Selbst wenn ich hin und zurück rennen würde, glaube ich trotzdem nicht — das heißt, natürlich könnte ich es mit dem Gesetz der Erwartung probieren...»

«Du hast noch neunundzwanzig Minuten», sagte sie.

Ich verstummte und rannte los. Es war ein anstrengender Dauerlauf. Nach der Hälfte des Weges war ich so außer Atem, daß meine Lungen schmerzten und ich mir überlegte, ob ich umkehren sollte, ohne den Gipfel erreicht zu haben. Ich schien mit meiner Kraft am Ende, aber das durfte nicht sein! Also rannte ich weiter und überwand meinen toten Punkt.

Als ich zurückkehrte, wäre ich beinahe ohnmächtig zu den Füßen der weisen Frau niedergesunken. Ich kam zehn Minuten zu spät. Keuchend überlegte ich, was dieser Mißerfolg wohl zu bedeuten hatte. Da fragte sie mich: «Warum bist du nicht schon vor dem Gipfel umgekehrt? Dann hättest du rechtzeitig wieder hier sein können. Und wer hätte schon gewußt, daß du nicht ganz oben warst?»

«Ich», sagte ich und schnappte nach Luft. «Ich hätte es gewußt.»

Da lächelte sie mich zufrieden an. «Genau das ist der springende Punkt: Beim Gesetz der Integrität geht es darum, nach deiner höchsten Vision zu leben, selbst wenn deine Wünsche und Triebe dich in eine andere Richtung drängen. Es geht um dein Verhalten, wenn du dich unbeobachtet fühlst.»

Ich war immer noch schweißgebadet. Die weise Frau führte mich über eine Anhöhe hinweg zu einem Tümpel, der noch voller Wasser von den Regenfällen des letzten Winters war. Ohne jede Befangenheit zog sie sich aus und stieg ins Wasser. Ich tat das gleiche. Es kam nicht jeden Tag vor, daß ich allein in den Bergen halbnackt mit einer Frau badete, mit der ich nicht verheiratet war. Die weise Frau sah attraktiv aus; unwillkürlich fragte ich mich, ob sie wohl so etwas wie ein Liebesleben hatte. Gleich darauf plagten mich Gewissensbisse. Zwar hatte ich ihr gegenüber — schon wegen meiner Prinzipien — keine sexuellen Absichten, aber ein flüchtiger Gedanke daran war mir doch gekommen, das ließ sich nicht leugnen.

Genau in diesem Augenblick wandte sie sich zu mir um und antwortete auf meine unausgesprochenen Worte: «Die ungeschriebenen Gesetze der Gesellschaft zu brechen ist wie Schwimmen gegen den Strom — den Strom der geltenden Moralvorstellungen. Du kannst das tun, wenn es dein sehnlichster Wunsch ist, aber das Leben wird dadurch schwieriger und anstrengender. Denn dein Tun hat Konsequenzen.»

«Zum Beispiel?»

«Zum Beispiel bringst du damit andere Menschen, die diese Wertvorstellungen sehr ernst nehmen, aus dem inneren Gleichgewicht.»

«Demnach bedeutet Integrität, sich an die sozialen Konventionen zu halten?»

«Die Konventionen der Gesellschaft zu befolgen und Handlungen zu vermeiden, die als illegal oder unmoralisch gelten, hat nichts mit Integrität zu tun, sondern mit Intelligenz.»

«Also rätst du zur Anpassung, weil man sich das Leben dadurch leichter macht?»

«Ich bin weder für kritiklose Anpassung noch für blinde Rebellion. Du sollst nur offenen Auges durch die Welt gehen und mehr auf die Weisheit deines Herzens hören als den zufälligen Wünschen und Trieben in deinem Inneren nachzugeben oder sie gewaltsam zu unterdrücken. Befolge Martin Luthers Ratschlag zum Thema Integrität: <Liebe Gott, und dann tue, was du willst.>»

Tue, was du willst, wiederholte ich in Gedanken und fragte mich, ob das wohl so etwas wie eine Einladung sein sollte und wie ich in diesem Fall reagieren würde. Doch schon bald unterbrach die weise Frau meine Grübeleien, indem sie sich wieder anzog und mir ein Zeichen gab, das gleiche zu tun. «Wie ich schon gesagt habe, lieber Wanderer: Das Gesetz der Integrität besagt, daß wir unsere innere Realität ehrlich zum Ausdruck bringen sollen. Und wenn wir uns in unserem Handeln von Neid, Habgier und Manipulationen beeinflussen lassen, sind die Konsequenzen unausweichlich; sie gehören zum Mechanismus des Universums. Wenn du ein spirituelles Gesetz brichst, trägt dieser Akt seine Strafe bereits in sich selbst; er setzt subtile Kräfte in Gang, deren Konsequenzen wir uns ebensowenig entziehen können wie dem Gesetz der Schwerkraft.»

Inzwischen waren wir tiefer ins Tal vorgedrungen. Steile Hänge und dichtes Laub dämpften den Widerhall unserer Schritte. Ganz in Gedanken über Konventionen, Wünsche, Sehnsüchte und das Gesetz der Integrität versunken, schritt ich dahin und wäre beinahe mit der weisen Frau zusammengestoßen. Sie war stehengeblieben, um mir eine Eidechse zu zeigen, die aus einer Felsspalte spähte. «Diese Eidechse will nichts anderes sein, als sie ist», erklärte die Frau. Sie begann mir Einzelheiten unserer Umgebung zu zeigen: «Das da ist ein Baum, das dort drüben ist ein Bach ...»

«Ja», unterbrach ich sie. «Ich sehe den Baum und den Bach.»

«Aber spürst du sie auch?»

«Ich verstehe nicht ganz, was du meinst.»

«Im Gegensatz zu den Geschöpfen der Natur sind wir Menschen von den künstlichen Konstruktionen unserer Gesellschaft umgeben und von unserer wahren Natur abgeschnitten.»

Dann senkte sie ihre Stimme beinahe zu einem Flüstern und setzte hinzu: «Die Schamanen, die Heiler der Naturvölker, beherrschen die Kunst, ihre Gestalt zu wechseln. Dabei geht es nicht so sehr um Veränderung des Körpers als vielmehr um Bewußtseinserweiterung. Man ‹wird› zum Tier, zum Baum oder zum Bach, wenn man die Existenz dieser Lebensformen wirklich fühlt, von ihnen lernt und sich so mit ihnen identifiziert, daß man ihre innersten Eigenschaften spürt. Das ist nur deshalb möglich, weil dein größeres Selbst all diese Lebensformen umfaßt.»

«Und was hat das mit dem Gesetz der Integrität zu tun?»

«Ich habe mir gedacht, daß du diese Frage stellen würdest», lächelte sie. «Mein Freund Laotse hat einmal gesagt: <Eine Schneegans braucht nicht zu baden, um weiß zu werden; und auch du mußt nichts anderes tun als du selbst zu sein.) Überall in der Natur finden wir diese Echtheit: Dem rauschenden Bach, dem wehenden Wind und den zirpenden Grillen genügt es, sie selbst zu sein. Bist du auch voll und ganz zufrieden damit, der Mensch zu sein, der du bist, nicht mehr und nicht weniger?»

«Und wenn ich gern mehr wäre?» fragte ich.

«Mehr?» Die weise Frau lächelte. «Wie könntest du mehr sein? Du bist doch schon ein unbegrenztes, endloses Wesen! Wenn du stirbst, lieber Wanderer, wird dich am Himmelstor niemand fragen, ob du ein Heiliger warst. Man wird dich fragen, ob du wirklich du selbst gewesen bist.

Die Weisen aller Zeitalter», fuhr sie fort, «von Plato bis Shakespeare, ermahnen uns: ‹Erkenne dich selbst› und ‹Sei deinem eigenen Ich treu›. Integrität bedeutet, integriert zu sein, sich selbst zu kennen und sich selbst zu sein, damit alle Handlungen echt sind und höchsten Absichten entsprechen. Dein Körper, dein Geist, deine Gefühle und deine Lebenseinstellung sollen einander ergänzen und ein Ganzes bilden, das größer ist als die Summe seiner Teile.

Es hat keinen Sinn, über Integrität zu sprechen, solange wir unsere innersten Triebe, Wertvorstellungen und Motive nicht kennen. Wir müssen uns so akzeptieren, wie wir wirklich sind, statt immer noch an unserer Vorstellung von dem Menschen zu hängen, der wir gern wären oder der wir zu sein vorgeben. Ein Mensch beschenkt die Armen aus Liebe und Mitleid, ein anderer vielleicht nur aus Schuldgefühlen heraus oder aus Imponiergehabe. Beide Menschen sind mildtätig; doch nur einer der beiden handelt aus innerer Integrität. Unsere Motive und Intentionen spielen eine wichtige Rolle, sowohl für denjenigen, der gibt, als auch für denjenigen, der empfängt. Schließlich geben wir viel mehr als nur Münzen, wir beschenken unsere Mitmenschen mit der <Währung> unseres eigenen Ichs.»

«Allmählich bekomme ich den Eindruck, daß Integrität viel schwerer zu erreichen ist, als ich dachte.»

«Alles ist so lange schwierig, bis es leicht für uns wird», antwortete die weise Frau. «Es erfordert viel Mut und Offenheit, eine solche Echtheit zu erlangen, daß man zu sich selbst und der Welt sagen kann: <So bin ich, ob es euch nun gefällt oder nicht), und diese Wahrheit dann auch wirklich lebt. Doch sobald du deine Menschlichkeit akzeptierst, wird Integrität kein Problem mehr für dich sein. Dabei geht es nicht um Vollkommenheit oder Unfehlbarkeit, denn wir alle machen Fehler. Wir können nur unser Bestes tun und aus unseren Irrtümern lernen, um es beim nächsten Mal besser zu machen. Wenn wir im Einklang mit dem Gesetz der Integrität leben, stehen wir zu unseren Schwächen und nutzen unsere inneren Stärken. Damit können wir zu Vorbildern werden, die anderen Menschen den Weg erleuchten.»

«Vielleicht hat Mahatma Gandhi das gemeint, als er sagte: ‹Mein Leben ist meine Lehre.›»

«Ja», bestätigte sie. «Kinder hören nie besonders gern auf ihre Eltern, aber sie ahmen sie auf jeden Fall nach.»

«Ich glaube nicht, daß das nur für Kinder gilt.»

«Du hast recht», erwiderte die weise Frau. «Wir alle beeinflussen uns gegenseitig durch unser Vorbild, und wir alle lernen durch Nachahmung, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht. Wir berühren unsere Mitmenschen mehr durch unser Leben als durch unsere Worte.

Ich wanderte einmal mit einer bewundernswerten Frau über einsame, abgelegene Straßen. Sie nannte sich ‹Pilgerin des Friedens›», fuhr sie fort, «und wanderte einfach auf gut Glück in den Tag hinein, bis ihr jemand Unterkunft gewährte, und sie fastete, bis ihr jemand etwas zu essen gab. Ihr Vorbild ermahnt uns: ‹Laß dich von deinem höchsten Licht leiten, dann wird dir noch mehr Licht geschenkt werden.› Darum geht es beim Gesetz der Integrität, lieber Wanderer. Darin mußt du dich üben.»