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Es gibt einen Blick, den ein bestimmter Typ Mann einer Frau zuwirft, bevor er mit ihr im Bett war; danach nie. Ich frage mich, wo sie den Blick herhaben, diese Typen, ob es etwas Angeborenes oder ein erworbenes Verhalten ist. Ich frage mich, wie zynisch es ist und ob es ihnen überhaupt bewusst ist – aus meiner bescheidenen Erfahrung würde ich durchaus auf Letzteres schließen. David setzte diesen Blick bewusst ein, obwohl ich nicht glaube, dass es von ihm aus zynisch war – eher eine instinktive Reaktion auf eine Frau, die er attraktiv fand, dieser eindringliche, ausdruckslos starrende Blick.
In einem Pub sind wir uns das erste Mal begegnet. Ich war mit einer Gruppe anderer Physiotherapiestudentinnen da, von denen eine namens Carole in Tränen aufgelöst war, weil ihr Freund nicht aufgetaucht und sie der festen Überzeugung war, dass er was mit einer anderen hatte. Mitten am Abend ging sie, und der Freund kam kurz darauf mit zwei Kumpeln rein. Dieser Freund war David.
Ich sah ihn zur Tür hereinkommen – groß, mit einem dicken Mantel, unter dem sich abzeichnete, wie gut er gebaut war. Sein dunkles Haar war ungewaschen. Eine aus meiner Gruppe wusste, wer er war, stieß mich an und sagte: »Guck mal, das ist er, Caroles Freund. Was für ein Arsch«, aber ich guckte bereits.
Während er am Tresen stand, hechelten wir ihn durch. Schließlich war er öffentliches Eigentum. Caroles Tränen waren die Soße, mit der er uns aufgetischt worden war, und wir hatten das Recht – nein, die Pflicht –, ein Urteil zu fällen.
»Nicht übel …«, sagte ich und schlürfte am Schaum meines halben Hellen.
Die anderen protestierten.
»Zu selbstsicher«, meinte Abbie.
»Ich kann solche Typen nicht ausstehen. Carole sollte ihm den Laufpass geben«, befand Rosita.
Erst als David eine Runde für sich und seine Kumpels geholt hatte, schaute er sich im Pub um und entdeckte uns in unserer Ecke. Abbie winkte hektisch. David und seine beiden Freunde kamen rübergeschlendert, so locker, dass man fast sehen konnte, wie sie mit den Knien wippten. Als sie sich unserem Tisch näherten, warf sich Abbie in die Brust und sagte mit Singsang in der Stimme: »Sie ist weg, musst du wissen. Der Zug ist abgefahren. Sie ist stinksauer.«
David zuckte mit den Schultern und zog sich einen Hocker heran, auf den er sich mir gegenüber niederließ. Er nickte. Ich nickte zurück. Beide waren wir nicht in dem Alter, in dem wir etwas so Uncooles getan hätten wie uns vorstellen. Abbie sackte gegen die Rückenlehne der Bank zurück. »Verdammte Scheiße«, murmelte sie unmotiviert.
Den Rest des Abends verbrachten wir an dem kleinen Holztisch. Die Halblitergläser stapelten sich: Die Frauen gaben einander Runden aus und die Jungs einander ebenso. Gemeinsame Gespräche fanden kaum statt – zwischen uns stand der Tisch als Demarkationslinie. So war das damals mit den Beziehungen zwischen den Geschlechtern: bemüht zur Schau getragene Gleichgültigkeit, durchbrochen von vereinzelten, unbeholfenen Paarungsversuchen. In unseren Kerngruppen redeten wir natürlich ständig über Sex, aber wenn irgendeine von uns es tatsächlich einmal dazu kommen ließ, setzten wir alles daran, die betroffene Person, unsere Freundinnen und uns selbst davon zu überzeugen, dass es nichts Persönliches war.
Der Barmann rief die Sperrstunde aus, stakste gleich darauf an unseren Tisch, griff nach der Leiste mit Lichtschaltern an der Wand hinter meinem Kopf und knipste mit einer schwungvollen Geste eine ganze Reihe davon an. Jäh von hellem Licht geblendet, zuckten wir alle zusammen wie von der Morgendämmerung überraschte Vampire. Da Eitelkeit unter uns Frauen gesellschaftlich akzeptabel war, rappelten wir drei uns auf, schlüpften in unsere Jacken, wickelten uns Schals um den Hals und schnippten unsere Haare frei, während die Jungs mit gespielter Lässigkeit ihre Gläser leerten. Die Beleuchtung zeigte erst, wie schmuddelig der Tisch aussah, an dem wir gesessen hatten – die leeren, halb in den Aschenbecher gestopften Chipstüten, die klebrigen Kreise auf der glänzenden Tischplatte. Als ich hinter dem Tisch hervorkam, spürte ich, dass der Teppichboden unter meinen dünnen Schuhsohlen durchweicht war. In Gedanken war ich schon bei dem Aufsatz, den ich am Montag einreichen musste, über vordere und hintere Schienbeine. Ich wollte zu dem Haus zurück, das ich mit Abbie und zwei anderen Studentinnen bewohnte, sehnte mich nach einer Tasse Tee und meinem klobigen Einzelbett.
Ich war als Erste draußen. David kam gleich hinter mir. »Am besten gibst du mir dann mal deine Telefonnummer«, sagte er wie zum Abschluss eines vorausgegangenen Gesprächs. Als er so aus der Nähe und mit leiser Stimme sprach, fiel mir sein walisischer Akzent auf. Der ließ ihn älter wirken als die Jungs meiner Bekanntschaft, erfahrener.
Ich blieb stehen und sah ihn an. Bis zu diesem Moment hatte keiner von uns beiden dem anderen auch nur den leisesten Hinweis gegenseitigen Interesses gegeben. Er erwiderte meinen Blick mit einem gezielten, aber ausdruckslosen Starren und schaffte in einem willensstarken, glutäugigen Augenblick, wofür andere einen ganzen Abend lang flirteten. Es war eine verwegene Geste, die ich als das nahm, was sie war. Ich wusste auch, dass die wenigsten Jungs in unserem Alter zu so etwas fähig waren. Ich war beeindruckt.
Ich reagierte wie auf Knopfdruck: Sekundenlang erwiderte ich den Blick, registrierte ihn, um dann mit einem Anflug von Verlegenheit zur Seite zu blicken, als wäre ich geschmeichelt, aber aus dem Gleichgewicht gebracht, fasziniert, aber ein wenig nervös. Ich sah zu Boden, sodass mir die Haare ins Gesicht fielen. Beim Aufschauen musste ich sie mit der Hand zurückstreichen und ein wenig damit spielen, damit sie hinter meinem Ohr blieben. Dann sah ich David endlich an, und er lächelte mir zu. Ich erwiderte sein Lächeln. Gott, lässt du dich leicht rumkriegen, Laura, dachte ich.
Er steckte die Hand in die Innentasche seines dicken Mantels und zog einen Kuli hervor. Ich nahm ihm den ab, ergriff die Hand, kehrte die Handfläche nach oben und schrieb meine Nummer auf den Handballen. Er wand sich theatralisch. Während ich damit beschäftigt war, kamen die anderen nach uns heraus. Sie umkreisten uns, sahen zu und hauchten weiße Atemwölkchen in die kalte Luft. Als ich fertig war, packte Abbie mich am Ellenbogen und zog mich weg. »Was sollte das denn?«, zischte sie.
Ich zuckte mit den Schultern, und wir zogen untergehakt davon.
»Hey! Willst du nicht meine Telefonnummer?«, rief David dreist hinter mir her.
Die anderen Mädchen drückten sich zu beiden Seiten an mich und drängten mich ab. Ich drehte mich um, ging rückwärts und rief ihm grinsend zu: »Tja, du rufst ja wohl an, wenn du was von mir willst, oder?« Er starrte mir nach, lächelte immer noch.
Abbie wirbelte mich wieder rum. »Scheiße, Carole bringt dich um.«
»Nur wenn du es ihr sagst«, antwortete ich. »Und überhaupt gehört er schließlich nicht Carole, oder?«
»Nicht zu fassen, dass du mit David geflirtet hast!«
Ich hatte nicht einmal nach seinem Namen gefragt. So gut war es mir gelungen, im Laufe des Abends Desinteresse zu heucheln. Ich war sehr zufrieden mit mir.
David. In jener Nacht lag ich auf meiner durchgelegenen Matratze, hellwach, während das orange Laternenlicht durch die dünnen braunen Vorhänge flimmerte und die Rufe der Samstagssäufer leise durch die Straßen um unser Haus hallten. David hieß er also. Ich dachte daran, wie ich an dem Abend im kalten Schein des grellen Neonlichts vom Tisch aufgestanden war, während er noch auf dem Hocker vis-à-vis von mir klebte. Ich musste mich an ihm vorbeidrängen, um durchzukommen – meine Hüfte hatte seine Schulter gestreift. Er hatte sich nicht zur Seite gelehnt, um mir Platz zu machen, sondern vollkommen stillgehalten. Und ich hatte mich gegen ihn gedrückt, langsam, mit voller Absicht. Mein Körper hatte seinen Körper etwas gefragt. David. Er hatte meine Telefonnummer, ich seine nicht. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
Er rief nie an, und ich sollte ihn gut zwei Jahre lang nicht wiedersehen. Ab und zu hörte ich etwas von ihm, und immer wenn ich seinen Namen aufschnappte, fühlte es sich ein wenig so an, als flatterte etwas in meinem Magen, und ich musste an mich halten, um keine Fragen zu stellen und mir nichts anmerken zu lassen. David hatte sich mit Carole versöhnt. David und Carole hatten sich getrennt. Eine Gruppe Ingenieurstudenten, darunter er, war fast von der Hochschule geflogen wegen eines Streichs mit einem Betonmischer. Einer von ihnen hatte den Laster kurzgeschlossen, und sie waren damit losgefahren, hatten ihn dann aber nicht bremsen können, als er aufs Flussufer zusteuerte, und rausspringen müssen, um sich in Sicherheit zu bringen. Zwei Ortspolizisten standen gerade auf der Brücke und hatten zugeschaut, wie die Studenten an Land wateten.
In meinem letzten Studienjahr hatte ich zwei Freunde, war aber nie mit dem Herzen dabei. Keiner von beiden konnte es mit dem Blick des einen aufnehmen – besser gesagt, mit meinen Tagträumen von dem einen.
Nach meinem Abschluss blieb ich am Krankenhaus, um mein praktisches Jahr zu absolvieren. Die meisten meiner Kommilitoninnen zog es in spannendere Städte, aber ich musste Mum besuchen können. Sie war in einem Pflegeheim am Rande unserer Heimatstadt untergebracht, knapp fünfzig Kilometer entfernt – weiter weg von ihr konnte ich mir nicht leisten. Sie konnte noch mit einem Delta-Gehrad gehen, gerade noch, und ihr Physiotherapeut hielt sie dazu an, zweimal täglich vierhundert Meter zurückzulegen. Ihr Kehlkopf versagte allerdings allmählich, und ich versuchte, sie zur Benutzung von auditorischem Feedback zu überreden. Ich besuchte sie zweimal die Woche, auch dreimal, wenn es sich einrichten ließ. Das Pflegeheim war gut. »Passen Sie gut auf sich auf«, sagte die Empfangsdame immer zu mir, wenn ich mit breitem Lächeln, fröhlichem Winken und strahlendem Blick ging.
Es war auf einer Party zum fünfundzwanzigsten Geburtstag der Freundin einer Freundin. Ich ging nur hin, weil ich mich wegen Mutter elend fühlte und mich zu Sachen zwang, die ich gar nicht machen wollte: das Prinzip des TENS-Geräts zur Schmerzbehandlung. Bei Geburten geben wir in Großbritannien Frauen ein kleines Gerät mit zwei selbsthaftenden Elektrodenpads und schlagen ihnen vor, sich während jeder Wehe in der Steißbeingegend selbst Stromschläge zu versetzen, in der Annahme, das werde sie von ihren schlimmen Unterleibsschmerzen ablenken. Mit Betty habe ich es probiert. Bei mir hat es nicht gewirkt. David sagte, ebenso gut hätte ich ihn dazu anfeuern können, mich gegen das Schienbein zu treten. Während es mit meiner Mutter immer weiter bergab ging, überwand ich mich, zu geselligen Zusammenkünften der Art zu gehen, wie sie mir zunehmend widerstrebten.
Ich war früh dran. Erst ein halbes Dutzend Leute waren beisammen, die ich alle nicht kannte. Eine halbe Stunde, dachte ich, und ich bin hier weg. Dann sah ich ihn. Ja, das konnte nur er sein.
Das Wohnzimmer war zu hell beleuchtet. Es gab kein Versteck, während ich ihn beobachtete. Ich bemühte mich geflissentlich, einem dieser Tetrapaks mit Plastiktülle und einem Knopf, der einen sinnigerweise auffordert: Bitte drücken, ein Glas Wein zu entlocken, und unterhielt mich angeregt mit den anderen mir unbekannten Leuten, in der Hoffnung, dass er mich erkannte, wenn ich nur lange und augenfällig genug da stehen blieb. Verstohlen gelang mir die Beobachtung, dass er mit einer kleinen, blonden Frau da war. Er musste sich zu ihr hinabbeugen, um zu hören, was sie sagte.
Wären genügend andere Leute da gewesen, hätte ich ihn den ganzen Abend über observieren können, aber es schien keine gut besuchte Party werden zu wollen, und weil ich wusste, dass ich nicht lange ohne feste Begleitung bleiben konnte, wagte ich den Sprung ins kalte Wasser, ging rüber und pflanzte mich vor ihm auf. Er sah mir erwartungsvoll entgegen, ohne den Funken eines Wiedererkennens. Die kleine, blonde Frau stierte mich an. Ich beugte mich zu ihm vor und fragte: »Entschuldigung, sind Sie nicht ein Freund von Carole?«
»Carole …«, sagte er und wandte sich von seiner Begleiterin ab, die ihm daraufhin einigermaßen demonstrativ den Rücken zukehrte und sich mit jemandem hinter ihr in ein angeregtes Gespräch vertiefte.
Er schürzte die Lippen und runzelte die Stirn. »Ach, oje …«, stöhnte er dann auf und verdrehte die Augen. »Carole. Diese Carole.«
Ich atmete lachend aus, als würde ich die ganze Story kennen.
»Carole«, sagte er kopfschüttelnd, »die hatte einen Sockenschuss, was?« Sein Akzent machte sich ein wenig deutlicher bemerkbar als in meiner Erinnerung. Später gab er zu, dass er ihn automatisch stärker hervorkehrte, wenn er jemanden neu kennenlernte. Ein günstiger Aufhänger für Gespräche, wenn er Frauen anquatschte, und eine Möglichkeit, Männer herauszufordern. Nichts regte ihn mehr auf als ein Engländer, der sich über seinen Akzent mokierte.
»Ähm, ja.«
»Und Sie waren mir ihr befreundet?«
»Eine Zeit lang, ja.« Ich setzte auf Risiko. »Damals hab ich alles über Sie erfahren.«
Er ächzte erneut. »So viel zu meinen Chancen, Sie je rumzukriegen.«
Genau diesen Moment wählte die Kurzgewachsene für ihr erneutes Auftauchen an seinem Ellenbogen. Eine Hand sanft auf seinen Unterarm gelegt, lächelte sie mir zu.
Ich hob mein Weinglas: »Na dann …«
Als ich an den Getränketisch zurückging, kam David mir nach. »Ich erinnere mich an Sie …«, sagte er. »Abbie.«
Ich schüttelte den Kopf und griff nach einer Flasche auf dem Tisch. »Knapp daneben.«
Er verzog das Gesicht. »Ach herrje, jetzt hab ich glatt meine letzte Chance vertan.«
Ich drehte mich um, suchte mit den Augen das Zimmer ab und murmelte ihm aus dem Mundwinkel zu: »Probieren Sie es mit einer anderen Taktik.«
Auch sein Blick suchte den Raum ab, als wären wir zwei Spione, die sich bemühten, möglichst unauffällig miteinander zu kommunizieren. Die Kurzgewachsene stand mit dem Rücken zu uns, aber die beiden Frauen, mit denen sie sich in der Ecke unterhielt, glotzten mich an.
»Wollen Sie meine Frau werden?«, fragte er.
»Das ist wirklich mal was anderes«, stellte ich anerkennend fest und prostete ihm zu.
Ich bin mir sicher, dass er sich auch da noch nicht an unsere erste Begegnung in dem Pub erinnerte – obwohl er das später behauptet hat –, nicht einmal, als er den Frauen, die uns aus der Ecke beäugten, den Rücken zuwandte, zu mir herabschaute, wie ich mich an die Tischkante lehnte, und mich mit diesem eindringlichen, intensiven Blick bedachte.
Ich schaute zur Seite. Ich hätte warten sollen, bis er etwas sagte, war aber zu nervös und mir zugleich meiner selbst zu sicher. »Sind Sie noch Ingenieur?«, fragte ich.
Das war eine zu alltägliche Frage. Und schon hatte ich ihn verloren. »Ich arbeite in einer Füllfederfabrik an der Küste«, antwortete er mit ausdrucksloser Miene, routinemäßig. Er hätte mit jeder x-Beliebigen reden können.
»Hennett’s? Da in der Nähe bin ich aufgewachsen«, beeilte ich mich zu versichern.
»Meine ganze Familie wohnt um Eastley rum. Na ja, im Grunde sind sie Eastley. Ich hab eine große Familie. Halb Aberyswyth wohnt jetzt in Eastley.«
»Ich bin hinter dem Recreation Ground aufgewachsen, dem neuen Wohnpark, jede Menge Kieselrauputz, der mit …«, brabbelte ich drauflos. Trotz unserer Entdeckung, dass wir in Nachbarstädten aufgewachsen waren, spürte ich, dass seine Aufmerksamkeit nachließ. Er sah sich im Zimmer um. Auf einmal war es voll mit Leuten. Die Party hatte angefangen.
»Dann will ich mal …«, sagte er, hob sein Glas und nickte zur anderen Seite des vollen Zimmers rüber, wo seine kleine Freundin hinter dem plötzlichen Ansturm von Partygästen abgetaucht war. Mir fiel kein Vorwand ein, um ihn aufzuhalten. Mach dir nichts draus, dachte ich. Lass eine halbe Stunde vergehen, dann schnappst du dir deinen Mantel, gehst zu ihm rüber und fragst ihn nach seiner Telefonnummer, schlägst einen Kaffee oder etwas in der Art vor, ganz beiläufig. Wenn du dir dann eine Abfuhr einhandelst, kannst du dich sofort verdrücken.
Ich ging in die Küche, wartete die halbe Stunde ab, zog meinen Mantel über – grüne Wolle, mit Gürtel – und ging ins Wohnzimmer zurück. Jemand hatte das Licht gedämpft. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge, »’tschuldigung … sorry …« Als ich ihn nicht finden konnte, schlängelte ich mich noch einmal durch. »Sorry …« Das Wohnzimmer war überfüllt, aber klein. Kein Zweifel: Er war weg.
Zwei Jahre später war meine Ausbildung abgeschlossen, und ich machte die Entdeckung, dass meine Berufsberaterin in der Schule in einem Punkt recht gehabt hatte: Für Absolventinnen waren Physiotherapeutinnenstellen dünn gesät. Am Ende bekam ich einen Job auf einer kleinen Station im Ortskrankenhaus meiner Heimatstadt. Eigentlich wollte ich nicht wieder nach Hause ziehen, aber mein Bewegungsradius war eingeschränkt, solange Mum noch in dem Pflegeheim wohnte. Ich hatte eine vage Vorstellung davon, dass ich eines zukünftigen Tages in meine Hochschulstadt, wo es so etwas wie Nachtclubs und Kinos gab, zurückziehen und das Leben einer normalen Singlefrau wiederaufnehmen würde. Unterdessen war das Wohnen in meiner Geburtsstadt billig. Zu dem Mietpreis, den ich als Studentin für ein Zimmer in einem Gemeinschaftshaus bezahlt hatte, bekam ich eine ganze Zweizimmerwohnung für mich allein, gerade mal fünf Minuten von der Strandpromenade.
Es war Herbst – in jenem Jahr war die Stadt überraschend golden. Es war ein guter Sommer und eine einträgliche Touristensaison gewesen. Im Lokalblatt standen optimistische Meldungen, man würde den Bau einer Seebrücke erwägen. Die meisten Städte am Meer beklagen ihr kitschiges Touristenimage. Wir strebten es an. Ich stellte mir vor, wie ich mich dazu aufraffen würde, mehr an die frische Luft zu gehen. Mein Leben nach Mum lag in weiter Ferne, verschwommen, und mir war dunkel bewusst, dass ich es als Ausflucht benutzte. In der Klinik hatte ich eine nette Freundinnenclique, und wir gingen ab und an zusammen etwas trinken. Ich traf mich noch mit einem Mann, den ich als meinen Freund von der Hochschule betrachtete. Nick kam jedes zweite Wochenende zu Besuch, würde aber bald in den Norden ziehen, um eine Stelle als Lehrer anzutreten. Mein Leben hing angenehm in der Luft zwischen dem einer Studentin und dem der Frau, die ich in nebulöser Zukunft woanders sein würde, aber nur, wenn die Zukunft den ersten Schritt machte. Ich war nicht unglücklich, nur apathisch.
Gerade stellte ich aus einigen Notizen in meinem Büro einen Bericht zusammen, als ich ein leises Klopfen an der Tür hörte. Mary, eine unserer Ergotherapeutinnen. »Kannst du meinen Vier-Uhr-Patienten übernehmen?«, fragte sie. »Die Schule hat eben angerufen.« Den Regenmantel hatte sie schon an. Nur halb in der Tür stehend, trommelte sie mit den Fingern gegen den Rahmen, ungeduldig loszukommen. Mary nervte mich – andauernd mussten wir in ihren Kinderbetreuungskrisen für sie einspringen. Später dachte ich in diesem Punkt natürlich anders, aber an jenem Nachmittag ließ ich mir so viel Zeit mit meiner Antwort, dass ihr einen Moment lang Zweifel kommen mussten, ob sie bei mir an der richtigen Adresse war. »Eigentlich hatte ich gehofft, das alles zu schaffen …« Mit einer vagen Handbewegung deutete ich auf die Formulare auf meinem Schreibtisch, die zur Hälfte schon fertig ausgefüllt waren. In Wahrheit hatte ich an dem Tag nicht viel zu tun. Als Mary an meine Tür klopfte, hatte ich mir gerade überlegt, ob ich mich zu irgendeinem Tanzkurs anmelden sollte, um in Form zu bleiben. Vielleicht Flamenco. Ich hatte mir meine Handbewegungen vorgestellt und mich gefragt, wie lange man wohl brauchen würde, bis man gut genug war, um ein Rüschenkleid anzuziehen und sich die Augenbrauen so streng anzumalen. In der Stadthalle gab es jeden Dienstag Jazzdance, aber mir schwebte etwas Exotischeres vor. Beim Flamenco machte es vermutlich nichts, dass ich keinen Partner hatte. Ich konnte mich auf die Kastagnetten konzentrieren.
»Jamie hat frei«, sagte Mary, zu stolz, einen bittenden Unterton einfließen zu lassen, wie die meisten von uns es in ihrer Situation getan hätten.
Seufzend zuckte ich mit den Schultern. »Na gut, dann sag deinem Vier-Uhr-Patienten, wo er mich findet.«
Mit einem »Danke« betrat sie das Büro und übergab mir die Akte, die sie schon in der anderen Hand bereithielt.
Während sie sich zurückzog, schob ich meine Papiere beiseite und legte die Akte auf den Tisch. Ich schlug sie auf und sah mir das Aufnahmeformular an: David Needham.
Noch ein leises Klopfen. »Herein«, sagte ich.
Ich hatte den Eindruck, dass er leicht gebeugt eintrat, obwohl er natürlich nicht größer war als der Türrahmen – es war eher eine höfliche Geste, als wüsste er, dass man ihn mir aufgehalst hatte, und entschuldigte sich dafür, so viel Raum einzunehmen.
Ich schaute auf und dachte sofort, ach, er ist es, doch er gab auch diesmal kein Zeichen des Wiedererkennens. Warum auch? Es war unsere dritte Begegnung in vier Jahren. Er ging zu dem Stuhl vor meinem Schreibtisch, aber ich wies auf meine Untersuchungsliege, bedeckt mit einem frischen Papierstreifen. Mit einem Blick auf seine Akte sagte ich: »Machen Sie sich bitte oben rum frei.«
Er setzte sich auf die Pritschenkante und knöpfte langsam sein Hemd auf, während ich zusah. Als er es ausgezogen hatte, stand er auf, machte einen Schritt auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch zu und warf es über die Rückenlehne, ging dann zur Untersuchungsliege zurück und setzte sich wieder auf die Kante, alles, ohne in meine Richtung zu sehen. Seine Brustwarzen waren dunkelbraun und steif in der kühlen Luft meines Büros. Er hatte eine dichte Brustbehaarung, die sich zum Bauchnabel hin verjüngte. Sehr gerade saß er da und zog den Bauch ein. In den Jahren, in denen ich Patienten untersucht hatte, war mir aufgefallen, dass Männer das ganz genauso machten wie Frauen. »Sitzen Sie so an Ihrem Schreibtisch?«, fragte ich mit leicht skeptischem Unterton.
»Na ja, ich arbeite am Reißbrett«, sagte er, etwas in die Defensive gedrängt, und erwiderte meinen Blick. »Da ist es schwierig, keinen krummen Rücken zu machen.«
Ich sah mir seine Krankengeschichte an und stellte ihm ein paar Fragen, dann kam das Übliche: Stellen Sie sich vor mich hin, Hände auf die Hüften, vor- und zurückbeugen, dann zu beiden Seiten … Meine Patientinnen machen da gewöhnlich gut mit, begreifen, worauf es mir ankommt, und wollen es richtig machen, während es Männer in Verlegenheit bringt, so wenig wie sie es gewohnt sind, beobachtet zu werden. David sah allerdings nicht verlegen aus. Standhaft erwiderte er meinen Blick – es fiel mir schwer, das nicht als Herausforderung aufzufassen.
»Würden Sie sich bitte auf den Bauch legen, während ich Sie untersuche?« Ich zeigte auf die Liege. Während er sich hinlegte, blieb ich sitzen, dann sagte ich: »Ach so, es ist wohl doch besser, wenn wir das auf dem Stuhl machen. Sorry. Würden Sie bitte?« Er hob den Kopf. Ich deutete auf den Stuhl. »Sorry«, wiederholte ich.
Er setzte sich auf. »Soll ich mein Hemd wieder anziehen?« Eine Spur Irritation schwang in seiner Stimme mit.
Ich überlegte. »Nein, noch nicht.«
Während er zum Stuhl ging, stand ich von meinem Schreibtisch auf. »Treiben Sie viel Sport?«
»Manchmal Fußball«, sagte er. »Spazieren gehen, zählt das?«
»Kommt drauf an, wie schnell Sie gehen. Ich glaube, dass es angebracht wäre, Ihren Rücken zu tapen.«
»Tapen?«
»Setzen Sie sich gerade hin, die Schultern so.«
Ich stellte mich hinter den Stuhl, legte ihm meine Hände leicht auf die Schultern und zog sie zurück, bis er in der korrekten Haltung war. »Wir sind nicht zum Sitzen geschaffen, das hat Ihnen die Ergotherapeutin bestimmt schon gesagt. Unser Körperbau ist zum Liegen, Stehen und Hocken gedacht, mehr nicht. Sitzen ist nicht natürlich, und wenn Sie den Rücken so krumm machen … Ich habe Ihren Nacken und Schultergürtel untersucht, jetzt sind Ihre Gelenke dran. Heben Sie bitte die Arme.«
Wenn es in meinem Büro warm ist, werde ich nachmittags schläfrig, deshalb ist es bei mir immer ein wenig zu kalt für die Patienten. Er hatte Gänsehaut auf den Oberarmen. Seine Bizepse waren straff – er musste irgendwann Krafttraining gemacht haben.
»Wie ist meine Haltung ganz allgemein?«
»Schlecht, aber das ist nichts Außergewöhnliches bei großen Menschen. Ich untersuche jetzt Ihre Weichteile.«
Er hatte jede Menge feine dunkle Haare auf Schultern und Rücken. Sie waren ziemlich gekräuselt, was mich überraschte, weil die Haare auf seinem Kopf eher glatt waren. Zwischen den schwarzen wuchsen vereinzelt einige weiße Haare: Die sollten sich später als Vorboten erweisen. Nicht lange nach Bettys Geburt ergraute er. »Gut, Sie können Ihr Hemd jetzt wieder anziehen.«
Er sah mich an, während ich hinter den Schreibtisch zurückging und meinen Kuli in die Hand nahm. »Ich dachte, Sie wollten meinen Rücken tapen.«
Ich erwiderte seinen Blick, während er sein Hemd von der Rückenlehne nahm, die Arme in die Ärmel schob und es sich auf die Schultern gleiten ließ. »Sie sind sehr behaart«, sagte ich.
»Danke«, erwiderte er lächelnd.
Auch ich lächelte. »Das war kein Kompliment, Mr. Needham, sondern eine Feststellung. Bevor ich Sie tapen kann, müssen Sie nach Hause gehen und sich rasieren. Ich kann Ihre Schulterblätter in Form tapen, was Ihre Haltung verbessern wird, aber das Tape ist klebrig. Wenn Sie es entfernen, ist das so, als würden Sie ein Pflaster abreißen.«
Er verzog das Gesicht. »Wie viel von diesem Tape würden Sie verwenden?«
Ich stand wieder auf, ließ mir diesmal mehr Zeit und ging um den Tisch herum, der zwischen uns stand. Er sah mich unverwandt an, noch nicht ganz mit dem glutäugigen Blick, aber schon in der Art, irgendwie lauernd. Ich ging zu ihm. Er schwieg. Ich stellte mich hinter seinen Stuhl und wartete kurz. Dann legte ich ihm sacht die Hände auf die Schultern – sehr sacht. Er hatte auf halber Strecke mit dem Hemdzuknöpfen aufgehört und saß ganz still. Es war ein Bürohemd, blau, mit kurzen Ärmeln, das optimistische Überbleibsel einer Sommergarderobe. Obwohl ich schon seinen nackten Oberkörper berührt hatte, war etwas an der Festigkeit seiner Schultern unter dem Stoff fast unerträglich erregend für mich. Ich mochte seine Schultern, nicht zu bullig, aber kraftvoll. Für einen Mann, der behauptete, keinen Sport zu treiben, hatte er erstaunlich wenig Fett am Leib. Ich ließ meine Hände erst kurz dort ruhen, dann nach und nach seine Schulterblätter hinabwandern, mit gespreizten Fingern, wie zwei Wasserfälle. »Hier trage ich zwei Streifen Tape auf, einmal längs über jeder Schulter, wie BH-Träger …« Ich unterbrach mich. Er rührte sich nicht, sagte nichts. Ich wollte, dass er sich auf dem Stuhl umdrehte, mir die Arme fest um die Taille schlang und sein Gesicht an meinem Bauch barg – mehr als das, ich wollte, dass er mich auf die Untersuchungsliege drückte und mir den Rock hochschob. Mein Gott, dachte ich, ich belästige einen Patienten sexuell. »Dann nehme ich noch einen Streifen Tape, sage Ihnen, dass Sie gerade sitzen sollen, in guter Haltung, und trage ihn hier quer auf.« Mit der Fingerspitze zog ich eine Linie von einem imaginären Träger zum anderen.
»Werden meine Brustwarzen davon betroffen sein?«, fragte er ruhig.
Puh, dachte ich. Jetzt belästigt er – rein theoretisch – mich sexuell.
»Ihren Brustwarzen geschieht nichts«, sagte ich ruhig. Ich hielt inne, nahm meine Hände von seinem Rücken und ging wieder hinter meinen Schreibtisch zurück.
Er sah mir zu, sagte aber nichts. Ich setzte mich und schrieb etwas in seine Akte, während ich mir seines unverwandten Blicks vollkommen bewusst war, und auch dessen, dass keiner von uns irgendeine schlüpfrige Bemerkung machte. Es war ein Patt. In dem offiziellen Muster unserer Beziehung – Patient und Physiotherapeutin – befand ich mich in der Machtposition, aber es war, als hielten wir jetzt gerade ein heikles Gleichgewicht, jeder am anderen Ende einer Wippe, jeder darauf wartend, dass der andere das Gewicht verlagerte. Ich spürte, dass es an mir war, ein Zeichen zu geben, ob mir ein weiterer Vorstoß von ihm recht war.
Ich klappte seine Akte zu. »Manchmal rasiere ich Patienten selbst«, sagte ich. »Man kommt nicht gut an seinen eigenen Rücken ran, und Sie sind stark behaart. Haben Sie jemanden zu Hause, der das für Sie machen könnte?«
Er verzog das Gesicht, hob die Hände, um mir die leeren Handflächen zu zeigen, und ließ sie wieder sinken. »Niemand.«
»Ich auch nicht«, sagte ich rasch und sog gleich darauf den Atem ein. Genau genommen tat das nichts zur Sache.
Sein Lächeln schien ungefähr fünf Minuten zu dauern und sich von einer Bürowand zur anderen zu erstrecken. Seine Zähne waren vorzeigbar und weiß.
Während wir uns ansahen, drehte ich den Kuli zwischen den Fingern hin und her. Unversehens rutschte er mir aus der Hand und hüpfte über den Schreibtisch. Ich machte einen unbeholfen Versuch, ihn mir zu schnappen.
»Verlieren Sie oft Ihren Kuli?«, fragte er, immer noch lächelnd.
»Wie läuft’s in der Füllerfabrik?«, gab ich zurück.
»Toll«, sagte er. »Ich bin befördert worden. Ich krieg Stifte umsonst. Wenn Sie wollen, besorg ich Ihnen welche. Offensichtlich verlieren Sie Ihre ja ständig.«
»Warum haben Sie nicht angerufen?«, fragte ich. »Ist das ein Euphemismus?«
»Die Stifte? Na klar. Warum sind Sie verschwunden?«, antwortete er. »Sie verschwinden andauernd.«
»Stimmt überhaupt nicht«, sagte ich, während ich verlegen meine Papiere nach dem Kuli durchwühlte.
»O doch«, sagte er, »aber wenn Sie mir den Rücken rasieren, verzeihe ich Ihnen. Machen wir es doch bei Ihnen zu Hause. Vielleicht sollten wir jetzt gehen.«
»Bei mir herrscht Chaos.«
»Ich helfe Ihnen aufräumen.«
Ich lehnte mich zurück und sah ihn an. Wie war es dazu gekommen?
Wir sahen uns in die Augen, und dann sagte er: »Du bist so schmal. Wahrscheinlich knick ich dich mitten durch wie einen Zweig.«
Sein Lächeln erstarb – er sah mich unverwandt an, dieser unmissverständliche feste Blick aus braunen Augen. Ich spürte, wie sich meine Lippen fast unmerklich öffneten. Ich schaute weg, lächelte die Wand an, begegnete erneut seinem Blick, und, ja natürlich, er lächelte auch, und ich war wie benommen vor Lust, wahnsinnig glücklich und wahnsinnig verwirrt. »Deine Schneidezähne sind ein Ideechen länger als deine Eckzähne«, stellte ich fest. »Hat dir das schon mal jemand gesagt?«
»Ist das gut oder schlecht?«
Endlich erspähte ich den Kuli, der es geschafft hatte, zwischen zwei Blätter Papier zu rutschen. Ich schrieb noch etwas auf, schloss seine Akte, sah ihn dann an und sagte etwas, das ich ihm sagen wollte, seit wir uns das erste Mal in diesem Pub begegnet waren, vor all den Jahren: »Ich heiße Laura.«